Algerien - Krieg - 1954-1962

2022 - 60 Jahre Kriegsende und Unabhängigkeit und "Vertreibung" und "Einwanderung"

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60 Jahre Unabhängigkeit - Frankreich und der Algerienkrieg

2022  deutschlandfunk.de/frankreich-algerienkrieg-unabhaengigkeit-100.html

Der 60. Jahrestag des Waffenstillstands zwischen Frankreich und Algerien fällt mitten in den französischen Präsidentschaftswahlkampf – und verleiht dem ohnehin kontroversen Thema zusätzliche Brisanz. Präsident Macron hatte sich sehr für die Aufarbeitung der schmerzhaften Vergangenheit eingesetzt – das gefällt nicht allen.

Von Birgit Kaspar | 18.03.2022

Eine französische Propagandapostkarte aus dem Algerienkrieg 1954-62. Der Algerienkrieg dauerte von 1954 bis 1962. Frankreich tut sich bis heute mit der Aufarbeitung des Kolonialkrieges schwer.

18. März 1962:

In Évian, am Südufer des Genfer Sees, wird nach zähen Verhandlungen ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Paris und der provisorischen Regierung der Algerischen Befreiungsfront FLN unterzeichnet. Es beendet am Tag darauf den acht Jahre währenden Krieg und macht den Weg frei für die Unabhängigkeit der einzigen französischen Kolonie, die zugleich integraler Teil Frankreichs war. Im französischen Fernsehen erklärt Präsident Charles de Gaulle, dies sei ein guter Vertrag für die Nation. Er zeigt sich zuversichtlich, dass Frankreich und Algerien einer fruchtbaren und engen Zusammenarbeit entgegenblicken:

„Die Präsenz einer großen französischstämmigen Gemeinschaft, die heute eine wichtige Rolle in Algerien spielt – und Frankreich erwartet von ihr, dass sie das auch in Zukunft tun wird – sowie die Vielzahl der Muslime, die übers Mittelmeer kommen, um bei uns zu arbeiten oder sich zu bilden, zwingen Algerien zu einer solchen Zusammenarbeit.“

In Frankreich nicht willkommen

Doch die wichtige künftige Rolle der ursprünglich aus Europa stammenden Algerienfranzosen in ihrer neuen Heimat blieb Wunschdenken. Viele der rund eine Million Pieds-Noirs hatten zu dem Zeitpunkt schon ihre Koffer gepackt, die meisten anderen folgten. So auch Suzy Simon-Nicaise und ihre Familie. Denn die Gewalt in Algerien ging weiter. Und ihr Vater stand auf einer der berüchtigten Abschusslisten der Algerischen Befreiungsfront FLN.

„Das Verschwinden lassen, die Entführungen, die Drohungen – all das war ein Signal. Es bedeutete: Koffer oder Sarg. Weil wir abhauen sollten. Weil sie Anspruch erhoben auf alles, was uns gehörte. Deshalb mussten wir gehen.“

Die Familie Nicaise floh wie viele andere mit wenig Gepäck auf einem Frachtschiff nach Marseille. Doch auch in Frankreich waren sie nicht willkommen. Die Erinnerung an die ersten Tage, provisorisch untergebracht in einer Ferienkolonie, bleiben prägend:

„Dort tanzten die Urlauber den ganzen Tag Twist. Das verfolgt mich bis heute. Meine Familie weinte, während die anderen tanzten.“

Harki wie Pestkranke behandelt

Noch schwerer hatten es zehntausende Harki, Algerier, die die französische Armee im Kampf gegen die Rebellen unterstützt hatten. Präsident De Gaulle hatte sich strikt gegen eine Aufnahme ausgesprochen. Auch wenn sie in ihrer Heimat der oft tödlichen Rache der algerischen Befreiungsfront FLN ausgesetzt waren.

Die meisten Harki, die es dennoch nach Frankreich schafften, wurden jahrelang in Lagern, weit weg von französischen Dörfern und Städten, untergebracht. Man habe sie wie Pestkranke behandelt, klagt Abdelkrim Sid, der heute 61jährige Sohn eines Harki.

 

Angehörige der Harki demonstrieren gegen das französische Gedenken gegen das Kriegsende 1962. Sie fühlen das Andenken der Harki nicht ausreichend gewürdigt.

 

60 Jahre sind seitdem vergangen. Doch für die Pieds-Noirs, die Harki, für die ehemaligen Soldaten des Algerienkrieges und auch für viele der heute rund zwei Millionen algerischen Einwanderer und ihrer Nachkommen gilt: Das Trauma des Algerienkrieges ist geblieben. Mehr oder weniger bewusst.

