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6.  Die Politiker  

 

Alfven-1969

 

  Macht und Politiker  

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Im vorangegangenen Kapitel haben wir bereits angedeutet, daß die Unsicherheit auf der Welt auf die Unzulänglichkeit unserer derzeitigen inter­nationalen Organisation zurückzuführen ist. Dieser Hinweis lenkt unsere Aufmerksamkeit sofort auf die für diese Unzulänglichkeit Verantwortlichen: die Politiker. Wir müssen uns besonders mit jenen Politikern befassen, die, mit mehr oder weniger Macht ausgestattet, die Fäden der Weltpolitik in Händen halten — eine tatsächlich sehr abwechslungsreiche Gruppe. 

Einige von ihnen — Generäle, die Brust mit Goldkordel und blankgeputzten Orden geschmückt — gelangten durch einen Militärputsch an die Macht. Andere sind Revolutionäre, die von den Wellen einer von ihnen selbst ins Leben gerufenen Volksbewegung getragen werden. Wieder andere sind intelligente Bauern, die mit Erfolg den Aufstand ihrer Leidensgenossen organisierten, und schließlich muß man noch jene Parteiführer nennen, die als das Produkt eines Parteiapparates durch geschicktes Taktieren an die Macht kamen. 

Unter ihnen finden wir Reaktionäre und Radikale; einige sind wohlwollende Patriarchen, andere sind skrupellos, wenige sind jung, die meisten alt. Von der Definition her sind sie jedoch in zwei Punkten ähnlich: sie haben politische Macht zu erlangen vermocht, und sie waren in der Lage, sie zu behalten.

Vielleicht sollten wir noch ein drittes gemeinsames charakteristische Merkmal hinzufügen: Die meisten von ihnen leben nach den Regeln des politischen Spiels um die Macht; mehr als alles andere fürchten sie den Verlust von Macht, und die Hoffnung, Macht zu behalten, wird zum Brennpunkt ihres Lebens.

Dieses Streben ist es, das — viel mehr als die Interessen der Menschheit  — bei allzu vielen Politikern bestimmt, zu welchem Zug auf dem Schachbrett internationaler Machtpolitik sie sich entscheiden. Viele der führenden Politiker der Welt waren zu Beginn ihres Strebens nach politischem Einfluß und politischer Macht von Idealismus beseelt. Über die schlechten Verhältnisse empört, beschlossen sie, ihr Leben dem Aufbau einer besseren Gesellschaft zu widmen. Viele von ihnen kannten die Gefängnisse von innen und mußten erleben, wie ihre Kameraden und Freunde dort oder im Partisanenkampf getötet wurden. Sie selbst hatten das Glück oder die Fähigkeit zu überleben und durften einen zumindest teilweisen Sieg der Ideale, um die sie gekämpft hatten, miterleben. 

Daneben steht aber eine wenigstens gleichgroße Gruppe von Politikern, die auf weit bequemere Weise an die Macht gelangten. Wie ein Unternehmer, der mit geringem Kapital beginnt und sein Geschäft dann zu einem den Weltmarkt beherrschenden Konzern ausbaut, kann ein Politiker von der Subalternität eines Sekretärs des Parteiortsvereins zu einer Führungsposition in der internationalen Politik aufsteigen. Die Prozedur ist für den Geschäftsmann wie für den Politiker prinzipiell dieselbe: Beide verkaufen und kaufen und kaufen und verkaufen. Der eine häuft Geld an, der andere politische Macht. Was zählt, ist, daß das Unternehmen die großen Profite abwirft. Die Ironie dabei ist nur, daß vielen Menschen weder Geld noch Macht völlige Befriedigung verschaffen kann: Auch wenn sie schon sehr viel Geld oder Macht erworben haben, sehen sie ihr Lebensziel noch nicht erfüllt, sondern sind von dem Ehrgeiz gepackt, noch mehr Geld oder Macht anzuhäufen.

Es ist manchmal schwer, zwischen diesen beiden Arten von Politikern zu unterscheiden. Ein überzeugter Idealist gelangt manchmal an die Macht, indem er seine Ideale preisgibt, und selbst der opportunistischste Streber hält vielleicht unter der Kruste ruhelosen Ehrgeizes einige Ideale verborgen.

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Es ist immer schwer, die Motive der Menschen zu erkennen, und will man hinter den Vorhang politischen Geschehens schauen, vergrößert sich diese Schwierigkeit noch. Ein Grund dafür ist das moderne politische Image à la Madison Avenue.

Mit Hilfe all ihrer Propagandamittel kneten geschickte Public-Relations-Manager den um die Gunst werbenden Politiker zu der Gestalt, die sich die Öffentlichkeit wünscht. Das Ergebnis ist ein schmucker, strahlender Familienvater, dessen Ehre, Aufrichtigkeit, dessen sachgerechtes Urteil und dessen Vaterlandsliebe außer Frage stehen. Natürlich sind solche Madison-Avenue-Techniken ein zweischneidiges Schwert: Die Opponenten des glänzenden Vorbilds von Rechtschaffenheit und Tugend werden eine andere Werbefirma beauftragen, ihn als herzloses Scheusal, aufrührerischen Schurken oder geistigen Habenichts darzustellen. Unnötig zu betonen, daß das wahre Bild jenseits des »Image« nur selten an die Öffentlichkeit gelangt.

