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  Teil 2 - Von 1979 bis 1989 - Von Kurt Seifert  

2.1  Von Ost nach West. Ein DDR-Intellektueller geht zu den Grünen.

 

 

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Beim nächsten regulären Halt in Braunschweig drängte »eine ganze Journalistenhorde« (Ursula Beneke) in den Zug, um Rudolf Bahro zu befragen und Aufnahmen von ihm zu machen. Ein Mitarbeiter des Axel-Springer-Verlages wollte Bahro einen Strauß in die Hand drücken, doch der reagierte unwirsch: »Von BILD nehme ich keine Blumen!«  

Auch die Staatssicherheit war noch präsent, wenn auch nicht mehr vis-a-vis wie bei der Fahrt von Bautzen nach Berlin eine Woche zuvor, sondern in Gestalt des Mitropa-Küchenchefs, der als IM einen ausführlichen Situationsbericht anfertigte. Weitere Presseleute und eine Gruppe Jugendlicher mit roter Fahne warteten im Kölner Hauptbahnhof auf die Ankunft des prominenten Übersiedlers. 

Doch Bahros Verleger, Tomas Kosta, war unterdessen mit dem Auto nach Solingen gefahren, um ihn und seine Begleitung außerplanmäßig aus dem Zug zu holen. Er brachte sie ins Haus von Heinrich Böll. Dort konnten die fünf während einer Woche wohnen. Ursula Beneke erinnert sich daran, daß sie in dieser Zeit mit Gundula Bahro ein Zimmer teilte.   [ H.Böll bei detopia ]

Rudolf Bahro hatte ein umfangreiches Programm mit Interviews und Gesprächen zu bewältigen. Bereits einen Tag nach Ankunft in der Bundesrepublik kam er im ZDF zu Wort. Bahro nutzte die Sendung, um sich an seine Genossen und Freunde in der DDR zu wenden. Er forderte sie auf: »Lest mein Buch, gebt es weiter, ohne zuviel Vorsicht, setzt euch damit auseinander und vertraut im übrigen auf den Gang der Geschichte.«  

In Bonn traf er sich mit den ihm bereits bekannten Spiegel-Redakteuren R.Leick und U.Schwarz. Anschließend wurde er vom SPD-Vorsitzenden Willy Brandt zu einem »Sondierungsgespräch« empfangen.

Im Bonner »Bristol«-Hotel präsentierte sich Bahro am 22. Oktober 1979 zu seiner ersten Pressekonferenz. Man wollte von ihm wissen, wie er sich seine politische Zukunft im Westen vorstelle. Denke er beispielsweise an die Gründung einer neuen linkssozialistischen Partei? Ein paar Ehemalige des Sozialist­ischen Deutschen Studentenbundes (SDS) hatten diese Idee ins Gespräch gebracht. — Nein, eher an eine »Bewegung«. Allerdings werde er sich nicht auf linkes »Sektierertum« einlassen — davor hatte ihn Brandt eindringlich gewarnt.

Ob er sich denn vorstellen könne, bei den nächsten Wahlen für den Bundestag zu kandidieren? — Nein, »zunächst nicht«. Vorerst wolle er sich eine freischaffende Existenz aufbauen und als »links-sozialistischer Theoretiker« tätig werden. »Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt im Westen antwortete er ruhig, mit sicherem Selbst- und Sendungs­bewußtsein«, stellte die FAZ tags darauf fest.

Auf die Bemerkung, der westdeutsche Schriftsteller und Ökologe Carl Amery habe ihn als »heimlichen Grünen« ausgemacht, antwortete Bahro in seinem ersten großen <Spiegel>-Gespräch (22.10.1979): 

»Da hat er sich nicht geirrt. Das bedeutet aber nicht, daß ich nicht Marxist wäre. Doch erst mal muß gesichert werden, daß unsere Zivilisation nicht krachen geht. Dann kann sie vielleicht meinen gesellschaftlichen Idealen zugeführt werden

Im Interview mit Hendrik Bussiek (SFB am 22.10.) wurde er gefragt: »Sie sind nun hier im Westen als Marxist. Aber, Herr Bahro, Marxisten haben's wohl in beiden Deutschländern schwer?« Und die schlagfertige Antwort: »Ich habe das drüben gerne schwer gehabt. Und ich werde das auch hier gerne schwer haben.«

Gleich nach der Bonner Pressekonferenz sprachen ihn Rudi Dutschke, das einstige Idol der Außerparlamentarischen Opposition (APO), der Bundes­geschäfts­führer der GRÜNEN, Lukas Beckmann, sowie der im August 1968 vor den Invasionstruppen des Warschauer Pakts geflüchtete Tscheche Milan Horacek an. Die drei Männer wollten Bahro davon überzeugen, daß sein Platz in der gerade im Entstehen begriffenen grünen Partei sei.

Dutschke »machte mir klar, daß ich mich jetzt gleich entscheiden müsse« (Schroeren 1990, 165). Beckmann bemerkte später, er habe Rudolf Bahro bei dieser ersten Begegnung als »hellwach« und »erstaunlich vollständig angekommen« erlebt. Mit wachem Sinn erfaßte Bahro die historische Chance, die sich ihm da bot: Er war genau zum richtigen Zeitpunkt in den Westen gekommen. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik bildete sich mit den GRÜNEN eine vollkommen neue politische Kraft heraus, die sich durch ihre vorrangige Frage nach der Naturverträglichkeit moderner Gesellschaft — und damit der Überlebensfrage der menschlichen Gattung — fundamental von den bestehenden politischen Organisationen unterschied. 

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Bahro hatte das Glück, mit seiner für die Gattungsfrage offenen Konzeption genau in dieser formativen Phase eingreifen und den geistigen Prozeß für eine gewisse Zeit auch wesentlich prägen zu können.

Am ersten November-Wochenende 1979 nahm Rudolf Bahro bereits als Gast am Programmkongreß der GRÜNEN in Offenbach teil. Dutschke, Beckmann sowie Willi Hoss (zunächst Mitglied der illegalen KPD, dann Initiator der unabhängig-sozialistischen »plakat«-Gruppe und ab 1972 Betriebsrat bei Daimler-Benz in Stuttgart) trafen sich mit ihm in Horaceks Wohnung, um ihre Reden vorzubereiten.

