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10.  Die Symbiose Mensch-Technik 

Alfven-1969

 

   Wird unsere Situation besser oder schlechter?   

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In den vorangegangenen Kapiteln haben wir die bemerkenswerte Form von Leben zu analysieren versucht, die sich auf dem dritten Planeten entwickelt hat.

Eine von vielen Spezies entwickelte sich bis zu einem Grade, daß sie ihre eigene Situation zu untersuchen begann. Sie hat angefangen, sich selbst als ein Produkt von atomaren und kosmischen Kräften zu betrachten. Der Mensch hat seine erworbenen Kenntnisse dazu benutzt, die Natur zu beherrschen, er ist Herr über die Atome geworden und auf dem besten Wege, auch Herr über die kosmischen Kräfte zu werden. Für all dies hat also diese Spezies genügend Intelligenz bewiesen; das Problem, die Koexistenz zwischen Mensch und Mensch aufzubauen, scheint sie jedoch zu überfordern.

Wie sieht die Zukunft des Menschen aus? Denken wir uns zu dieser Frage einen Dialog zwischen einem Pessimisten und einem Optimisten.

Der Pessimist wird vor allem auf die schrecken­vollen Zukunfts­aussichten der Übervölkerung hinweisen, auf die ständig steigenden Mengen an todbringenden Atombomben, an anderen Waffen und Giften, deren bloße Existenz immer stärker die Vernichtung der Menschheit androht. Er wird auf die Polarisation von reichen und armen Nationen und auf die sich ständig vergrößernde Kluft zwischen ihnen verweisen, da die reichen noch viel reicher, die armen dagegen nur wenig reicher, wenn nicht ärmer werden. Schließlich wird er auf unsere wachsende Unwissenheit aufmerksam machen und auf den Argwohn und den Haß, die sie erzeugt, was sie sowohl als Symptome wie auch als Ursachen unseres Dilemmas kennzeichnet. 

Der Optimist wird mit einer gleichlangen Liste von glänzenden Aussichten antworten. Die Bedrohung durch die Bevölkerungsexplosion kann beseitigt werden, da wir über die technischen Fähigkeiten verfügen, sie ohne unüberwindliche Schwierigkeit zum Stillstand zu bringen. Ähnlich wird er die Meinung vertreten, daß es praktisch einfach sei, die Herstellung von Atombomben zu stoppen und die bereits vorhandenen zu vernichten. Unsere Unwissenheit über unsere Situation und über unseren Nächsten wird er mit der Tatsache widerlegen, daß die Anhäufung von Kenntnissen und Fähigkeiten insgesamt zunimmt. Bei so vielen positiven Aussichten kann der Optimist unsere Gesamt­situation nur als recht hoffnungsvoll einstufen.

Überprüfen wir jedoch beide Aufstellungen einmal genauer, so entdecken wir, daß der Pessimist sich überwiegend mit dem »hier und heute« befaßt, während der Optimist sich mehr darüber Gedanken macht, was wir tun könnten, und nicht genügend Gedanken darüber, was wir gerade tun.

Es stimmt zwar, daß der Mensch Familienplanung zu praktizieren beginnt, aber einige der heute befürworteten Methoden sind einfach zu umständlich. Zudem sind in vielen Ländern die staatlichen Anstrengungen zur Durchführung der Geburtenkontrolle begrenzt und dem ständigen starken Widerstand reaktionärer Kräfte ausgesetzt. —

Es stimmt zwar, daß Verhandlungen zur Abrüstung im Gange sind, aber sie sind nur eine Fassade, hinter der das Wettrüsten weitergeht oder gar forciert wird, zum Teil aufgrund des Drucks von seiten militärisch-industrieller Kräfte in vielen verschiedenen Ländern und vielleicht zum größeren Teil aus Furcht, Haß und Unwissenheit. — 

Es stimmt zwar, daß die reichen Nationen den unterentwickelten Ländern Hilfe leisten, aber sie ist oft von einer Art, die für die Lösung weit­reichender Probleme keine wirkliche Hilfe bedeutet.

spasmodisch: Duden: (vom Spannungszustand der Muskulatur) krampfartig, krampfhaft, verkrampft   wikipedia  Spasmodische_Dysphonie  

Hält ebendieser Trend — spasmodische Schritte der Weiterentwicklung, begleitet von ernsthaften Rückschlägen — weiterhin an, wird die unvermeidbare Folge eine anhaltende Degeneration der Weltsituation sein. 

