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8   Das Letzte Gefecht der Machbarkeit:  Planet Management

Amery-1994

 

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Keine Angst: Das letzte Gefecht wird vorläufig nicht geschlagen werden. Vielleicht wird es niemals stattfinden — denn es erfordert Zurüstungen, zu denen wir noch gar nicht fähig sind. Noch befindet sich der größte Teil der Welt in der Gewalt uralter und neuerer Illusionen. Noch glauben Politiker (wenigstens einige) allen Ernstes, daß sie das ›Umweltproblem‹, wie der Tarnname lautet, schon in den Griff bekommen werden.

Andere kümmern sich überhaupt nicht darum, ob es eine Zukunft für sie und ihre Kinder geben wird, befassen sich dafür mit Standortfragen oder Macht­beschaffung oder Imagepflege; die Unverant­wortlichen der Wirt­schaft befassen sich mit Konkurr­enz­ängsten und Profiten. 

Und das gesamte Informations­wesen, ob elektronisch oder schwarz und bunt auf weiß, bedient uns mit Nachrichten aus der Zeitgeschichte, die kaum mehr Bedeutung für die Zukunft haben als die Ergebnisse der Fußball­bezirksligen. Dazu kommt die fast unüberwindliche Starre unserer politischen und gesellschaftlichen Systeme.  

Die Gegen­wart tut sich eine Menge zugute auf die Schnelligkeit ihrer Innovationen — aber das gilt nur für den nüchternen Bereich der Werkzeuge. Man vergleiche unsere Systeme etwa mit denen der griechischen Antike: Mit welcher Radikalität und in welch kurzer Zeit wurden damals neue Verfassungen geschmiedet, die oft gänzlich neue Verkehrsformen zwischen den Menschen, neue Maßstäbe von Arm und Reich, von Oben und Unten einführten! Und wie unbeweglich wirkt dagegen unser Verfassungs- und Wirtschafts­zustand!

Es ist schon kaum mehr möglich, den kleinsten Schritt zu tun, um die Verteilungs­gerechtigkeit zu verbessern, ohne daß das Heulen der Bierhefe-Lobbies zum vaterländischen Himmel steigt. 

Unser Steuerwesen ist ein Schrotthaufen, mindestens ebenso absurd wie das der spätrömischen Kaiser oder des Ancien régime vor 1789; und eine grundsätzliche Änderung ist nicht in Sicht, höchstens weitere Klauseln und Ausnahme­vorschriften, die den überlasteten Finanzämtern zu schaffen machen und die Kundschaft der Steuerberater vermehren. 

Wenn die Autohersteller rote Zahlen schreiben, erbebt die Nation — und die heilige Kuh Zinseszins wird wohl die Armen noch endgültig auffressen, ehe sie an nichts anderem eingeht als an der Blähungs­explosion ihrer eigenen Eingeweide.

Nein, so formiert sich kein letztes Gefecht, so entsteht kein wirksamer Feldzugsplan.

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Doch nehmen wir trotzdem an, daß sich unsere Zivilisation in ihrem jetzigen Zustand, mit ihrem jetzigen Welt- und Selbstbild, dazu aufrafft, der drohenden Zukunftslosigkeit die Stirn zu bieten, ein Programm gegen sie zu entwickeln, das einigermaßen erfolgversprechend und nicht vollständig barbarisch ist. Wie könnte ein solches Programm aussehen? Was wäre seine Zielrichtung?

Es ist nicht schwierig, einige seiner Hauptmerkmale herauszufinden, wenigstens auf einigen wesentlichen Gebieten. Fürs erste kann dabei wieder die Erinnerung an Adolf Hitler hilfreich sein. Ein wesentlicher Punkt seines Programms war, wie wir sahen, die Beseitigung lebensunwerten Lebens — was immer er darunter verstand, und es war ziemlich viel. In der Praxis verschlang es viele Behinderte, vor allem Kinder. Es war ihm in der Kürze der Zeit, die zur Verfügung stand, nicht möglich, es völlig durchzuführen; vor allem aber trat ihm breiter Widerstand aus der Bevölkerung entgegen.

Man schaudert vor der Barbarei des Verfahrens; heute ist es überholt dank der immer mehr verfeinerten vorgeburtlichen Diagnose­möglichkeiten. Die Selektion, die damals noch brutal in warme menschliche Beziehungen eingriff, findet heute unter vier Augen am Schreibtisch des Gynäkologen statt, und gefällt werden muß sie von den Müttern. Wenige von ihnen dürften sich diese Entscheidung leicht machen; und über keine dürfen wir ein Urteil sprechen. Worum es hier geht: Es findet so oder so ein Verlust statt. 

Der Umgang mit Behinderten, gerade auch mit geistig Behinderten, ist wahrscheinlich seit Jahrtausenden ein Teil, oft ein wichtiger Teil des sozialen Bandes gewesen.

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In Südosteuropa hat man zwei Steinzeitskelette gefunden, deren eines die Merkmale verkrümmten Wuchses aufwies; sie lagen friedlich nebeneinander. 

Die mittelalterlichen Städte wimmelten von deformierten Bettlern und Armen, und in Teilen Schwarzafrikas werden schwachsinnige oder wasserköpfige Kinder als ›heilig‹ im alten magischen Wortsinn betrachtet — als Zeugen einer geheimnisvollen anderen Welt also, die uns etwas mitzuteilen haben, und sei es nur die Begrenztheit unserer eigenen Vorstellungen von normal und abweichend, von krank und gesund.

Solches Zeugnis wurde von Adolf Hitler nicht mehr gewünscht, und es wird heute von einigen Vorkämpfern der Säuglings­euthanasie auch nicht gewünscht.  

