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8. Die Forscher  

Alfven-1969

 

 Das verlorene Paradies 

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Die technologische Kultur, die unsere Daseinsbedingungen so radikal verwandelte, hat ihren Ursprung in der natur­wissen­schaftlichen Forschung. Diese Forschung und das, zu dem sie geführt hat, war und ist die wichtigste und extensivste geistige Tätigkeit, auf die sich Menschen jemals eingelassen haben. Ist auch das primäre Ziel der Naturwissenschaften, den Speicher menschlichen Wissens zu vergrößern, so hat sich das sekundäre Ziel — die Verbesserung der materiellen Bedingungen des Menschen — doch von immenser und unschätzbarer Wichtigkeit erwiesen.

Die Lawine naturwissenschaftlichen Strebens kam ins Rollen, als der Mensch die Bewegungen der Planeten am Himmel und den Einfluß natürlicher Kräfte auf jene Geschwindigkeit zu beobachten begann, mit der Gegenstände zur Erde fallen. Es war die Untersuchung solcher Phänomene, die die klassische Mechanik ins Leben rief. Auf ersten Erkenntnissen über Gravitation und Planetenbewegung aufbauend, sind Wissenschaftler heute in der Lage, die Kraft einer Maschine zu berechnen, Beschleunigung und Bremswirkung eines Autos zu messen und Bahnen für Bomben, Raketen und Raumschiffe zu bestimmen.

Ein weiterer unglaublicher Schritt vorwärts begann, als früh im 19. Jahrhundert Forscher mit den winzigen Funken zu experimentieren begannen, die beim Reiben einer Stange Siegellack oder Glas aufsprühten. Dieses Phänomen erzeugte schließlich Effekte, die weit bemerkenswerter waren als jene, die Aladin durch Reiben an seiner Wunderlampe hervorgezaubert hatte. Experimente wie diese kennzeichnen die Entdeckung der Elektrizität — und die spätere Verwandlung nächtlicher Dunkelheit in das elektrische Tageslicht unserer beleuchteten Häuser und Straßen.

Andere Forscher untersuchten die Anziehung zwischen zwei magnetisierten Eisenstäben, und das Verstehen dieser Erscheinung befähigte uns innerhalb kurzer Zeit, jene Kraft nutzbar zu machen, die elektrische Züge und Waschmaschinen in Bewegung versetzt. Genauso erstaunlich ist, daß erst siebzig Jahre vergangen sind, seit ein Wissenschaftler die von einer radioaktiven Substanz ausgehende schwache Strahlung untersuchte und damit den ersten Schritt in Richtung einer potentiellen nuklearen Katastrophe tat.

Doch es wäre einseitig, Ursprung und Entwicklung der Naturwissenschaften nur auf vorurteilsfreie Neugier, d.h. auf einfache Suche nach Wissen um seiner selbst willen, zurückzuleiten. Selbst die Höhlenmenschen wußten, daß Wissen Macht ist, so daß wohl der Wunsch nach Macht — nach wirtschaftlicher, politischer, und sozialer Macht — signifikanten Einfluß auf die Entwicklung der Naturwissenschaft gehabt hat. Es war, als die Alchemisten nach dem Stein der Weisen, nach einer Methode, Blei in Gold umzuwandeln, und nach dem Geheimnis der Unsterblichkeit suchten, daß sie den Grundstein für das legten, woraus moderne Chemie werden sollte. Aber es war auch der Wunsch nach Verbesserung der Ernte- und Vieherträge und somit der Vergrößerung ökonomischer Macht, der schließlich zur Genetik und zur Entdeckung von Chromosomen und Genen führte.

Die Wichtigkeit der Naturwissenschaften für die Gesellschaft begann im achtzehnten Jahrhundert allgemein erkannt zu werden. In dieses Jahrhundert fallen die Gründungen naturwissenschaftlicher Akademien, die sich ebenso der Vervollkommnung der verschiedenen Wissenschaftszweige wie der Erforschung von praktischen Anwendungsmöglichkeiten für die natur­wissen­schaftlichen Entdeckungen widmeten. 

