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Ökologische Krise und sozialistische Idee  

Über das Verhältnis von Kontinuität und Bruch in der theoretischen Tradition

Rede im Freiburger Paulussaal am 30.11.1979,  erschienen in <Kritik> 24

 

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Es gibt heute in den industriell entwickelten Ländern kaum ein Thema, das dringlicher behandelt werden müßte, als dieses: <Sozialistische Alternative und Ökologie>, jedenfalls kein wichtigeres Thema für Sozialisten und kein wichtigeres Thema für Ökologen, für Grüne. 

Sozialisten und Grüne — ich meine jetzt unter Grünen einmal speziell solche, die nicht zugleich Sozialisten sind, denn viele von uns Sozialisten sind ja zugleich Grüne — können dieses Thema auf einer sehr günstigen Ausgangsbasis verhandeln. Sie haben nämlich von weither einen ganz bestimmten Standpunkt gemein, der jetzt weltgeschichtlich entscheidend ist. 

Dieser gemeinsame Standpunkt ist radikale Kritik am kapitalistischen Industrialismus. Manche Grüne mögen zunächst denken, nicht am kapitalistischen Industrialismus, sondern an den Folgen des Industriesystems überhaupt. Aber darin irren sie sich. Sie können das leicht einsehen, wenn sie sich einmal umdrehen, geschichtlich hinter sich blicken und fragen, wann die Grundhaltungen, von denen sie jetzt ausgehen, entstanden sind. 

Sie werden herausfinden, daß sich diese Grundhaltungen, die jetzt ihre Kritik vom ökologischen Standpunkt her bestimmen, in der Frühromantik, die vor etwa 200 Jahren begann, herausgebildet haben. Mehr als einmal erinnert z.B. Herbert Gruhl in seinem Buch <Ein Planet wird geplündert> an eben diesen Zeitraum der letzten 200 Jahre, in dem sich unsere Produktions- und Lebensweise in Richtung auf die heutige Katastrophen­perspektive hin entwickelt hat. 

Aber nicht Industrie schlechthin — denn die hatten z.B. auch schon die alten Chinesen, auch die Griechen in bestimmtem Umfang —, sondern Industrie auf kapitalistischer Grundlage, Industrie, die von dem schrankenlosen Bedürfnis, Kapital zu verwerten, aus Wert mehr Wert zu machen, angetrieben wird; diese Entwicklung setzte um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein. Die europäische Entwicklung der letzten 200 Jahre ist die Entwicklung der Industrie auf kapitalistischer Grundlage. Das ist ein Zusammenhang, den niemand, der sich mit dem Problem der "grünen Bewegung" befaßt, übersehen kann.

Die romantische Kritik am Kapitalismus setzte seinerzeit zuerst an den Folgen dieser spezifischen Form der Industrialisierung für den Menschen an. Das war von vornherein antikapitalistische Kritik. Alles, was sich, ausgehend von der englischen industriellen Revolution bis heute, an Industrie über den Planeten verbreitet hat, ist — als technische Struktur, als Technologie, als Typus von Arbeitsplätzen und Arbeitsorganisation betrachtet — kapitalistische Industrie. Denn die wissenschaftlichen und technischen Prinzipien sind auch dort, wo heute nichtkapitalistische Verhältnisse herrschen, von Europa, Nordamerika, Japan übernommen worden. 

Alle grüne Kritik an der bestehenden Wirtschaftsordnung zielt — ausgesprochen oder nicht, zugegeben oder nicht — auf jenen Antriebs­mechanismus, der den ungeheuren technischen und wissenschaftlichen Fortschritt seit der ersten industriellen Revolution in Europa bewirkt hat. Wir Sozialisten können und müssen denjenigen Grünen, die einstweilen keine Sozialisten sind, eingehend und ganz geduldig unsere detaillierte Erklärung des Zusammenhangs zwischen kapitalistisch erweiterter Reproduktion einerseits und anarchischem industriellem Wachstum, menschenfremder und -feindlicher Technologie andererseits antragen.

Und wir müssen ihnen, damit Vertrauen entstehen kann, sachlich erklären, warum wir die heutige gemeinsame Ausgangsbasis in puncto antikapitalistischer Industrie­kritik nicht eher entdeckt haben. 

Andere politische Kräfte, die daran interessiert sind, daß Altkonservative und Kommunisten — um die Extreme zu nennen — nicht in der grünen Bewegung zusammenkommen, erinnern uns Sozialisten daran, daß wir eine Haltung, wie sie jetzt u.a. in Gruhls Buch zum Ausdruck kommt, noch gestern als konservative oder sogar romantisch-reaktionäre Kapitalismuskritik angegriffen haben. Und sie haben recht damit. 

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Die sozialistische und Arbeiterbewegung sah tatsächlich ihren Aufstieg und die Perspektive ihres endgültigen Sieges mit dem Wachstum der kapitalistischen Industrie verbunden, so daß sie den kapitalistischen Charakter dieser Industrie statt von rückwärts "von vorwärts" kritisierte. Wie grundlegend recht sie damit hatte, zeigen die Vorteile, die nicht nur den Kapitalisten, sondern — bei aller Verzerrung der Effekte — auch den werktätigen Massen der entwickelten Länder aus der Industrialisierung erwachsen sind. Das wird bestimmt niemand leugnen. 

Jenes Lob der Bourgeoisie, das Marx im <Kommunistischen Manifest> singt, ehe er den Kapitalismus verurteilt, das kritische Lob für die Produktion von Reichtum, die die Vorbedingung für die freie Entfaltung aller Mitglieder der Gesellschaft ist, bleibt bestehen.

Aber jetzt haben wir Gründe, unsere Ablehnung romantischer Kapitalismuskritik teils einzuschränken, teils überhaupt fallen zu lassen. Ich will diese Gründe hier entwickeln.

 

Vor allem hat der Kapitalismus inzwischen seine Aufgabe, durch industriellen Fortschritt Reichtum als Grundlage für die allgemeine Emanzipation des Menschen zu schaffen, hier, wo wir zu Hause sind, erfüllt, wenn nicht übererfüllt. Von dem durchschnittlichen Einkommen, d.h. der Summe produzierter Werte, die man hierzulande für dieses Einkommen erwerben kann, hat man nämlich mehr als im 18., ja noch im 19. Jahrhundert nötig gewesen wäre, um einen voll entwickelten Menschen auszubilden. Wenn dieser Effekt jetzt dennoch nicht eintritt, dann liegt es — mit Ausnahme einiger nicht sehr großer Randgruppen — nicht an fehlenden Subsistenzmitteln

Und so ungerecht die Verteilung vom Standpunkt der inneren Klassenwidersprüche her hier noch immer ist — es gibt keinen Anlaß zu der Vermutung, daß sich weitere Steigerungen des Realeinkommens als solche hauptsächlich in gebildetere und glücklichere Menschen umsetzen würden. Vielmehr haben wir eine Ordnung, in der selbst offensichtliche Bequemlichkeits- und Zeitgewinne für den einzelnen, sei er Arbeiter, sei er Angestellter, sei er Beamter, Intellektueller usw., kaum Zuwachs an menschlicher Freiheit und Würde bringen.

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Sieht man einmal vom Kapitalismus ab, der uns einen Verschwendungs- und Wegwerfkonsum aufzwingt, brauchen wir in diesem Lande keineswegs mehr materielle Güter, jedenfalls in der üblichen Erzeugnispalette. Im Gegenteil, wir haben in mancher Hinsicht schon zuviel. Anders gesagt, nur weil und insofern der Kapitalismus noch existiert, weil und insofern unsere Industrie noch kapitalistisch angetrieben und das Ergebnis ungerecht verteilt wird, gibt es für die Werktätigen der reichen Länder noch eine relative Notwendigkeit steigender Realeinkommen. 

Sobald also jene Grünen, die noch keine Sozialisten sind, ihre Wachstumskritik primär an den Kapitalismus adressieren, werden sie unbedingt das Recht haben, generell, d.h. sekundär also auch die Werktätigen, zum Maßhalten aufzurufen. Es kommt darauf an, ob man erkennt, daß der Kapitalismus weg muß.