In Offenbach bekannte sich Bahro öffentlich dazu, ein Grüner zu sein. Auf seine sozialistische Position wollte er aber nicht verzichten, weil gerade sie einen »umfassenden und radikalen grünen Denkansatz hergegeben hat, zu dem ich unverändert stehe«. Und er prägte dort die Formel: »Rot und grün, grün und rot gehen [...] gut zusammen.« (Elemente, 53) Heute sei »klarer denn je, daß der bisherige sozialistische Ansatz zu eng geworden ist, selbst in seiner besten, von keiner staatstragenden Parteibürokratie abgewirtschafteten Form« (ebd., 55), was sich für ihn mit der Gestalt von Rosa Luxemburg verband.

So deutlich wie Bahro hatte zu diesem Zeitpunkt noch kein Marxist formuliert, daß die Zukunft der »roten« Bewegung davon abhängen werde, ob sie bereit sei, sich auf die »grüne« Frage einzulassen — und damit auch ihren Anspruch aufzugeben, an der Spitze des geistigen Fortschritts der Menschheit zu stehen.

Die sozialistische Bewegung kann nur (in vielleicht verwandelter Form) überleben, wenn sie ihre ideologische Enge überwindet und dazu fähig wird, aus dem »globalen Zusammenhang« (ebd., 57) und nicht aus bornierten Klasseninteressen heraus zu denken.  

Carl Amery, der Bahro für die GRÜNEN »entdeckt« hatte, erzählt, wie es dazu kam: 

»Mitte der siebziger Jahre war Wolfgang Harichs Buch <Kommunismus ohne Wachstum?> erschienen — so eine Art stalinistischer Ökologismus. Ich wollte einen Marxisten finden, der ein besseres Verständnis für die ökologische Frage hat. Meine Wahrnehmung war also schon angespitzt. Und da erschien die Alternative. Mich interessierte vor allem der Teil, in dem Bahro so etwas wie ein Manifest für ökologische Zukunftspolitik entwickelt hat. Während er im Gefängnis saß, sollte zur Unterstützung der Aktion <Freiheit für Rudolf Bahro> ein Rowohlt-Taschenbuch herausgegeben werden — in Form von offenen Briefen Da habe ich Wolfgang Harich als Adressaten genommen und ihm erklärt, was ich bei Bahro für richtig finde und bei ihm für katastrophal falsch. Ich hatte natürlich nicht die geringste Ahnung, ob das den Harich in der DDR jemals erreichen wird. Es hat ihn erreicht - durch eine Geheimbotin. Und er hat sich sofort distanziert!« 

Auch Harich sei beim grünen Kongreß in Offenbach gewesen, berichtet Ursula Beneke, doch es kam zu keiner Begegnung zwischen ihm und Bahro.

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Während Gundula Bahro mit den Kindern nach Frankfurt ging, lebte Bahro vorläufig in einem Kölner Hotelzimmer — zusammen mit Ursula Beneke. Nicht zufällig ließen sie sich zunächst in der rheinischen Metropole nieder, denn dort saß die gewerkschaftlich finanzierte Europäische Verlagsanstalt, die Bahros Alternative herausgegeben hatte. (Im Oktober 1979 waren von dem Buch bereits 120.000 Exemplare verkauft.) 

Im Druckhaus Deutz empfing er Presseleute aus aller Welt und bildete sich durch diese Gespräche auch ein Urteil über das neue gesellschaftlich-politische Panorama, in dem er künftig wirken wollte. Den Rückzug auf eine bequemere, aber einflußlosere Professur, die ihm von der Universität Bremen angeboten worden war, verschmähte er. Er fühlte sich, fast gegen seinen Willen, von der Geschichte zu einer neuen Aufgabe berufen. Hinter dem erwähnten Angebot witterte die CSU gleich einen »Skandal«: Ihr Abgeordneter Albert Probst beschuldigte SPD und FDP, »mit Steuergeldern kommunistische Kulturrevolutionäre zu unterstützen« (zitiert nach Frankfurter Rundschau, 5.11.1979).

In den ersten Wochen und Monaten seiner bundesrepublikanischen Existenz betrieb Bahro einen »Kreuzzug für die allgemeine Emanzipation«. So formulierte das Hans-Joachim Noack in der Frankfurter Rundschau (29.11.1979): Er

»scheint ein sehr viel anderer zu sein, als man ihn erwartet hätte. Ein Mann zwar, der in Sachen zum Beispiel sozialistischer Ökonomie fast wie ein Computer wirkt, aber das ist nur der eine Teil. Der wesentlich entscheidendere offenbart ihn als einen Gemütsträger, als einen <Experten für Emotionales>, und der soll zum Durchbruch kommen.«

Auf den Fotos aus jener Zeit sieht er nicht gerade aus wie einer, der seinen Gefühlen freien Lauf ließe. Da steht ein Musterschüler vor uns, ein Intellektueller mit DDR-Ausstrahlung: Ins Auge springt der obligate Schillerkragen. Und das Gesicht? Knabenhaft, eigentlich ein Sanftmütiger — auch wenn er manches Mal wie ein Prophet poltert. Später, bei seiner Einführungsvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität im Oktober 1990, wird Bahro offen bekennen, er sei damals ein »Mensch-im-Futteral« gewesen, eingesperrt und verpanzert in sich selbst.

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Ende der 70er Jahre fiel Bahro die Rolle des von vielen wie ein Wanderprediger Erwarteten zu: Das hatte »mit Neugier zu tun« und einer ganz unverhohlenen »Sehnsucht, die eigene Verunsicherung abzustreifen und sich einer Integrationsfigur anzunähern«, analysierte der Journalist Hans-Joachim Noack. Zugleich war er irritiert: Es sei, »als habe man einer Art Gottesdienst beigewohnt«, notierte er anläßlich eines Bahro-Auftritts in der Universität Tübingen. 

Das fiel selbst der DDR-Staatssicherheit auf, die auch nach Bahros Ausreise in den Westen eifrig alles Wissenswerte über ihn sammelte und auswertete. In einem auf den 12.11.1979 datierten »Abwehrhinweis« der Hauptverwaltung Aufklärung wurde das zwei Tage zuvor geführte Gespräch der Quelle »Nippon« mit Rudolf Bahro rapportiert. »Nach Einschätzung unserer Quelle« erwecke Bahro »den Eindruck eines fast religiösen Eiferers. Tatsächlich bringe er auch ständig Probleme des Christentums und dessen Entwicklung ins Gespräch. Diese Einschätzung B.s werde auch von vielen anderen geteilt, die ihn nach seiner Übersiedlung in die BRD kennengelernt haben«, heißt es dort.