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Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts entstanden als direktes Ergebnis naturwissenschaftlichen Fortschritts eine Anzahl wichtiger Industrien. Besonders in Deutschland verdankte die optische, die elektrotechnische und die chemische Industrie ihren raschen Fortschritt den Entdeckungen der Naturwissen­schaftler. Manche für entscheidende Entdeckungen verantwortliche Wissenschaftler spielten sogar bei der Gründung der diese Entdeckungen anwendenden Industrien eine wichtige Rolle. Die immense industrielle Expansion im neunzehnten Jahrhundert erhielt so durch die direkte Teilnahme der Wissenschaftler am industriellen Prozeß einen bedeutenden Impuls.

Die Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren für Naturwissenschaftler in vieler Hinsicht glückliche Jahre. Getragen vom Glauben der Philosophen der Aufklärung, die meinten, daß jede Vermehrung des Wissens nur dem Wohle der Menschheit dienen könne, waren die Wissenschaftler imstande, aus der praktischen Anwendung so vieler ihrer Entdeckungen in diesem Jahrhundert des Dampfes und der Elektrizität eine tiefe Befriedigung herzuleiten. Gleichzeitig waren die meisten von ihnen nicht so stark in die industriellen Unternehmen einbezogen, als daß sie sich wegen der düsteren Folgen der Industrialisierung hätten schuldig fühlen müssen: wegen der Ausbeutung der Arbeiter, wegen des zunehmenden Elends und der immer stärkeren Not in den dicht­besiedelten Industriestädten.

Ein anderer Faktor, der zur »guten alten Zeit« der Naturwissenschaftler beitrug, war gewiß auch ihre relative wirtschaftliche Unabhängigkeit. Die meiste wissenschaftliche Arbeit war nicht mit großen Kosten verknüpft. Manchmal konnten Wissenschaftler ihre Experimente aus eigener Tasche finanzieren. Zuweilen standen ihnen Mäzene zur Seite. Dadurch waren Wissenschaftler vom Staat recht unabhängig. Natürlich konnte sie hin und wieder ein mächtiger und einflußreicher Mann besuchen, um ihre im eigenen Hause gelegenen Laboratorien zu bewundern oder philosophische Fragen zu diskutieren. Doch in völligem Gegensatz zu heutigen Praktiken mußten solche Diskussionen nicht damit enden, daß der Wissenschaftler um einen Forschungs­zuschuß bat.

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    Von der Klein- zur Großforschung    

Die »guten alten Zeiten« sind durch die moderne Zeit ersetzt worden, und die Unabhängigkeit des Naturwissenschaftlers ist erheblich verwässert worden. Dazu haben viele Faktoren beigetragen, einer davon die Veränderung der Naturwissenschaften selbst. Die Tage der relativ einfachen Experimente gingen zu Ende: hauptsächlich, weil die Phänomene, die mit groben und nicht sehr kostspieligen Instrumenten untersucht werden konnten, allesamt beobachtet worden waren. Wollte man tiefer in die Geheimnisse der Natur eindringen, benötigte man teuerere Gerätschaften. Wie die übrige Gesellschaft, mußten die Naturwissen­schaftler, wie Glasbläser und Hufschmiede vor ihnen, das Ideal, als unabhängige geschickte Handwerker zu arbeiten, aufgeben und sich den die moderne Industrie charakterisierenden interdependenten Operationen unterordnen.

Eine ernste Konsequenz dieses Wandels bestand darin, daß die Forscher einen zunehmenden Betrag ihrer Energie der Beschaffung von Zuschüssen widmen mußten. Obgleich die »Kleinforschung« vergangener Zeiten noch einen eigenen wichtigen Wirkungsbereich behielt, war die »Großforschung« ohne riesige Geldsummen nicht funktionsfähig. Viele Wissenschaftler mußten Kontakte zur Privatindustrie oder zu staatlichen Stellen herstellen und die Geldzuwendungen von dort dazu verwenden, Forschungsstätten einzurichten und die benötigten Instrumente zu kaufen. Diese Art Arbeit erforderte ein hohes Maß an Geschick, Geduld und Takt.

Die Gewährung von Zuschüssen für die Forschung hängt sehr vom guten Willen und vom Vertrauen der geldgebenden Institutionen ab. In den Vereinigten Staaten wird die wissenschaftliche Forschung mit Methoden finanziert, die nicht weniger mannigfaltig sind als die Gesellschaft selbst.