Das Ideal, auf das hin sortiert werden soll, wurde von einem dieser Vorkämpfer ausgesprochen: Es ist die happy family, die glückliche Familie. Es ist wohl korrekt, statt dessen die ›Normal-Familie‹ zu lesen; denn daß Familien mit behinderten Kindern grundsätzlich unglücklich sind, ist einfach nicht wahr. Wer etwa die fraglose Anhänglichkeit eines mongoloiden Kindes erlebt hat, fühlt sein Herz dadurch bereichert, selbst wenn es nur lauwarm ist. 

Die eiskalten Seelen aber, die heute wieder und immer noch alles Unbequeme ›ins Gas schicken‹ wollen (es wimmelt von ihnen in deutschen Landen), sollten durch höchstrichterliche Entscheidung daran gehindert werden, selbst eine Familie zu gründen — es würden dies aller Wahrscheinlichkeit nach Familien­höllen.

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Aber warum moralisch werden? Es ist (vorläufig) nicht nötig. Für unseren Gedankengang wesentlich ist das Zeichen, das durch den Fortschritt der vorgeburtlichen Diagnose- und damit Auswahl­möglichkeiten gesetzt ist: Taten Gottes sind in die Hand der Menschen übergegangen.

 

Damit, meine ich, haben wir ein wichtiges Kennzeichen des planet management erarbeitet: Es will der Menschheit (lies: den Körperschaften der entsprechenden Fachleute) weitere und zusätzliche Kontrollen über die menschliche wie die nichtmenschliche Welt verschaffen. Es kann diesem Programm nicht genügen, die alten Taten Gottes nur abzuschalten oder auszutrocknen; es kommt vielmehr darauf an, sie zu ersetzen.

Dabei muß es Schritte der Auswahl tun, die bisher, das heißt seit ein paar Jahrmilliarden, sozusagen von der Basis her, von den Regeln des darwinischen Fitneß-Wettbewerbs, vorgenommen wurden. Und solche Auswahl (von Menschen, Ressourcen, Methoden) müßte entweder streng nach dem Zufallsprinzip erfolgen, als ein möglichst wenig von Vorurteilen beeinflußtes Würfelspiel (was in den Augen der Programmierer sicher keinen Fortschritt gegenüber der alten GAIA-Schlamperei bedeutete), oder es müßten genaue Merkmale erarbeitet und genehmigt werden, welche diese Kontrollauswahl zum bestmöglichen Instrument der Nachhaltigkeit machen würden.

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Nun drohen der Nachhaltigkeit, also einer von Menschen bewohnbaren Zukunft, zwei Hauptgefahren:

Die beiden Gefahren erwachsen aus der gleichen Wurzel: Es sind zwei Methoden, dem uralten, blinden Drang nach Lebens­sicherung zu genügen. Und sie ergänzen sich sozusagen spiegelbildlich: Der durchschnittliche Bewohner von Bangladesh verbraucht wohl kaum ein Sechzigstel der Primärenergie pro Kopf, die ein Westeuropäer oder gar ein US-Bürger zwecks lebenswerten Lebens zu benötigen glaubt. Andererseits blicken wir Gesättigte voll Angst und Grauen auf die Vermehrungsrate der Armen — ein Ärgernis, das wir, so scheint es, durch unsere generative Disziplin — lies: durch die niedrigen Geburtenraten, bereits abgeschafft haben.

Und so beeilen wir uns, den Armen die Segnungen und Hilfsmittel dieser Disziplin möglichst leicht zugänglich zu machen.

Dagegen ist sicher nichts oder wenig einzuwenden, wenn die Armen selber um solche Hilfe bitten. Etwa 300 Millionen Paare in jenen Ländern haben dies bereits hörbar getan — und die Zahl derer, die sich noch nicht Gehör verschaffen konnten, ist mindestens genauso groß. Sie wünschen Informationen und Mittel zur Familienplanung.

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Es ist nun interessant, mit wieviel Phantasie daran gearbeitet wird, sie zu vermehren und zu verfeinern. Da ist alles mögliche im Gespräch: Erforschung einer Methode, Männer nur zeitweise unfruchtbar zu machen; Eingrenzung der Gebärfähigkeit auf zwei oder zweieinhalb Lebensjahrzehnte; langfristig wirkende Verhütungs­depotspritzen — und was sonst noch in Frage kommt an Fraglichem und Fragwürdigem.

Daneben sind natürlich rassistische Gedanken- und Gefühlsbestände keineswegs ausgestorben, und sie dringen oft genug in die Praxis ein. Man weiß von Indianerfrauen, die aus irgendeinem Grund in US-Kranken­häuser eingeliefert und dort nebenbei, ohne ihr Wissen, sterilisiert wurden. Und was im chinesischen Machtbereich den Tibeterinnen zustößt, ist vom Bambusvorhang nur teilweise verhüllt. (Daß dergleichen einmal auch Eugenik hieß, haben wir erwähnt.)

Grundsätzlich gilt: 

Was immer man heute an Werkzeugen und Elementen eines möglichen künftigen planet management zurechtlegt, sie sind fast alle in erster Linie für die von uns wahrgenommenen Probleme der Dritten Welt gedacht. Unser eigener Zustand, die buchstäblich unerträgliche Lebensfeindlichkeit unseres Kulturentwurfs, wird niemals grundsätzlich in Frage gestellt, Notwendigkeit für Management wird immer nur auf dem Gebiet der Effizienz bereits vorhandener Mittel und Bräuche gesehen.

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Wenn es aber richtig ist, daß die Welt, wenn überhaupt, dann möglichst rasch auf die nächsten paar Jahrhunderte vorbereitet werden muß, kann es längst nicht mehr darum gehen, mit welchen neuartigen (und sei es umwelt­freundlichen) Mitteln wir uns im gegenwärtigen Komfortbett einrichten, das wir so liebge­wonnen haben. 

Die erste Frage muß vielmehr lauten, ob dieser Kulturentwurf überhaupt und grundsätzlich von Dauer sein kann. Und das richtet sich nicht nach unseren Mehrheits­wünschen und nicht nach irgendwelchen Regierungsdekreten, sondern nach den Gesetzen der Natur, insbesondere den Gesetzen der Energie­erhaltung und der Entropie.