Soweit der Zustand der heutigen Welt.

Aller Wahrscheinlichkeit nach geht es mit uns bergab.

Warum? Die einzig mögliche Antwort darauf lautet, daß es bei dem jetzt bestehenden politischen System unmöglich ist, die großen Probleme der kybernetischen Ära zu lösen. 

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   Globale Stabilität  

Möglicherweise — so mag man einwenden — finden wir sogar im Rahmen der gegenwärtigen Regierungs­strukturen Mittel, die Evolution produktiver zu lenken, wobei alle derartigen Möglichkeiten natürlich genutzt werden sollten. Es ist aber auch möglich, daß die derzeitige Situation von Grund auf unstabil ist.

Physiker wissen, daß bei vielen komplizierten Systemen Kriterien, die um der Stabilität dieser Systeme willen erfüllt werden müssen, auch gefunden werden können. Wird z.B. ein Ballon mit einer nur geringen Menge Gas gefüllt, ist er in dem Sinne stabil, daß das Gas, wenn wir mit der Nadel ein kleines Loch in den Ballon stechen, nur langsam ausströmen wird. Es bleibt Zeit genug, das Loch zu flicken und das Ausströmen des Gases zu verhindern. Wird der Ballon aber über eine bestimmte, theoretisch zu berechnende Grenze hinaus aufgeblasen, wird er bei der Berührung mit einer Nadel zerplatzen. 

Obwohl Analogien immer gefährlich sind und niemals sehr viel beweisen, wollen wir einmal annehmen, daß der Ballon die politische Struktur in der Welt darstellt und das Gas die rohe Gewalt und die Mittel der Zerstörung. Wenn in eine mit gemäßigten Machtmitteln funktionierende Struktur mehr zerstörende Kraft hineingepumpt wird, als sie gefahrlos aufnehmen kann, wird die Chance der Explosion groß sein.

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Ein weiteres Beispiel:  

In der Plasmaphysik (der Physik der ionisierten Gase) haben Wissenschaftler die Möglichkeiten untersucht, wie große Mengen von Molekülen, Atomen, Ionen, Elektronen und Photonen aufeinander einwirken können. Ein solches »Vielkörper«-Problem ist außerordentlich kompliziert. Für die Bestimmung der Bedingungen, unter denen ein Plasma stabil ist, wurde und wird erhebliche Forschungs­arbeit aufgewendet. Da so zahlreiche Reaktionen möglich sind, kann das Plasma auf mehrere verschiedene Weisen unstabil werden. Einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung zufolge gibt es zweiunddreißig verschiedene Arten von Unstabilitäten in einem Plasma. Je dichter das Plasma — d.h. je mehr Teilchen in einem bestimmten Volumen enthalten sind —, desto leichter werden Unstabilitäten auftreten.

Ziel der Plasmaphysik ist aber nicht nur, die verschiedenartigen Unstabilitäten darzustellen — das ist nur der erste Schritt —, ihre wichtigste praktische Aufgabe besteht darin, sie zu beheben und zu zeigen, wie man ein Plasma stabilisieren kann. Der Physiker versucht das durch die systematische Beseitigung einer Unstabilität nach der anderen. Das Zusammenwirken einer großen Zahl von Menschen ist nun zweifellos ein weitaus komplizierteres Problem als die gegenseitige Beeinflussung von Molekülen, Atomen, Ionen, Elektronen und Photonen. Trotzdem ist es vielleicht möglich, einige allgemeine Gesetze zu finden, unter denen diese Kooperation möglich werden kann. Viele mathematisch-physikalische Gesetze sind so allgemein, daß sie sich auch auf völlig andersartige Probleme anwenden lassen. Im Prinzip ist es möglich, eine gewisse Analogie zwischen einem Vielkörper-Problem wie dem in der Plasmaphysik und den Vielkörper-Problemen, vor denen die Menschheit heute steht, herzustellen — eine Analogie, die allerdings gewagt ist.