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Einige Unterstützung kommt aus privaten Stiftungen, einige aus der Industrie, einige aus so zahlreichen Quellen, daß wir sie hier nicht wiedergeben wollen. Der Bärenanteil stammt jedoch aus staatlichen Quellen. Der Vorteil dieses Systems ist, daß Bundeszuschüsse durch eine Reihe getrennter Verwaltungskanäle fließen. Dadurch besteht kaum die Möglichkeit, daß ein inkompetenter oder ungeeigneter Beamter in irgendeiner Schlüsselposition der Verwaltung viel Schaden anrichten kann. In kleinen Ländern mit enggeknüpftem Verwaltungsgefüge ist diese Chance dagegen weitaus größer. Dort können bürokratische Schwachköpfe sehr leicht den Fluß der benötigten Zuschüsse an die wissenschaftliche Forschung zum Erliegen bringen.

In der Sowjetunion finden wir ein System vor, das sich von dem der Vereinigten Staaten grundlegend unterscheidet. Die finanzielle Unterstützung der Forschung wird dort zentral von der Akademiya nauk geregelt, die, wie andere wissenschaftliche Akademien in den kommunistischen Staaten, die Funktion erfüllt, die Akademien der Wissenschaft ursprünglich zu erfüllen bestimmt waren. Dieses weise Verfahren können wir wohl der Weitsicht Lenins zuschreiben, der der Akademiya nauk, sogar in den frühen Tagen des sowjetischen Experiments, eine erhebliche Autorität bei der Planung und Lenkung der Entwicklung des Landes zusprach. Trotz gelegentlicher Auseinandersetzungen mit den politischen Führern hat es die Akademie vermocht, ihre Machtposition zu halten, und trotz einiger Fehler hat sie, insgesamt gesehen, auf sehr kompetente Weise die wissenschaftliche und technische Entwicklung geleitet.

In Europa sind Planung und Finanzierung von Forschung von Land zu Land verschieden. Einige Länder haben in dieser Hinsicht gute Arbeit geleistet; in den meisten Ländern jedoch kann man leider nur von Pfuscherei sprechen.

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  Die Geographie wissenschaftlicher Forschung  

Ein gutes Beispiel für den Übergang vom individuellen wissenschaftlichen Streben zur Forschung innerhalb einer komplexen Industrie ist das Gebiet der Astronomie. Hat ein Astronom Instrumente zu seiner Verfügung, die — sagen wir — einige tausend Mark kosten, so kann er damit eine begrenzte Anzahl Sterne beobachten und halbwegs die Bedingungen in unserer nächsten kosmischen Umgebung untersuchen. Falls seine Neugier jedoch über die nächste Umgebung hinausreicht, muß er sich größere und teuerere Instrumente anschaffen. Millionen von Lichtjahren kosten Millionen von Mark.

Die Vereinigten Staaten hatten das Glück, die Wichtigkeit der Naturwissenschaften für eine komplexe Industriegesellschaft vorauszusehen. So errichteten sie schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einige große und gut ausgerüstete Sternwarten. Finanzierungsquellen wurden geschaffen, aus denen Zuschüsse an Astronomen und andere Forscher flossen, und diese Organisationen zur Forschungs­finanzierung wurden Schritt für Schritt weiter ausgebaut. Damit war ein Trend hergestellt, der den wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen in vielen Bereichen auch außerhalb der Astronomie bedeutende Impulse verlieh. Vielleicht erkennen wir eine Analogie zwischen dieser Entwicklung und einem früheren historischen Ereignis, das für die Natur­wissenschaften von großer Wichtigkeit gewesen ist.

Galilei wurde in Europa geboren, und so wurden die Naturwissenschaften eine europäische Spezialität. Die großen Sternwarten wurden in den Vereinigten Staaten geboren, und so ergriffen die Vereinigten Staaten die Zügel der natur­wissen­schaftlich-technologischen Führung. Etwas Ähnliches entdecken wir in der Entwicklung der Atomphysik. Solange das Experimentieren auf diesem Gebiet noch mit relativ geringen Kosten verbunden war, war Europa in der Lage, im Kampf um die Führung mitzuhalten. 