Trotzdem spiegelt das Image oftmals doch entscheidende Wahrheiten wider, und niemand kann bezweifeln, daß selbst die Trennungslinie zwischen dem Idealisten und dem Machiavellisten durch eben diese Art des politischen Machtspiels verwischt wird. Ein opportunistischer Streber könnte ohne die Befürwortung einigermaßen konsistenter Ideen in der Politik keinen Erfolg haben, und oft entwickelt sich aus seinen öffentlichen Bekenntnissen ein aufrichtiger Glaube an diese Ideen. Andererseits muß auch ein Idealist nach purer politischer Macht streben, weil er ohne sie mit seinen Idealen keinen Blumentopf gewinnen könnte.

Hier wird ohne Zweifel deutlich, daß die Gier nach Macht eine Berufskrankheit ist, mit der sich die Politiker leicht infizieren. Und es wäre schwierig, all die Opfer dieses kaltblütigsten und unmenschlichsten Lasters zu zählen. Wie alle Laster hat auch die Machtgier ihre Belohnung: die Menschen vor einem knien zu sehen, seine Gegner zu demütigen, auf roten Teppichen zu paradieren, im Scheinwerferlicht zu stehen und die Ovationen der Masse entgegenzunehmen. Im Gegensatz zu Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen sonnen sich die Machtsüchtigen in der Verehrung durch die Menschen.

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  Die Zunft der Politiker  

Politiker bekämpfen einander, einmal mit diplomatischen, ein andermal mit militärischen Waffen. Häufig schließen sie auch Bündnisse untereinander. Das Schauspiel der Weltpolitik zieht so viel Aufmerksamkeit auf sich, daß man leicht darüber vergißt, daß die Politiker eine eigene Zunft bilden — die privilegierteste Interessen­vereinigung der Welt. 

Sie kommen nicht immer nur zu Verhandlungen zum Wohl ihrer Völker zusammen; manchmal kann auch die Frage, wie sie die Macht über ihr eigenes Volk behalten können, bei ihren Beratungen mitspielen. So muß jeder Beschluß, mit dem die Politiker ihre gemeinsamen Probleme zu lösen versuchen, auch auf die Wirkungen abgetastet werden, ob er ihr Ansehen und ihre Macht im eigenen Land» stärkt, zumindest aber, ob er sie nicht verringern wird. Obwohl Vertreter ihres Volkes, repräsentieren sie auch die Zunft der Politiker, deren Interessen sich von den Interessen der eigenen Mitbürger durchaus unterscheiden. In Zeiten des Krieges befürchten sie, daß die Auseinandersetzungen so »unzivilisierte« Ausmaße annehmen könnten, daß sie persönlich dadurch belästigt werden. Sie ziehen es vor, sich angenehm den Tag zu vertreiben, während Rom brennt.

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  Macht — von Gott oder von den Menschen?  

Früher leiteten die Herrscher ihre Macht von irgendeinem Gott her. Man glaubte, daß ein großer König, der ja als direkter Nachfahre eines Gottes galt, die Macht und das Recht zu regieren direkt von seinen himmlischen Vorfahren geerbt habe. Seine Befehle spiegelten den Willen Gottes wider natürlich passend interpretiert. Der Herrscher delegierte die Macht an seine Beamten, so daß sich sogar die Macht des Geringsten seiner Bediensteten letztlich von Gott herleitete. Der vom König eingesetzten Obrigkeit zu gehorchen, war eine heilige Pflicht. Heute würde man es als absurd empfinden, erhöbe der politische Führer eines Staates den Anspruch, mit göttlichem Recht zu regieren.

 

Es war das Verdienst Jean-Jacques Rousseaus, des französischen Philosophen der Aufklärung, der weitgehend die intellektuelle Grundlage für die Französische Revolution schuf, daß an die Stelle Gottes als des legitimierten Ursprungs aller Macht das Volk trat. So zeigt der Stammbaum eines führenden Politikers heute nicht, daß der Großvater seines Großvaters göttlicher Herkunft, sondern daß sein Vater oder zumindest sein Großvater ein einfacher Mann aus dem Volke war. Seine Macht leitet sich vom Volke her, das ihn bei einer allgemeinen Wahl durch die Mehrheit seiner Stimmen zum Führer gewählt hat. Wird das Land von einem Diktator regiert, wird oft eine Mehrheit von mehr als 99% der Stimmen angegeben; in demokratischen Ländern hingegen sind nicht mehr als 50% der Stimmen, manchmal sogar weniger, völlig zufriedenstellend.

In Wirklichkeit braucht ein moderner Politiker nicht in stärkerem Maße das Volk zu repräsentieren, als frühere Herrscher Gott repräsentierten. Die Macht beider Herrschaftsformen gründet sich auf eine Organisation, die weitgehend vom Herrschenden kontrolliert wird. Früher war es allgemein üblich, die Macht mit militärischen Mitteln an sich zu reißen. Die Führer bildeten eine Gruppe, mit einem König oder einem Kaiser an der Spitze und Adelige unterschiedlichen Ranges neben ihm. Eine solche Gruppe verfügte oft jahrhundertelang über die Macht. Die Gruppe war »selbstrekrutierend«, d.h. sie entschied selbst darüber, wer in ihren Stand erhoben wurde. Eine solche Gruppe gliederte sich in eine administrative und eine militärische Hierarchie.