 

Für die westdeutsche Linke und die linksliberale Öffentlichkeit des Landes war der religiöse Grundton seiner Reden und Debattenbeiträge höchst ungewohnt. In Tübingen erinnerte Bahro daran, daß sich einst an diesem Ort Hegel, Hölderlin und Schelling für »Vernunft, Freiheit und die Unsichtbare Kirche« verschworen haben. Hegel und Hölderlin verabschiedeten sich nach Abschluß ihrer Studienzeit mit der Losung vom »Reich Gottes«. Man könne, so Bahro, »bis heute darüber nachdenken, was sie vielleicht damit gemeint haben« (Elemente, 29). 

Ein paar Monate später wird er im Mai-Heft der Zeitschrift Pardon schreiben, er habe im Westen »schon mehr als einmal erlebt, daß man für ziemliche Unverschämtheit hielt, an Veränderbarkeit der Welt zum Besseren zu glauben«. Der Beitrag endet mit dem Aufruf: »Die Welt verändern aus einem Glauben. Auch Marx hat einen gehabt. Und soweit er nicht aufging, gilt immer noch sein Wort von den notwendigen Illusionen, ohne die nie was Besseres wird.« (Ebd., 50, 52)

Solche Illusionen hatte offenbar auch Bahro noch im Kopf. In seiner bereits erwähnten Tübinger Rede sprach er davon, die DDR habe ihn »gemacht, die DDR hat mich in einem bestimmten, ambivalenten Sinne gedeckt bis zur letzten Stunde« — und: 

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»Sie deckt uns alle in einem bestimmten Sinne. Bei allem, was ich an Kritischem zum real existierenden Sozialismus in Osteuropa sage, es ist gut, daß diese Ordnung existiert. Sie war nämlich ein welthistorischer Fortschritt.« (Ebd. 28). 

Daß Bahro da etwas verteidigen mußte, wurde anläßlich einer Diskussion mit Rudi Dutschke und Karl Wittfogel spürbar. Wittfogel, der Theoretiker der »orientalischen Despotie«, war früher einmal Kommunist, trat aber 1933 aus der Partei aus, weil sie angesichts der Hitler-Bewegung versagt hatte. Seither galt er im kommunistischen Lager als Renegat und Verräter. 

»Bahro brachte es fertig, das Verschweigen seines Namens in der Alternative so zu erklären: Für ihn wie die Funktionäre, an die sich das Buch wenden sollte, sei Wittfogel als <hysterischer Antikommunist> nicht zitierbar gewesen. Dutschke, der kein Hehl daraus macht, was er dem Theoretiker Wittfogel verdankt, mußte sichtbar schlucken. Wittfogel war fassungslos: <Ich war und bin Sozialist. Wie glücklich wäre ich, wenn sich im Osten eine humane Wendung abzeichnete. Ich sehe aber keine.>« (Rühle 1979, 1239)

 

Rudolf Bahros großer Tag kam am 12. Januar 1980. 

In der Karlsruher Stadthalle wurden »Die GRÜNEN« als politische Partei gegründet und Bahro konnte in einer viel beachteten Rede begründen, weshalb er als Roter zu den GRÜNEN ging: Diese Partei stelle unter bundesdeutschen Bedingungen den »notwendigen historischen Kompromiß« (Schroeren 1990, 70) dar. Damit bezog er sich auf einen Begriff, der einige Jahre zuvor vom Generalsekretär der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI), Enrico Berlinguer, geprägt worden war. Nach dem Militärputsch in Chile vom 11. September 1973 hatte Berlinguer in der Parteizeitschrift Rinascita einen langen Essay unter dem Titel Überlegungen zu Italien nach den Ereignissen in Chile veröffentlicht. 

Sein wesentlicher Gedanke bestand darin: Die Bildung einer linken Regierung in Italien könne die Gefahr eines Bürgerkrieges heraufbeschwören, man müsse deshalb, so Berlinguers Vorschlag, auf eine »Eroberung des Winterpalais« verzichten, auch wenn sie mit demokratischen Mitteln vollzogen werden könnte. Alle Kräfte der Kommunistischen Partei sollten auf einen »historischen Kompromiß« mit der Democrazia cristiana, der Christdemokratischen Partei, ausgerichtet werden. Um ihrem Kurswechsel mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, suchten Berlinguer und die PCI ein Bündnis mit den französischen und spanischen Kommunisten. Im März 1977 traten die drei Parteien an die Öffentlichkeit und proklamierten ein Programm des demokratischen Übergangs zum Sozialismus.

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Ihr gemeinsames Projekt wurde als »Eurokommunismus« bekannt. 25 Jahre danach schreibt der Politologe und Publizist Michael Jäger in einer kritischen Würdigung dieses Ereignisses: »Der Begriff kann den Versuch bezeichnen, ein neues, nun eben westeuropäisches Zentrum des Weltkommunismus zu schaffen.« Dieser Versuch sei allerdings eine »Totgeburt« gewesen, denn er scheiterte an den Differenzen zwischen den drei Parteien, die spätestens bei ihren unter­schied­lichen Haltungen gegenüber der sowjetischen Besetzung Afghanistans Ende 1979 zum Ausdruck kamen.

 

Jäger erinnert daran, daß Ernest Mandel in seinem 1978 erschienenen Buch Kritik des Eurokommunismus Rudolf Bahro als Eurokommunist einstufte — vor allem deshalb, weil Bahro in seiner Alternative einen »historischen Block« gefordert hatte, »in dem auch Intellektuelle und technische Kader für den Kommunismus kämpfen sollen« (Jäger 2002). Hier bezog sich Bahro auf Antonio Gramsci, den Mitbegründer der PCI, der mit seinem theoretischen Ansatz die geistige Enge des sowjetischen Marxismus-Leninismus zu sprengen versuchte. Bahro war bereits in seiner Bautzener Haftzeit und dann verstärkt nach der Übersiedlung in den Westen daran interessiert, eine »allgemeine Theorie des historischen Kompromisses« zu entwickeln. 

In seiner Konzeption für ein Forschungsvorhaben an der Universität Bremen formulierte er: Die Bedingungen für eine umfassende Emanzipation des Menschen, »die das unaufgebbare Ziel aller sozialistischen Bewegung war und ist«, seien seit den Zeiten von Karl Marx so grundlegend verändert worden, »daß es einer konsequenten und kohärenten Revision unseres gesamten Theoriefundaments bedarf. Moderne revolutionäre Theorie wird sich ähnlich zum klassischen Marxismus zu verhalten haben wie seinerzeit die relativistische zur klassischen Physik.« (Elemente, 118) Damit skizzierte er auch sein Vorhaben, gedanklich über die Alternative hinauszukommen, den Marxismus im Hegeischen Sinne »aufzuheben«.