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Als aber die nukleare Forschung in den dreißiger Jahren immer kostspieliger wurde, ergriffen auch hier die Vereinigten Staaten die Zügel und nahmen eine führende Position in der Entwicklung dieses Gebietes ein. Die große ökonomische Macht hat so den Vereinigten Staaten auf einigen Gebieten fast zu Monopolen verholfen: in der modernen Flugtechnik, in der Computertechnik und bei der Schaffung neuer Werkstoffe.

Neben den Vereinigten Staaten hat nur die Sowjetunion die Wichtigkeit erkannt, die naturwissenschaftlich-technologische Initiative zu ergreifen. Der Sputnik war der dramatische Versuch, sie den Amerikanern zu entwinden. Die Sofortreaktion der Amerikaner auf die Leistung der Russen zeigt, wie gut sie verstanden, was auf dem Spiele stand.

Aus Gründen, die zu komplex sind, um sie hier analysieren zu können, scheint Europa die Führung definitiv verloren zu haben. Trotz der ausgedehnten Zerstörungen in Europa während des Ersten Weltkriegs war Naturforschung, sogar in den dreißiger Jahren, eine überwiegend europäische Angelegenheit. Die wichtigsten Zentren der physikalischen Forschung z.B. waren Berlin, Cambridge, Paris und Kopenhagen. Heute hingegen sind die meisten naturwissen­schaftlichen Forschungszentren in Bonewash und Sanlosdiego (in den Städte»ketten« Boston — New York — Washington und San Francisco — Los Angeles — San Diego), in Moskau und vielleicht Leningrad beheimatet.

Schwer zu sagen, wie lange Europa sogar seine derzeitige drittrangige Position noch zu halten versuchen wird. In Japan ist naturwissenschaftliche Forschung in schneller Expansion begriffen, und auch die Chinas sollte sicherlich nicht unterschätzt werden. 

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   Wissen ist Macht  

Die Naturwissenschaften haben als Folge des unersättlichen Wissensdurstes des Menschen über seine physikalische Umwelt einen natürlichen Wandel durchgemacht. Aber auch andere Faktoren haben zu diesem Wandel beigetragen. Erst entdeckten die Industriellen, dann die Politiker, daß Wissen oft Macht gleichzusetzen ist. Jahrhunderte zuvor war es üblich gewesen, wissenschaftliche Entdeckungen auf praktische Probleme anzuwenden, und naturwissen­schaftliches Arbeiten wurde, wie wir gesehen haben, manchmal durch seine potentielle technische Anwendbarkeit inspiriert bzw. gefördert.

Es ist oft gesagt worden, daß der Grund, warum die Naturforschung der Renaissance zum Durchbruch führte, während die der Griechen am Stock verdorrte, darin zu suchen sei, daß die Entdeckungen der Renaissance technologische Ventile fanden. Die griechische Naturwissenschaft blieb wegen ihrer engen Bindung zur Philosophie, da sie nur von begrenztem praktischem Nutzen war, sozusagen auf das Studierzimmer beschränkt. Folglich fehlte ihr die adäquate Unterstützung von seiten anderer gesellschaftlicher Gruppen, und folglich teilte sie das Schicksal der klassischen Philosophie, als die neue Welle christlichen Antiintellektualismus die antike Welt überwältigte.

Möglicherweise erlitt die aufkeimende Naturwissenschaft in Indien und China ein ähnliches Schicksal. Die aufschießenden Naturwissenschaften des Westens während der Renaissance hatten mehr Glück; sie vermochten unter den führenden Köpfen des wirtschaftlichen und politischen Lebens so viele einflußreiche Mäzene zu gewinnen, daß der Boden für den großen Durchbruch genügend bereitet war.

Wie anziehend die Frühzeit westlicher Naturwissenschaft auch gewesen sein mag — es ist offensichtlich, daß es sich bei der extensiven und systematischen Ausbeutung wissenschaftlicher Errungen­schaften um ein verhältnismäßig neues Phänomen handelte, das im Wesen der Naturwissen­schaften einen radikalen Wandel bewirkte.

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Die wissenschaftliche Untersuchung errang den Status einer der wichtigsten Aktivitäten innerhalb der Gesellschaft, und folgerichtig haben die die Gesellschaft regierenden Kräfte die Naturwissenschaften in die soziale Struktur einzubeziehen versucht. Ein Ergebnis davon war, daß auch die Position des Naturwissenschaftlers eine fundamentale Veränderung erlebte. Unschuld und Friedfertigkeit des Geistes machten der Bürde der Verantwortung des Wissenschaftlers Platz für das, was er tut, bzw. für das, was Wissenschaftler als kollektive Gruppe tun.