Wir Sozialisten stehen vor der Notwendigkeit, daran zu denken, wie man der Maßhaltepolitik der Monopole und des Staates eine eigenständige Maßhalte­politik vom Standpunkt der Mehrheit der Bevölkerung entgegensetzen könnte. Wir können uns gegenüber den Völkern der Südhalbkugel nicht damit herausreden, daß ja alle Ausbeutung und Unterdrückung, alle Not und Hungerkatastrophen von unseren Kapitalisten ausgehen. 

Wir Sozialisten leben, auch unsere Arbeiter leben, auch der DGB kämpft einstweilen innerhalb dieser bürgerlichen Gesellschaft, und wir profitieren mit am Kolonialismus und Neokolonialismus. Schließlich sind wir doch auch mitverantwortlich dafür, daß unsere Gesellschaft noch immer eine bürgerliche Gesellschaft ist, daß wir ihre Ökonomik noch nicht geändert, den Kapitalismus noch nicht überwunden haben.

Meine Genossen von ganz links — aber vielleicht müssen wir uns von diesem rechts-links-Schema des bürgerlichen Parlamentarismus allmählich verabschieden — pflegen an dieser Stelle zu fragen, ob es denn nicht entscheidend wäre, den Klassenkampf des Proletariats zu organisieren, damit der Kapitalismus endlich verschwindet. 

Und auf die Gegenfrage, wie lange wir uns denn nun schon vergebens unsere proletarische Revolution versprechen, antworten sie, man müsse eben Geduld haben und darauf setzen, daß sich das objektive Klasseninteresse der Arbeiter schon noch durchsetzen werde. 

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Ich will jetzt nicht darüber reden, wie problematisch es um dieses "objektive Klassen­interesse" in dem bisherigen Verstände bestellt ist — es gäbe da jedenfalls manches neu zu diskutieren. Eines aber scheint mir festzustehen: Wir können die übrige Menschheit und uns selber nicht länger geduldig auf diese versprochene proletarische Generallösung warten lassen: dazu ist keine Zeit mehr. Wer verbürgt die Generallösung bis zum Jahre 2000?

 

Sehen wir uns die Kurven des Material- und Energieverbrauchs sowie die Kurven der Umweltbelastung für die nächsten Jahrzehnte an und überlegen wir, was passieren würde, wenn die Menschen der übrigen Welt nach dem Beispiel unserer hiesigen Zivilisation zu Werke gingen. (Schließlich muß jeder das Recht haben, so und "so gut" zu leben wie wir, falls wir unser hiesiges und heutiges Leben für ein gutes Leben halten.) Unter diesen Umständen müßten wir den jetzigen Energie- und Materialverbrauch und die jetzigen Umweltschäden mit zehn und — da unser eigener Konsum offenbar immer noch weiter wächst und wachsen wird — mit mehr als zehn multiplizieren. 

Es ist höchste Zeit zu begreifen, daß wir nicht so weitermachen können und dürfen wie bisher — ganz unabhängig davon, ob der Kapitalismus fortbesteht oder wir in der Lage sind, ihn so rasch zu überwinden, wie wir möchten. Insofern wir uns als Marxisten und Sozialisten ernst nehmen, heißt das, daß wir unser geistiges Rüstzeug überprüfen und verbessern müssen. Wir müssen es der veränderten, der wesentlich erweiterten Hauptaufgabe sozialistischer Bewegung anpassen.

Unsere gewohnte Vorstellung vom Übergang zum Sozialismus ist die Ablösung der kapitalistischen Ordnung innerhalb der grundlegenden Bedingungen, die die europäische Zivilisation, und zwar nicht nur in Europa, auf dem Gebiet der Technik, der Technologie geschaffen hat. Noch in unserem Jahrhundert konnte ein so tiefer Denker wie Antonio Gramsci die Technik, den Industrialismus, den Amerikanismus, das Ford-System in der vorgefundenen Form im großen und ganzen als unentrinnbare Notwendigkeit ansehen und den Sozialismus als den eigentlichen Vollstrecker der menschlichen Anpassung an die moderne Maschinerie und Technologie darstellen.

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Die Marxisten haben bisher nicht oft daran gedacht, daß die Menschheit nicht nur ihre Produktionsverhältnisse, sondern den Gesamtcharakter ihrer Produktions­weise, also auch die Produktivkräfte, die sogenannte Technostruktur, grundlegend umwälzen müsse und daß sie ihre Perspektive an keine historisch überkommene Form der Bedürfnisentwicklung und -befriedigung und der dazu zweckbestimmten Produktenwelt gebunden betrachten dürfe. Die Warenwelt, die wir hier vorfinden, ist in der Form für den Menschen nicht existenznotwendig. Sie muß nicht unbedingt so aussehen, wie sie ist, damit er sich geistig und gefühlsmäßig so hoch entwickeln kann, wie wir möchten. 

Der Typus erweiterter Reproduktion, den die europäische Zivilisation in ihrer kapitalistischen Ära hervorgebracht hat, diese lawinenartig anschwellende Expansion in allen materielltechnischen Dimensionen, beginnt sich als ökonomisch, politisch und psychologisch unhaltbar zu erweisen. Der Erfolg, den wir mit unseren Mitteln der Naturbeherrschung hatten, droht uns und alle anderen, die er unbarmherzig in seinen Sog zieht, zu vernichten. Die gegenwärtige Lebensweise der industriell fortgeschrittensten Völker bewegt sich in einem globalen und antagonistischen Widerspruch zu den natürlichen Existenz­bedingungen des Menschen. Wir nähren uns von dem, was andere Völker und künftige Generationen zum Leben nötig hätten. Zumindest vermehrt unsere Verschwendung aller leichter zugänglichen Ressourcen ihre notwendige Arbeit und hält so ihre Befreiung von den alten historischen Zwängen auf.

Vom ökonomischen Prinzip der Mehrwertproduktion und der Profitmaximierung her handelt es sich hier um einen wesentlich quantitativen Prozeß, der kaum in menschlichen Gewinn umschlägt. Hegel pflegte in solchen Fällen von "schlechter Unendlichkeit" zu sprechen; er meinte damit einen Prozeß, bei dem lediglich 1 und 1 addiert wird, der aber nicht auf den im jeweiligen Zusammenhang entscheidenden qualitativen Sprung zuläuft. 

Diese Art Progreß muß aufhören, denn der Anteil der Erdrinde, den man, wenn unser Planet bewohnbar bleiben soll, im industriellen Stoffwechsel vermählen kann, ist trotz aller möglichen und unsinnigen Ausdehnung begrenzt.

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In dem technokratischen und szientistischen Glauben, der Fortschritt von Industrie, Wissenschaft und Technik werde die sozialen Probleme der Menschheit auf seinen eingefahrenen Gleisen lösen, liegt eine der lebensfeindlichsten Illusionen der Gegenwart. Die sogenannte wissenschaftlich-technische Revolution, die jetzt noch überwiegend in dieser gefährlichen Perspektive vorantreibt, muß von einer gesellschaftlichen Umwälzung her umprogrammiert werden. Die Idee des Fortschritts überhaupt muß radikal anders interpretiert werden, als wir es gewohnt sind. Der Pro-Kopf-Verbrauch an Rohstoff und Energie, die Pro-Kopf-Produktion an Stahl und Zement, die in allen Statistiken als Fortschrittskriterien aufgeführt werden, sind Kriterien par excellence — allerdings für einen total entfremdeten Fortschritt. 

Diese Erzeugungsschlacht führt ihren innersten Triebfedern nach weder über das von allen Generälen geheiligte Gleichgewicht der Abschreckung noch über die Knappheit der Existenz- und Entwicklungsmittel hinaus. In einer Richtung, die Marx nicht gemeint hat, erweitert sich hier ohne ersichtliche Grenze "das Reich der Naturnotwendigkeit, weil der Bedürfnisse". Denn je mehr Bedürfnisse der Mensch in dieser unsinnigen Richtung weiterentwickelt, desto länger muß man arbeiten, desto weniger Zeit bleibt für freie menschliche Selbstentfaltung und Entwicklung. Wir treiben den historischen Augenblick, "wo der Zwang und die Monopolisierung der gesellschaftlichen Entwicklung (einschließlich ihrer materiellen und intellektuellen Vorteile) durch einen Teil der Gesellschaft auf Kosten des anderen wegfällt", unentwegt vor uns her. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität, die dazu dienen sollte, die für die Entfaltung der Individuen verfügbare Zeit zu vermehren, wird zum Vehikel dieses verhängnisvollen Wettrennens um Materialverbrauch pervertiert.