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Aber sie als Grundlage verwendend, könnten wir folgende Annahmen über den Menschen und seine Welt treffen: 1. Je größer die Bevölkerung auf der Erde, desto schwieriger ist es, stabile Verhältnisse zu schaffen. 2. Wird eine bestimmte Bevölkerungszahl überschritten, werden stabile Verhältnisse nicht mehr möglich sein. Die rasche Kommunikation erhöht die zwischenmenschliche Beeinflussung und damit die menschliche Unstabilität. Ein technisches oder kulturelles Ventil in Form einer Weltraumkolonie oder sogar mehrerer Weltraum­kolonien hätte einen stabilisierenden Effekt. 3. Verstärkte Zentralisierung hat auf kurze Sicht einen stabilisierenden, auf lange Sicht jedoch einen zerstörenden Effekt. 4. Die schwierigste Frage lautet, ob es möglich ist, dauerhafte Lösungen im Rahmen der derzeitigen politischen Struktur zu finden.

 

  Stabilität und Humanität  

Wie wir bereits festgestellt haben, sind dies alles nur Vermutungen. Eine nähere Analyse komplizierter Probleme erzielt oft sehr überraschende Resultate. Darüber hinaus dürfen wir bei der Analyse eines Vielkörper-Problems nicht erwarten, mehr als eine eingeschränkte Wahrheit zu entdecken, obwohl auch sie wichtig sein kann. Insbesondere dann muß diese Tatsache berücksichtigt werden, wenn wir uns mit dem Problem der menschlichen Kooperation befassen, weil es sich hierbei nicht so sehr um ein Vielkörper-, sondern mehr um ein »Vielseelen«-Problem handelt. Zwischen Atomen und Menschen besteht eben doch ein großer Unterschied.

Schließlich ist das Problem menschlicher Koexistenz nicht nur ein Problem der Stabilität. Angenommen, wir hätten eine Lösung gefunden, die uns in die Lage versetzte, Krieg und Hungersnot zu vermeiden, so würde das noch nicht bedeuten, daß das Problem menschlicher Koexistenz gelöst ist. Eine gleicher­maßen dringende Forderung an die Organisationsstruktur der Welt geht dahin, daß sie den Menschen die Möglichkeit eines ihnen würdigen Daseins gibt. Dem gegenwärtigen Trend zur Menschen­feindlichkeit muß ein Ende gesetzt werden.

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Gleichgültig, auf welche Weise wir an das Problem der globalen Existenz des Menschen herangehen — man kommt nicht umhin, zu erkennen, daß vor seiner Lösung enorme Hindernisse stehen. Noch schwerwiegender ist, daß bisher keine Gruppe eine vorurteilsfreie Überprüfung dieser Frage vorgenommen hat. Einige Aspekte des Problems sind in den UN-Organisationen, andere in Institutionen der Friedens- und Konfliktforschung behandelt worden. Hier ist beispielsweise eine interessante und wichtige Aktion zu nennen, die von Wissenschaftlern aus aller Welt durchgeführt wurde; sie trafen sich zu den sogenannten Pugwash-Konferenzen, um den Widerstand gegen das Wettrüsten zu mobilisieren.

Aber allem Anschein nach wurde das Problem nicht in ausreichend tiefgreifender und offenherziger Weise behandelt. Die meisten der heutigen Untersuchungen beschränken sich auf die spezielle Frage, was getan werden kann, um die gegenwärtige politische Struktur der Welt zu verbessern. Eine wichtige Frage, gewiß, und alle Bemühungen in Richtung auf eine Verbesserung der bestehenden politischen Struktur müssen begrüßt werden. Aber wir stehen noch vor anderen, grundlegenderen Problemen von noch ausschlaggebenderer Bedeutung. Ein solches Kernproblem ist die Frage, ob die gegenwärtige, auf unabhängigen, zu rivalisierenden Militär- und Wirtschaftsblöcken gruppierten Staaten beruhende Struktur fähig ist, mit dem kybernetischen Zeitalter fertig zu werden. Ein weiteres die Frage, ob andere Methoden für Auslese und Wahl unserer politischen Führer vorzuziehen wären.

Diese Fragen sind ausgiebig erörtert worden, aber selten hat man ihre Tragweite vollkommen erkunden können. Die meisten Menschen ziehen es vor, sich hinter einem Vorhang aus Rauchschwaden zu verkriechen. Oder sie trösten sich mit der Hoffnung, daß die großen Probleme sich mit der Zeit von allein lösen werden. 