 

In einer Besprechung des Ende 1980 erschienenen Bahro-Buches <Elemente einer neuen Politik> hält Arno Münster in der TAZ vom 26.1.1981 fest, Bahros Verständnis des »historischen Kompromisses« sei nicht mit jenem der italienischen Kommunisten deckungsgleich. Bahro habe diese Formel »begrifflich-philosophisch erweitert« und neu gefaßt im Sinne eines möglichst breiten Denkansatzes, der auch wertkonservative Kräfte in eine »tendenziell systemüberwindende antikapitalistische Praxis einzubinden« versuche. Das sei eine Herausforderung an die Linke, die sich an den

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»Mythos« des Proletariats geklammert, die »bewußtseinsrnäßige Wirklichkeit dieser Klasse« aber nicht zur Kenntnis genommen habe, ihren Ansatz endlich einmal zu überprüfen. Bahros Verdienst liege darin, erkannt zu haben, daß unter den herrschenden Bedingungen »der entscheidende Anstoß in Richtung auf eine Egalisierung und einen Ausgleich hinsichtlich des angehäuften produzierten gesellschaftlichen Reichtums nur noch von außen, speziell den Ländern der Dritten Welt [...] kommen kann und daß die nötige Umverteilung im Weltmaßstab nur dann sinnvoll in Angriff genommen werden kann, wenn sich die revolutionären Tendenzen und Emanzipationsbestrebungen [..,] der Dritten Welt mit einer von den Metropolen ausgehenden noch zu schaffenden realen Umkehr- und Abkehrbewegung treffen.«

Für Bahro stellte die grüne Partei den Versuch dar, solche Kräfte zu integrieren, die sich von ihrer Herkunft und ihrem bisherigen Selbstverständnis grundlegend voneinander unterschieden haben. Es stehe eine »Neugruppierung an, d.h. eine Gruppierung nach neuen Kriterien, nicht eine Neuverteilung innerhalb des alten Musters«. Im Manuskript der vollständigen Disposition seiner Karlsruher Rede wird das am Beispiel Schwedens erläutert, das Bahro durch einen Besuch etwas näher kennengelernt hatte: Dort gebe es zwei »entschieden ökologische Parteien« — einerseits die konservative Zentrumspartei, auf der anderen Seite »die nach neuen Ufern Ausschau haltende, nicht mehr stalinistische Linkspartei Kommunisten«. Die deutschen GRÜNEN seien der »Versuch, Potentiale, die in anderen Ländern mindestens zwei Parteien traditioneller Konstellation bilden, weil sie der Herkunft nach tatsächlich sehr verschieden sind, unter einem Dach zusammenzuführen«. (Elemente, 61)

Bahro betonte, es sei unzutreffend anzunehmen, Rot und Grün stünden sich als Konkurrenten gegenüber. Beide seien durch etwas Drittes verbunden: die wahrgenommene Gefahr der ökologischen Krise. Gegenüber Versuchen — vor allem seitens des ehemaligen CDU-Politikers Herbert Gruhl —, die Linke vom grünen Parteibildungsprozeß auszuschließen, plädierte Bahro für Offenheit. Wer ernst nehme, »daß es ums Überleben geht, und zwar in einer menschlich für uns absehbaren Zeit, wie kann der mit Ausgrenzungsbeschlüssen beginnen?« Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle: »Großer Beifall.«

 

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Michael Schroeren, einst Bundespressesprecher der Partei, befragte rund zehn Jahre danach Grüne und Ex-Grüne — unter ihnen auch Rudolf Bahro — nach deren Erinnerungen an das Karlsruher Gründungs­wochenende. 

Bahro: Ich war damals noch gar nicht ganz da, und zwar weniger in politischer als in psychologischer Hinsicht. Da war noch eine Scheibe zwischen mir und den Verhältnissen hier. Woran ich mich noch am allerdeutlichsten erinnern kann, war das Schauspiel, das Baldur Springmann und ich dort zusammen auf der Bühne gegeben haben. 
Schroeren:  Welches Schauspiel meinst du? 
Bahro: Ich bekam das Wort, gleich nachdem Baldur Springmann geredet hatte, und wir fielen uns in die Arme, als wir uns am Rednerpult begegneten. Das war eine Demonstration, daß Leute mit derartig verschiedenen Biographien tatsächlich ein gewisses Vertrauen zueinander fassen können.
Schroeren: Du sagst, es war ein Schauspiel. War es gespielt? 
Bahro: Nein, das war wirklich so.  

(Schroeren 1990, Seite 164)

Der Ökobauer Baldur Springmann galt als »Rechter« und war deshalb manchen aus dem linken Spektrum äußerst suspekt. Was sollte es bedeuten, wenn sich Bahro mit so einem öffentlich solidarisierte? Rudolf Bahro diagnostizierte: 

»Der von links kommende Teil der grünen Bewegung hat einen Nachholbedarf in punkto ideologische Bewältigung der ökologischen Krise. Wir müssen zum Beispiel das bekannte Buch von Herbert Gruhl erst einmal lesen, ohne das Urteil an einzelnen Reizworten festzumachen, die uns nicht passen.« 

Gemeint war Ein Planet wird geplündert. Um die Lebensbedingungen der kommenden Generationen zu sichern, müßten heute Freiheiten begrenzt werden, vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Nur so könne das Chaos verhindert werden, lautet eine der zentralen Gruhl-Thesen. »In diesem Buch«, so Bahro anerkennend und selbstkritisch, »sind Probleme kenntlich gemacht, auf die wir Marxisten und Sozialisten aus unserer Tradition keine hinreichende Antwort mitbringen. Auch meine eigene bisherige Konzeption reicht nicht aus.« (Elemente, 67)

  Baldur Springmann, Karlsruhe

Nach dem Gründungsparteitag in Karlsruhe wurden in der linksalternativen Szene verschiedene Strategien debattiert: Soll man die GRÜNEN unterwandern und für die eigenen Zwecke nutzbar machen oder lieber in »bunten Listen« unter seinesgleichen bleiben? Rudolf Bahro wandte sich Ende Januar 1980 in einem »offenen Brief an die Bunten und Alternativen, an den Kommunistischen Bund (KB) und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)« vehement gegen die »Froschperspektive« dieser Strömungen und Organisationen. 