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Abgesehen von dem Nachholbedarf der Entwicklungsländer also, der jedoch hoffentlich nicht an unseren bisherigen Kriterien gemessen werden wird, ist es nicht wahr, daß wir dieses ökonomische Wachstum für weitere Generationen brauchen. Zur Zeit entstehen der Menschheit daraus jeden Augenblick mehr Probleme als sie bei den bestehenden Gesellschaftsstrukturen mit Hilfe von Wissenschaft, Technik und Organisation zu lösen imstande ist. Allzu oft wird der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben. Und die Wachstumspolitik erweist sich eher als stabilisierendes Agens für die jeweiligen Herrschaftsverhältnisse, hüben wie drüben. 

Die kommunistische Assoziation im Marxschen Sinne, die mit dem "Kommunismus", den wir in den real existierenden sozialistischen Staaten sehen, nichts gemein hat, sollte ein Gesellschaftskörper sein, der, ohne die ihm angehörigen Individuen zu strangulieren, seiner Probleme Herr wird. Marx hatte übrigens selbst den Gedanken, der moderne Kommunismus würde mit dem der Urgemeinschaft, einem Kommunismus der Solidarität und der einfachen Reproduktion der Lebensbedingungen, einiges gemeinsam haben. Dies bestätigt sich heute. Wir sehen, daß eine solche Assoziation freier Individuen nur eine Ordnung quantitativ einfacher oder zumindest sehr langsam und bedächtig erweiterter Reproduktion von Menschen, Werkzeugen und materiellen Gütern sein kann. Das gilt letzten Endes für den ganzen Planeten. 

Es ist notwendig, das Problem der ungeheuerlichen Unterschiede im Lebensstandard so schnell wie möglich zu lösen, statt diese Schere noch weiter zu öffnen. Nur so kann der relative Überfluß an lebensnotwendigen Gütern, den Marx zur Bedingung sozialistischer und kommunistischer Verhältnisse erklärt hat, im Weltmaßstab zustande kommen. Bei der fortdauernden Herrschaft der alten Ökonomie mit ihrer permanenten "Revolution der Erwartungen", die von den jeweils neuesten Luxusbedürfnissen angetrieben wird, ist dieser relative Überfluß nicht erreichbar. 

Marx hatte damals in erster Linie die eigentlichen Subsistenzmittel, für alle Menschen das Lebensnotwendige, gemeint. In den industrialisierten Ländern hat sich die treibende Dialektik von Produktion und Bedürfnis auf das Feld der Genuß- und Entwicklungsmittel verlagert, und sowohl fürs Genießen wie für die Entwicklung, also für die Aneignung der Kultur, hat die kapitalbedingte Manipulation der Bedürfnisse das Angebot schwerwiegend deformiert. Es ist also nicht so, daß wir die Genuß- und Entwicklungs­mittel in der Form vorfinden, in der sie wirklich zu vernünftigem menschlichen Genuß und zur höheren Entwicklung des Individuums dienen. 

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Wir finden sie in einer zum großen Teil pervertierten Form vor. Viele Bedürfnisse, die sich auf positive Genuß- und Entwicklungsmittel richten oder richten sollten, haben bloß kompensatorischen Charakter, d.h. sie zielen auf Ersatzbefriedigung für ausgefallene, also von den Verhältnissen verhinderte Persönlichkeits­entwicklung. Das Gekaufte blockt den psychischen Fortschritt des Käufers oft noch ab, statt ihn zu fördern. Das kompensatorische Haben-, Verbrauchen-, Konsumierenwollen und -müssen erzwingt dann seinerseits die Fortsetzung der kapitalistischen Erzeugungsschlacht, bei der wir auch noch in 100 Jahren "zu arm" für den Sozialismus sein werden. Man wird dann immer sagen können, es fehlt noch etwas, weil irgendwelche anderen Leute noch mehr haben. Der Teufelskreis der kapitalistischen Wachstumsdynamik muß durchbrochen werden, gerade auch vom Standpunkt sozialistischer Interessen an der Emanzipation des Menschen.

Überdies kann sich nur bei langsamer Evolution der Technologie allmählich die zuverlässige Selbstregulation des sozialen Prozesses herausbilden, die das Gegenteil der Steuerung durch einen bürokratischen Mechanismus wäre. Bei diesem Tempo der Evolution von Technologie und Technik ist ein repressiver Staat unvermeidlich. Der Bürokratismus ist die unentrinnbare Konsequenz der Spontaneität, mit der die Gesetze unserer fetischisierten Dingwelt über uns herrschen. Solange die notwendige Arbeit nicht aufhört, die Menschen zu hetzen, solange immer mehr vergegenständlichte Arbeit "notwendig" ist, um die Bedürfnisse eines Menschen zu befriedigen, kann der Streit um das Notwendige, kann das bürgerliche gleiche Recht für ungleiche Individuen, kann der Staat nicht aufhören.

Um sich zum Herrn über die Natur zu machen, mußte die Menschheit sich und ihre Werkzeuge erweitert reproduzieren. Das war einst eine fortschrittliche Notwendigkeit. Um aber in der Natur zu bleiben und die Kontrolle über sich selbst zu gewinnen, muß sich die Menschheit in ihrem Naturverhältnis stabilisieren. Gerade für den jungen Marx hatte die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln auch die Versöhnung von Kultur und Natur bringen sollen. 

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Marx sah bereits den Widerspruch von kapitalistischer Produktion und Natur. Nur war dieser damals noch nicht so zugespitzt, daß er ihn in den Mittelpunkt seiner Analyse gestellt hätte. Später rückte dieser Gesichtspunkt daher mehr an den Rand des Marxschen Denkens, weil er sich streng auf die Analyse des Kapitalverhältnisses im engeren Sinne konzentrierte, also auf die Probleme, die damals der weiteren Entwicklung der arbeitenden Menschen am meisten im Wege standen. Die Idee von der kommunistischen Gesellschaft als der, wie er sagte, wahrhaften Auflösung des Widerstreits zwischen Mensch und Mensch sowie Mensch und Natur, ging darum keineswegs verloren; auch nicht die Idee, den Widerstreit zwischen dem Menschen und seiner eigenen Natur, seiner eigenen Physiologie und Psychologie, die ja auch ein Stück — unter den bestehenden Verhältnissen häufig unbewältigter — Natur ist, aufzuheben. Man kann sich also vorstellen, wie Marx selbst sich fortentwickeln würde, hätte er die Gelegenheit, den Widerspruch Mensch — Natur in seinen heutigen Dimensionen zu durchdenken.

Die extensive Phase der Menschheit geht ihrem Ende zu, im Guten oder im Bösen. Die Gattung kann und wird ihre materielle Basis weiter qualifizieren, aber sie muß um ihres Fortbestands und auch ihres Lebenssinnes willen mit dem Größenwahn brechen, muß kollektive Rücksicht gegenüber dem Natur­zusammen­hang lernen. Ich halte hier sogar den Ausdruck Demut für angebracht. Bisher hat sie jedenfalls den Naturzusammenhang eher zu stören als zu verbessern vermocht. Die Wissenschaft ist mit ihren Eingriffen immer weiter gegangen, als ihre Erkenntnis über die damit einhergehenden Folgen gereicht hat. 

Der Sprung ins Reich der Freiheit ist nur auf dem Hintergrund des Gleichgewichts zwischen Menschennatur und Umwelt denkbar, dessen Dynamik sich entschieden aufs Qualitative und Subjektive verlegt. Hier in diesen reichen Ländern haben wir zuerst die Aufgabe, diesen Durchbruch zu versuchen. Wenn es nicht gelingt, die Gesellschaft so zu organisieren, daß sie diese Richtung rechtzeitig einschlagen kann, wird sie wenig später unter den Schlägen katastrophaler zivilisatorischer Zusammenbrüche im Zeichen barbarischer Kämpfe und Diktaturen dahin gezwungen werden. Noch ist Zeit.

