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"Seine Sache ist unsere Sache" - Robert Havemann zum 70. Geburtstag

Urtext einer im Deutschlandfunk gesendeten Besprechung.   => Havemann

Von Rudolf Bahro, 1980

 dnb Buch  Festschrift - Ein Marxist in der DDR - Für Robert Havemann - hrsg. von Hartmut Jäckel
Piper-1980, 208 Seiten

 

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Ich will das Buch - Ein Marxist in der DDR. Für Robert Havemann -, das der Anlaß meiner Bemerkungen ist, nicht rezensieren, nur zum Lesen empfehlen, natürlich auch in die DDR. Das Spektrum der Beteiligten, die Hartmut Jäckel zusammengeführt hat, entspricht genau der Spannweite Havemannschen Engagements für eine bessere Welt, in der Freiheit und Sozialismus, politische und soziale Emanzipation zusammenfallen. 

Folgerichtig reicht es von Marion Dönhoff über Sozialdemokraten und/oder Sozialisten verschiedener Position wie Iring Fetscher, Richard Löwenthal, Arnold Künzli, Hermann Weber bis zu dem Eurokommunisten Lucio Lombardo-Radice.

Natürlich fehlen Genossen nicht, die im gleichen Kampf analoge Erfahrungen gemacht haben: Frantisek Kriegel, Jiri Pelikan, Heinz Brandt, Wolfgang Leonhard.

Am Anfang steht eine schöne Anrede seines Freundes Wolf Biermann: "Robert, mein Lieber ... ". Jürgen Fuchs, mit einem Gespräch, steht in der Mitte. Am Ende, mit einem Gedicht, steht Sarah Kirsch.

Sehr gut, daß in dem Buch zu Ehren Robert Havemanns vor allem über die Sache diskutiert wird, um die es ihm geht: über authentischen Sozialismus oder demokratischen Kommunismus — für mich kein wesentlicher Unterschied zwischen den Begriffen — und über den Weg dahin.

Wenn es ein Ungenügen in dem Bande gibt, dann dies: daß die meisten Texte nicht soviel unverwüstlichen Glauben ausstrahlen wie der damit Gewürdigte. Aber das ist kein Zufall. Die festgefahrene halbe Revolution in der DDR hat ihren Aktivisten, und nun gar den unentwegten Enthusiasten des sozialistischen Ideals unter ihnen, eben doch eine hoffnungsstärkere seelische Struktur hinterlassen, jedenfalls im Mittel.

Manche begreifen das Einfachste nicht: Robert Havemann hat Recht, von dem Potential, das in der DDR steht, noch mehr und auch noch etwas anderes zu erwarten als bloß die Herstellung der bürgerlichen Freiheiten. Er hat Recht zu erwarten, daß man dafür nicht einfach beim "Westen" in die Lehre gehen wird, auch nicht einfach bei der westlichen Sozialdemokratie.

Robert Havemann hat immer noch, womit man dort nach 1945 angefangen hatte: auf andere Art so große Hoffnung. Für mich ist er einer der Menschen, denen gegenüber ich mich persönlich verantwortlich fühle, auch und gerade nachdem ich die bewußte Entscheidung traf, seine Position in der DDR nicht zu verdoppeln. 

Dafür hatte er ja mich gewinnen wollen, und ihm darin nachzugeben, wäre weder subjektiv noch objektiv unmöglich gewesen. Leider habe ich Robert Havemann nie aus der Nähe kennengelernt. Vorher mußte ich den Kontakt mit ihm vermeiden, um meinen Plan nicht zu gefährden, nachher — wie man weiß — hat die Stasi unser Treffen nicht geduldet. Dieses ausgefallene Gespräch bleibt eine Lücke, die mich schmerzt, zumal ich nicht sicher bin, seine Position, die ich nur aus zweiter Hand erfuhr, bis in die letzte Motivation verstanden zu haben.

So habe ich aus dem Anlaß seines 70. Geburtstages für mich selbst noch einmal die Wahl durchlebt und also auch seelisch in Frage gestellt, die ich nach dem Prozeß im Sommer 1978 traf. War gar kein Ausweichen im Spiel, gar keine Neigung, aus dem Felde zu gehen, weil es zu schwer zu werden versprach?

Jedenfalls wußte ich eines: daß es hier nicht leichter wird. In dem Punkt irren sehr viele, auch einige in dem Buch für Robert Havemann. Das Sisyphus-Erlebnis droht eher hier als dort. Er mag sich dort des Sieges sicherer fühlen als die meisten, die hier gleichen Sinnes sind. Nicht wegen der objektiven Aussichten — da hängen die Dinge hüben und drüben viel zu sehr voneinander ab, viel zu eng miteinander zusammen. Sondern wegen der definitiven Bestimmtheit, Fühlbarkeit, geradezu Greifbarkeit des zu überwindenden Widerstands. Dort entzieht sich der Gegner nicht, dort verhüllt er viel weniger das Gesicht. Und es ist klar, daß die Diktatur des Partei­apparats fallen wird.