Der Historiker Benjamin Stora warnte in seiner Bestandsaufnahme zur Aufarbeitung der französisch-algerischen Vergangenheit für Präsident Emmanuel Macron: „Wir wissen, die Realitätsverweigerung einer Tragödie birgt immer die Gefahr, dass die Erinnerungen einen auf gefährliche, grausame Weise wieder einholen.“

Macron will Versöhnung und sorgt für Entrüstung

Dass der 60. Jahrestag des Waffenstillstandes mitten in den Präsidentenwahlkampf in Frankreich fällt, verleiht dem Thema zusätzliche Brisanz. Zumal Präsident Emmanuel Macron, der nun für eine zweite Amtszeit kandidiert, eine Versöhnung zwischen Frankreich und Algerien, vor allem aber eine inner-französische Aussöhnung zu einem seiner Ziele erklärt hatte.
Schon im Wahlkampf 2017 hatte Macron das Thema gesetzt. Im Interview mit einem algerischen Fernsehsender sagte er:

„Die Kolonialisierung ist Teil der französischen Geschichte, sie ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, eine regelrechte Barbarei. Sie ist Teil einer Vergangenheit, der wir uns stellen müssen und für die wir uns bei den Opfern entschuldigen müssen. Zugleich sollte man aber nicht die gesamte Vergangenheit über einen Kamm scheren.“

Die Äußerung löste einen Sturm der Entrüstung bei all jenen aus, die die aus ihrer Sicht positiven Seiten der Kolonialisierung betonen. Beispielsweise den Bau von Schulen, Straßen und Krankenhäusern in den Städten, von denen überwiegend die Pieds-Noirs profitierten. Es sind zahlreiche Pieds-Noir, Harki und Anhänger der politischen Rechten, die diese Aspekte in den Vordergrund rücken.

So greift die Präsidentschaftskandidatin der konservativen Republikaner, Valérie Pécresse, die Worte Macrons fünf Jahre später bei ihrem ersten großen Wahlkampfauftritt in Paris wieder auf:

„Ich beschuldige Emmanuel Macron der Reue. Er wirft Frankreich Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, die das Land niemals begangen hat. Ich beschuldige ihn der Geschichtsklitterung.“

Le Pen will keine Reue

Macron hat in den vergangenen fünf Jahren mit zahlreichen nicht nur symbolischen Gesten versucht, innerhalb der französischen Gesellschaft Brücken zu bauen. So plädierte er noch im Januar dieses Jahres dafür, die ganze Wahrheit der Geschichte offenzulegen. Das war bei einer Gedenkveranstaltung zur Anerkennung eines Massakers der französischen Armee an Pieds-Noir 1962 in Algier. „Denn der Weg, den wir nehmen müssen, ist der der Versöhnung: Nichts auszulöschen, nichts hinzunehmen, nichts zu vergessen.“

Doch jedes Anzeichen der Reue oder des Bedauerns in Bezug auf die französische Kolonialherrschaft in Algerien bleiben für die Rechte und mehr noch für die radikale Rechte ein rotes Tuch. Die Kandidatin des Rassemblement National, Marine Le Pen, besteht darauf: Frankreich habe sich nicht für seine Geschichte zu entschuldigen.

Im Oktober vergangenen Jahres, während einer diplomatischen Krise zwischen Paris und Algier, warf sie Macron Schwäche vor: „Gegenüber der algerischen Regierung, die meint, Frankreich sei ein moralischer Schuldner für alle Zeiten, muss unser Land eine klare und sehr entschiedene Sprache sprechen. Als Präsidentin der Republik würde ich Frankreich und den französischen Interessen Respekt verschaffen, nach außen wie nach innen.“

Denn es geht Le Pen auch um den Umgang mit algerischen Einwanderern und ihren Nachkommen in Frankreich. Die Beziehungen der beiden Staaten bleiben eng miteinander verwoben. Doch der Umgang mit dem historischen Erbe ist höchst umstritten.

Viele Algerienrückkehrer wählen Rassemblement National

Nach der Unabhängigkeit Algeriens war das Thema in Frankreich jahrelang politisch tabu. Mehrere Amnestien sorgten dafür, dass die meisten Verbrechen ungesühnt blieben. Man wollte sich auf die Zukunft konzentrieren.

Das änderte sich erst in den 90er-Jahren. Die damals aufkeimende öffentliche Debatte politisierte sich sofort, konstatiert Emmanuelle Comtat, Politologin an der Universität Grenoble, die sich auf den Umgang mit den Erinnerungen an die Kolonialzeit in Politik und Gesellschaft spezialisiert hat.