 

Warum ist unser Kulturentwurf nicht haltbar? Dafür gibt es mehrere Gründe:

 

Erstens
Unsere sogenannte generative Disziplin, das heißt unser Eineinhalb-Kinder-Regime, ist aufs engste mit einem auf persönlichen Lustgewinn getrimmten Lebensstil verknüpft, dessen Zerstörungskraft moralisch und energetisch gar nicht hoch genug angesetzt werden kann.

Zweitens
Dieses Regime ist sinnlos, solange die Kluft zwischen Reichen und Armen klafft und immer tiefer wird. So ist die Bevölkerung Deutschlands trotz der Geburtenbeschränkung, die uns längst schrumpfende Einwohnerzahlen bescheren müßte, immer noch am Steigen, weil 

a) die Industrie erst gestern das massenweise Hereinholen von Menschen aus ganz anders orientierten Kulturen begünstigte, 
weil sie 
b) gerade wegen der Schrumpfung der Geburtenziffern auch heute eine jährliche Einwandererquote von 400.000 verlangt, damit der Motor weiter brummt, 
und weil 

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c) nicht das kleinste Kräutlein gegen die Hunderttausende von gescheiten und energischen Armen gewachsen ist, die beschließen, der politischen oder auch nur der wirtschaftlichen Misere in ihren Heimatländern den Rücken zu kehren und in die (zusätzlich durch die Medien aufgedonnerte und verkitschte) Glorie der reichen Länder zu entrinnen. Man kann noch soviele Störenfriede aus dem teuren, westlich gestylten Freßlokal hinausschmeißen lassen, sie werden notfalls durch die Kanalisation wieder eindringen. Und solange uns dazu nichts anderes einfällt, als die Methoden des Hinausschmisses immer unmenschlicher zu machen, haben zum Beispiel Christenmenschen das volle moralische Recht, ja sogar die Pflicht, den Verprügelten und Getretenen gegen den Polizeistaat Hilfe zu leisten — was immer staatsfromme Erzbischöfe verlauten mögen.

Drittens
Unsere Art zu wirtschaften und das Erwirtschaftete zu verteilen, ist nicht durchzuhalten, aus moralischen und (was wichtiger ist) aus ökologischen Gründen. Und so ist auch die vage Hoffnung gegenstandslos, daß die Armen zusammen mit unserer Produktions- und Verbrauchsweise auch unsere Mittelchen zur Drosselung der Geburtenziffern lernen würden, jene Mittelchen, mit denen wir uns in den letzten hundertfünfzig Jahren wenn nicht angefreundet, so doch abgefunden haben.

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Denn jedermann weiß, daß eine planetarische Industrialisierung des bisher einzig bekannten Typs der Atmosphäre, dem Bodenleben, dem Leben der Ozeane einen Zustand bescheren würde, der weitere Bewohn­barkeit durch Lungen- und Kiemen­atmer ausschließt

(Trotzdem bauen wir weiter auf die diesbezügliche Verführbarkeit der Armen, jauchzen vor Wonne, wenn die Chinesen zur Massen­motor­isierung aufbrechen, verkaufen den malayischen Reisbauern Farbfernseher, bevor eine Stromleitung in ihr Dorf gelegt ist, helfen den armen Ukrainern beim Schließen einer maroden Atomanlage und beim Bau von drei neuen — und was des kriminellen Schwachsinns mehr ist.)

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Das ist die Lage, von der etwaige Planeten-Manager auszugehen hätten. 

Sie haben das sicher auch längst begriffen. Was innerhalb unserer erstarrten Systeme an Verbesserungen stattfindet, ja auch nur denkbar ist, sind Flickschustereien und Ablaßkrämerei. Dafür bieten sich genügend Beispiele an, greifen wir einige heraus.

 

Das erste: das Automobil. 

Nicht nur in seiner jetzigen Form, sondern als wesentlicher Träger des Verkehrs in einer dicht geballten Massengesellschaft ist es veraltet — wenn es denn je eine gute Idee gewesen ist. (Seine allgemeine Beliebtheit, ja seine Rolle als gesellschaftliche Droge hat damit gar nichts zu tun.) Von einer gewissen Dichte an aufwärts setzt das Auto die Rechtsordnung außer Kraft; es bewegt sich nur noch, wenn man laufend gegen Gesetze, Anordnungen und die guten Sitten verstößt; es zerstört das Recht der Nichtmotorisierten auf furchtfreie Teilnahme an der Verkehrsgemeinschaft; es zerstört mehr städtische Substanz als es die Bomben des Zweiten Weltkriegs taten.

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Und das sind nur die innergesellschaftlichen Folgen seiner Existenz (jedenfalls seiner Existenz als Massen­erscheinung). Viel schlimmer sind die Folgen für die Lebenswelt. Wenn man sich klarmacht, wie die Tankerflotten die Meere verschmutzen, routinemäßig verschmutzen, nicht nur bei irgendwelchen Leckagen oder Havarien; wie das Grün der Länder und die Gesundheit der Atmosphäre durch Schadstoffemissionen ruiniert werden, kommt man zwingend zum Schluß, daß mindestens die Hälfte der Schäden an der globalen Lebenswelt durch den Verbrennungsmotor verursacht wird. (Nebenbei, falls das noch irgend jemand interessiert: Er fordert Jahr für Jahr den Blutzoll eines mittleren Krieges.)

Wären von den künftigen Planeten-Managern wesentliche Angriffe auf die Autokultur zu erwarten? 

Wohl kaum — oder doch nur sehr schüchterne. Typisch für ihre Stärke und ihren Charakter dürfte unser deutscher Herzens­freund, der Katalysator, sein. Er ist sozusagen der Ablaßbrief schlechthin, das Zauberamulett auch, das sich der automobile Umweltsünder zur Abwendung allen Übels und vor allem jeder weiteren Belästigung durch irgendwelche Alternativspinner um den Hals hängt. 