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Gesellschaftliche Bedeutung könnten »Sozialisten aller Coleur« nur erlangen, wenn sie ihre »Splittergruppen« aufgeben: »Wenn ihr die Larve abwerft, werdet ihr leben. Sonst verpaßt ihr die Möglichkeit, einmal eine wirkliche Erfahrung mit der übrigen Gesellschaft zu machen, deren Spektrum ziemlich vollständig bei den GRÜNEN vertreten ist. Nur nach außen könnt ihr die volle Identität gewinnen. Mit den GRÜNEN werdet ihr nicht ausgegrenzt werden, wenn ihr euch nicht selbst ausgrenzt bei den GRÜNEN.« (Elemente, 168 ff.)

Tatsächlich löste sich die maoistische KPD wenig später, Anfang März 1980, auf. Das kam nicht nur für Bahro ziemlich überraschend: Er 

»wollte offensichtlich angesichts der brutal geschaffenen Fakten nicht als <Schreibtischtäter> erscheinen, als er beteuerte, daß die KPD sich <sicher nicht> auf seine Aufforderung hin aufgelöst habe, und mahnend hinzufügte, daß er <nicht im entferntesten an die Aufgabe eigenständiger sozialistischer Organisationen überhaupt> gedacht hätte«, 

hält Willi Jasper, ehemaliger Chefredakteur des KPD-Organs Rote Fahne, in einem Buch über Das Scheitern der KPD und die Krise der Linken fest (Jasper 1981, 40).

 

Durch die Alternative und seine Inhaftierung war Bahro weltweit bekannt geworden. Nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik wurde er deshalb mit Einladungen aus dem In- und Ausland überhäuft. So reiste er bereits im Herbst 1979 zusammen mit Ursula Beneke durch halb Europa: Paris, Oslo, Stockholm (dort wurde Bahro in den internationalen PEN-Club aufgenommen), Helsinki. In der finnischen Hauptstadt sprach er auf Einladung der marxistischen Debattenzeitschrift Uudistuva Ytheiskunta (»Gesellschaft in der Erneuerung«) vor einem überfüllten Hörsaal der Universität. Der dortige DDR-Botschafter hatte vergeblich versucht, die Veranstaltung verbieten zu lassen — die Behörden verwiesen auf die Autonomie der Hochschule.

Im Winter 1979/80 lebten Rudolf Bahro und Ursula Beneke im Ferienhaus eines befreundeten Ehepaares in Maicesine am Gardasee. In dieser Zeit lernten sie beispielsweise Zdenek Mlynär, einen der Protagonisten des »Prager Frühlings«, und die Schriftstellerin Luise Rinser kennen, die im Herbst 1981 mit Bahro zusammen Nordkorea besuchte. (Mehr davon im nächsten Kapitel.) Sie reisten nach Rom und begegneten dort dem Marxisten Lucio Lombardo Radice, der sich nachdrücklich für Bahros Freilassung eingesetzt hatte. Ursula Beneke berichtet, daß Bahro auch ein Gespräch mit dem Parteivorstand der italienischen Kommunisten führte.

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Im Februar 1980 hielt er Vorträge in der Schweiz. Dem Journalisten Martin Frischknecht (heute Herausgeber der Esoterik-Zeitschrift Spuren) ist eine Veranstaltung in Zürich noch in lebhafter Erinnerung.

»Bahro machte mir damals den Eindruck: nicht ganz in diesen Rahmen passend. Wenn er etwas sagte, merkte man, daß sein Horizont weit über das hinausreichte, was in diesem Saal an Überzeugungen und Meinungen vertreten war. Nachträglich fällt mir auf, daß er offenbar von recht engstirnigen, sektiererischen Leuten gebraucht wurde, die ihn vor ihren Karren spannen wollten. Doch Bahro hatte so ein offenes Gemüt, daß er die Fraktionitis der Links-Alternativen nicht allzu ernst nahm.«

Weil Bahro einen Forschungsauftrag der Bremer Universität erhalten hatte, zogen er und Ursula Beneke im Frühjahr 1980 in die Stadt an der Weser. Sie wohnten zusammen mit Bahros Sohn Andrej in einem Haus am Stadtrand. Ex-Frau Gundula ließ sich mit Tochter Bettina ebenfalls in Bremen nieder.

Am 1. März begann Bahro sein unter der akademischen Betreuung der Professoren Detlev Albers und Wolfgang Eichwede stehendes Projekt, das ihm nicht zuletzt eine dreijährige finanzielle Absicherung verschaffte. In der Folgezeit war er an der Universität Bremen allerdings kaum präsent, so stark absorbierten ihn seine Versuche, die linken Kräfte in die ökologische Bewegung zu integrieren. Erst im Sommersemester 1981 führte er zusammen mit Detlev Albers eine Lehrveranstaltung zum Thema Historischer Kompromiß in Westeuropa? Bedingungen und Aktionsmöglichkeiten durch. Und noch viel später, nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember 1981, sprach er im Rahmen einer größeren Universitätsveranstaltung Über Polen nachdenken (27./28.1.1982) zum Thema Ostblock und Ost-West-Konflikt im Lichte des 13. Dezember. Und zwar mit einer weit vorausschauenden These: Es zeige sich nunmehr, daß die kapitalistischen Metropolen nachträglich die Oktoberrevolution besiegt hätten, weil die sozialistischen Staaten weder in der Industrialisierung noch in der Rüstung mithalten könnten und sich bei diesem Wettlauf ruinieren würden.

Doch wir haben Bahros Geschichte etwas vorgegriffen. Bereits vor dem Umzug nach Bremen konnte er mit seiner in der DDR durch die Staatssicherheit abgelehnten Dissertation, die nun fünf Jahre darauf im Bund-Verlag Köln unter dem Titel Plädoyer für schöpferische Initiative erschien, bei Oskar Negt zum Dr. phil. promovieren.

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Habilitiert wurde er im Februar 1983 an der Technischen Universität Hannover mit der Alternative ebenfalls bei Oskar Negt. Im Gegenzug erwartete Negt allerdings, Bahro werde Lehrveranstaltungen an der TU abhalten (was dieser nicht tat).