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Sie ist einmal gefallen, 1968 in der Tschechoslowakei. Und die sozialen Kräfte, die jene demokratische Revolution trugen, werden nicht nur in Osteuropa, sondern auch in der Sowjetunion, wo die Barriere freilich höher ist, so stark werden, daß der Eisberg der Nomenklatura auseinanderbricht. Wenn wir heute eine Welt oder keine haben, dann ist es, letzten Endes überall die gleiche Front. Aber hier sitzt der Antrieb, der alles zugrunde richtet, noch fester und tiefer.

Übrigens blockiert der Westen, mit dem Druck seiner Produktionsmaschine und seines Konsumismus, von dem militärisch-industriellen Komplex zu schweigen, die fortschrittlichen Kräfte im "Osten" nachhaltiger als umgekehrt. Die einstweilen noch übermächtige Realität der Blockkonfrontation bedeutet für marxistische Oppositionelle in Osteuropa, und vor allem in der DDR, eine verzwickte, zuweilen geradezu traumatische Situation. Wer auf der anderen Seite wird uns mit Beschlag belegen? Nach meiner Erfahrung kann die manifeste Konfrontation mit dem Apparat jeweils im Augenblick ihres Neuauftretens die ideologische Front ein Stück verschieben. Danach überläßt man in der Regel besser wieder der unauffälligen Erosion das Feld. Der Umschlag, der qualitative Sprung, läßt sich nicht moralisch erzwingen. 

Uns bleibt dann eine symbolische Anwesenheit, die wohl reizt als Stachel, die sich aber abseits von dem massenhaften ideologischen Prozeß bewahren muß. Der schreitet genau dort fort, wo wir nicht sind, wo also die Stellungen unbewacht sind. Dennoch — der naheliegende Schluß fortzugehen muß durchaus nicht gelten für Robert Havemann, der schon Ende der fünfziger Jahre, zu meiner Studentenzeit an der Berliner Humboldt-Universität, seinen neuen Weg gewählt und seit seinem endgültigen Auftreten 1963/64 mehr als anderthalb Jahrzehnte durchgehalten hat. Die jetzige Position unseres Genossen Robert Havemann in der DDR ist — mit ihren objektiv nicht subjektiv beschränkten Entfaltungsmöglichkeiten — das Ergebnis eines bedeutenden historischen Experiments, das danach verlangt, zu Ende gelebt zu werden. Schließlich ist das Richtige auch eine Funktion der Stunde, die einem die Lebensuhr anzeigt. Und sein Dasein wirkt natürlich auch ohne direkte Kommunikation im Lande.

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Auch mich, seinerzeit, haben sein und Biermanns Beispiel kommunistischen Widerstandes angestachelt, obwohl ich lange gar nicht und dann später nicht immer genau derselben Meinung war. Überdies bleibt gerade mir der Augenblick denkbar, wo Leute wie wir in der DDR positiv fehlen könnten. Es gibt in dieser Frage nicht das absolut und ein für allemal Richtige. Wie gesagt: Die Front ist überall, und es ist mehr als wir mitunter denken unter verschiedener Verkleidung überall derselbe Feind, oder richtiger: derselbe strukturelle Widerstand.

Entscheidend wäre die Frage, was wir tun können für seine Sache über die Solidarität mit Robert Havemann hinaus. Denn seine Sache dort ist unsere Sache, gerade auch über die Grenzen, die seiner Aktivität gezogen sind, hinaus. Wie weit kennen wir überhaupt sein Problem, das objektive Problem seiner Position dort drüben? In der DDR bedarf es ja einer besonders günstigen außenpolitischen Konstellation, damit man von der ideologischen zur politischen Aktion übergehen kann. 

Menschen wie Robert Havemann wollen doch das nichtkapitalistische Fundament nicht gefährden, die zwar nicht volks-, aber auch nicht mehr konzerneigene Wirtschaft. Darauf beruht schließlich eine sehr wesentliche, von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung geschätzte Errungenschaft: die größere soziale Sicherheit, die ein Mehr an Solidarität, ein Weniger an verzweifelter Konkurrenz der Individuen bewirkt. Das heißt, der andere deutsche Staat soll nicht verlorengehen an diesen hier, wie der jetzt ist. Es kann ja auch kein vernünftiger Mensch in Deutschland, Europa, der Welt eine in ihren Folgen unabsehbare Verschiebung des Kräfteverhältnisses an der Blockgrenze zugunsten des einen, zuungunsten des anderen Paktes wünschen.