Die systematische Entwicklung von Kontakten zwischen Wissenschaft und Industrie begann, wie wir erwähnt haben, in Deutschland sogar noch vor der Jahrhundertwende. Die Kooperation beruhte auf dem folgenden Prinzip: Wissenschaftler erklärten sich bereit, ihre Entdeckungen der Industrie zur Verfügung zu stellen und dabei zu helfen, sie in marktfähige Produkte zu verwandeln, und die Industriemagnaten erklärten sich bereit, einen Teil der mit diesen Produkten gewonnenen Profite in die wissenschaftliche Forschung zurückzupumpen. Dieses System funktionierte großartig, und viele andere Länder begannen ihm nachzueifern. 

In den Niederlanden und vor allem in den Vereinigten Staaten hat sich das deutsche Vorbild als von entscheidender Wichtigkeit erwiesen. Doch aus unterschiedlichen Gründen hat das System in vielen anderen Ländern nicht ganz zufriedenstellend funktioniert. In einigen Ländern ist der Mißerfolg auf die ungenügende Verständigung zwischen Wissenschaft und Industrie über ihre gemeinsamen Probleme zurückzuführen. Kurzsichtige Industrielle bevorzugen auch heute zuweilen noch eine Forschung, deren Ergebnisse sich sofort auswerten lassen; sie begreifen nicht, daß viele Forschungsprojekte Arbeiten auf weite Sicht sind. 

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Zur Zusammenstellung und Entwicklung einer Forschungsgruppe ist viel Zeit und Geld erforderlich. Leider ist die Tatsache, daß natur­wissen­schaftlich-technische Initiative, völlig abgesehen von ihren direkt auswertbaren Ergebnissen, per se einen immensen Wert hat, auf bedauerliche Weise mit der Ideologie der »Rationalisierungsexperten« unvereinbar.

In allen modernen Ländern ist Forschung zum festen Bestandteil des industriellen Prozesses geworden, was bedeutet, daß die Wissenschaftler die Verantwortung für die Schattenseiten der Industrialisierung mittragen müssen. Nur wenige Wissenschaftler haben erkannt, wie sehr diese Schattenseiten bewirken können, daß wissenschaftlicher Einsatz zum Nachteil der Menschheit benutzt werden kann.

Doch die signifikanteste Veränderung in der Position des Naturwissenschaftlers stellte sich als Resultat des Zweiten Weltkrieges ein. Man hat gesagt, daß man in ferner Zukunft — Hitlers Name wird dann längst vergessen sein — sich an diesen Krieg als jenen erinnern wird, in dem die Atombombe geschaffen wurde. Doch trotz der unermeßlichen Bedeutung, die die Bombe gehabt hat und noch immer hat, ist es auch möglich, daß sich zukünftige Generationen an das Manhattan-Projekt (das direkt zur Herstellung der Bombe führte) in erster Linie als erste Demonstration erinnern werden, welch überwältigende Ergebnisse erzielt werden können, wenn man sich für ein wissenschaftliches Projekt voll und ganz einsetzt. Die Nachkriegszeit hat zwei weitere Beispiele für solche Resultate geliefert: die Computer und die Raumfahrt. Wir können weitere erwarten.

Wir haben schon die internationalen politischen Folgen der Atombombe angesprochen, und wir wollen das noch einmal tun, mit der Einschränkung, daß wir uns hier damit begnügen, die »Sekundäreffekte« des Manhattan-Projektes auszuloten. Ein wichtiges Resultat besteht darin, daß die politischen Führer sowohl der Vereinigten Staaten wie auch der Sowjetunion — der beiden wichtigsten Atommächte — den unwiderlegbaren Beweis quittieren mußten, welch wertvolles Reservoir die Naturwissenschaftler sind. 

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Ohne Frage würden die Naturwissenschaftler, falls sie mobilisiert werden könnten, in politisch gefährlichen Zeiten ein Machtfaktor von entscheidender Wichtigkeit sein. Deshalb ist es kein Unglück, daß in beiden genannten Ländern wissenschaftliche Forschung als für den Staat primär wichtig angesehen wird. Zudem haben es beide Länder für wert erachtet, selbst auf solchen Gebieten, die keinen direkten Nutzen bringen (»Nutzen« im Sinne von »Abwerfen eines schnellen ökonomischen Profits«), einen Fundus von Wissen aufzubauen.