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Es existierten aber noch andere Machtorganisationen dieser Art. Die Kirche war eine solche selbstrekrutierende Gruppe; eine dritte bildeten die Wirtschaftsführer. Diese Gruppen arbeiteten Hand in Hand, wenn es darum ging, das Volk zu unterdrücken, kämpften aber gegeneinander, wenn die Frage der Machtverteilung geregelt werden sollte. Die Massen besaßen ein Minimum an Einfluß, mußten aber immer die Zeche bezahlen.

 

  Die »selbstrekrutierende« Macht  

In den Ländern, in denen sie eingeführt wurde, brachte die Demokratie den meisten Menschen natürlich sehr viel bessere Lebensbedingungen. Man muß indes bezweifeln, ob die Demokratie die Form der Macht wesentlich verändert hat; denn immer noch gehört die Macht den sich selbstrekrutierenden Gruppen, die regieren oder nach politischer Führung streben. Setzten sich diese Gruppen früher aus Königen und Adligen zusammen, so heute aus Parteiführern und ihrem Parteiapparat.

Die Rekrutierung von politischen Führern heute unterscheidet sich freilich in gewisser Weise von der früherer Zeiten; zum Beispiel ist die Macht nicht in demselben Maße wie früher vererbbar. Das alte römische Sprichwort mutatis mutandis gilt aber auch heute noch: Die Schlange hat vielleicht eine neue Haut, aber sie ist immer noch eine Schlange. https://de.wiktionary.org/wiki/mutatis_mutandis

In den von einer einzigen Partei beherrschten Ländern erfährt diese bei einer Wahl eine Billigung, die, um eine sehr große Majorität vorzutäuschen, immer manipuliert ist. In Vielparteienstaaten haben die Menschen theoretisch die Freiheit, jenen zu ihrem Vertreter zu wählen, den sie sich wünschen.

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Fürwahr ein edler Grundsatz, aber leider hält die Wirklichkeit dafür keinen Platz parat. Nur jene, die einer Partei angehören, und von diesen wiederum nur jene, die als Kandidaten aufgestellt worden sind, haben überhaupt die Chance, gewählt zu werden. Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, daß ein Politiker, der weit und breit allgemeines Vertrauen genießt und sehr populäre Ideen vertritt — Ideen, die viele Menschen verwirklicht sehen möchten —, bei einer Wahl erst dann eine Chance hat, wenn ihn ein leistungsfähiger Parteiapparat unterstützt.

Soll jemand eine Wahl gewinnen, muß oft eine gewaltige Summe Geldes investiert werden, und diese kann gewöhnlich nur von Parteien aufgebracht werden. Warum eigentlich spielt bei einem Vorgang, der offensichtlich doch dem Volk die Möglichkeit geben soll, den Mann seines Vertrauens zu wählen, das Geld eine so ausschlaggebende Rolle?

Die Antwort lautet: Bei einer Wahlkampagne sind die Wähler einer intensiven, mit den raffiniertesten Werbemethoden durchgeführten Propaganda ausgesetzt. Die Wahl ist nur zum Teil ein Wettkampf zwischen unterschiedlichen Ideologien. Sie wird mehr und mehr zu einer Schlacht zwischen Werbeagenturen und ähnlichen Institutionen — Institutionen, die heute den Auftrag annehmen, eine Zahnpasta, und morgen einen Politiker dem Konsumenten zu propagieren. So wie das Gesicht eines zufriedenen Benutzers einer bestimmten Seife von Make-up-Spezialisten sorgfältig zurechtgemacht wird, so auch die Gesichter der Kandidaten, ehe sie in die Fernsehsendung gehen. Alles entscheidend ist das >>Image<<, das heute mit einem Riesenaufwand psychologischer Feinarbeit geschaffen wird. Manchmal wird behauptet, und zu Recht behauptet, daß nicht eine Partei, sondern eine Werbeagentur der wahre Gewinner einer Wahl sei.

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Ist in einer Demokratie die Macht des Volkes auch ziemlich gering, so hat sie dennoch viele Vorzüge. Sie bietet einer großen Zahl von Menschen mehr Freiheit als andere Systeme. Die Macht kann ohne Blutvergießen von einer Gruppe auf eine andere übertragen werden. Die Menschen haben das Gefühl, daß sie selbst Macht besitzen. Sie haben in einer freien Wahl einen Kandidaten gewählt. Ähnlich gibt uns die Freiheit, die Zahnpasta kaufen zu können, die wir möchten, das Gefühl der freien Wahl, selbst wenn wir uns dabei bewußt sind, daß in Wirklichkeit die Werbung darüber entschieden hat.