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   Über die Schwierigkeit beim Weltverändern   

 

Nun muß man in Rechnung stellen, daß sich die bestehenden Verhältnisse weitgehend in den Gewohnheiten der Menschen niedergeschlagen haben. Gorki sagte einmal über die Schwierigkeit beim Weltverändern, der Grundton alles Stöhnen und Jammerns der Mehrheit sei: "Hindert uns nicht daran, so zu leben, wie wir es gewohnt sind", und, füge ich hinzu: "Hindert uns nicht daran, weiterzumachen wie bisher"

Unser gesellschaftliches Leben ist hüben wie drüben so organisiert, daß auch den körperlich arbeitenden Menschen das bessere Auto näher ist als die einzige Mahlzeit des Slumbewohners oder die Wassernot des Bauern auf der Südhalbkugel der Erde und auch näher als die Sorge um die Erweiterung ihres Bewußtseins, um ihre Selbstverwirklichung. 

Dabei gibt es heute einen Bewußtseinsüberschuß, der größer ist denn je. Das heißt einfach, es gibt, wenn man möchte, genug freie Zeit für die Entwicklung der Kräfte von Kopf und Herz. Die Menschen hier müssen sich nicht mehr total von solcher Arbeit absorbieren lassen, die sie nicht für die eigene Entwicklung nutzen können. Freilich sind diese Entwicklungszeitanteile für die Menschen in diesem Lande noch reichlich ungerecht verteilt, und hier ist nach wie vor der große und berechtigte Ansatz der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Das ist übrigens auch nicht zuletzt eine Verteilung zuungunsten der Frauen, und gerade das muß man auch ändern. Die Kapazitäten dafür sind vorhanden.

Wir wissen, die entfremdete Arbeit und der Druck der herrschenden Institutionen bestimmen zunächst die Masse dieses überschüssigen Bewußtseins, dieser freien Kapazität im Sinne von freier Zeit, dahin, in dieser freien Zeit nach bequemen Ersatzbefriedigungen zu streben, zum Beispiel nach einer der zahllosen Illustrierten, in denen stets dasselbe steht. Die Umstände beschränken und verhindern die Entfaltung, Entwicklung und Bestätigung zahlloser Menschen von frühester Jugend auf.

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Und sie sind nun gezwungen, im Verbrauch von Dingen, in passiver Unterhaltung, in prestige- und machtorientierten Attitüden Entschädigung zu suchen, ihre Zeit totzuschlagen. Das eben sind ja die vorhin erwähnten kompensatorischen Interessen, für die man aber die Individuen in ihrer Masse nicht unbedingt selbst verantwortlich machen kann, sondern wofür man eben wieder auf den Reproduktionsmechanismus, der in dieser Gesellschaft herrscht, letzten Endes auf die ökonomischen Verhältnisse verweisen muß. Insofern uns — ich meine jetzt uns als Sozialisten — die ökologische Krise dazu zwingt, uns dem Problem dieser kompensatorischen Bedürfnisse zu stellen, dem Problem, wie man sie bewältigen könnte, bietet sie indirekt sogar eine positive Chance für unsere alten sozialistischen Ideale, mit denen wir im Laufe der letzten Jahrzehnte doch in die Enge geraten sind. Der Kurs auf einen neuen Gesamttypus der ökonomischen Reproduktion ist nicht nur wegen der Umwelt- und Ressourcenkrise erforderlich, sondern auch, um den Antrieb für das Streben nach Ersatzbefriedigungen zu entspannen.

Wie gesagt, die Wachstumskonkurrenz forciert die Ungleichheit im materiellen Lebensstandard der Menschen und Völker, und damit forciert sie die Ersatz­bedürfnisse, diese kompensatorischen Bedürfnisse. Je mehr produziert wird — gerade so funktioniert doch der kapitalistische Marktmechanismus —, desto mehr muß erjagt, besessen, vorgezeigt und verbraucht werden, desto mehr psychische Energie wird in abstrakter Arbeit und kompensatorischen Genüssen gebunden und bleibt den emanzipatorischen Kräften entzogen. Die materielle Unersättlichkeit, die uns der Kapitalismus anerzieht, kostet uns die Freiheit der höheren Entwicklung und unterwirft uns weiter Regulationen, die auf Zwang beruhen. Wenn die von der Profit- und Markterweiterungsjagd verursachte Explosion der materiellen Bedürfnisse nicht zum Stillstand gebracht werden kann, wird der Sozialismus nicht nur ökonomisch, sondern auch psychologisch unmöglich. Deshalb haben wir Sozialisten dieses große Interesse an der ökologischen Bewegung — auch im Interesse unserer ureigenen Ziele.

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   Von der Emanzipation in der Ökonomie zur Emanzipation von der Ökonomie   

 

Individuell ahnen viele Menschen, daß der Gedanke des Fortschritts völlig anders gefaßt werden muß, als wir es gewohnt sind. Kaum jemand — auch wenn es manchmal so scheinen mag — geht, wenn das Lebensnotwendige einmal gesichert ist, wirklich ganz in diesen kompensatorischen Befriedigungen auf. Es sind die herrschenden ökonomischen Verhältnisse und die zugehörigen Institutionen, die die Leute hindern, Konsequenzen zu ziehen, nach ihren besseren Einsichten und Wünschen auch zu leben. Deshalb, und nicht etwa umgekehrt, können sich die besseren Einsichten und Wünsche gar nicht erst voll herausbilden. 

Gegen den Strom nämlich müssen sie sich herausbilden, und hier eben erwächst die Notwendigkeit der Zusammenfassung der Gegenkräfte, an der der einzelne einen Rückhalt findet. Alternative, emanzipatorische Organisation gegen die herrschenden Organisationen, die die Menschen absorbieren und manipulieren! Das steht auf der Tagesordnung. Und dies im Sinne eines großen Bündnisses aller Kräfte und Strömungen, die die Menschen aus der Gefangenschaft der selbstgeschaffenen, aber fremdbestimmten Sachzwänge herausführen möchten. Gerade auch in diesem Sinne habe ich in Offenbach (siehe: Grundlagen für einen bundesrepublikanischen "historischen Kompromiß") über die Notwendigkeit gesprochen, ein enges Bündnis mit den Christen einzugehen. 

Dabei geht es heute bereits nicht nur um Emanzipation in der Ökonomie, sondern tendenziell um Emanzipation von der Ökonomie, um Erhebung über dieses Reich der Notwendigkeit, wie das Marx betrachtet hatte. Es gilt, die gesamte Ökonomie, das ganze Verhältnis von Produktion und Bedürfnis wie auch die Regulation des Wirtschaftsprozesses überhaupt umzuprogrammieren. Anders ist die menschliche Emanzipation — als Emanzipation, die beim Individuum ankommen soll, sonst ist es gar keine — nicht zu machen. Man muß sich die psychologische Dimension des Individualitätsproblems in der superkomplexen Industriegesellschaft einmal völlig klarmachen. 

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Die verschiedenen Lebensbereiche — Arbeit, Bildung, Wohnen, Erholung — sind so weit auseinandergetreten, fast alle Tätigkeiten sind so weit entpersönlicht, selbst die privaten Bindungen so vieler Notwendigkeiten beraubt, daß die Entfremdung des Menschen vom Menschen zum allgemeinen Schicksal zu werden droht. Das Unglück der Einsamkeit, des totalen Kommunikationsverlusts unterhalb der riesigen Oberfläche abstrakter, seelisch gleichgültiger Funktionalaktivitäten greift immer tiefer. Wir finden emotionale Beziehungslosigkeit bis in die intimen Kontakte der Kleinfamilie, dieses letzten Residuums ursprünglicher Gemeinschaftlichkeit. Eine Lebensweise, die in solchen Mißklang für die Individuen mündet, mag — nach welchen Kriterien auch immer — fortgeschritten sein, sie bewegt sich nicht in einer Perspektive der menschlichen Emanzipation.