Dennoch denkt und wirkt gerade Robert Havemann über die Grenze, die Deutschland teilt, hinweg und spricht von Wiedervereinigung. Nun kann, unmittelbar von Wiedervereinigung zu sprechen, direkt provokatorisch funktionieren. Linke Phrasen in dieser Richtung, die man hier zuweilen hören kann, sind selten mehr als ohnmächtige Flucht nach vorn bei völligem Vergessen, daß aus dem Stand heraus nicht gerade wir darüber bestimmen würden, was bei der Sache herauskommt. 

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Es geht nicht an, von Wiedervereinigung zu reden, die Lösung der "deutschen Frage" zu beschwören, ohne die übergeordnete Realität der Blöcke zu bedenken, die seit der sowjetisch-amerikanischen Begegnung an der Elbe unser nationales Schicksal beherrscht. Wiedervereinigung bleibt sinnvoll diskutierbar nur unter einer der beiden folgenden Prämissen: entweder im Ergebnis der Auflösung der Blockkonfrontation oder bei einer Herauslösung beider deutscher Staaten aus den Blöcken. In Wirklichkeit würde das letztere natürlich bereits den tendenziellen Abbau der Spannungen voraussetzen und seinerseits positiv darauf zurückwirken. 

Gerade so aber scheint sich Havemann die Sache vorzustellen. Wenn es wahr ist, daß uns die unveränderte Fortsetzung der militärischen Konfrontation aus mehr als einem Grunde mit totaler Katastrophe bedroht, erhebt sich die Frage nach einer aktiven deutschen Politik zur Überwindung der Blöcke. Wiedervereinigung setzt daher für Havemann grundlegende Veränderungen in beiden deutschen Staaten voraus. Was ihm vorschwebt, ist offenbar die Konvergenz zweier zivilisatorischer und sozialer Umgestaltungsprozesse in Richtung eines gemeinsamen Dritten Weges, der Deutschland über das Dilemma von Kapitalismus des Westens und sogenanntem Kommunismus des Ostens hinausführt. Vor diesem Hintergrund schlägt er eine strategische Entmilitarisierung beider deutscher Staaten vor. 

Die ZEIT, die seinen Vorschlag druckte, fand ihn unrealistisch. Aber eine Alternative dazu kann ich nicht erkennen. Der Grundgedanke, daß ein Ausscheiden beider Deutschlands aus den Militärblöcken unser aller Sicherheit, unsere Überlebenschancen wesentlich erhöhen würde, bleibt absolut richtig, auch nach Afghanistan. Atomraketen auf deutschem Boden machen nur eines wahrscheinlicher: unseren atomaren Untergang. Es steht auf einem anderen Blatt, daß mit der DDR auch Polen und die CSSR strategisch entmilitarisiert werden müßten, um das Gleichgewicht in Mitteleuropa zu bewahren; eine deutsch-deutsche Lösung für sich genommen ist sicher illusorisch. Nun hat es jedoch ganz offensichtlich keinen Sinn, auf die Einsicht der Rüstungsplaner und Abrüstungsdiplomaten zu setzen. 

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Also müßte gerade in den mächtigsten Ländern, zu denen in der NATO die Bundesrepublik gehört, eine Bevölkerungsmehrheit für einseitige Abrüstungsschritte bzw. Rüstungsverzichte gewonnen werden, und zwar für Schritte solchen Ausmaßes, daß die andere Seite unter einen überwältigenden Druck zum Nachziehen gerät. 

Angesichts der Gesamtlage scheint es mir jedoch notwendig, deutsche Probleme stets in dem übergeordneten Zusammenhang zu betrachten, in dem sie tatsächlich stehen. Insofern sollten wir Robert Havemann an seinem 70. Geburtstag auch als Exponenten der osteuropäischen Opposition überhaupt begreifen und daher nach den Hauptlinien der Solidarität vor diesem weiteren Horizont fragen. Da sehr vieles, was in Osteuropa geschieht, weitgehend fremdbestimmt ist durch den Druck des technologisch überlegenen westlichen Industrialismus, kann man ganz allgemein sagen: Die wichtigste Form der Solidarität ist der Einsatz für tiefgreifende Veränderungen der hiesigen Gesellschaftsordnung. 