„Die Frage der Erinnerung an den Algerienkrieg wird geprägt von der politischen rechts-links Spaltung. Die linken Parteien versuchen die Positionen ihrer Wähler zu unterstützen, während die Rechte und extreme Rechte das gleich auf der anderen Seite tun.“

Die Linke nimmt einen antikolonialen Standpunkt ein, die Rechte verteidigt die angeblich positiven Aspekte der Kolonialherrschaft. Die politischen Algerien-Debatten führten um das Jahr 2000 schließlich zu einer Rivalität zwischen rechten und radikal rechten Parteien, vor allem mit dem 1972 von Jean-Marie Le Pen gegründeten Front National. Insbesondere im Süden und Südwesten Frankreichs, an Orten, wo noch heute viele Algerienrückkehrer leben, erläutert Emmanuelle Comtat:

Algerien-Franzosen, Gegner der Unabhängigkeit Algeriens, tragen am 27. Januar 1960 in Algier einen gefallenen Kameraden zu Grabe.

„Wir beobachten in diesen Regionen eine überdurchschnittlich hohe Stimmabgabe für den Front National, heute Rassemblement National, aber auch für die gaullistische Rechte, die sich auf die Ideen de Gaulles beruft. Als Jean-Marie Le Pen 2002 den 2. Wahlgang gegen Jacques Chirac erreichte, da begann ein regelrechter Wettbewerb zwischen der Rechten und der extremen Rechten, besonders lebhaft im Süden Frankreichs, ein Kampf um die Stimmen der Algerienrückkehrer.“

Eine Studie des Meinungsforschungsinstituts IFOP belegt, dass die Pieds-Noirs und ihre Nachfahren in den Regionen Oktzitanien und Provence-Alpes-Côtes d’Azur 2014 zwölf bis 15 Prozent der Wahlberechtigten stellten. Die Zahlen sind inzwischen leicht rückläufig. Doch eine IFOP-Analyse von 2021 bestätigt weiterhin eine hohe Konzentration der Pieds-Noirs-Familien in diesen Gegenden. Sie erzeuge ein charakteristisches Meinungsklima, in dem die emotionalen Erinnerungen an den Algerienkrieg noch immer eine große Rolle spielten, heißt es darin. Zugleich bleibe hier eine überdurchschnittliche Stimmabgabe zugunsten des Rassemblement National deutlich erkennbar.

 

Politiker der Rechten nähren die Erinnerung

Zahlreiche Pieds-Noirs hätten schon in den 80er-Jahren begonnen, Front National zu wählen, weil Jean-Marie Le Pen viele ihrer Forderungen aufgenommen hatte, so die Politologin Comtat. Jean-Marie Le Pen war selbst Soldat in Algerien. Er stand Anhängern der OAS, der Organisation Armée Secrète, nahe, einer terroristischen Vereinigung, die für das Weiterbestehen Französisch-Algeriens kämpfte. Comtat betont aber, dass es weder damals noch heute ein homogenes Wahlverhalten der Pieds-Noirs gegeben habe:

„Es sind unterm Strich die Politiker, die auf Stimmenfang sind, die gerne an ein solches gemeinschaftliches Wahlverhalten glauben wollen. Das ist aber mehr Fiktion als Realität, wie politische Studien belegen.“

Doch bei diesem Buhlen um Wählerstimmen ist es der radikalen Rechten gelungen, Themen zu setzen, die über die Jahre zu einem deutlichen Rechtsruck der gaullistischen Rechten geführt haben.
Jedes Jahr am 5. Juli findet an der „Mauer der Verschwundenen“ in Perpignan eine Gedenkveranstaltung zu Ehren der Opfer des Massakers an Algerienfranzosen in Oran 1962 statt. Im vergangenen Jahr legte eine Abgeordnete des Rassemblement National stellvertretend für den Bürgermeister einen Blumenkranz nieder. Die Partei lässt keine Gelegenheit aus, bei solchen Anlässen präsent zu sein.
Politiker der extremen Rechten, aber inzwischen auch der konservativen Rechten, nähren die Erinnerung an Französisch-Algerien und bestärken sich gegenseitig im Misstrauen gegenüber muslimischen, oft algerischen Einwanderern. Suzy Simon-Nicaise, die Präsidentin des Cercle Algérianiste in Perpignan, wirbt in ihrem Büro, zwischen orientalischen Möbeln und Bildern aus Algerien, um Verständnis: „Die Algerienfranzosen, die mit der Gewalt der Befreiungsfront FLN konfrontiert waren, sind zwangsweise misstrauisch gegenüber Muslimen. Es ist schwer, ihnen zu beweisen, dass sie unrecht haben.“