Ein einziges, ja nur ein halbes Autoproblem ist mit dem Katalysator gelöst, neunundneunzig. andere, teilweise viel bedenklichere bleiben — und es war wohl der Sinn seiner Einführung, diese zu verdrängen.

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Welchen Grund hätte sonst unser eleganter Umweltminister, einen Benzinpreis von fünf Mark pro Liter (was der Kaufkraft von einer Mark Anno 1950 entspricht) für ›sozial unzumutbar‹ zu erklären? Schließlich geht's um die Stimmen der Autofahrer, nicht um die bewohnbare Welt von morgen.

Gibt es Managementvorschläge, die darüber hinausgehen? 

Es gibt sie, wir kennen sie. Da ist zunächst das große elektronische Wunderwerk, ein möglichst vollständiges Leitungssystem, in das jedes einzelne Auto einzubauen wäre. Es wird als hervor­ragendes Mittel empfohlen, um im Stadtverkehr Knoten aufzulösen, Zeit zu gewinnen und die Zahl der Verkehrsopfer herabzusetzen. Und da ist ferner der Plan des (im übrigen sehr verdienstvollen) amerikanischen Physikers Amory Lovins, das Ultralight-Auto zu bauen: ein Gefährt aus Wabenkunststoff, mit dem Verbrauch von einem Liter Benzin auf hundert Kilometer. Er räumt allerdings selbst ein, daß es das Zentralproblem des Individualverkehrssystems, das Access- (Zugangs-) Problem, nicht nur nicht lösen, sondern vergrößern werde.....

Sind dies wirkliche Auswege? Fortschritte?  

Es sind jedenfalls Fortschritte in die Richtung, die die globale Planung insgesamt nach den Wünschen der Experten nehmen sollte und müßte: unvermeidliche Verminderung der persönlichen Entscheidungs­frei­heit, aber keine grundsätzliche Umkehr; keine Liquidierung eines Systems, an dem so viele hunderttausend Arbeitsplätze hängen. Die rationalisiert man dann lieber weg, ohne die entropie­trächtige Produkt­ions­weise als solche zu verändern.

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Dann lieber schon elektronische Leitsysteme: Mit ihnen wäre ein weiterer wichtiger Schritt getan in die Welt der großen Spielwerke, die den lästigen Aus- und Einblick in die reale Lebenswelt ersparen und ersetzen.

Unser nächstes Beispiel: die Energie. 

Jede zusätzliche Energiefreisetzung im Übermaß ist von Übel; aber wenn sie schon sein muß, wäre es vertretbar, erneuerbare oder sich selbst erneuernde Quellen zu besprechen: Sonnen­energie direkt, Wind, Wasser, nachwachsende Biomasse. Die Technik zu ihrer Anwendung ist in der Regel wenig oder überhaupt nicht furchterregend. Zwar muß wahrscheinlich, wenn ein solches System einen hohen Grad der Ausnutzung erreichen will, ein ziemlich raffiniertes Netz gewoben werden — aber seine Knoten wären zahlreich, seine Zuordnungen stockdemokratisch und würden ein hohes Maß an Selbständigkeit gewähren.

Das wäre natürlich keineswegs im Sinne der Planeten-Manager. Die hängen nach wie vor an gloriosen Zentralen — vom bescheidenen Siedereaktor über Phenix zu Super-Phenix, und wenn's irgendwie geht, zu Guter oder schlimmer Letzt am herabgeholten Helios selber — dem riesigen Fusionsreaktor. Zwar weiß man auch bei ihm noch nicht, wie man bestimmte schwierige Entsorgungsprobleme lösen könnte — aber das weiß man ja auch bei den ärmlichen Spaltungsvettern nicht und hat sie trotzdem gebaut. 

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Sollte es aber wirklich zur Solarenergie kommen, dann gefälligst im heroischen Maßstab: riesige Photovoltaik-Felder in der arabischen Wüste, Wasserstofftanker von mehreren hunderttausend Tonnen, wolken­kratzende Türme, die gebündelte Brennstrahlen auf Verdampfungs­maschinen schicken — oder, wieder­um zünftig-kosmisch: Hektare und Quadrat­kilometer von Satelliten-Kollektoren, die höchstverdichtete Mikro­wellen­konzentrate irgendwo auf einen terrestrischen Sammelpunkt abschießen. Das bringt Profite, wie alles, was über Verkehrsknotenpunkte läuft, und es bringt auch weithin posaunten technischen Ruhm; verkündet die Fama von den genialen Konstrukteuren. 

Sie, die managenden Genies, lägen damit immer noch und wieder einmal in der Mittenströmung unseres gegenwärtigen Kulturentwurfs. 

(Wirklich zufrieden werden sie ohnehin erst dann sein, wenn man ihnen einen brandneuen, möglichst vom Leben unverschmutzten Planeten vorwerfen wird — zu dem, was schon ganz offiziell terraforming heißt: zur regelrechten Schöpfungstätigkeit nach Genesis I.)

 

Für ein wirkliches, das heißt ein nachhaltiges Formieren unseres künftigen Lebens müßten wir eher ganz einfache Fragen aussprechen, die zu beantworten oft am schwersten fällt.

 

Überfällig wäre zum (dritten) Beispiel eine durchdachte Reform unserer Ernährungsgewohnheiten

So ist die Menge und die Zusammensetzung des tierischen Eiweißes, das wir glauben verzehren zu müssen, eine zentrale Schändlichkeit unseres entwickelten Daseins.

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Nicht nur haben wir uns gewaltig weit von den Notständen unserer Ahnen entfernt, denen vielleicht zwei- oder dreimal im Jahr eine Fleischmahlzeit vergönnt war; wir haben unseren Konsum auf ganz wenige Tierarten und ganz wenige Teile ihrer Körper konzentriert. Daraus folgert (in dichtbevölkerten und ressourcenarmen Räumen wie den unseren) Massentierhaltung mit ihren schlimmen Konsequenzen, Einfuhr riesiger Kalorien­mengen zu Futterzwecken, Verweis von immer stattlicheren landwirtschaftlichen Anwesen in die Unrentabilität, Plantagenanbau von Ausfuhr-Futterpflanzen in fruchtbaren Agrarprovinzen Brasiliens, Rodung zu Weidezwecken und so fort.