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  Der Gebrauch der Vernunft  

Natürlich werden sich die Hauptprobleme von allein lösen, aber wie? Gibt es irgendwelche ähnliche Situationen, die wir zum Vergleich heranziehen könnten? Nehmen wir die Biosphäre

Zum erstenmal in ihrer Entwicklungsgeschichte ist die gesamte Biosphäre unseres Planeten zu einer Einheit geworden, mit dem Menschen als ihrem allesausbeutenden Herrscher und dem Menschen als Lenker ihrer weiteren Evolution. Die Biosphäre als ökologisches System ist sehr wohl einem See vergleichbar. Wir wissen, daß sich das Leben in einem See als Folge des Zusammenspiels einer Reihe von autonomen Prozessen entwickelt und daß diese Entwicklung bestimmten allgemeinen Gesetzen folgt. Die Vegetation, in einem jungen See noch spärlich, wird mit dem Alter immer üppiger. Das Leben fördert sich selbst, bis ein bestimmtes Stadium erreicht ist: Die Besiedlung durch die tierischen und pflanzlichen Arten wird zu dicht, die Abfallprodukte häufen sich an. Der See wird kleiner und flacher, und schließlich führen dieselben autonomen Prozesse die Vernichtung des Sees herbei. An der Stelle des ausgetrockneten Sees bildet sich ein Sumpf.

Wir erkennen daran, daß die ersten Evolutionsphasen der Biosphäre denen eines Sees ähnlich waren. Als Leben auf der Erde begann, gestaltete es die Erde wohnlicher: Der Sauerstoff in der Atmosphäre ist das Produkt frühen anaeroben Lebens, für höherentwickelte Lebensformen ein unerläßliches Element. Nachdem die Ozeane mit Leben erfüllt waren, drang es auf die ursprünglich tierlosen Kontinente vor. Das Festland war von Pflanzen besiedelt, und diese nun machten es für tierisches Leben geeignet; der Mensch zog sowohl aus Pflanzen wie aus Tieren seinen Nutzen. Leben förderte weiteres Leben, und die Biosphäre weitete sich über den größten Teil des Planeten aus. Zu Beginn seiner Aktivität trug der Mensch durch die Kultivierung weiteren Landes zu dieser Expansion bei.

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Bald aber war das Optimum überschritten. Selbst die erste Nahrungsmittel anbauenden Völker verursachten auf den von ihnen kultivierten Landflächen so viel Erosion, daß der Boden immer unfruchtbarer wurde — der wahrscheinliche Hauptgrund für den Verfall mehrerer alter Kulturen. Heute kennen wir eine ganze Reihe von gefährlichen Prozessen: neben der Erosion die Umweltverschmutzung, die Anhäufung von Vernichtungs­waffen und die Übervölkerung. In einem hohen Maße sind all diese Prozesse autonom, unkoordiniert und bis jetzt im wesentlichen unkontrolliert. Sie sind den autonomen Prozessen, die einen See in seine letzte Lebensphase treten lassen, in erschreckendem Maße ähnlich. Kein Ökosystem besitzt von sich aus irgendeinen Selbsterhaltungstrieb. Ein Ökosystem ist keine Spezies, die soviel Verstand besitzt, die verschiedenen Prozesse zu koordinieren und sie davor zu bewahren, in blindem Kurs auf die Katastrophe zuzusteuern.

Zwischen Ökosystem und Biosphäre besteht jedoch ein entscheidender Unterschied. Die Biosphäre wird vom Menschen beherrscht, der über genügend geistige Fähigkeiten verfügt, sich selbst, als Spezies, durch den Gebrauch der Vernunft zu lenken. Der Mensch hat die Gefahr bereits zu erkennen begonnen, und es wäre durchaus denkbar, daß er sein Schicksal ändern kann, indem er diese autonomen, seine Zukunft bedrohenden Prozesse in eine andere Richtung lenkt oder zum Stillstand bringt. Die meisten Menschen möchten diese Probleme gern gelöst sehen, und in zahlreichen Erklärungen wird die Lösung der Probleme auch versprochen. Außerdem gibt es viele Naturwissenschaftler, Soziologen und andere Experten mit genügend allgemeiner Vertrautheit mit der Erforschung schwieriger Probleme, die vielleicht einen realisierbaren Plan für die Organisierung der Welt und die Kooperation aller Menschen ausarbeiten könnten. 