 

Die islamistischen Anschläge haben das Trauma verstärkt

Denn im Laufe des Algerienkrieges war das Leben der Pieds-Noirs geprägt durch die Angst vor Attacken algerischer Befreiungskämpfer: Jeder Muslim war in ihren Augen ein potentieller Terrorist. Dieses Trauma habe sich durch die islamistischen Anschläge in Frankreich in den vergangenen Jahren verstärkt.
Suzy Simon-Nicaise will Immigranten – und damit meint sie vor allem muslimische Einwanderer – nicht grundsätzlich als Problem darstellen, aber: „Das Problem ist ein Mangel an Respekt für die Gesetze der Republik, an Respekt für den anderen. Und wenn sie uns nicht respektieren wollen, dann sollten sie abhauen. Was ich nicht ertrage ist, dass diese Leute uns ihre Lebensweise aufzwingen wollen.“

 

Im Hintergrund Algerien-Franzosen, Gegner der Unabhängigkeit Algeriens, während einer Demonstration Ende Januar 1960 in Algier. Im Vordergrund an den Barrikaden französische Fallschirmspringer.

Worte, die den Standpunkten Marine Le Pens sehr nahekommen. Die Angst vor einem „grand remplacement“, wie Eric Zemmour sie schürt, ist auch nicht weit. Dieser rechtsradikale Verschwörungsmythos hat eine lange Geschichte. Im heutigen Frankreich bedeutet „grand remplacement“ eine Art Gegenkolonisierung, ein Bevölkerungsaustausch der überwiegend christlich geprägten Franzosen durch muslimische Immigranten.
Mit seiner Bewegung unter dem vielsagenden Namen „Reconquete!“ – also Rückeroberung – will der radikal rechte Präsidentenkandidat Frankreich vor der angeblichen Islamisierung retten. Denn der Islam sei eine politische Religion, sie sei nicht kompatibel mit den Prinzipien Frankreichs. Die Islamisierung sei deshalb eines der größten Probleme des Landes.

Algerische Muslime als Bürger zweiter Klasse

Im französischen Fernsehsender France 5 sagte Zemmour im Februar: „In ganz Frankreich existieren unzählige ausländische Enklaven, die islamisiert sind und wo man nicht mehr à la francaise lebt. Es gibt dort keine französischen Sitten. Ich kämpfe dafür, Frankreich, so wie wir es gekannt haben und wie es uns überliefert wurde, zu retten.“
Zemmour selbst wurde 1958 in Montreuil geboren. Seine Eltern kamen 1952, also noch vor dem Unabhängigkeitskrieg, aus Algerien, wo sie bis dahin gelebt hatten, in die Region Ile-de-France. Sie verließen ein Land, in dem algerische Muslime als Bürger zweiter Klasse angesehen wurden. Denn diese besaßen französische Papiere, aber nicht die vollständigen Bürgerrechte.
Begründet wurde das mit einem besonderen Statut, das ihnen erlaubte, auch unter französischer Herrschaft nach muslimischem Familienrecht zu leben. Es bestand theoretisch kein Widerspruch darin, gleichzeitig Franzose und Muslim zu sein, aber es war praktisch nahezu unmöglich französischer Bürger mit allen Rechten und Muslim zu sein.

Nach Ansicht der Politologin Sylvie Thénault präge diese Rechtspraxis des kolonialen Algerien in vielen Köpfen noch heute die Anschauung, dass Muslime grundsätzlich anders und schwer integrierbar seien.
Valérie Pécresse lässt sich im Zénith in Paris feiern. Sie schwärmt in ihrer Wahlkampfrede unter anderem von einem Frankreich der Kathedralen, dessen wahre Identität sie verteidigen wolle.

„Ich will, dass wir gemeinsam die überbordende Immigration kontrollieren, denn sie führt zu Zonen von Nicht-Frankreich. Konfrontiert mit einer Nation, die sich lautlos zerreißt, fordere ich die Assimilation, denn ich möchte Franzosen erschaffen, die es von ganzem Herzen sind, und nicht solche, die es nur auf dem Papier sind.“

„Papier-Franzosen“: Eine Formulierung mit bitteren Beigeschmack

Selbst die republikanische Kandidatin für die Präsidentschaft wählt diesen umstrittenen, in extrem rechten Kreisen beliebten Ausdruck der „Papier-Franzosen“. Für Franzosen mit algerischen Wurzeln hat diese Formulierung einen bitteren historischen Beigeschmack. Denn auf dem Papier waren bis 1962 auch die Algerier Franzosen. Aber eben nur auf dem Papier.