Wenn man sich nun fragt, wo wirklich die Ursachen für diesen Prozeß liegen, so würde man wahrscheinlich doch sehr an der Oberfläche bleiben, wenn man denken wollte, daß eine sozialliberale Koalition in kurzen zehn Jahren oder daß irgendwelche sozialistischen Emanzipationsforderungen, die manchmal auch mißverständlich formuliert werden, dieses unglückliche Resultat zuwege gebracht hätten. Da stecken vielmehr jene 200 Jahre unserer hiesigen zivilisatorischen Entwicklung dahinter, die im wesentlichen vom Kapitalismus bestimmt worden ist.

Sowohl das Wachstum der Produktion als auch das Wachstum der Arbeitsproduktivität, das einstweilen noch sehr selten kritisch hinterfragt wird, müssen praktisch ihres Heiligenscheins als unentrinnbare ökonomische Erfordernisse verlustig gehen, womit wir übrigens nicht unbedingt "Nullwachstum" in diesem Sinne der Quantität zum Gesetz erheben müssen. Es geht gar nicht eigentlich um die Frage "Nullwachstum" oder um 5 % oder gar einmal um 2 % minus. Das ist überhaupt nicht die Frage. Worum es geht: daß wir über das Gesetz, nach dem bloß Quantität herrscht, hinauskommen müssen. Und die Quantität herrscht einfach von dem grundlegenden wirtschaftlichen Prinzip, vom Geldprinzip, von diesem Kapitalprinzip her, wo es schlicht darum geht, immer aus einer Mark zwei Mark zu machen. Das ist das Quantitätsprinzip, das unsere Wirtschaftsordnung vorantreibt. Und mit diesem Quantitätsprinzip müssen wir Schluß machen, damit das Wachstum eine Wendung ins Qualitative, ins Subjektive nehmen kann.

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Wenn eine Gesellschaft so weit industrialisiert ist, daß sie ihren Mitgliedern die elementaren Bedürfnisse auf der erreichten Kulturstufe einigermaßen zuverlässig befriedigen kann, muß der ganze Reproduktionsprozeß allmählich aber bestimmt, und das heißt auch planmäßig — es ist unvermeidlich, das planmäßig zu machen — auf die Priorität der allseitigen Entwicklung des Menschen, auf die Vermehrung seiner positiven Glücksmöglichkeiten umgestellt werden. Letzten Endes signalisiert das immer weiter um sich greifende Unbehagen der Individuen in der bestehenden Zivilisation längst einen solchen Widerspruch, der die bisherige Lebensweise auch dann unhaltbar dastehen ließe, wenn die Abnahme bzw. Verschlechterung der Ressourcen der materiellen Expansion keine Grenzen setzte. 

Übrigens zeigen historische Beispiele, daß gleiche oder ähnliche Resultate menschlicher Entwicklung und menschlichen Glücks bei verhältnismäßig großer Differenz in der Quantität des verfügbaren Produktes möglich sind. 

Auf keinen Fall lassen sich die Bedingungen der Freiheit in Dollar oder Rubel pro Kopf angeben. Die Menschen der entwickelten Länder brauchen nicht Ausdehnung ihrer heutigen Bedürfnisse, sondern Gelegenheit zum Selbstgenuß in ihrer eigenen individualisierten Aktivität: Tatengenuß, Beziehungsgenuß, konkretes Leben im weitesten Sinne; in jenem Sinne, den Goethes Faust vorzuleben, vorzugestalten versucht hat. Das ist eigentlich heute die Aufgabe, die für alle Menschen ansteht, nicht mehr nur für diesen privilegierten Bürger, der im Mittelpunkt des Welttheaters von Goethe gestanden hat. Wir brauchen einen an neuen Werten orientierten Rahmenplan für die gesellschaftliche Entwicklung, und zwar einen Rahmenplan, dem die Wirtschaft sich zu fügen hätte. Einen Plan, der von der Optimierung der Entwicklungsbedingungen für voll sozialisierte Menschen ausgeht. Das erfordert zum Beispiel Priorität der Aufwendung für das Bildungswesen, das erfordert Bildungsplanung nicht mehr vom Standpunkt der überkommenen Nachfrage nach Sachwerten und vom Standpunkt, was für Arbeitsplätze von der Industrie geboten werden, zu betreiben.

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Und wir brauchen diese Rahmenplanung in solchen Formen der Basisdemokratie, die einen gesellschaftlichen Lern- und Erkenntnisprozeß unter breitester Teilnahme der Massen ermöglichen. Wir brauchen eine gesellschaftliche Rahmenplanung, die die Wertorientierungen neu festlegt, nach denen man den ganzen Produktionsapparat ausrichten will. Ein solcher Plan muß durchaus nicht nur die Aktivität einer Staatsmaschine sein, sondern das kann eine Aktivität sein, die von oben und unten zugleich in Angriff genommen wird, wenn es eine echte Massenkommunikation über diese Wertorientierungen, über diese Zielsetzungen gibt.

 

Über die antifaschistische Potenz der ökologischen Politik  

 

Vor dem Hintergrund, den ich eben entwickelt habe, glaube ich nun also, in sehr vielen Punkten stimmen wir Sozialisten — wenn auch teilweise aus anderer Motivation — heute mit Standpunkten radikaler Technik- und Technologiekritik, Industriekritik usw. überein, die wir früher als konservativ, kleinbürgerlich, feudalsozialistisch usw. abgelehnt haben. Wir werden nur stets eben wie der alte Cato unser Ceterum censeo(1) hinzufügen: daß der Kapitalismus weg muß. Aber in der Frage einer Industriekritik, einer Technologiekritik, gehen wir heute zusammen — können und müssen und sollen zusammengehen — auch mit konservativen Positionen, die aus einer anderen Tradition gespeist sind. 

Wir stehen auf dem Standpunkt, daß radikale Kritik am kapitalistischen Industrialismus die gemeinsame Basis sein kann, auf der wir in der grünen Bewegung über das ganze Spektrum der an der Überwindung unserer gegenwärtigen Zivilisationskrise interessierten Kräfte zusammenarbeiten können. Antikapitalistisch ist zunächst natürlich nicht gleichzusetzen mit sozialistisch. Wir sind uns darüber klar und denken nicht daran, diese antikapitalistischen Tendenzen von vornherein sozialistisch konfirmieren zu wollen. 

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Wir wollen nur unsere Standpunkte, die Gesichtspunkte, die ich zu entwickeln versuchte, mit in die Diskussion einbringen. Wir werden dabei eben den großen gemeinsamen Nenner der Kritik am kapitalistischen Industrialismus haben, auch dann, wenn dieses Problem des Kapitalismus nicht gleich von Anfang an verstanden wird. Und ich stimme in dieser Perspektive weitgehend mit dem überein, was Herbert Gruhl auf die Formel gebracht hat: Nicht rechts im traditionellen Sinne und nicht links (jedenfalls nicht sehr links) im traditionellen Sinne, sondern vorn werden wir stehen.

Außerdem wird eine veränderte Einstellung zu konservativen Motivationen, wie sie uns durch die ökologische Krise nahegelegt wird, eine erhebliche antifaschistische Bedeutung haben. Es gibt Genossen und Freunde, die einerseits auf die Gefahr Franz Josef Strauß hinweisen und — unzweckmäßiger, weil ungenauer Weise — vor einem neuen 1933 warnen, und die andererseits entdecken, daß es bei den Grünen ideologische Elemente gibt, wie sie seinerzeit von den Nazis aufgegriffen und ausgewertet wurden. Und die mit solchen Argumenten ihre ansonsten bloß wahlarithmetisch begründete These "die Grünen helfen Strauß" qualifizieren möchten. Ich sage: Diese Genossen und Freunde selbst helfen mit einer solchen Argumentation Strauß, und zwar auf einer viel grundsätzlicheren, nämlich nicht-arithmetischen Ebene. Sie sagen nämlich denjenigen Grünen, die nicht Sozialisten sind und von einer konservativen Motivation ausgehen, daß sie dorthin zurückgehen sollen, von wo sie gerade aufgebrochen sind oder aufzubrechen im Begriff sind. Und sie erinnern die vielen Menschen, die noch ganz in konservativen Wertvorstellungen befangen sind, daran, daß sie bei der reaktionären, nur demagogisch an überlieferten und christlichen Werten festhaltenden politischen Hauptpartei des Monopolkapitals bleiben sollen.