Bahro kam zu mancherlei Ehren: Im Dezember 1979 wurde die dem Häftling ein Jahr zuvor verliehene Carl-von-Ossietzky-Medaille nachträglich überreicht. Anfang März 1980 reiste Bahro zusammen mit Ursula Beneke nach London, wo sie ungefähr eine Woche bei Tamara Deutscher wohnten, der Ehefrau des 1967 verstorbenen Stalin- und Trotzki-Biographen Isaac Deutscher. Zu dessen Andenken hatte sie den »Isaac-Deutscher-Memorial-Preis« gestiftet. Er wird jedes Jahr für ein Buch verliehen, das auf innovative Weise das Denken in der Tradition des Marxismus veranschaulicht. Bahro erhielt diesen Preis 1979 für seine Alternative. Ursula Beneke hielt den Kontakt mit Tamara Deutscher bis zu deren Tod im August 1990 aufrecht.

 

Doch Bahro stieß nicht nur auf Sympathien. Aus dem rechten Lager wurde er wiederholt attackiert, so auch durch den ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal. Am 5. Dezember 1979 berichtete der in seiner Sendung, Bahro habe in der Haftanstalt Bautzen einen Mitgefangenen denunziert. Vier Tage später legte Bild am Sonntag nach und behauptete, ihr »Kronzeuge« Kurt Michaelis habe in Bautzen erfahren, »daß Herr Bahro nach der Auffassung meiner Mithäftlinge für den Staatssicherheitsdienst arbeitet« (zitiert nach Spiegel, Nr. 31, 28.7.1980). Bahro setzte sich empört zur Wehr. Bei dieser Gelegenheit nahm er auch Kontakt mit Gregor Gysi auf, der möglichst offizielle Papiere beschaffen sollte, um dieser Verleumdung entgegentreten zu können. Denn Tatsache war: Bahro konnte es nicht gewesen sein: Er war in Bautzen II inhaftiert, während Michaelis in Bautzen I gesessen hatte. Bei einer staatsanwaltlichen Einvernahme räumte Michaelis dann auch Zweifel ein, ob Bahro tatsächlich der Mann gewesen sei, der bei ihm mit in der Zelle war. Anläßlich der bereits erwähnten Einführungsvorlesung im Oktober 1990 sprach Bahro über den letzten Akt dieses Diffamierungsversuchs: »Vor kurzem hat dieser junge Mann meine Tochter Sylvia angerufen, um zu sagen, das sei damals mit Geld für ihn verbunden gewesen und es täte ihm leid.« (Rückkehr, 23)

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Gemäß seiner selbst gewählten Rolle als »linkssozialistischer Theoretiker« wollte Bahro vor allem die Grundlagendebatte der westdeutschen Linken beleben und diese zur Auseinandersetzung mit anderen theoretischen Ansätzen anregen, wie sie auch bei den GRÜNEN zu finden waren. Er dachte beispielsweise an den anthroposophisch orientierten »Achberger Kreis« um Wilfried Heidt, der sich bereits Ende der 60er Jahre für einen »freien demokratischen Sozialismus« und eine Erweiterung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger mittels Volksabstimmungen eingesetzt hatte. 

Eine solche Debatte versuchte Bahro durch die von ihm initiierte »l. Sozialistische Konferenz« Anfang Mai 1980 in Kassel anzuregen. In einem Beitrag der Konferenzmaterialien stellte er die Positionen von Wilfried Heidt und Jürgen Reents in Sachen »Klassenkampf« gegenüber. Reents war einst ein führender Funktionär des Kommunistischen Bundes gewesen und ist seit 1999 Chefredakteur des Neuen Deutschland. Heidt lehnte den Klassenkampf ab, Reents hingegen befürchtete, die ökologische Bewegung könne zu einem »historischen Irrtum« werden, wenn sie die Realität des Klassenkampfes leugne.

Mit dessen Ablehnung verschwinde der Klassenkampf nicht, konzedierte Bahro dem Kommunisten Reents. Doch in der Sache gab er Heidt recht: Die Hoffnung, durch eine Zuspitzung der Klassenkämpfe den Weg zu finden, der über den Kapitalismus hinausführt, hatte Bahro verloren. Und zwar deshalb, weil sich die Gesellschaft seiner Einschätzung nach in »spätrömischen« Verhältnissen befand. (Dieses Bild wird er in den folgenden Jahren immer wieder verwenden.) 

Spätrömisch, das heißt: Die inneren Widersprüche zwischen den Klassen innerhalb des Imperiums spielen nur noch als Teil des allgemeinen Zersetzungsprozesses der bestehenden Zivilisation eine Rolle. Zentral sind die äußeren Widersprüche geworden: damals der Zusammenstoß zwischen Imperium und »Barbaren«, heute der Widerspruch zwischen reicher und armer Welt sowie zwischen »unendlichem« Wirtschaftswachstum und der Endlichkeit der Lebensgrundlagen. 

»Wenn die Dialektik des Klassenkampfes nicht aus dem Feld der gegebenen Zustände hinausführt, dann hat er keine Priorität mehr für eben die Leute, die darüber hinaus wollen. Dann hat er, wenn es um Perspektiven geht, überhaupt keine Priorität mehr, nicht nur im Hinblick auf die ökologische Krise, sondern auf die Krise unserer kapitalistisch verfaßten Zivilisation schlechthin.« (Elemente, 176)

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In Kassel kamen rund 1200 Menschen (vor allem Männer) in der Gesamthochschule zusammen, um die politische Identität der Nach-Apo-Linken neu zu bestimmen. In der Einladung hieß es, die Linke habe »die Grenzen ihrer traditionellen analytischen Kategorien, ihrer programmatischen Vorstellungen und ihrer Formen der Organisation und Agitation erfahren müssen«. Deshalb sei eine »nüchterne Bilanz und Selbstkritik [...] unabweislich geworden« (Materialien 1980, 5). Die revolutionären Hoffnungen der 70er Jahre — sei es auf ein Erwachen der Arbeiterklasse oder auf soziale Bewegungen, die den Kapitalismus in seinen Grundfesten erschüttern könnten — hatten sich fürs erste erledigt. Die Logik der Gewalt, die offen oder verdeckt dahinterstand, führte die sogenannte Neue Linke spätestens im »Deutschen Herbst« 1977 an einen Wendepunkt: Die Erkenntnis wuchs, daß Bürgerkriegsszenarien zum Sturz des Kapitals bloß die Gegenseite stärken und keinerlei gesellschaftlichen Fortschritt bringen. Mit dem Verzicht auf ein wie auch immer geartetes »revolutionäres« Projekt war aber in vielen Fällen ein Rückzug auf die eigene Subkultur verbunden.