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Ein sorgfältig geplantes System, das die berechtigten Forderungen des Menschen nach Befreiung von Krieg, Not und Unterdrückung erfüllen kann, wäre von diesen Wissenschaftlern durchaus zu bekommen. Bis jetzt aber ist noch kein ernsthafter Versuch unternommen worden, ein solches System zu entwickeln: Offensichtlich zieht es der Mensch vor, wie der Schimmelpilz zu leben.

Man hat behauptet, daß selbst dann, wenn eine theoretische Lösung zu finden möglich wäre, es gar keine Chance gäbe, sie im wirklichen Leben auch anzuwenden. Nehmen wir beispielsweise an, daß eine solche Lösung von den derzeitigen Politikern die Reduzierung von Macht und sogenannter Souveränität forderte. Die Politiker würden diesen Vorschlag niemals akzeptieren, und da sie es sind, die die Macht in Händen halten, könnte eine solche Aktion niemals gegen ihren Willen durchgeführt werden.

Die Träume blauäugiger Utopisten sind für das praktische Leben von sehr geringer Relevanz. Obwohl dies gewiß ein sehr schwerwiegender Einwand ist, können wir uns Verzweiflung nicht leisten. Wenn es unvermeidlich ist, daß die gegenwärtige politische Situation zu einer Katastrophe führt — und es scheint tatsächlich unvermeidlich zu sein , dann muß jede andere Möglichkeit erforscht werden. Wir haben unzählige historische Parallelen zu unserer gegenwärtigen Situation.

Während des 14. und 15. Jahrhunderts — zur Zeit der Kondottiere wurde Italien ständig von Unruhen heimgesucht. Verheerende Kriege wechselten einander in rascher Folge ab in rascherer Folge als heute. In der Geschichte Chinas können wir eine Periodizität von einigen Jahrhunderten feststellen: Eine stark zentralisierte Macht erzwingt für ein oder möglicherweise zwei Jahrhunderte den Frieden, dann folgt der langsame Verfall bis zur allgemeinen Anarchie. Das endet dann wiederum in einer neuen, durch eine zentrale Macht erzwungenen Ära des Friedens, die dann abermals zerfällt. 

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Ökonomische Unstabilitäten, wie sie im völlig unkontrollierten kapitalistischen System auftraten, sind eine weitere interessante historische Parallele, die wir ja bereits im vorhergehenden Kapitel erörtert haben. Booms und Depressionen lösten einander in rascher Folge ab, bis schließlich Eingriffe von Seiten der Regierungen das gesamte System veränderten.

Wir können zwischen der regelmäßigen Folge von Wirtschaftskatastrophen und der Folge von politischen und militärischen Katastrophen, wie wir sie in den Weltkriegen erlebten, einen Vergleich ziehen. Wir haben zwei derartige Kriege gehabt, und viele Leute befürchten, daß wir uns auf dem Wege in einen dritten befinden. Die politisch-militärische Lage scheint alles andere als stabil zu sein: Wettrüsten läuft im allgemeinen auf einen Weltkrieg hinaus, dem dann eine Periode der Kriegsmüdigkeit folgt, die dann wiederum von Wettrüsten abgelöst wird.

Gibt es irgendeine Möglichkeit, diesen Circulus zu unterbrechen? Die Serie der durch Depressionen verursachten Wirtschafts­katastrophen konnte so lange nicht unterbrochen werden, bis eine theoretische Analyse der Möglichkeiten, die Wirtschaft zu stabilisieren, erstellt wurde. Danach konnten von seiten der Regierung Maßnahmen getroffen werden, die die Vorschläge der Analyse erfolgreich in die Realität überführten. 

Aber das Problem des weltweiten Krieges ist sehr viel schwieriger. Erstens hat der Mensch bis jetzt noch keine praktikable Theorie zur Vermeidung eines Weltkrieges entdeckt. Zweitens setzte die Beseitigung wirtschaftlicher Depressionen die Existenz einer Macht voraus, die die notwendigen Maßnahmen erzwingen konnte. Die Unterbrechung der Folge von Wirtschaftskatastrophen war deshalb möglich, weil die Politiker im Namen des Volkes die Führer der Wirtschaft ihrer Lenkung unterordnen konnten. Wenn wir aber die Folge von militärischen und politischen Katastrophen unterbrechen wollen, wo finden wir da die Macht, die unfähige Politiker lenken kann? Das ist die zentrale Frage, eine alles entscheidende Frage.