Sie begreifen nicht, daß wir die Pflicht und die Aufgabe haben, solchen Menschen eine bessere politische Heimat schaffen zu helfen. Sie begreifen nicht, daß wir mit unserer allzu rationalistischen Auffassung von Klasseninteressen und von deren Umsetzung in politische Aktion Mitverantwortung dafür trugen, daß damals so viele Menschen hilflos der faschistischen Demagogie überlassen geblieben sind — einer Demagogie, die den wahren Interessen und Intentionen jener Menschen keineswegs entsprach. 

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Nicht der Erbhofbauer — um ein freilich alles andere als sozialistisches Leitbild als Beispiel aufzugreifen — hat den Faschismus gemacht, sondern der Faschismus den Erbhofbauern zu einem reaktionären Symbol. Anstatt den alten Faschismus von 1933 zu beschwören, sollten wir uns hauptsächlich damit beschäftigen, wie wir dem heutigen politisch rechten Konservatismus, wie wir der politischen Partei Strauß mit historischem Recht das Wasser abgraben, wie wir ihr die Menschen wegnehmen können. Sind es doch zum großen Teil dieselben Frustrationen, die auch uns verfolgen, auf die die Reaktion spekuliert. Oft irritiert uns Sozialisten da nichts als die andere Einkleidung, die andere Terminologie. Wir müssen für den Dialog bereit sein, uns auch auf Begriffe einlassen, die wir nicht gewöhnt sind und die nicht aus unserer Schule stammen.

Es gibt heute — so will ich diesen Gedanken zusammenfassen — langfristig keine bessere antifaschistische Versicherung in diesem Land als ein geistig und gefühlsmäßig gut fundiertes Bündnis von Sozialisten und Ökologen in einer wachsenden grünen Bewegung. In einer grünen Bewegung, die die gegen Strauß bloß defensive, für die Zukunft ziemlich konzeptionslose Sozialdemokratie nicht bloß passiv stützen, sondern — auf lange Sicht — innerlich verändern könnte. Es bedarf dazu eines archimedischen Punktes außerhalb dieser sozialdemokratischen Partei, die an die Regierungsgeschäfte ausverkauft ist. Selbstverständlich ist diese grüne Bewegung viel breiter als eine grüne Partei, die sich wohl konstituieren wird. Aber eben darum, weil die grüne Bewegung breiter als eine politische Partei ist, haben alle Sozialisten innerhalb der Sozialdemokratie und außerhalb der Sozialdemokratie eine gemeinsame und in kameradschaftlicher Zusammenarbeit wahrzunehmende Verantwortung gegenüber der grünen Bewegung.

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   Über den Unterschied zwischen Unabhängigkeit und Sektierertum   

 

Wenn ich sage alle Sozialisten, so schließe ich selbstverständlich die Genossen von den kommunistischen Gruppen, Bünden und Parteien ein, die im Zusammen­hang mit der grünen Bewegung zugleich die große Chance haben, aus dem linken Abseits, aus dem sektiererischen Formelkram, aus der Fixierung auf irgendwelche fremden, hier nicht realisierbaren Modelle herauszukommen. Mir scheint, diese Organisationen müssen ihren Status nicht aufgeben, aber neu definieren. 

Wenn die Genossen in die grüne Partei hineingehen wollen, dann können sie selbstverständlich nicht Organisationen weiterhin angehören, die denselben Parteianspruch, d.h. auf derselben Ebene der politischen Partei, die zu Bundestagswahlkämpfen antreten will, aufrechterhalten. Wie man sich ja auch nicht darüber wundern muß, daß die Sozialdemokratie auf die Unvereinbarkeit von SPD- und grüner Mitgliedschaft hinweist. Das ist absolut nicht verwunderlich. (Wundern muß man sich höchstens, daß die SPD so rasch so dezidiert auf diese Selbstverständlichkeit hinweist, daß sie es für nötig hält, diese offene Tür einzurennen.) Heißt das, man muß die bestehenden Organisationen über Nacht auflösen? Sicher nicht. Vielleicht nützt folgende Überlegung. 

Es gibt Organisationen — und ich nenne bewußt so verschiedene Organisationen — wie z.B. den Achberger Kreis und wie das Sozialistische Büro. Wird jemand verlangen, daß sich diese Gruppierungen auflösen, damit ihre Mitglieder — falls sie das wünschen — in die grüne Partei gehen können? Das wird niemand verlangen. In einer normalen politischen Partei in der pluralistischen Gesellschaft haben manche Strömungen Platz. Und solche Strömungen werden sicherlich das Recht haben, ihre eigene Diskussion zu organisieren, einen speziellen Zusammenhalt zu pflegen, und warum auch nicht unter der Bezeichnung eines kommunistischen Bundes, um ihre besonderen Anliegen herauszuarbeiten, auch in eigenen besonderen Publikationen zu publizieren. 

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Es geht nämlich gerade darum, daß wir unsere Arbeit als Sozialisten, als Kommunisten auf ideologischer Ebene organisieren; und nicht auf der Ebene von solchen Organisationen, die Mitglieder verwalten und kommandieren wollen und stets die Leute, die ihnen angehören, in Loyalitätskonflikte verwickeln, wenn irgendwelche neuen Entwicklungen beginnen. Es steht dann immer die Frage an: "Muß ich nun sofort austreten, darf ich das noch sagen, darf ich das nicht mehr sagen, stimme ich noch überein?" Das habe ich zur Genüge erlebt. 

Wenn man mehr aufrechterhalten will als so eine Organisation für Diskussionen, für die Pflege des eigenen Standpunktes und für das konstruktive Einbringen des eigenen Standpunktes, wenn man eine eigene leninistische Parteidisziplin — unter unseren hiesigen Bedingungen ist das eine Sektendisziplin — aufrechterhalten will, dann freilich wird es stets Querelen geben, und die Genossen, die sich da noch konfirmieren lassen, werden die Chance verlieren, aus der Isolation herauszukommen.

Was die grünen, bunten und alternativen Listen betrifft, so sollte man die Division aufgeben. Was heranwächst, das ist eine einzige Bewegung. Grün ist dafür ein ebenso guter Name wie irgend ein anderer. "Grün" wird sich offenbar durchsetzen, hat sich offenbar schon durchgesetzt. Grün steht für ökologisch, und das ist tatsächlich der wichtigste Gesichtspunkt. Und da die grüne Bewegung sich zugleich basisdemokratisch versteht, und da sie sich sozial versteht (so sehr man diesen Begriff noch präzisieren muß) und gewaltfrei definiert — wird sie zugleich bunt sein in mancherlei Bedeutung, ja sie ist schon bunt. Und sie wird alternativ sein im weitesten Sinne einer konstruktiven Gegenposition zur Politik und zur Praxis der etablierten Parteien.

Das heißt, sie wird Platz bieten für das ganze Spektrum jener Interessen, die durch die bestehende Ordnung der Dinge zum Widerstand provoziert werden. Sie wird Platz bieten für die Genossen, die sich bis jetzt in den K-Gruppen abgegrenzt haben und die dort reingehen sollten, um mitzumachen,und die dazu ihre eigene ideologische Organisation nicht aufzugeben brauchen. Man muß sich freimachen von der Psychologie des wechselseitigen Gekränktseins, von einer Art, das Problem Grüne — Bunte — Alternative — Kommunistische Gruppen usw. zu behandeln, die eben gerade nicht alternativ ist, die den Stil einer ganz typischen Politikasterei aufweist.

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Man muß fähig sein, einige Reaktionen, die sich aufgrund vielleicht unseres eigenen Sektierertums und der allgemeinen antikommunistischen Vorurteile herausgebildet haben, erst einmal großzügig einzustecken. Wir müssen gut verstehen, vor welchem Hintergrund sie zustande gekommen sind. Und wir haben selbst die größte Verantwortung, mit diesen Vorurteilen positiv fertig zu werden, indem wir ihnen durch unsere eigene Haltung den Boden entziehen. Angesichts der großen gesellschaftlichen Notwendigkeit einer zusammenwachsenden grünen Bewegung kommt es nicht darauf an, gerade für bewußte Sozialisten nicht, ob man sich momentan gerade mal "voll einbringen und wiederfinden" kann, ob man hinreichend auf irgendwelchen Listen repräsentiert ist.