Dies soll, es sei betont, keine Beweisführung für ideologischen Vegetarismus sein; noch gibt es Auseinander­setzungen darüber, ob aus Gesundheitsgründen ein bestimmter (keineswegs hoher) Anteil von tierischem Eiweiß in unserer Diät beibehalten werden sollte. Aber was wir davon zu unserem Wohlbefinden benötigen, käme teilweise von Herden hochwertiger Tiere, die in anders nicht nutzbaren Hügel- und Berggebieten weiden, teilweise wäre es durchaus nützlich, eine ganz neue trophische Ebene zu erschließen: die Welt der Würmer, Mollusken und Insekten, deren Genießbarkeit durchaus bekannt ist.

Entrüstete Abwehr solcher Eiweißquellen ist ausschließlich eine Folge der kulturellen Erziehung. Daß sie auf einem Vorurteil beruht, beweist schon der erste Blick in Geschichte und Gegenwart der Ernährung in weiten Teilen Asiens und Zentralamerikas.

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Man verschreibe sich einmal, als gesunde sinnlich-denkerische Übung, den Blickpunkt eines Menschen, der es gewohnt ist, saubere, knackige Heuschrecken oder Käfer mit Nußgeschmack zu verzehren, und dem plötzlich Bilder von Männern mit blutigen Schürzen und langen Messern vorgeführt werden, welche rottriefende Muskelstücke aus riesigen bleichen Rinder- und Schweinekadavern schneiden! Und gibt es nicht schon Hundert­tausende von europäisch-amerikanischen Hausfrauen, die sich dieser Verantwortung entzogen haben und Fleisch nur mehr in der hochentfremdeten Gestalt von geruchlosen Klarsichtpaketen erwerben wollen?

Aber daß uns West-Eurasiern der Ekel des Käfer- und Heuschreckenessers fremd ist, hat höchst­wahr­schein­lich mit zehntausend Generationen von Opferern zu tun, mit der Tradition des homo necans, für den das Schlachten und Verteilen von Jagd-, später Haustieren fast immer eine sakrale oder doch dem Heiligen nahe Angelegenheit war. 

Ja, man weiß: Schuldgefühle waren damit verbunden; es gibt die Bitte um Vergebung, an das tote Tier gerichtet, es gibt die "Unschuldskomödie", die ganz andere, meist magische Töter vorschützt, und dergleichen Rituelles mehr, das aus den zwielichtigen Begabungen des homo demens, des reichlich verrückten Menschen gespeist wird.

Und all das spricht zunächst durchaus für die ehrwürdige (schon biblische) Überlieferung des Vegetarismus. Man muß sich nur fragen, ob in einem Wesen unserer Anlage, das mit Bewußtsein von Leben und Tod geschlagen ist, die Gemütslast der Fremdheit in einer wundervollen und gleichzeitig grausam-rätselhaften Welt nicht zwangsläufig entstehen mußte — selbst wenn seine Grausamkeit nur gegen Körner und Wurzeln gerichtet wäre.

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Doch auch hier, im Reich der Nahrung, sind bereits Wahrscheinlichkeiten auszumachen, wie die Planeten-Manager vorgehen dürften, ja wie sie teilweise heute schon vorgehen: Das Zauberwort heißt Gen-Technologie.

Während das große Management schon seit Jahrzehnten seine chemischen (C-)Waffen gegen alles Lebendige richtet; während es damit schon Hunderte, Tausende von Arten vernichtet hat; während man mühsam darangeht, wenigstens Reste der alten Vielfalt in sogenannten Gen-Banken zu verwahren, soll nun eine neue Vielfalt entstehen; eine Vielfalt, die wiederum keine Schöpfungstat Gottes, will sagen kein Produkt der Selbstorganisation der GAIA ist, sondern das Ergebnis einer Marktforschung.

Und wieder wird nach der Geldschrankknackermethode vorgegangen: Jede genetische Veränderung verfolgt einen ganz bestimmten, profitablen Zweck, peilt ein genaues Einzelziel an. Die Tomaten sollen nicht mehr faulen, oder sie sollen zu Verpackungszwecken viereckig werden, die Kuheuter sollen noch ein wenig riesiger werden, ausgewählten Bakterien sollen ganz bestimmte Wirkungs­faktoren eingepflanzt werden — und so fort. 

Das sind keine Prinzipien des Lebens, sondern Prinzipien der Handel­schaft; und es ist deshalb nur folgerichtig, wenn die Bastler für ihre mehr oder weniger hübschen Monstren Patentschutz beantragen und erhalten.

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Wenn die Bastler sich damit verteidigen, daß das Ganze ja nichts anderes sei als die Züchtung, wie sie seit Jahrtausenden an Pflanzen- und Tierarten betrieben werde, nur eben zeitlich etwas zusammen­geschoben — so steht schon ein entscheidendes Argument dagegen: eben das Argument der zusammen­geschobenen Zeit. Bei den überkommenen Züchtungsmethoden, die geduldige Arbeit über Generationen erfordern, läuft sozusagen der TÜV, die Zuträglichkeits­überprüfung der jeweilig neuen Rasse oder Varietät, durch die Natur mit; durch ihre Bereitschaft, diese neue Rasse oder Varietät anzunehmen. 

Und selbst diese Überprüfung ist verzweifelt langwierig und nie ganz abgeschlossen; es ist durchaus möglich, daß die Blähungen von Milliarden Rindern, die Methangas-Abgaben von endlosen Naßreisfeldern die Bewohnbarkeit der Erde so kräftig schädigen wie die Schadstoffe aus Auspufftöpfen und Kaminen. 