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     Unser schicksalhaftes Problem    

 

Es wäre allerdings ungerecht, die Schuld für die gegenwärtige Weltsituation allein der Unfähigkeit der Politiker zuzuschreiben. Wir alle wünschen, daß unsere Politiker eine bessere Qualifikation und mehr Weitblick bewiesen und, allem voran, dem Wohl der gesamten Menschheit die höchste Priorität einräumten. Wir wünschen uns vielleicht, daß alle Personen in verantwortlichen Positionen klüger und vernünftiger wären, als sie es sind.

Aber die führenden Politiker sind in der Drehtür der Politik gefangen, und der Mechanismus politischer Selektion funktioniert in der Weise, daß er nur denen Macht verleiht, die die Fähigkeit haben, sie zu ergreifen und festzuhalten. So kann es nur durch einen Glücksfall geschehen, daß eine Person an die Macht gelangt, die ihre Autorität in den Dienst der Humanität stellen möchte und stellen kann.

Wir dürfen nicht erwarten, daß sich unsere gegenwärtige Lage verbessert, ohne daß sie vorher im einzelnen analysiert wird — und ohne daß genau bestimmt wird, welche Wege zu einer Verbesserung führen können. Das ist keine Aufgabe, die man von Politikern erwarten kann. Nur selten sind Politiker die Schöpfer einer konstruktiven und grundlegend neuen Denkweise gewesen. Vielmehr setzen Politiker dann, wenn sie durchgreifende Veränderungen durchführen, nur die von Philosophen und Wissenschaftlern (sowohl Naturwissenschaftlern wie Soziologen) entwickelten Systeme in die Wirklichkeit um.

Die Inspiration zur Französischen Revolution ging von den Philosophen der Aufklärung aus, die zu den Revolutionen Lenins und Maos von Marx und die zu Roosevelts New Deal von seinem Brain Trust, der sich zum größten Teil aus Wirtschaftsprofessoren zusammensetzte.

Was unsere derzeitige Situation so prekär macht, ist die Tatsache, daß sich offensichtlich niemand eingehend und systematisch mit dem Problem des menschlichen Zusammenlebens im kybernetischen Zeitalter befaßt.

Wir können unsere gegenwärtige Situation vielleicht auf diese Weise umschreiben: 

Die utopische Tradition ist tot, zumindest welkt sie am Strauch dahin. Die Philosophen der Aufklärung träumten von einer neuen und besseren Welt, so wie auch Marx und andere sozialistische Denker; die Propheten der modernen Gesellschaft aber bieten uns Bilder des Grauens an wie jene in George Orwells utopischem Roman <1984>. Sie sprechen lediglich über das, was wir fürchten, nicht aber über das, was wir wünschen und hoffen.

Das Dominieren dieser Art Prophezeiung ist wahrscheinlich eine Folge unseres Überwechselns von einer Symbiose mit der Natur zu einer Symbiose mit unserer eigenen Technologie, die den Wert alter Traditionen stark erschüttert und die Notwendigkeit neuer Traditionen geschaffen hat. Von den überlieferten politischen und gesellschaftlichen Ideologien darf man nicht erwarten, daß sie ohne eine kräftige Zugabe wissenschaftlichen und technologischen Denkens konstruktive Lösungen für die Probleme des kybernetischen Zeitalters liefern können. Aber erst in jüngster Zeit haben Wissenschaftler und andere Experten an den gesellschaftlichen und politischen Fragen Interesse zu zeigen begonnen.

Ehe irgendeine Aktivität von Bedeutung durchgeführt werden kann, müssen internationale Gruppen aus allen Disziplinen gebildet werden, und sie müssen die Freiheit besitzen, über nationale Grenzen hinweg ohne Druck von seiten der Politiker zusammen­zuarbeiten. Sollten diese Gruppen irgendwelche konkreten Vorschläge machen, bliebe die schwierigste Aufgabe immer noch zu bewältigen: sie in die Wirklichkeit umzusetzen. 

Ein langer und mühsamer Weg, aber der einzig mögliche; es ist unerläßlich, daß wir bald den ersten Schritt tun.

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1969 -  Hannes und Kerstin Alfvén  M-70  Die Menschheit  der siebziger Jahre