Man vergißt leicht, daß bei einer politischen Wahl die wirklichen Wahlmöglichkeiten sehr begrenzt sind. Bei vielen Wahlen vertreten die um die Macht kämpfenden politischen Parteien sehr ähnlich lautende Programme. Bei anderen kann die Alternative, die von der Mehrheit wirklich gewünscht wird, aus dem einen oder anderen Grund vor der Wahl aus dem Programm verschwinden. Dann bietet die Wahl vielleicht nur die Alternative zwischen einem Unglück und einer Katastrophe.

Es ist natürlich tröstlich, daß in einer Demokratie die politischen Führer direkten Kontakt zu den Bürgern pflegen, aber solcher Kontakt ist keineswegs auf das demokratische Regierungssystem beschränkt. Harun al Raschid verkleidete sich und versuchte bei seinen Spaziergängen durch die Straßen Bagdads die Wünsche des Volkes zu erfahren. Mehr als hundert Jahre sind vergangen, seitdem Könige, Shakespeares Heinrich V. nacheifernd, Seite an Seite mit ihren Soldaten kämpften, riskierten, was alle riskierten, und manchmal auch verloren, was alle verloren.

Und bei allem nötigen Respekt vor den gut einstudierten Talenten der heute lächelnden Präsidenten und Ministerpräsidenten ist es doch zweifelhaft, ob auch nur einer von ihnen in seinen öffentlichen Begegnungen mit dem Volke moderne Diktatoren übertreffen kann.

Da die politischen Führer in Wirklichkeit vom Parteiapparat ausgewählt werden, ist es außerordentlich wichtig festzustellen, welche Eigenschaften der Parteiapparat bei der Bestimmung von Kandidaten für wünschenswert hält.

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Gewiß sind Intelligenz und die Fähigkeit zu ausdauernder harter Arbeit sehr entscheidend, ebenso seine Fähigkeiten im Metier der politischen Ausein­andersetzung und des Verhandelns, weil solche Fähigkeiten ihn in die Lage versetzen, mehr Macht für die Partei zu erzielen. Unterwürfiges Nachgeben gegenüber denen, die bereits über Macht verfügen, die Kunst des geschickten Taktierens und der Manipulation sind bedauerlicherweise ebenfalls dem Manne von Nutzen, der die Leiter der Macht emporzuklettern versucht.

 

  Die Struktur der Macht  

 

Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen der Propaganda ist es durchaus möglich, daß Abstand und Unterschied zwischen Herrschenden und Bürgern heute größer sind als je zuvor. Der Grund dafür ergibt sich ganz einfach daraus, daß die modernen Staaten über eine sehr viel kompliziertere Organisation verfügen. Sie werden zunehmend zentralisierter, darüber hinaus ist die Bevölkerung heute sehr viel zahlreicher.

Ein über wenige hundert Menschen regierender Stammeshäuptling kannte jeden von ihnen persönlich. Sie kämpften Seite an Seite, und wurde einer seiner Gefolgsleute getötet, so empfand er das oft als den Verlust eines persönlichen Freundes. In den griechischen Staaten der Antike überschritt die Gesamtzahl von Bürgern selten mehr als einige tausend, und da jeder jeden kannte, hatten die politischen Führer zu einem Großteil der Bevölkerung auch persönlichen Kontakt. In den heutigen Staaten mit Millionen und Hundertmillionen von Einwohnern ist ein solches persönliches Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten natürlich nicht möglich. Die Menschen sind notwendigerweise zu großen Datengruppen zusammengefaßt, für ihre Führer nicht mehr als Zahlen in statistischen Tabellen. Politische Führung hat dadurch keinen Kontakt zum Menschen mehr.

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Bei seiner täglichen Arbeit kann beispielsweise ein Unternehmer direkten Kontakt zu fünf oder — sagen wir — zehn Angestellten haben. Beschäftigt sein Unternehmen hundert Leute, so muß es in mehrere Ebenen unterteilt werden. Der Direktor z.B. hat zehn Untergebene, jeder von ihnen ist wiederum der Vorgesetzte zehn weiterer Angestellter. In einem Unternehmen von tausend Leuten muß es noch mehr Ebenen zwischen dem Direktor und der Mehrzahl der Angestellten geben. Je größer die Anzahl der Menschen, um so zahlreicher die Ebenen zwischen dem Direktor und der Majorität der Arbeitnehmer. Jede zusätzliche Ebene sorgt dafür, daß der Direktor noch mehr abgeschirmt ist.

Die für das Leben der Menschen entscheidenden Probleme werden von einer Ebene auf die nächste abgewälzt. Mit jeder nächsthöheren Ebene schwindet die Individualität eines Menschen ein bißchen mehr, während die Person, die ihn repräsentiert, zunehmend an Bedeutung gewinnt. Gelangt ein bestimmtes Problem schließlich auf den Schreibtisch des wirklich Herrschenden, so bleibt es dennoch ungelöst, weil auf der ausführenden Ebene das Interesse am Schicksal der Menschen durch andere Prioritäten, z. B. durch »ökonomische Notwendigkeiten«, die »Sicherheit des Landes«, den »Stolz der Nation« , und vielleicht auch durch die Macht der Partei oder durch das persönliche Prestige ihres Führers verdrängt wird.

 

  Menschen oder Nummern?  