Es gibt dieses alte Wort, nach dem wir nichts zu verlieren haben als unsere Ketten. Ich möchte das mal abwandeln. Man müßte sich fragen: Was eigentlich besitzen wir denn, abgesehen von unserem kleinen organisatorischen Zusammenhalt? Was besitzen wir an realem gesellschaftlichem Einfluß über unsere Zirkel hinaus, und welchen Einfluß könnten wir besitzen, wenn wir ohne Sektierertum mitmachten? Und wenn das geprüft ist, so wird sich herausstellen: Wir haben nichts zu verlieren als unsere Kutten, nämlich als unsere Sektiererkutten. Denn was wir aufgrund unserer sozialistischen Einstellung außerdem an besonderen Einsichten in unseren Köpfen haben und gemeinschaftlich weiterpflegen können und täglich mit der Welt vergleichen müssen, das kann und will uns sowieso niemand wegnehmen.

Die Grünen ihrerseits, soweit sie bisherige Bunte und Alternative ausklammern möchten, sollten nicht verkennen, was für ein Prozeß bei den Menschen dort im Gange ist, das Sektierertum aufzugeben. (Ich bin vor mehr Sektierertum gewarnt worden — seit ich in dieses Land gekommen bin —, als ich angetroffen habe, das muß ich auch einmal feststellen. Von wem? Nun z.B. von Genossen aus der SPD.) Da ist ein Selbstverständigungsprozeß von großer Tragweite und Reichweite im Gange. Der braucht seine Zeit. Das sollten auch die Grünen, die noch keine Sozialisten sind, berücksichtigen.

Man sollte allerseits ein gewisses, und ich sage, alternatives Maß an Offenheit und Großzügigkeit aufbringen und vor allem darüber diskutieren, welche Ziele in den Mittepunkt der Bewegung müssen. Sie ist zum Beispiel noch gar nicht ökologisch genug, der ökologische Ansatz selbst ist noch zu eng gefaßt.

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  Von den inneren zu globalen Widersprüchen  

 

Ich will vor dem Hintergrund der allgemeinen Dinge, die ich am Anfang gesagt habe und die mehr den Ton darauf legten, welche Art von Interesse das eigentlich ist, die uns Sozialisten an die ökologische Bewegung bindet, und wo da der wechselseitige Zusammenhang ist, jetzt noch einmal auf die ökologische Krise selbst eingehen. Wir sind uns immer noch unzureichend darüber klar, wie wenige Minuten vor zwölf es ist — wenn man die Uhrzeit auf die gesamte bisherige Menschheits­geschichte bezieht.

Was wir jetzt vor uns haben, ist eine Krise der menschlichen Zivilisation überhaupt. Etwas Vergleichbares hat es in unserer ganzen Gattungsgeschichte auf dieser Erde nie gegeben. Alle bisherigen Kämpfe waren lokal, und bei aller Unstatthaftigkeit jedes Rechenexempels, in dem größere und kleinere Menschen­opfer miteinander verglichen werden: Früher gab es rings um die Kämpfenden immer noch eine Zukunft, neue unverbrauchte Kräfte außerhalb des Kampffeldes. 

So durften sich in einem zum Teil ja wirklich noch recht evolutionsbiologisch verstehbaren Aufstiegskampf ums Dasein Geschlechter, Stämme, Stadtstaaten, Reiche miteinander schlagen. Der Dreißigjährige Krieg hat "nur" Deutschland, der I. Weltkrieg "nur" Mitteleuropa, der II. Weltkrieg, obgleich ausufernd nach Nordafrika und nach Ostasien, "nur" Europa zerstört, verwüstet und entvölkert. Es konnten sich auch — wie Marx und Engels stets als Möglichkeit mitgesehen hatten — in inneren Klassenkämpfen die Gegner wechselseitig ausradieren, alle Figuren vom Brett schlagen, bis zu einem Patt der nackten Könige

Auf anderen Brettern gingen andere Kämpfe glücklicher aus. Und nicht überall zugleich ging es um Gedeih und Verderb, um Tod und Leben ganzer Gesellschaftskörper.

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Und heute gibt es — wie Ossip K. Flechtheim ein Buch überschrieb — "eine Welt oder keine". Es gibt ein einziges Menschheitsschicksal. Ich habe in Bautzen das erste Mal die Bibel vollständig gelesen. Ich hatte sie vorher nur zum Teil zur Kenntnis genommen. Nun, ich bin nach wie vor Sozialist und Marxist. Ich habe sie nicht als Erbauungsbuch gelesen, sondern weil man sich mit dieser geistigen Leistung, mit dieser großen humanistischen Tradition befassen und auseinandersetzen muß. Ich will mich jetzt auf ein Beispiel aus der Bibel beziehen, um unsere heutige Situation zu charakterisieren.

Einst hat der Prophet Jesaja für sein einzelnes Volk darum gebangt; gebetet und mit seinem Gott gekämpft, es möge, wenn schon eine historische Katastrophe ins Haus steht, wenigstens "der Rest so groß wie möglich bleiben", die Summe derer, die übrig sein werden. Wir sollten erkennen, daß wir heute — und zwar alle Menschen aller Kontinente, aller Hautfarben und aller sozialer Klassen und Schichten dieser einen Erde, als ein Volk — dieser tragischen Situation, in der Jesaja damals stand, ziemlich nahe gekommen sind. Wenn das, was jetzt läuft, noch zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig Jahre so weitergeht, dann wird unsere Erde kahl gefressen sein. Es wird uns gehen wie jenen Heuschrecken, die sich vermehren, über ein Territorium herfallen, es kahlfressen und dann nachher alle zusammen zugrunde gehen. 

Diese Tendenz ist jetzt in der Weltgeschichte akut, weil dieser Planet tatsächlich begrenzt ist und unsere Gattungsentwicklung, nicht nur was die Zahl der Menschen betrifft, sondern was den Verbrauch pro Kopf der Bevölkerung betrifft, dieses selbe Heuschreckenphänomen aufweist. Und das heißt einfach — Marx hat das immer so genannt —, die Menschheit muß aus dem Stadium heraus, wo ihre Geschichte erst bloß naturhistorischer Prozeß ist. Noch ist unser Gattungsprozeß als ganzer eben nicht bewußt beherrscht. Noch geht Geschichte nicht auf der Höhe der Würde des Menschen vor sich, sondern noch geht sie insgesamt gesehen als so ein naturgeschichtlicher, als ein viel zu biologischer Prozeß vor sich. Das ist das Problem, dem wir uns bewußt stellen müssen, und wir Sozialisten zuerst. 

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Das ist heute ein dringlicheres Problem als der innere Klassenkampf. Das muß man begreifen. Ich sage, wir werden dieser schlimmen Situation nicht entgehen, wenn wir nicht bereit sind, so wie Jesaja damals sein Volk aufgefordert hat, umzukehren, und zwar zuerst hier, in unseren reichsten, in unseren auf eine falsch gewordene Art reichsten Ländern der Welt. Hier und nirgends anders ist vom Ursprung her seit 200 Jahren und ist bis heute und mit beängstigend wachsendem Tempo das Schwungrad in Gang, das den Wagen der ganzen menschlichen Existenz auf den Abgrund zutreibt. Wir reißen sie alle mit in der östlichen Zweiten, in der ölreichen Dritten, der verhungernden Vierten Welt. Wir reißen sie mit auf unserem Weg. Und deshalb müssen wir zuerst hier unser Leben ändern.

Früher kamen die "Verwandler der Welt" eben oft von außen. Es gibt dieses Außen nicht mehr. Das Problem ist global, und wir müssen unsere Zivilisation konstruktiv von innen umgestalten. Und dazu müssen die "weltinneren" Widersprüche von uns richtig erkannt, sie müssen in einem geradezu biblischen Sinne gerecht erkannt werden. Da nährt man zum Beispiel den Haß auf die OPEC-Länder, gegenwärtig konzentriert er sich auf die Situation im Iran. 