Genau diese verengte Sichtweise unterzog Bahro einer heftigen Kritik: »Unsere politische Haltung hat nur dann sozialen Sinn, wenn wir sie nicht als Selbstzweck pflegen, wenn ihre Wirkung darüber hinausgeht, daß wir uns [...] wechselseitig bestätigen. Gewiß hat auch die >Scene< eine solche soziale Funktion, genauer gesagt, sie ist eine. Aber Linkssein für Linke und unter Linken, das lohnt sich letzten Endes nicht und führt darum so leicht in die Frustration zurück, trotz allem wirklichen oder vermeintlichen Rechthabens mit scharfsinnigen Analysen über den engen Kreis hinaus nicht gebraucht zu werden.« (Elemente, 188)

) Manche der in Kassel Teilnehmenden fühlten sich an die Zeiten der Apo erinnert: Man konnte — über die Grenzen vergangener und teilweise noch bestehender Fraktionen hinweg — miteinander reden, streckenweise sogar ernsthaft diskutieren. Neben jeweils einem Plenum an den drei Kongreßtagen gab es vier große Arbeitsgruppen, die sich mit den neuen sozialen Bewegungen, der Ökologie, den Widersprüchen zwischen Arbeiter- und Ökologiebewegung sowie dem Weltmarkt befaßten. Im Mittelpunkt der Konferenz stand die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ökologie und Marxismus, zwischen Klassenkampf und Menschheitsinteressen: Die grüne Bewegung hatte die nach 1968 entstandene Linke zu neuen Gedanken und Konzepten herausgefordert. 

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Daß die ökologische Thematik zentral und brennend sei, wurde in Kassel von niemandem bestritten. Aber: »Etwas peinlich war den Marxisten offenbar der Vorwurf, daß sie selbst in blinder Fortschrittsgläubigkeit diesen Dingen allzu lange ferngestanden haben«, bemerkte Michaela von Freyhold (von der im übernächsten Kapitel nochmals die Rede sein wird) in der tageszeitung (23.5.1980).

In fast allen Redebeiträgen wurde zum Ausdruck gebracht, das Verhältnis der Linken zur Ökologiefrage bedürfe dringend einer Revision. »Offen blieb dabei allerdings, ob diese Position mehrheitlich taktisch bestimmt war oder einen grundlegenden Umdenkungsprozeß andeutet, der zu einer Erneuerung des Marxismus und der Linken führen kann, wie sich das Rudolf Bahro [...] erhofft«, hielten Willfried Spohn und Ulf Woher fest (Spohn/Wolter 1980, 132). Die beiden kamen zum Ergebnis, die »fehlende Auseinandersetzung mit Rudolf Bahro und seinen Funktionsbestimmungen der Sozialistischen Konferenz« (ebd., 133 f.) habe das Kasseler Treffen geprägt. Die meisten Teilnehmer der Debatte hätten es versäumt, sich auf »eine grundlegende Erneuerung sozialistischer Politik einzulassen« (ebd., 134).

Mit seinem »etwas anderen Vorschlag« für die »Zweite Sozialistische Konferenz« im Februar 1981 in Marburg versuchte Bahro, eine Kurskorrektur in Gang zu setzen. Er plädierte dafür, die »Krise des Marxismus« (Redaktionsgruppe 1981,14) endlich zur Kenntnis zu nehmen und mit all jenen ins Gespräch zu kommen, die sich angesichts der »umfassende [n] Krise der industriellen Zivilisation« (ebd., 15) die Frage nach einem Ausweg stellen. »Das Marburger Treffen wird nur dann seinen Zweck erfüllen, wenn die von der Sache her interessierten Flügel der Sozialdemokratie (über die Jungsozialisten hinaus) und der Liberalen (über die Jungdemokraten hinaus) sowie die verschiedenen Richtungen bei den GRÜNEN ausreichend vertreten sind und wenn die neuen sozialen Bewegungen ebenso aktiv präsent sind wie die Vertreter gewerkschaftlicher Positionen. Es dürften engagierte Christen beider Konfessionen nicht fehlen; und es wäre darüber hinaus ein Gewinn, wenn auch mit der CDU/CSU verbundene Exponenten der evangelischen Sozialethik wie der katholischen Soziallehre teilnähmen, die die Probleme aus der Sicht der Lohnabhängigen betrachten.« (Ebd., 17) Kurz: »Wir brauchen dringend einen Austausch über die uns ebenso aufgezwungenen wie selbstgesetzten Schranken unseres linken Ghettos hinweg.« (Ebd., 15 f.)

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Linkes Sektierertum störe den »Gestaltungsprozeß einer Gesamtalternative in diesem Lande«, erläuterte Bahro in einem Brief an ein Mitglied des Kommunistischen Bundes in Kiel vom 6. Februar 1981: 

»Im Namen der Ideale, für die ich einmal Kommunist geworden bin, weil ich die Marxsche Idee der Emanzipation für alle meinte, habe ich mich drüben gegen das gestellt, was sie nun mal hierzulande >Kommunismus< nennen [...] Nun denn, ich bin kein >Kommunist<. Und wenn, wie doch wohl höchstwahrscheinlich ist, heute der Theorieentwurf nicht mehr greift, kann ich auch den über Bord werfen und werde meine Identität als Kommunist ohne Anführungsstriche nicht verlieren, im Gegenteil: ich werde sie nur so retten können. Wobei dann freilich >Name Schall und Rauch< ist. Die ursprünglichen Ziele, die Marx mit allen >Linken< der Weltgeschichte teilte, sind das einzige, worauf es nach wie vor ankommt, unter bekannten verschärften Bedingungen, die uns schlechthin verbieten, Schindluder mit irgendwelchen Kriterien zu treiben, wer als Partner in Frage kommt und wer nicht.« (Archiv Grünes Gedächtnis, Bestand B.I.1, Akte Nr. 250)

Die DDR-Staatssicherheit interessierte sich für Bahros Aktivitäten rund um die Zweite Sozialistische Konferenz. In einem dreiseitigen Papier vom 29.01.1981 wird festgehalten, wie sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der Vorbereitungsgruppe entwickelten. Bahro versuche, »die Veranstaltung dem eigentlichen Kreis der Organisatoren aus den Händen zu nehmen und in eigene Bahnen zu lenken«. Gemeint war sein Versuch, die westdeutsche Linke aus ihrem selbstgewählten Ghetto herauszuführen und anstelle der Klassen- die Gattungsfrage ins Zentrum der Debatte zu rücken. 