Die ständig zunehmende Komplexität der modernen Gesellschaft trägt zur Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten noch erheblich bei. Jede Entscheidung hat eine Reihe von unterschiedlichen und oft unvorhersehbaren Konsequenzen. Die Verant­wortlichen auf den verschiedenen Ebenen des Machtgefüges haben die Angelegenheit überprüft und ihre Meinungen und Empfehlungen dazu kundgetan.

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Wird schließlich eine Entscheidung gefällt, ist oft schwer im voraus abzusehen, welche Folgen sie tatsächlich haben wird. Erst später, nach bereits realisierter Entscheidung, wird jedermann erkennen, auf welche Weise sie das Leben des einzelnen beeinflußt hat. Vor einigen hundert Jahren soll ein Despot voller Überraschung ausgerufen haben: »Das sollen Wir wirklich alles getan haben?« Die demokratischen Führer unserer Zeit sind sehr oft gleichermaßen überrascht.

Wird eine Landbevölkerung gezwungen, sich in einer Stadt anzusiedeln, können sich durch den Wechsel in eine fremde Umwelt Anpassungs­schwierigkeiten und viel menschliches Leid ergeben. Darüber hinaus kann sich ein ehemals landwirtschaftliches Gebiet in eine Wüste verwandeln. Aber die für solche fundamentalen Veränderungen Verantwortlichen sehen die aus ihrem alten Wohngebiet verdrängten Menschen lediglich als statistische Zahlen und befassen sich ausschließlich mit den durch diese Entscheidung erzielbaren ökonomischen Vorteilen.

Maßnahmen zur Erhöhung der Geburtenziffer oder aber eine Beschränkung der Geburtenkontrolle haben in einer bereits übervölkerten Welt enorme Folgen. Und trotzdem werden solche Schritte oft getan, ohne große Rücksichtnahme auf die Flut von Tragödien, die sie auslösen. Andere Entscheidungen können unwiderruflich das Ende des Lebens bedeuten, so, um ein einleuchtendes Beispiel zu wählen, für Soldaten, die in den Krieg geschickt oder die zu Feinden erklärt werden, auf die dann ein Bombenhagel niedergeht. Der einzelne kann nicht umhin, sich zu fragen, wie solche Entscheidungen wohl die berühren, die sie getroffen haben. Die Probleme müssen ihnen wohl sehr abstrakt erscheinen, da sie sich die unzähligen menschlichen Tragödien, zu denen ihre Entscheidungen führen, offenbar einfach nicht ausmalen können.

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Allem Anschein nach haben sie einen guten Schlaf. Vielleicht träumen sie statt von den Schicksalen einzelner mehr von statistischen Zahlen. Die Hunnen fielen in Europa ein, weil ihr eigenes Land sie nicht mehr ernähren konnte. Die Goten drangen in das Römische Reich, um sich vor den Hunnen in Sicherheit zu bringen und mehr Nahrung zu finden. Es herrschte das Gesetz des Dschungels: Fressen oder gefressen werden.

In der kybernetischen Kultur, die so viel materiellen Überfluß geschaffen hat, haben sich die Bedingungen grundlegend gewandelt. Die moderne Medizin hat die Regulierung der Bevölkerung ermöglicht. Wir verfügen über die technologischen Mittel, alle vernünftigen Ansprüche einer zahlenmäßig begrenzten Bevölkerung zu befriedigen. Es ist nicht mehr nötig, daß viele Menschen in Not und Elend zugrunde gehen oder im Krieg getötet werden, und doch kann man in jeder Zeitung nach wie vor Berichte über gerade diese Arten von Katastrophen lesen; heute freilich sind diese Ereignisse nicht mehr auf das grausame Gesetz der Natur, sondern auf die veraltete politische Struktur der Welt zurückzuführen. Das politische Spiel mit dem Schicksal der Menschen ist genau dasselbe wie in antiker Zeit, aber nicht etwa, weil das so sein muß, sondern weil allzu viele von uns glauben, daß es so sein muß.

 

  Die Inkompetenz der Herrschenden  

In der Phantasie stellen sich die meisten von uns vor, daß früher oder später die führenden Politiker der Welt zusammentreffen und einen Weltplan aufstellen, der dem Krieg ein Ende setzt, die allgemeine Abrüstung herbeiführt und überall Hunger und Elend beseitigt. Bislang ist so etwas aber nicht geschehen, und nur sehr wenige halten es für in naher Zukunft möglich. 

Warum sind derartige Maßnahmen so unmöglich? Sind sie nicht genau das, was sich fast die gesamte Menschheit wünscht? Die Politiker geben vor, alles für das Wohl ihres Volkes tun zu wollen. Warum benützen sie nicht ihre Macht zur Erfüllung dessen, was die Menschen sich am meisten wünschen?