In solchem Fall hieße das Urteil des großen GAIA-TÜV: Produkt durchgefallen — und die Produzenten gleich mit ...

Freilich, das interessiert die Bastler nicht. Sie sind fixiert durch den Auftrag: Tomaten sollen nicht mehr faulen, Bakterien sollen der Zuckerkrankheit beikommen. Daß Zweit- und Dritt- und Hundertstfolgen in den Netzen allen Lebens entstehen können: Um so besser! Die Bastlerzunft ist damit in der angenehmen Lage, sagen wir, eines Wasserbauamts, das in den letzten hundertfünfzig Jahren alle Flüsse und Bäche begradigt hat und jetzt, wo sich herausstellt, daß das alles Schwachsinn war, seine eigenen Schandtaten "rückbaut" und damit seine weitere Existenz (samt Mittelzuteilung) für die nächsten hundertfünfzig Jahre sichert.

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Ein entjungferter Flußlauf, das wissen wir, muß dauerhaft betreut werden, die Ursprungslandschaft läßt sich nicht einfach wieder herholen. Und ähnlich dürfte es um die künftige Gen-Landschaft bestellt sein, wenn sich erst einmal die vielen Rückkopplungen offenbaren, die den Bastlern zunächst gleichgültig sind und dann mit ungeahnten Folgen ausreißen. Unendlicher Forschungs- und Planungsbedarf ist dann gesichert ...

In Wahrheit ist das alles der faule Zauber von Zauberlehrlingen. Sie kennen das Wort nicht, das den Spuk abstellen könnte: Besen, Besen, sei's gewesen. Und da die immer weitere Spaltung von Besen bekanntlich nach den Gesetzen des geometrischen Fortschritts ausufert, dürfte die Zahl der verfügbaren Bastler und Bastlerlabors bald nicht mehr reichen, um mit dem Segen fertigzuwerden. Das wäre dann letzten Endes wieder die Stunde der GAIA, der Herrin des planetarischen Haushalts, die das Aufräumen übernimmt. Nur werden die Bastler und ihre Artgenossen daran nicht mehr beteiligt sein.

 

Fassen wir zusammen. 

Alle erkennbaren Ansätze zu einem planetarischen Management weisen folgende Eigenschaften und Prinzipien auf:

Die geplanten und zu planenden Veränderungen gehen vom Ist-Zustand der sogenannten entwickelten Gesellschaften aus. Sie stellen ihn nicht grundsätzlich in Frage.

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Vielmehr verfolgen sie eine Strategie oder vielmehr eine Taktik, die darauf angelegt ist, ihn durch Technologie im weitesten Sinne möglichst lange zu erhalten und auszubauen. Dieser Art Management liegen die alten Normen des Industrie­systems zugrunde — und vor allem die für unabdingbar gehaltene Notwendigkeit, den ehrwürdigen Auftrag des B&S-Programms, Erweiterung und Verstetigung der Lebens­chancen unserer Art, auf jeden Fall festzuhalten.

Die Folgen eines solchen Managements sind klar. Es wird nicht nachhaltig sein, nicht nachhaltig sein können, weil es in unauflöslichem Widerspruch zu Naturgesetzen, insbesondere zu den beiden thermo-dynamischen Gesetzen steht. Und es wird, noch ehe die endgültigen Konsequenzen eintreten, immer mehr Menschen sehr viel Leid — und vor allem sehr viel Verlust an Würde zumuten.

Nun ist erstaunlich, wie gelassen weite Teile der industrialisierten Menschheit solchen Würdeverlust bereits heute hinnehmen. Die Vorgänge etwa um künstliche Befruchtung; die massiven Eingriffe in die persönliche Bewegungsfreiheit, die durch das Anwachsen des Schnellverkehrs entstanden; die Eingriffe in den Privatbereich, die durch immer dichtere Vernetzung der Kommun­ikations­mittel notwendig werden und schon geworden sind; und die eiskalte Art, in der alle diese Vorgänge öffentlich nicht nur diskutiert, sondern immer deutlicher illustriert werden, sind davon nur ein Vorgeschmack.

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Denn mehr wird wohl kommen. Mehr wird in dem Augenblick kommen, wo die Träger des planetarischen Managements sich zu der sehr naheliegenden Erkenntnis durchringen, daß die Art Homo sapiens sapiens sich bisher selbst auf höchst unlogische Weise von der Bewirtschaftung ausnimmt, die sie längst und selbstverständlich mit Wald und Forst und Acker betrieben haben und betreiben. Dies wäre, wenn man einmal die Regeln des Energie- und Nahrungsflusses eingespeist und damit jeder künftigen Willkür entzogen hat, der sicherste Weg zu einer künftigen Nachhaltigkeit der Lebenswelt. Irgendwelche Sentimentalitäten sind dabei hinderlich.

 

Lokal oder regional haben solche Ansätze längst begonnen. Hier sei erinnert an das große Programm zur Bevölk­erungs­beschränkung, das unter der Herrschaft Indira Gandhis in Indien vom Stapel lief! Es war schlecht geplant, gewiß; es arbeitete mit äußerst groben Anreizen und Sanktionen und überschritt in zahllosen Fällen die Grenze zur brutalen Menschen­jagd; es erschwerte so auf Jahrzehnte hinaus die Möglichkeit, Indiens Menschen für ein freiwilliges, von unten organisiertes Programm der Familienplanung zu gewinnen.

Aber gerade daraus vermöchte ein weltweites, mit den besten Gehirnen besetztes Management seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Es könnte zum Beispiel den Schluß ziehen, daß es längst zu spät sei, auf Konsens der Menschheit, ja auch nur auf den Konsens der Betroffenen auszugehen.