Führende Köpfe in beiden Staaten sind zu der Einsicht gelangt, wie unmöglich es ist, vorauszusehen, wohin ein Projekt, das in der Hauptsache Grundlagen­forschung ist, führen wird. Auch ziehen es die Regierungen dieser Länder, da Forschung, aus der Perspektive des Bruttosozialproduktes eines großen Industrielandes betrachtet, sehr billig ist (z.B. wird in den Vereinigten Staaten für Zigaretten mehr Geld ausgegeben als für die Grundlagenforschung), vor, eher auf vielversprechende Forschungs­projekte zu setzen, als das Risiko einzugehen, eine Entwicklung abzuwürgen, die wichtig, vielleicht sogar sehr wichtig werden könnte.

Doch außerhalb der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion ist eine solche Einstellung nirgends vorhanden. In den meisten anderen Ländern bleibt man dabei, daß die Arbeit des Wissenschaftlers sofortigen finanziellen Profit abwerfen sollte — eine Haltung, die bewirkt, daß die Möglichkeit von Entdeckungen aufgrund langfristiger Forschung im Keime erstickt wird. Da sich dieser Trend bei den kleineren Nationen wohl kaum in sein Gegenteil verkehren wird, können wir erwarten, daß die beiden Supermächte noch für eine ganze Weile die einzigen Forschungsgiganten bleiben werden. Gewiß, diese aufrichtige Unterstützung der Forschung hat in den Vereinigten Staaten während der letzten Jahre nachgelassen. Hoffen wir, daß das nur eine Übergangserscheinung ist.

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    Das Dilemma des Naturwissenschaftlers  

 

Wenn das Manhattan-Projekt die Einstellung der Politiker gegenüber der Wichtigkeit von Forschung signifikant geändert hat, so hatte es einen gleichbedeutenden Einfluß auch auf die Einstellung des Wissenschaftlers gegenüber seiner Arbeit. Das Manhattan-Projekt weckte in vielen Wissenschaftlern ein Gefühl der Schuld und der Sorge über die gesellschaftlichen Folgen, die die politischen Implikationen ihrer Forschung mit sich brachten.

Schon vor dem zwanzigsten Jahrhundert waren Wissenschaftler daran gewöhnt, Ergebnisse zu produzieren, die von Leuten aus Industrie und Politik verwertet wurden, aber sie betrachteten ihre Produkte als im wesentlichen dem Wohl der Menschheit förderlich. Während des Ersten Weltkrieges jedoch gehörte zu den wissenschaftlichen Errungenschaften auch das Senfgas; der Zweite Weltkrieg dann brachte Atombomben und Raketen. Überrascht und schockiert zugleich, erkannten die Wissenschaftler die Zweischneidigkeit ihrer Arbeit. 

Auf der Kehrseite der Medaille enthüllte sich ihnen das Zeichen der Zerstörung, und für viele entwickelte sich aus diesem Erkennen ein ernster Bewußtseins­konflikt. Es ist nichts Ungewöhnliches für einen Wissenschaftler, der an einem interessanten Problem gearbeitet hat, zu entdecken, daß die von ihm gefundene Lösung neue und wichtige Perspektiven eröffnet. Doch wenn er begreift, daß eine neue Entdeckung zu Mord, Zerstörung und Repression verwendet werden kann — was gibt es für ihn dann zu tun? Falls er sich entscheidet, seine Entdeckung zurückzuhalten, so bedeutet das oft nur, daß er die gefährliche Entdeckung vielleicht ein paar Monate, bestenfalls ein paar Jahre aufschiebt; denn nur in seltenen Fällen ist er der einzige, der diese Entdeckung zu machen fähig ist. Was er heute erkannt hat, werden morgen viele seiner Kollegen erkennen, auch wenn er seine Resultate zurückhält.