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Häufig hört man als Antwort, die gegenwärtigen Weltprobleme seien so außerordentlich kompliziert, daß nur ein sehr naiver Mensch annehmen könne, es gebe Möglichkeiten zu ihrer Lösung. Gewiß, die Vertreter dieses Standpunkts räumen ein, daß wir über die technischen Hilfsmittel verfügen, um für eine zahlenmäßig gleichbleibende Weltbevölkerung genügend Güter zu produzieren, und über die medizinische Technologie, um die Bevölkerung konstant zu halten. Warum ist es dann also unmöglich, die notwendigen Schritte zu unternehmen, daß die Welt für jeden ihrer Bewohner lebenswert wird? Die übliche Antwort darauf lautet, daß, da selbst die großen Politiker der Welt von vielen bewundert wegen ihrer Intelligenz und ihrer Fähigkeiten, die sie auf dem Weg an die Macht bewiesen — die Probleme nicht lösen können, dadurch ohne Zweifel deutlich werde, wie schwierig die Probleme seien. Diese Schlußfolgerung muß nicht unbedingt richtig sein.

Neben den politischen Führern existiert noch eine andere Machtgruppe, der man zutraut, einige der dringendsten Weltprobleme zu lösen: die Militärs. Zweifellos waren z.B. die während des Ersten Weltkrieges dienenden französischen Generäle die fähigsten militärischen Führer Frankreichs; denn niemand wird ohne außergewöhnliche Qualifikation kommandierender General. Die Generäle glaubten, daß der Krieg sie vor ein unlösbares Problem gestellt habe. Ihrer Meinung nach war es praktisch unmöglich, die einmarschierenden Truppen zu besiegen — ein Standpunkt, der noch dadurch bestätigt wurde, daß die tapfere französische Armee unter der ausgezeichneten Führung der Generäle das zu tun auch nicht in der Lage war.

Der französische Staatsmann Georges Clemenceau teilte diese Ansicht jedoch nicht. Seine Meinung war, daß der Krieg eine viel zu ernste Sache sei, als daß man sie den Generälen überlassen könnte.

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Ein einzelner General mußte seine Situation etwa folgendermaßen sehen: sein wichtigstes Problem die Aufrechterhaltung seines Prestiges bei den Kollegen und seines Status als hervorragender Feldherr, dem die Geschichte beweisen würde, daß ihm allein der Sieg zu verdanken sei. Zweitens mußte er die Interessen seiner Männer wahrnehmen, insbesondere derer, die Befehle gaben; denn wurden ihre Interessen nicht geschützt, hätte das gesamte Militär seine Macht verlieren können.

Er hielt zwar auch das Wohl seines Landes für etwas sehr Wichtiges, die anderen zwei Überlegungen hatten dennoch Vorrang. Man hätte sich natürlich eine umgekehrte Rangfolge gewünscht, doch trotz ihrer goldenen Biesen und Orden sind Generäle eben auch nur Menschen. Clemenceau fand, daß die Aktionen der Generäle zu sehr von internen Zwistigkeiten und veralteten militärischen Traditionen bestimmt waren. Um eine militärische Katastrophe zu verhindern, war es also notwendig, die Generäle unter Kontrolle zu bringen.

 

Einen weiteren großen Machtblock bilden die führenden Geschäftsleute der Welt — eine Auslese der Cleversten aus Wirtschaft und Finanzen. Intelligenz, die richtige Intuition und Energie sind Voraussetzung, um einer der ihren zu werden. Lange Zeit kontrollierten sie die gesamte Weltwirtschaft. Dem ökonomischen Grundsatz des Laissez-faire folgend, würde, falls jedermann für sein höchstmögliches ökonomisches Wohlergehen sorgte, auch für das ganze Land ein Optimum das Resultat sein. Ein solches System erwies sich indes als unstabil. Hochkonjunkturen und Depressionen wechselten sich in recht regelmäßigem Turnus ab, und viele Menschen fragten sich, ob dieser Zyklus wirklich erforderlich sei. Die Hochkonjunktur war erträglich, die Depression aber brachte, wenn sich die Fabriktore schlossen, große Teile der Bevölkerung in allgemeine Not.

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Warum konnten die Fließbänder in den Fabriken nicht weiterlaufen und all die Güter produzieren, die die Menschen so sehr benötigten? Die Laissez-faire-Theoretiker antworteten, daß die Probleme sehr komplex seien und jeder, der eine solche simple Lösung vorschlage, damit beweise, wie wenig er von den Gesetzen des Wirtschaftslebens verstehe. Die Tatsache, daß die fähigsten Geschäfts- und Finanzleute der Welt Depressionen nicht verhindern könnten, zeige doch deutlich die Unvermeidbarkeit. Es sei bedauerlich, daß ein paar Menschen während der Depressionen verhungern müßten, aber um wirtschaftliche Tiefs zu verhindern, könne sehr wenig getan werden.

In Wirklichkeit hätte sehr viel getan werden können. Die Probleme waren keineswegs so unmöglich zu lösen, wie die führen-den Köpfe der Finanz- und Geschäftswelt behaupteten. Es war die angeblich naive Kritik, die hier recht hatte. Um Clemenceaus Bemerkung über die Militärs auf das Großunter­nehmertum zu übertragen, könnte man sagen, daß die Weltwirtschaft eine viel zu ernste Sache ist, als daß man sie den Finanz- und Geschäftsleuten überlassen könnte! Staatliche Lenkung hat es durchaus vermocht, das wirtschaftliche Auf und Ab zumindest zu dämpfen. Die in unterschiedlichem Maße gelenkten Wirtschaftsstrukturen kapitalistischer Staaten unterliegen zwar immer noch gewissen Schwankungen, die Gefahr katastrophaler Depressionen droht jedoch nicht mehr. In der kommunistischen Welt sind die wirtschaftlichen Schwankungen völlig unter Kontrolle.