Der Musiker und Schriftsteller Magyd Cherfi weiß aus eigener Erfahrung, was das heißt. Seine Eltern kamen während des Algerienkrieges 1958 nach Toulouse, wo der 59-jährige Franzose noch heute lebt.

„Sie hatten französische Papiere, aber sie wurden nicht als Franzosen angesehen. Damals war Algerien Teil der Republik, also Frankreichs. Man begegnete ihnen mit der Haltung: Sie haben zwar französische Papiere, aber täuschen Sie sich nicht, Sie sind nicht Französisch! Leute wie meine Eltern haben das völlig verinnerlicht: Ach ja, wir gehören nicht zur Republik. Und heute zahlen wir den Preis dafür! Das ist der Nepp der Republik, die einerseits große Ideen vor sich herträgt, sie aber nicht umsetzt. Also war mein Vater, als Franzose in Französisch-Algerien geboren, niemals wirklich Franzose.“

 

„Man fühlt sich französisch, aber Du bist es niemals“

Das sei im Bewusstsein des Vaters tief verankert gewesen und das habe er an seine Kinder, die in Frankreich als Franzosen geboren wurden, weitergegeben. In Vergessenheit geraten scheint heute, dass die Einwanderer aus Französisch-Algerien Jahrzehnte lang überwiegend auf ausdrückliche Einladung aus Paris kamen, weil dringend Arbeitskräfte gebraucht wurden.
Während des Algerienkrieges verdoppelte sich ihre Zahl. 1962 waren es rund 500.000. Heute wird die Zahl der algerischen und algerisch-stämmigen Menschen auf rund zwei Millionen geschätzt. Algerier bilden immer noch die größte Gruppe unter den neuen Zuwanderern, direkt gefolgt von Marokkanern. Viele von ihnen sind französische Staatsbürger und vollständig integriert. Eigentlich, sagt Magyd Cherfi:
„Man fühlt sich französisch, aber du bist es niemals in den Augen der anderen. Es ist wie ein Wettlauf beim Gipfelstürmen: Sagen wir man ist Französisch, wenn man 4200 Meter erreicht. Du kletterst und kletterst und kletterst, du erreichst den Gipfel und es passiert – gar nichts. Denn man erwartet immer noch mehr von dir. Und du gibst nie genug. Bis wohin soll das gehen? Was muss ich tun, um in den Augen der Anderen Franzose zu sein?“

Der von der kolonialen Erfahrung und von der gewaltsamen Trennung getrübte Blick auf beiden Seiten spiele immer noch eine große Rolle, sagt Cherfi. Zahlreiche Vorurteile komplizierten den Umgang miteinander, aber auch konkrete Erfahrungen wie zum Beispiel die der islamistischen Attentate in Frankreich in der jüngsten Vergangenheit.

„Was wir gegenwärtig erleben ist jedenfalls eine Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln auf beiden Seiten. Die Weißen wollen noch französischer sein als zuvor, daher die Neigung zur extremen Rechten: Schnell, schnell, zurück in die Kirchen, lasst uns wieder an Gott glauben und Schweinefleisch essen. Und auf der anderen Seite die Muslime: Lasst uns in die Moschee gehen, die Dogmen respektieren. Die einen haben Angst vor den anderen, es ist eine gegenseitige Abkapselung. Aus Angst.“

Eine Angst, die politischen Kräften in die Hände spielt und eine Verständigung, eine Auseinandersetzung mit den Fakten der algerisch-französischen Geschichte in weitere Ferne rückt. Der Historiker Benjamin Stora, einer der großen Algerienexperten in Frankreich, fordert eine Art Wahrheitskommission für den Algerienkrieg. Dafür gebe es aber ebenso wenig Konsens wie für viele andere Versuche, Brücken zu bauen, bedauert er im Radiosender France Culture.

„Aber sind die Leute denn nicht langsam müde, immer nur zu kritisieren? Ohne praktisch etwas zu versuchen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen, ohne zu versuchen, voran zu kommen? Kann man in einem Regime leben, wo nur die Wut dominiert? Ist das nicht ermüdend? Da ist nur Wut. Aber irgendwann muss man doch mal Lösungen finden! Zukunftsweisende Wege! Um Brücken zueinander zu finden! Was also tun wir konkret? Was sagen wir?“