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Schon bisher war und ist ja dieser Konsens reine Formsache, wenn er nicht (wie etwa im Fall bestimmter nationaler Atomprogramme) von höchst unerwünschten, meist nicht von den gewählten Volksvertretern angezettelten Widerständen planwidrig unterlaufen wurde. Das planetarische Management wird auf seinem Wege zur planetarischen Macht zu Mitteln greifen müssen, die zwingend den Protest großer oder sehr mächtiger Teile der Bevölkerung hervorrufen würden. Um solchen Protest gar nicht erst aufkommen zu lassen, wird es dann zweckmäßigerweise Mittel wählen, die entweder gar nicht oder zu spät, das heißt nach erfolgreichem Ablauf der geplanten Aktion, ins Bewußtsein oder auch nur zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangen.

 

Solche Mittel hätten zum Beispiel im Falle der Bevölkerungsproblematik die Aufgabe, die alten Taten Gottes durch möglichst vorurteilsfreie Taten des globalen Managements zu ersetzen. Dabei wäre ein Höchstmaß an Leidensfreiheit anzustreben. 

So ist etwa der Einsatz von Seuchenerregern unter diesem Gesichtspunkt wohl abzulehnen, selbst wenn die unmittelbare Wirkung optimal wäre; näher lägen schon Maßnahmen wie etwa die Anreicherung von Trinkwasserspeichern mit bestimmten frucht­barkeits­dämpfenden Enzymen — oder auch eine weltweite Impfung mit Random-Effekt, bei der selbst die handelnden medizinischen Teams nicht wüßten, welche von den einheitlich aussehenden Serumampullen wirksam sind und welche nicht.

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Dabei wäre auf strikte Unparteilichkeit zu achten; nationale, rassische, religiöse Vorteile dürften auf keinen Fall eine Rolle spielen. Ebenso müßten örtliche, nationale, regionale Machtverhältnisse, Wünsche irgend­welcher Staatschefs oder dergleichen außer Betracht bleiben.

Das sind wahrhaft heikle Aufgaben. Gibt es Personen, gibt es Institutionen, die sie bewältigen können? Die nur der Wahrheit verpflichtet und daher völlig unkorrumpierbar sind? 

Natürlich gibt es die — sie bieten sich jedenfalls an. Es sind die Zweige der weltweiten akademischen Bruderschaft, jener Gemeinde also, die der norwegische Konfliktforscher Johan Galtung einmal als die MAMUs bezeichnet hat: Männliche Akademiker mit Universitätsabschluß.

Zumindest sie selbst wird davon überzeugt sein, daß erst in ihr, erst im Orden der internationalen Wissenschaftsgemeinde, sich das erfüllt, was Hegel recht voreilig dem preußischen Staat zuschrieb: der Zusammenfall des allgemeinen Wohls mit dem spezifischen Standes- oder Klasseninteresse — und damit die zumindest baldige Ankunft des Weltgeistes. Die großen Mehrheiten, seit jeher unfähig zur langfristigen Betrachtung der Dinge, müssen, wenn sie schon nicht zu überzeugen sind, wenigstens durch geeignete Maßnahmen ruhiggestellt oder desinformiert, das heißt belogen werden.

Eine jammervolle Fehleinschätzung! Die Intelligenz als Klasse und Wirkkraft ist keineswegs vorurteilsfrei. Sie ist geradezu verwachsen mit dem Interesse, und das heißt mit dem fast blind-biologischen Ausdehnungs- und Herrschafts­drang der großen metro­politanischen Gesellschafts­pyramiden.

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Allein die gewaltigen Budgets, die sie mit der Unschuld feudaler Unverschämtheit von ihnen einkassiert, dürften als Beweis genügen. Es hat in der Weltgeschichte noch keine Intelligenz gegeben (weder eine organische der clerici, der beamteten Alphabeten, noch eine frei­schwebende der Häretiker), deren Geschicke nicht aufs engste mit den großen Zentren verbunden waren. Eine zentrifugale Bedeutung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen Energie, und sei sie noch so unerbittlich vom Weltzustand gefordert, kann sie ihrem ganzen Welt- und Seinsverständnis nach nur als widersinnig empfinden. Und so bleibt die Intelligenz ihrem zutiefst eigenen und eigensinnigen B&S-Programm treu: der Verstetigung ihrer Existenz, letzten Endes ihrer Unentbehrlichkeit.

Die ist um so beweisbarer, je hilfloser die Außenlieger, die Zurückgebliebenen der Scherbenviertel, der Kleinstädte und Ackerbreiten gehalten werden — von der Energielieferung über die Ernährung bis zur Ausgabe der politischen und kulturellen Stichworte. Und so wird (ein notwendiger Vorgang der Regeneration der Eliten, aber auch der weiteren Verödung der geistigen Landschaften) der gescheite Dorfjüngling in die Metropole aufbrechen, um seinen großen Roman zu schreiben oder, wie ich einen Professor der Atomlobby in einem Ausbruch bestürzender Ehrlichkeit sagen hörte, seinen schnellen Brüter zu bauen.

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Dazu kommt ein lästiger Umstand, den man die Entscheidungskrankheit der Alleinentscheider nennen kann. Die Taube, wie Kant einmal sinngemäß gesagt hat, ärgert sich, wenn sie fliegt, vermutlich über den Luftwiderstand; aber wenn der gesellschaftliche Widerspruch ausbleibt, wenn sich ein Interessent oder eine Interessengruppe nicht der Kritik wider­sprech­end­er und widerstreitender Strebungen und Kräfte stellt, straft sie über kurz oder lang das Leben.

Das und nichts anderes war der Urteilsspruch über den Realsozialismus: Seine eingebildete Wissen­schaftlich­keit, die wirklich nichts war als ein höchst abgestandenes Herrschaftsinteresse, hatte alle möglicherweise widersprechenden Instanzen weggeräumt und hatte deshalb auch keine Sinnesorgane mehr, den Widerspruch der Verhältnisse auch nur wahrzunehmen.

 

Ich erinnere mich da an Gespräche mit überzeugten Kommunisten des Ostblocks, die sich mit der ökolog­ischen Frage herumschlugen: "Ihr habt die öffentliche Meinung, wie haben die Institutionen, und an diesem Wettstreit wird sich zeigen, welches System überlegen ist." 