Früher wurden ökonomische Katastrophen durch wirtschaftliche Notwendigkeiten ausgelöst, denen sich jeder führende Geschäftsmann gegenübersah. Allem voran mußte er sich um sein eigenes Geschäft kümmern und sich mit der Konkurrenz auseinandersetzen. Mißglückter Konkurrenzkampf konnte leicht zum Ruin führen. Er hatte zu verkaufen, wenn die Preise zu fallen begannen, was wiederum bedeutete, daß alle anderen auch verkauften, und er hatte zu kaufen, wenn die Preise zu steigen begannen, was wiederum bedeutete, daß alle anderen auch kauften. 

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Als zweites mußte er die allgemeinen Interessen seiner Firma und seiner Konkurrenten wahrnehmen. Alle Unternehmer mußten sich zusammenschließen, um gegen restriktive Eingriffe von staatlicher Seite, gegen die Forderung der Arbeitnehmer nach höheren Löhnen und gegen andere den ökonomischen Status quo bedrohende Faktoren zu kämpfen. Erst wenn alle diese Probleme gelöst waren, konnte der Unternehmer seine Aufmerksamkeit dem öffentlichen Interesse widmen.

Zweifellos wäre die umgekehrte Rangordnung wünschenswert gewesen. Aber trotz seines Reichtums und seines gesellschaftlichen Status war der Geschäftsmann eben auch nur ein Mensch. Die verhängnisvollen wirtschaftlichen Schwankungen erwiesen sich, wie die Geschichte bezeugt, jedoch am Ende als nicht tolerierbar. Es wurde notwendig, die Unternehmer für inkompetent zu erklären und die Wirtschaft der — zumindest begrenzten — regulierenden Kontrolle des Staates zu unterstellen. Nur durch eine solche Kontrolle war es möglich, verheerende Wirtschaftskatastrophen zu verhindern.

Lassen Sie uns nun die Position des Politikers unter die Lupe nehmen. Der einzelne Politiker ist in erster Linie damit beschäftigt, die Macht in den eigenen Händen und in den Händen seiner Partei zu halten, und das geschieht, indem er seine politischen Gegner unten hält und sein Image als genialer Staatsmann, als bestmöglicher Führer seiner Partei und seines Landes pflegt. Sein zweites Ziel muß sein, die Interessen seines Landes gegenüber anderen Ländern zu verteidigen, diese Interessen und sein Volk zu schützen und seinem Land zu einer beherrschenden Stellung in der Welt zu verhelfen. Erst wenn diese Ziele erreicht sind, kann sich der Politiker der Arbeit für das Allgemeinwohl der Menschheit widmen.

Sicherlich wären umgekehrte Prioritäten wünschenswert. Aber trotz der roten Teppiche, der Ehrenkompanien und der bevor­zugten Behandlung sind die führenden Weltpolitiker eben auch nur Menschen.

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 Wer kontrolliert die Politiker?  

Wenn Generäle oder Industriebosse für inkompetent erklärt werden, so bedeutet das, daß die Politiker sie ihrer Kontrolle unterstellt haben. Das ist aber nur möglich, wenn die Politiker mehr Macht haben als die Generäle und die Schlotbarone. Wenn wir nun zu der Erkenntnis kämen, daß die Weltpolitik eine zu ernste Sache sei, als daß wir sie den Politikern überlassen könnten, was dann?

Nach den Grundsätzen der Demokratie haben die Bürger ein Recht auf Kontrolle der Politiker. Man nimmt an, daß dies bei der Wahl mit ihrer Stimmen­abgabe für einen oder mehrere Politiker des Vertrauens auch geschieht. In Wirklichkeit aber funktioniert dieses Prinzip gar nicht sehr gut. Erstens ist die Auswahl auf einige wenige Personen begrenzt, die der sich selbstrekrutierende Parteiapparat als Kandidaten nominiert hat. Zweitens haben die Wähler, wie wir gesehen haben, nur begrenzt Gelegenheit, die Kandidaten vernünftigerweise auf der Grundlage von Fakten statt eines »Image« zu beurteilen. Sie sind, insbesondere zum Zeitpunkt der Wahl, dem ungeheuren Druck der Propaganda ausgesetzt. Und letzten Endes sieht die Wahrheit oft so aus, daß keiner der Kandidaten ein Gefühl großen Vertrauens und großen Respekts hervorruft oder verdient.

Wenn es also für die Bürger schwierig ist, die Politiker zu kontrollieren — gibt es andere praktikable Alternativen? Wie steht es beispielsweise mit einer Machtübernahme durch das Militär?