 

Beim nationalen Vorbereitungstreffen am 10. Januar in Hannover (an dem Bahro nicht teilnahm) sei es zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Einige Teilnehmer plädierten für eine entschiedene Absage an Bahro, doch die Mehrheit habe argumentiert, »eine zu massive Reaktion [könnte] den Bahro veranlassen [...], die Medien für seine Interessen zu mobilisieren. Es müsse aber verhindert werden, daß die eigentlichen Träger der >2. Sozialistischen Konferenz< vor der Veranstaltung als >Leninisten< hingestellt und damit publizistisch tot gemacht würden.« Das MfS-Papier hält mit spürbarer Genugtuung fest, daß sich Bahro mit seinem Vorgehen in linken Kreisen »endgültig diskreditiert« habe.

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Da war wohl der Wunsch Vater des Gedankens. Bahro dürfe sich als der »eigentliche >Sieger<« empfinden, schrieb ein darob wenig erfreuter Genosse der »Kommunistischen Liga« im <Rundbrief der Sozialistischen Konferenz>: Dieser habe es geschafft, eine große Mehrheit der Marburger Konferenz hinter den Forderungen der »kleinbürgerlichen und neutralistischen Initiative der Russell-Peace-Foundation« zu vereinen (Rundbrief, Nr. 5, April 1981, 6), in der es um ein atomwaffenfreies Europa von Portugal bis Polen ging — mehr dazu im übernächsten Kapitel. 

Weil am zweiten Konferenztag auch die von Bahro vorgeschlagenen Arbeitsgruppen tagen konnten, bemäkelte ein anderer Teilnehmer: »Man muß schon Rudi Bahro heißen, um entgegen monatelanger (!) Vorbereitung plötzlich sein eigenes Konzept der Konferenz durchzusetzen.« (Ebd., 4) In einem <Marburger Alternativen> betitelten Papier hatte Bahro in die Diskussionen im unmittelbaren Vorfeld der Zweiten Sozialistischen Konferenz eingegriffen. Es wurde in verschiedenen Tageszeitungen veröffentlicht. Nötig seien jetzt zwei ideologische Brüche: einerseits mit der Blocklogik, zum anderen mit dem Industriesystem. Bahro hatte vorgeschlagen, der Konferenz den »vieldeutigen, aber ansatzöffnenden« Namen »Forum Dritter Weg« zu geben. Seine Begründung:

»Bei interner Diskussion, links unter Linken, kann gegenwärtig nichts Vernünftiges herauskommen. Frischluftzufuhr ist entscheidend. Was wir ohne vorgängigen Dialog über die >Lagergrenze< an Projekten aushecken können, hat gar keine Aussicht, Eingang in einen irgendwann einer Mehrheit vermittelbaren Diskurs zu finden.« (Marburg, 21)

Die Politologen Elmar Altvater und Frieder O. Wolf hielten in einem Brief an Bahro dagegen: »Auch wir sehen durchaus die von Dir beschworene Gefahr des <Exterminismus>, also einer Produktionsweise, die drauf und dran ist, sich und andere zu zerstören und dabei die Menschheit auf dem Planeten Erde auszulöschen.« Doch dann genüge es nicht, in menschheitsgeschichtliche »Ausflüchte« abzuschweifen. Es müsse die »Frage nach dem politischen Herrschafts­mechanismus« (Altvater/Wolf 1981, 21) gestellt werden, der den Exterminismus erst ermögliche. 

»Wir haben den Eindruck, daß Du die Planung und Vorbereitung der Marburger Konferenz angreifst, weil Du — mit Verlaub — diese politische Konsequenz aus Deinen Ausführungen nicht zu ziehen bereit bist.« Bahros Marburger Alternativen seien »gezinkt«: Es gehe nicht um die Wahl zwischen Ökosozialismus und Traditionalismus, sondern darum, das »Erneuerungspotential und die Ergänzungsnotwendigkeiten marxistischer Theorie und sozialistischer Praxis« (ebd., 22) zu bestimmen. Doch Bahro hatte bereits kenntlich gemacht, daß dies nicht mehr sein Anliegen war: Der ganze marxistische »Raster« gebe »heuristisch nicht mehr genug her«, formulierte er in den Marburger Alternativen (Marburg, 20).

Bahros Wunschvorstellung der ersten Wochen und Monate in der Bundesrepublik, so etwas wie eine Integrationsfigur der Linken außerhalb der SPD zu werden, konnte sich nicht erfüllen. Dem Spiegel gestand er in einem Gespräch im Dezember 1980, seine anfänglichen Erwartungen seien wohl etwas »zu naiv« gewesen. 

Bahro war offenbar noch nicht bewußt, wie sehr die westdeutsche Linke ihr Schicksal mit dem des Marxismus verknüpft hatte. Er dagegen setzte auf eine Emanzipation von überkommenen Denkfiguren. Es sei doch ein »Fortschritt«, wenn die »Kontroverse zwischen traditionalistischen und ökologischen Sozialisten« offen geführt und »diese Spaltung mitten durch das linke Bewußtsein« zur »Achse der Diskussion« werde, bekannte Bahro (ebd., 19). 

Ihm ging es darum, einen größtmöglichen Teil der linken Intelligenz für das grüne Projekt zu gewinnen. Auf die Frage, wie es mit den GRÜNEN nach der Bundestagswahl im Oktober 1980 weitergehen solle (damals hatte die Partei lediglich 1,5% erhalten), meinte Bahro hellsichtig, es werde sich erst zwischen 1980 und 1984 entscheiden, »ob mit der grünen Partei was zu machen ist«

Rückfrage der Spiegelredakteure: Woran sich das entscheiden werde?
Bahros Antwort:

»Es kommt darauf an, ob der aktive Kern - manche sagen: der religiöse Stamm, der da drinsteckt - dieses Tal der nächsten zwei Jahre durchhält. ... Aber in jedem Fall glaube ich, daß der Versuch, Sozialistische Perspektiven bei den GRÜNEN einzubringen, richtig war. Es war richtig, zu demonstrieren, daß Sozialisten in Zukunft mit ganz anderen Kräften zusammengehen müssen, wenn sich in dieser Gesellschaft was ändern soll.«  

 (Spiegel 8.12.1980) 

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Herzberg Seifert Bahro Bio 2002 Rudolf Bahro — Glaube   an das Veränderbare