Es ist keine größere westeuropäische Hilfe für eine Demokratisierung im Osten denkbar, als es das Aufkommen einer wirklichen Massenbewegung für eine neue Lebens- und Wirtschaftsordnung jenseits kapitalistischer Profitgier und Naturzerstörung wäre. Damit würde man die Politbürokratie in ihrer letzten Schwäche treffen, in dem ohnehin immer weniger eingelösten Anspruch, immer noch ein wenig besser mit den Widersprüchen der modernen Zivilisation fertig zu werden als andere Systeme.

Darüber hinaus braucht die Opposition drüben unsere qualifizierte ideologische Unterstützung. Das sind weder Managerbroschüren noch "entlarvende" Pamphlete von noch so gutgemeintem liberalem Standpunkt. Man muß davon ausgehen, daß die Völker Osteuropas und der Sowjetunion nicht nach hiesiger, sondern nach dortiger Facon selig werden wollen, daß sie also ihre Emanzipation nach der inneren Logik der eigenen Verhältnisse und Erfordernisse betreiben werden. 

Von unserer Seite braucht die Opposition dazu nicht Ratschläge oder gar Vorschriften, wohin der Kurs gehen soll, sondern historische und politische Analysen, und dies auch nur deshalb, weil sie durch den zum Gesetz erhobenen Terror von allen Mitteln moderner Massenkommunikation abgesperrt ist.

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In erster Linie müssen wir hier multiplizieren, was in den osteuropäischen Ländern selbst produziert wird, und einen möglichst zuverlässigen Rückfluß organisieren. In die DDR gelangt auch ohne besondere Organisation verhältnismäßig viel, da es genügend Kontakte gibt. Übrigens ist in keinem anderen Lande Osteuropas soviel Marxismus verbreitet wie dort.

Demgegenüber gibt es zum Schaden der gesamten osteuropäischen Opposition keine vergleichbare Versorgung des Zentrums, der Sowjetunion, mit russisch bzw. in anderen Nationalsprachen gedruckter marxistischer Literatur. Leider kolportiert man im Westen sehr einseitige Vorstellungen über den sowjetischen Partei- und Staatsapparat, so als gäbe es da keine inneren Widersprüche bis in die häufig mystifizierte Nomenklatura hinein, von den Massen der mehr oder weniger engagierten, mehr oder weniger aufgeklärten Parteimitglieder und der aktiven Bürger zu schweigen. Indirekt stellt man die Dinge so dar, als könnte bei einer künftigen Umgestaltung der sozialen Verhältnisse in der Sowjetunion irgend etwas Konstruktives herauskommen ohne eine ähnliche Spaltung und Neugruppierung der in den offiziellen Organisationen gebundenen aktiven Elemente wie 1968 in der Tschechoslowakei. 

Die westeuropäische Linke - niemand anderes als sie - sollte im allgemeinen Interesse auch der eigenen Nationen koordinierte Anstrengungen unternehmen, kritisches marxistisches Gedankengut in diesen Kernbereich der sowjetischen Gesellschaft einzuspeisen. Grundlegende Bücher, so nach wie vor Isaac Deutschers Stalin- und Trotzki-Biographien, Medwedjews <Die Wahrheit ist unsere Stärke> und ähnliche, müßten zu Hunderttausenden ins Land gebracht werden. 

Rußland hat seine Revolution mit marxistischer Anleihe aus Westeuropa gemacht. Stalin hat die marxistische Avantgarde ermordet. Aber die Schriften von Marx und die Schriften von Lenin, die dort erneut eine revolutionäre Bedeutung erlangen können, sind noch da. Sie enthalten Zündstoff gegen die bestehenden Zustände. Mag das verordnete Grundstudium noch so sehr den Apparatinteressen unterworfen sein — das Feuer unter der Asche bleibt. Jetzt hat die Sowjetunion nicht zuviel, sondern zu wenig Marxismus. 

Es gibt dort keine andere progressive Tradition, an die man mit ähnlich großer Erfolgsaussicht anknüpfen könnte, wenn man um eine vorwärtsweisende Lösung der wachsenden Widersprüche bangt. Wir sollten also auf unsere Art die Konsequenzen daraus ziehen, daß der Fortschritt in Osteuropa weitestgehend von der Entwicklung in der Sowjetunion abhängt, wie natürlich auch von der Dialektik zwischen Moskau und der west-osteuropäischen Peripherie. Robert Havemann, Ein Marxist in der DDR, wie das Buch für ihn heißt, kann in diesem umfassenderen Kontext noch besser verstanden werden. Sein Beispiel macht sichtbar, daß Unterstützung der osteuropäischen Opposition keine Einbahnstraße ist. Die Sammlung ihm zu Ehren zeigt seine anregende Rolle auch für die Kräfte des demokratischen Sozialismus und Kommunismus in Westeuropa.

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Urtext einer im Deutschlandfunk gesendeten Besprechung.

 

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