Sie setzten damals offensichtlich darauf, daß die Weisheit des Zentralbüros, angeleitet von der Weisheit der NAUKA, der institutionalisierten Wissenschaft, den mühsamen Entscheidungs­findungs­prozessen des Westens schon aus Gründen der Effizienz und Schnelligkeit überlegen sein mußte. Nun, sie kamen trotzdem oder vielmehr gerade deswegen zu spät, ihr Achilleus holte die kapitalistische Schildkröte nicht ein (was sicher nicht heißt, daß diese nicht über kurz oder lang an den Rand der Welt, ihrer eigenen Lebenswelt gelangen kann).

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In Entscheidungsspielen mit Hunderten von Testpersonen hat man das innere Uhrwerk des menschlichen Planers erforscht — die Art und Weise, wie er zu bestimmten Entscheidungen gelangt. Wenn man Gelegenheit erhält, die Protokolle solcher Spiele zu studieren, die Tonbänder der Beratungs­sitzungen abzuhören, kommt man aus dem Staunen nicht heraus über die Hartnäckigkeit, mit der an bestimmten Vorgaben und Vorurteilen festgehalten wird, meist gegen die Evidenz der Tatsachen — will sagen der Folgen vorausgehender Entscheidungen. (Weder formale Bildung noch genormte Intelligenzquotienten sind dabei entscheidende Vorteile.)

In einem Entwicklungsspiel afrikanischer Färbung etwa werden dann, wenn die gradspurige Willenskraft und Intelligenz des Spielers bereits zum Massensterben geführt hat, Begründungen, also Entschuldigungen wohlbekannter Art ausgesprochen: "Das ist das notwendige Gesundschrumpfen." oder "Sie müssen eben für die Enkel den Gürtel enger schnallen." oder auch: "Der Sanitätsdienst scheint ja zu klappen." Trocken meinte dazu der Versuchsleiter: "Wir verstehen jetzt Stalin. Er war nicht verrückt." Und (so ist man gedrängt hinzuzufügen) die gescheiten Intellektuellen, die ihm jahrzehntelang blind anhingen, waren es wohl auch nicht.

Was wäre die Zielvorstellung, das Modell, das eine wie immer zusammengesetzte planetarische Manager­gruppe ansteuern würde? Zweifellos das der Menschheit als einer happy family, einer glücklichen Normalfamilie also — gefangen nicht nur in den unsagbaren Schrecken der spießigen Ereignislosigkeit, sondern in einer Reuse des ewigen Nu, die wiederum nichts anderes wäre als ein Ende der bisher so genannten Geschichte.

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Die platte Science Fiction kennt solche Paradiese längst; in anglo-amerikanischen Zukunftsbildchen der Art treiben die von allen geschöpflichen Unannehm­lichkeiten erlösten Pappfiguren irgendwelche neuen, elektronisch-pfiffigen Sportarten, in den russischen spielen sie unweigerlich rauschenden Tschaikowsky.

Es ist etwas zynisch, aber es erleichtert auch, darauf hinzuweisen, daß zwischen der Verwirklichung solcher Paradiese und der gegenwärtigen Unordnung noch eine weite Wegstrecke voll zahlloser Hindernisse zu überwinden ist. Das macht den Alptraum vom globalen Komplott der Weisen einigermaßen unwahrscheinlich. Aber entscheidend für unsere weiteren Überlegungen ist die Zwangs­läufigkeit, mit der sich diese technokratische Form des Planeten-Managements dem Geist des Jahrhunderts aufdrängt. 

Es geht immer darum, die dem Menschen innerlich und äußerlich verfügbare Lebensmasse von gegenwärtig etwa 35 Prozent auf 100 Prozent auszudehnen. Stimmen wie etwa die des Thomas von Aquin, die das Gutsein Gottes gerade in der Vielfalt der Geschöpfe verwirklicht sehen, oder die (wie vor einiger Zeit eine Verlautbarung der deutschen Bischöfe) den Tieren ein Lebensrecht an sich ohne unmittelbare Nutzbarkeit für den Menschen einräumen, klingen unheimlich verloren in diesem Hallraum der Gegenwart.

Und wie sollte es auch anders sein? 

Es gibt meines Wissens eine einzige kleine, dafür grimmige Gruppe, die den Menschen als Zerstörer der Wildnis und Verursacher der großen Lebensmisere wenn nicht in die Hölle, so doch ins Nichts oder zumindest in die äußerste Kargheit verwünscht: Es sind die Verteidiger des großen Südwestens in den USA, die Earth First!ers.  

Ihnen widmet der gegenwärtige Vizepräsident Al Gore als einzigen in seinem Buch <Wege zum Gleichgewicht> eine wirklich feindselige Notiz — leider bezeichnet er sie als Anhänger der <Deep Ecology>, was so, als Identifizierung, nicht stimmt. Denn die Philosophie der Deep Ecology ist keineswegs so menschen­feindlich wie er annimmt.  

Arne Naess,* ein norwegischer Vater dieser Richtung, gibt im Fall extremer Notsituationen (wie etwa der immer häufigeren Hungerkatastrophen Afrikas) die ökologische Unparteilichkeits­verpflichtung ausdrücklich auf und sieht sogar die mögliche Pflicht gegeben, das Lebensrecht etwa der Löwen fahren zu lassen.

Ist das folgerichtig? Oder, anders gefragt: Gibt es Wendemarken, an denen eine notwendig nichtanthropozentrische Gesinnung und Gesittung notwendig wieder anthropozentrisch wird? Oder auch, als Rückfrage an Arne Naess formuliert: Ist eine solcher­maßen orientierte Tiefen-Ökologie wirklich tief — oder doch nicht ganz so tief?

Damit sind wir wirklich über dem Grenzstrich. Jetzt wird's wahrhaft gefährlich, da wahrhaftig.

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 wikipedia  Arne Naess  1912-2009 (97) 

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