Wir müssen begreifen, daß Ursachen, Endursachen für solche Zusammenstöße wie jetzt im Iran hier bei uns liegen. Nicht in einem einzelnen Land, sondern in der Art, wie unsere Zivilisation funktioniert und nach außen gewirkt und dort die alten Strukturen zerstört hat. Der I. Weltkrieg und Versailles haben Deutschland weniger getan, das Leben unseres Volkes weniger durchgerüttelt als der Einbruch dieser unserer westlichen Lebensweise mit ihren oft verheerenden Spaltprodukten in diese traditionellen Milieus. Hier hatten wir — gehätschelt und befördert, benutzt und installiert von unseren herrschenden Kreisen — als Antwort auf die Nachkriegssituation von 1918 den fürchterlichsten Ausbruch in die Barbarei von 1933-1945. Und nun urteilt man über den Iran nach dem Motto vom Splitter im Auge des anderen, während man den Balken im eigenen nicht bemerkt.

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Auch die Tragödie in Kambodscha hat mit uns zu tun! 

Seit es die Atombombe gibt, steht die alte antagonistische Grundeinstellung zu sozialen Widersprüchen aller Art, äußeren wie inneren, in Frage. Schon seit es die Atombombe gibt! Und die Atombombe war nur die Spitze des Eisberges der Probleme, die uns die industrielle, die technische und wissenschaftliche Entwicklung unter dem Kapitalismus beschert hat. Aber seit es die Atombombe gibt, stehen wir vor der Notwendigkeit, uns neu auf die Behandlung der sozialen Widersprüche, der äußeren wie der inneren, einzustellen. Das hatten beispiels­weise Chruschtschow und Kennedy schon erkannt. 

Ja, Chruschtschow zum Beispiel, auf den manche linke Sektierer so fürchterlich schimpfen, weil sie nicht begreifen, welche Bedeutung sein Auftreten sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch unter den konkreten Bedingungen der Sowjetunion hatte. Es macht sich sehr leicht, von außen alles besser zu wissen. Ich denke, man muß aus unserem Herangehen an die soziale Frage, an den inneren Klassenkampf, das alttestamentarische Auge-um-Auge, Zahn-um-Zahn ausklammern. 

Das Heil in der Zuspitzung der Widersprüche zu suchen, das geht auch "innen" nicht mehr so ohne weiteres, seit es "außen" nicht mehr geht, weil nämlich "außen" der Widerspruch Ost-West, noch mehr der Widerspruch Nord-Süd übergreift. Die Art und Weise, in der die inneren Klassenwidersprüche hier funktionieren und ausgetragen werden, ist untrennbar von dieser neuen Weltsituation. Widersprüche müssen ausgetragen werden, nach wie vor. Aber man muß den Modus und die Regeln neu überdenken. Man muß in Zukunft im Gegner außenpolitisch wie innenpolitisch immer auch den Partner sehen. Man muß sich nicht weniger, sondern noch mehr auf ihn einlassen, man muß noch mehr mit ihm kämpfen. 

Das heißt aber, man muß mehr tun als nur Statements mit ihm austauschen, man muß sich in die Diskussion, in die wirkliche ideologische Auseinandersetzung einlassen. Und man muß sich zu dieser Auseinander­setzung auch zusammensetzen, nämlich an einen Tisch; weil tatsächlich mit allen um eine Neuformulierung der Probleme, um die es in unserer Gesellschaft geht, gerungen werden muß. Mit wem wir nicht diskutieren werden, der wird ziemlich unvermeidlich gegen uns stehen. Und zwar auf eine Weise und auch in Kampfformen, in denen er vielleicht nicht gegen uns stehen würde, wenn wir uns auf die Diskussion einlassen würden.

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Wir müssen alle Fragen der inneren und äußeren Politik unter dem Gesichtspunkt des Überlebens stellen und zum Beispiel nicht mehr im Sinne des unbedingten Sieges der eigenen Klasse, des eigenen Landes, des eigenen Systems. Welcher Unfug beispielsweise, in einer solchen Zeit noch Grenzen ändern, Ergebnisse vergangener Kriege doch noch berichtigen zu wollen. Die ökologische Krise ist nicht allein das vergleichsweise immer noch schmale Problem der begrenzten Ressourcen und der Zerstörung der Umwelt, das zuerst ins Auge fällt, sondern wir müssen erkennen, welche umfassenden Mechanismen diese Krise vorantreiben.

 

   Einige Voraussetzungen zur Lösung der ökologischen Krise  

 

Damit wir das ganze Feld der Herausforderungen, vor denen eine grüne Bewegung steht und denen sie politisch konkret begegnen muß, im Auge behalten, will ich auf einige Bedingungen hinweisen, die den umfassenden Rahmen ökologischer Politik kennzeichnen können:

 

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Das ist das Problem der kompensatorischen Interessen in der christlichen Formulierung des Neuen Testaments. Man muß weiter lesen in dem alten Text, weil es darum geht, das Loslassen und Verzichten auf Dinge, die in letzter Perspektive vielleicht überflüssig, sogar hinderlich für die volle Entfaltung des Menschen sind, positiv zu begreifen. In diesem Sinne zitiere ich weiter den Christus zugeschriebenen Text, als eine unerläßliche Ergänzung und Vollendung des Gebots gegen das Schätzesammeln. Es heißt nämlich dort weiter: "Sondern trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit." Ich meine jetzt natürlich nicht den spezifisch religiösen Inhalt dieser Formel, ich meine das, was uns Christus da, ob wir religiös an ihn glauben oder nicht, als ein Verhaltenslehrer von größter Autorität zu sagen hat. Was er uns zu sagen hat über das Bedürfnis nach Aufstieg zu einer höheren, menschenwürdigeren Lebensform, nach Selbstverwirklichung und Selbstüberschreitung zum anderen Menschen hin und zur Menschheit hin und zur Allnatur hin, ja, wohin auch immer, wenn es nur innerhalb der Humanität bleibt und kein fremdes Leben schädigt und zerstört. In dieser Richtung liegt, was wir zu gewinnen haben, wenn wir das Schätzesammeln lassen. 

Diese Funktionen müssen umgekehrt in Instrumente zur Kontrolle über solche Sonderinteressen verwandelt werden, die das Leben und die Entfaltungs­bedingungen der Mehrheit behindern und gefährden und die uns nicht ermöglichen, uns der Aufgabe der Solidarität im eigenen Lande wie im Weltmaßstab zu stellen. Die Freiheit muß doch die Freiheit der Individuen sein, nicht wie man uns manchmal entgegenhält, die Freiheit jener sonderbaren "Kollektivsubjekte", die wir Monopole nennen, und ähnlicher Superinstitutionen. Ausgerechnet mit denen zusammen sollte die Freiheit des Einzelmenschen stehen und fallen? Das ist nun wirklich nicht ernst zu nehmen, das ist wirklich ein sehr überholter Standpunkt. Mit menschlichem Unternehmertum im weitesten Sinne haben diese Monopole, die Superinstitutionen, kaum etwas zu tun; es sei denn, sie stellten seine äußerste Perversion dar, sie führten das ganze Prinzip menschlicher Initiative, das wir unbedingt in unserer Kultur und Zivilisation bewahren müssen, ad absurdum. 

 

Sozialistische Alternative und ökologische Politik, also die Koppelung dieser beiden Begriffe, so lautet mein Fazit heute, ist von der Seite der Sozialisten her gesehen, ein und dasselbe, untrennbar angesichts dieser Klammer, die in der antikapitalistischen Orientierung gegeben ist. Wir streben aus innerer Notwendigkeit unserer Ziele wie aus äußerer Notwendigkeit der realen Katastrophengefahr, die wir sehen, den rechtzeitigen historischen Kompromiß auf breitester Basis an, d.h. zwischen allen Kräften, die die Bewahrung und Höherentwicklung unserer Zivilisation und der Weltzivilisation insgesamt wollen. In diesem Lande könnte die grüne Bewegung der Inbegriff eines solchen großen und notwendigen historischen Kompromisses sein. Genauer gesagt, sie könnte es werden. In diesem Sinne also: macht die grüne Bewegung stark!

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Rede im Freiburger Paulussaal vom 30.11.79, erschienen in Kritik 24.

 

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1) Ceterum censeo, lateinisch "übrigens meine ich" (daß Karthago zerstört werden muß); Schlußsatz jeder Rede Catos im römischen Senat, also im Sinne einer unablässig wiederholten Forderung gemeint. (Anm. d. Red.)

 

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