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Nein, wer würde heute noch behaupten wollen, daß es durch einen Staatsstreich an die Macht gekommene Generäle sein könnten, die dadurch unser Vertrauen gewinnen, daß sie eine Lösung für die heutigen komplexen Probleme finden. Industriemagnaten können ihre eigenen »Lösungen« vorschlagen, aber meistens richten ihre Vorschläge mehr Schaden als Nutzen an. Das eigentliche Problem also ist, daß, ob nun ein General, ein einflußreicher Unternehmer oder ein Arbeiterführer nach den Zügeln der Macht greift, jeder von ihnen ein an die allgemeinen Regeln der Machtpolitik gebundener Mensch bleibt. Eingeengt durch die persönlichen und nationalen Zwänge, die aus diesen Regeln resultieren, wird jeder von ihnen unfähig sein, die in der Struktur der globalen Politik notwendigen Veränderungen herbeizuführen.

Natürlich wünschten wir uns, daß die wichtigsten Führungspositionen in der Weltpolitik von fähigen Leuten besetzt wären, deren Blick sich auf die Notwendigkeit konzentriert, der Menschheit statt nationalen Interessen zu dienen. In Wahrheit läßt in vielen Ländern der Vorgang der politischen Selektion die Wahl solcher Leute leider höchst unwahrscheinlich werden. Selbst wenn gelegentlich einmal »ein Philosoph auf dem Thron« an die Macht gelangt, wird er nur begrenzte Möglichkeiten haben, in wirklich vernünftiger Art und Weise zu regieren. Es hat den Anschein, als hielten es alle Politiker für unerläßlich, auf den ausgetretenen Pfaden der politischen Systeme der Welt weiterzustapfen.

Einige Versuche, die Struktur internationaler Beziehungen radikal zu verändern, haben wir erleben können. Die zwei bemerkenswertesten waren natürlich die Gründung des Völkerbundes und die seines Nachfolgers, der Vereinten Nationen. Obwohl diese Organisationen zur Lösung vieler Krisen beigetragen haben, sind sie doch machtlos gewesen, wenn es darum ging, grundlegende Veränderungen zur Verhinderung der sich zuspitzenden internationalen Spannungen herbeizuführen. Der primäre Grund dafür ist die Unfähigkeit der Vereinten Nationen, modernen Staaten die moralische, politische und militärische Autonomie streitig zu machen, mit dem Resultat, daß diese freie Hand behielten, die politische Weltszene zu beherrschen.

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  Ist das politische System akzeptabel?  

Wir alle hoffen, daß es möglich sein wird, im Rahmen des derzeitigen politischen Systems eine Lösung für die Weltprobleme zu finden; daß es nur notwendig ist, daß die einflußreichen Politiker ihre Aufmerksamkeit auf die Lösung der weitreichenden Probleme des Friedens, der Abrüstung und der Beseitigung der Armut konzentrieren.

Wir dürfen aber keineswegs mit Sicherheit annehmen, daß wir dieses Problem im derzeitigen System zu lösen in der Lage sein werden.

Vor zwei Jahrhunderten erwies sich das Ancien régime Frankreichs offensichtlich als unfähig, den Feudalismus in eine für die Zeit geeignete Form umzuwandeln. wikipedia.Ancien_Régime

Ebenso wenig gelangen weder dem zaristischen Rußland noch dem kaiserlichen China, der massiven Forderung nach umfangreichen Reformen im eigenen Lande gerecht zu werden. Folglich wurden sie, wie das Ancien regime, in den Mülleimer der Geschichte gefegt. Alle diese Regierungen wurden durch Revolutionen gestürzt, die dann völlig andersartige Systeme einführten. 

Der Übergang von einem veralteten System zu einem neuen braucht nicht unbedingt von Blutvergießen begleitet zu sein. Das in Frankreich durch Revolution liquidierte Feudalsystem wurde in vielen Ländern, besonders in England und in Skandinavien, durch sukzessive Reformen auf friedliche und ganz allmähliche Weise verändert.

Wenn wir also zu dem Schluß kommen, daß die gegenwärtige Struktur der Welt veraltet ist und deshalb durch eine gänzlich neue ersetzt werden muß, so folgt daraus nicht notwendigerweise, daß eine Revolution stattfinden muß.

Die meisten Analysen der politischen Systeme der Welt konzentrieren sich auf vorgeschlagene Anpassungsmaßnahmen, die die derzeitige Struktur verbessern könnten.

Aber am dringendsten notwendig ist sicherlich, herauszufinden, welche Organisationsstrukturen die Koexistenz der Menschen in der kybernetischen Epoche am meisten begünstigen. Allem Anschein nach ist eine völlig neue Struktur erforderlich.

Es ist ebenso bemerkenswert wie deprimierend, daß offensichtlich keine kompetente Gruppe von Leuten ernsthaft an diesem Problem arbeitet — einem Problem, von dem das Schicksal der Welt abhängt. 

Die meisten Menschen glauben wohl, daß das menschliche Schicksal in den Händen der Politiker liegt und daß nur die Politiker die Verantwortung tragen können. Wenn sich aber die Politiker als unfähig erweisen, unsere immensen Weltprobleme zu lösen, was wird dann geschehen? Die Antwort kann nur lauten, daß dann ein neuer Weltkrieg ausbrechen wird.  

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 1969 - Hannes und Kerstin Alfvén  M-70  Die Menschheit  der siebziger Jahre  - Die Politiker