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Wenn er es sich, aufgrund seiner Skrupel, erlaubt, von den anderen überrundet zu werden, leidet vielleicht sein persönliches Prestige; er wird die für sein Laboratorium notwendigen Zuschüsse nicht mehr erhalten, so daß die Möglichkeiten, die wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen, ernstlich beschnitten sind. Darüber hinaus mag das Land, dessen Bürger er ist, dadurch ins Hintertreffen geraten, daß ein anderer, vielleicht feindlicher Staat diese Entdeckung macht und sie militärisch anwendet. Tatsache ist, daß eine möglicherweise für die Menschheit gefährliche Entdeckung dem Entdecker, seiner Forschungsstätte und seinem Land oft solide Vorteile verschafft, und auf diese Vorteile auf kurze Sicht wird gewöhnlich mehr Gewicht gelegt als auf die langfristigen Vorteile — ein Ungleichgewicht, das eine der größten Gefahren unserer Zeit ist. Man erkauft sich persönlichen, lokalen und nationalen Einfluß zu dem Preis einer gefährlichen Weltsituation für jedermann. 

Die Unterbrechung dieses fatalen Prozesses ist eine der dringendsten, aber auch schwierigsten Aufgaben, und wir können durchaus nicht überzeugt davon sein, daß eine Lösung im Rahmen der derzeitigen politischen Konstellationen möglich ist. 

Viele forschende Wissenschaftler treffen solche Probleme schon im täglichen Leben an. Falls sie sich überhaupt mit der ethischen Seite ihrer Arbeit beschäftigen, so folgt daraus, daß sie sich für das neue Milieu, das sie für uns alle schaffen, interessieren müssen. Doch scheint es nur wenige zu geben, die einen solchen Sinn für Verantwortlichkeit aufbringen.

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Die Position des akademischen Forschers in seinem elfenbeinernen Turm ist ja auch allzu bequem. Oft hat er einen Prestige bedeutenden Titel und erfreut sich eines geschätzten Daseins in einem gemütlichen akademischen Heiligtum. Sich in die weltlichen Geschäfte einzumischen, würde den Bruch mit der akademischen Tradition bedeuten. In vielen Ländern fehlt solchem öffentlichen Engagement das akademische Prestige; es trägt nicht zum beruflichen Fortkommen bei. Aus diesen Gründen neigen die meisten Wissenschaftler dazu, die Schuld für die negativen Anwendungen ihrer Resultate auf Politiker und Industrielle zu schieben, oder auf jene, die die Resultate direkt vom Labor in die Praxis überführen. Irgendwelche moralische Verantwortung für die Folgen ihrer Arbeit erkennen sie nicht an; sie haben ihre Aufgabe erfüllt.

 

  Wem gehören die Forschungsergebnisse?  

Doch das Problem hat noch einen weiteren Aspekt, der bislang weitgehend unerkannt blieb: Großen Gruppen äußerst fähiger Wissenschaftler wird regelrecht verboten, die Ergebnisse ihrer Arbeit zu veröffentlichen und Ansichten kundzutun, die für uns alle von größter Wichtigkeit sein könnten. Zum Beispiel sind viele in der Industrie tätige Wissenschaftler in dieser Weise eingeschränkt.

Gelangt ein Forscher in einem Industriebetrieb zu der Erkenntnis, daß ein bestimmtes von seiner Firma geplantes Projekt die Natur vergiften oder Menschen töten wird, dann kann er dieses Wissen nicht der Öffentlichkeit zugänglich machen, weil sein Vertrag ihm dies verbietet. Er ist von der Firma angestellt worden, weil er für sie von Nutzen ist, und ohne Zustimmung seines Chefs darf er keine öffentlichen Erklärungen abgeben. Wenn er der einzige auf der Welt ist, der weiß, wie gefährlich einige der Projekte seiner Firma sind, wird ihn sein Chef sehr wohl anweisen, darüber Still­schweigen zu bewahren. Seine Kenntnisse sind Eigentum der Firma; er muß stillschweigend zusehen, wie die wirtschaftliche Auswertung seiner Entdeckungen seinen Mitmenschen Schaden zufügt.  

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Ein solches Dilemma tritt nicht nur in Privatfirmen zutage, sondern auch bei staatlichen Wissenschafts­vorhaben und in staatlichen Forschungs­instituten. In vielen von ihnen ist es den Forschem offiziell untersagt, ohne Zustimmung ihres Dienstherrn irgendwelche öffentlichen Erklärungen abzugeben. Selbst wenn Beschränkungen dieser Art nicht offiziell auferlegt sind, kann eine öffentliche Erklärung, die dem Dienstherrn mißfällt, derart unangenehme Folgen für den Wissenschaftler haben, daß er es vorziehen mag, statt dessen sein Bewußtsein zu kompromittieren. Obwohl man annehmen sollte, daß staatliche Organisationen dem Volke dienen — es gibt eben zu viele Verwaltungsebenen zwischen dem Volk und dem führenden Kopf irgendeiner Organisation. Sollte das Prestige dieses Mannes mit dem Wohl des Volkes in Konflikt geraten (z.B. der Schutz des Volkes vor den Gefahren der Industrialisierung), so ist durchaus möglich, daß das Prestige den Ausschlag gibt.

Im 6. Kapitel haben wir die persönliche Situation des Generals, des Geschäftsmannes und des Politikers beleuchtet. Die Position des Wissenschaftlers ist manchmal ähnlich. Er denkt zuerst an seine Karriere, dann an das Wohl des Institutes oder der Firma, der er dient; auch hier wieder muß das Wohl der Menschheit oft den zwei anderen Prioritäten weichen. Es wäre wünschenswert, die Rangfolge der Prioritäten umzukehren. Aber trotz all seiner Kenntnisse ist der Wissenschaftler eben auch nur ein Mensch.

Deshalb verhindern akademische Tradition plus Stellung des Wissenschaftlers in staatlichen und industriellen Organisationen, daß mehr als nur ein winziger Teil unseres angesammelten Wissens der übrigen Menschheit zugänglich wird — um uns vor den Gefahren des technologischen Zeitalters zu schützen. Das Wissen steht nur den Herrschenden zur Verfügung; für alle übrigen bleiben nur sehr geringe Möglichkeiten, um sich gegen den Mißbrauch dieser Kenntnisse durch die Herrschenden zu wappnen.

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Es liegt nicht an unserem Unwissen, daß die Natur vergiftet und verwüstet ist. Viele dieser nachteiligen Effekte waren für die Wissenschaftler alles andere als eine Überraschung. Viele von ihnen waren sich vieler der potentiellen Gefahren lange vor den schädlichen Aktionen bewußt. Die wirkliche Ursache ist das Verhältnis zwischen Macht und Wissen in der modernen Gesellschaft. 

Das Mittelalter nannte die Philosophie Ancilla fidei, »Diener des Glaubens«; heute sind die Naturwissenschaften loyale und gewöhnlich stille Diener der Macht.

Doch keine Regel ohne Ausnahmen. Eine kleine Zahl Wissenschaftler hat das Schweigen gebrochen, vor den Gefahren durch Atombomben gewarnt, gegen die Verseuchung von Luft und Wasser protestiert und die Gefahren der Bevölkerungsexplosion hervorgehoben. Durch Bekräftigung ihrer Proteste mit der ganzen Autorität unwiderlegbarer wissenschaftlicher Information haben diese Menschen eine gesunde Basis für die Absage an eine Politik der Aggression und der Ausbeutung gelegt. 

Als Ergebnis ihrer Anstrengungen hat sich weltweit die Stimme der Vernunft erhoben. In starkem Maße ist es ihnen zu verdanken, daß seit Hiroshima und Nagasaki kein neuer Atomkrieg stattgefunden hat. Politiker und Generäle haben oft genug damit gedroht, die Bombe einzusetzen, aber die Proteste wachsamer Menschen überall in der Welt haben Herrschende daran gehindert, ihre Drohungen wahrzumachen. Über diese Wissenschaftler können wir wohl sagen, daß selten so viele so wenigen für so viel zu Dank verpflichtet waren.

Doch sie konnten nur einen Teilerfolg verbuchen. Daß die Vorräte an Atomwaffen mit jedem Tag anwuchsen, haben sie nicht verhindern können, und damit auch nicht, daß die Gefahr einer Katastrophe ständig zunimmt. Trotz ihrer Schreie der Entrüstung ist die Vergiftung der Natur — und auch die Bevölkerungs­explosion — lawinenartig und in erschreckender Weise angewachsen. 

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1969 -  Hannes und Kerstin Alfvén  M-70  Die Menschheit  der siebziger Jahre