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3.2  Die Kassationsverhandlung vor dem Obersten Gericht der DDR, Juni 1990 

     

 

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Ziemlich genau zwölf Jahre nach dessen Verurteilung mußte sich das Oberste Gericht der DDR erneut mit Bahro beschäftigen — diesmal um das Schand­urteil von 1978 zu kassieren und ihn freizusprechen. 

Man trat in Maximalbesetzung an: der amtierende Präsident des OG als Vorsitzender, dazu vier Oberrichter als beisitzende Richter, weiterhin ein Oberrichter als Vertreter des Präsidenten des OG und der Stellvertreter des Generalstaatsanwalts der DDR. Verhandelt wurde der Kassationsantrag des Präsidenten des OG vom 4. April 1990. 

In diesem wurde — als Beitrag zur neuen Rechtsstaatlichkeit der Noch-DDR — de jure festgestellt, daß die damalige Entscheidung des Stadtgerichtes »durch fehlerhafte Anwendung« das Gesetz verletzt habe und deshalb auch die Verwerfung der Berufung durch das Oberste Gericht nicht gerechtfertigt gewesen sei. Die Kritik geht sogar soweit, daß die rechtliche Beurteilung der Bahro vorgeworfenen Handlungen »als Verbrechen gem. § 98 Abs. l StGB [...] aus mehreren Gründen unrichtig« sei. 

Kritisiert wird ferner, daß sich das Gericht in der Beweisführung auf ein Gutachten (des IPW) stützte, obwohl zwischen den dort dargelegten Beziehungen westlicher Medien und Nachrichtendienste und der Veröffentlichung der Alternative kein »für die rechtliche Beurteilung [...] erkennbarer Zusammenhang bestand«. Die Interpretationen von Bahros Texten durch das Stadtgericht und das Oberste Gericht hätten sanktioniert, »daß öffentlich geäußerte Kritiken strafrechtlich geahndet werden« konnten — was »jedoch Artikel 27 Abs. 1 der Verfassung der DDR« widersprochen habe. 

Schließlich wird der wohl anrüchigste Punkt der einstigen Anklage, der »Geheimnisverrat« wegen der Nichtnennung von neun Besitzern des Anhanges der Dissertation zurückgewiesen: »Angesichts der zweifelhaften Feststellungen über alle Umstände [...] durfte nicht vom Vorliegen einer Straftat gemäß § 245 StGB ausgegangen werden.« Nach all diesen Einsichten — die Bahro und sein Verteidiger schon 1978 vorgetragen hatten — stellte nun der amtierende Präsident des Obersten Gerichtes fest: »Der Angeklagte hätte gemäß § 244 StPO freigesprochen werden müssen.« 

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Prinzipieller als in dieser erstaunlichen Selbstkorrektur eines DDR-Gerichts durch ihren höchsten Richter wurde in der Verhandlung der professionelle Ankläger — der stellvertretende Generalstaatsanwalt der DDR. Man glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als aus dessen Mund (denn er war ja zu SED-Zeiten bereits einer der höchsten DDR-Juristen) zu hören war, »daß aus heutiger Sicht selbst schon die Rechtsgrundlage der Verurteilung [...] in Zweifel zu ziehen ist«. 

Und er erläutert: »Das Sammeln bzw. Übermitteln von Nachrichten, die nicht geheimzuhalten, jedoch geeignet sind, eine gegen die DDR oder andere friedliebende Völker gerichtete Tätigkeit zu unterstützen, als Staatsverbrechen auszugestalten, sprengt schon aus normativer Sicht die Maßstäbe der Rechtsstaatlichkeit.« Weiter heißt es: »Die Verurteilung von Rudolf Bahro wegen Sammlung von Nachrichten ist nach meinem Dafürhalten nicht allein Ausdruck mangelhafter Anwendung des § 98 StGB, sondern auch Ausdruck des Mangels an Rechtsstaatlichkeit dieser Norm, ihrer unzulässigen Dehnbarkeit, ihrer Untauglichkeit für die Rechtspflege.« 

Zum damaligen Anklagepunkt des Geheimnisverrats (gemäß § 245 StGB) heißt es nun, »daß der Wortlaut des Tatbestandes zwar formal erfüllt war, die Handlungen des damaligen Angeklagten jedoch weder subjektiv noch objektiv den Charakter einer Straftat hatten« (also genau das, was Bahro 1978 gegen das Gericht vertreten hatte). Schließlich stellte der stellvertretende Generalstaatsanwalt fest, daß es keines Scharfsinnes mehr bedürfe, um zu der Erkenntnis zu gelangen, daß »die Verurteilung von Herrn Bahro gröbliches Unrecht war. Die Fehlleistung von Staatsanwaltschaft und Gericht ist peinlich und beklagenswert.«

Was sollten angesichts von soviel verspäteter Einsicht und Selbstkritik der Anwalt Gysi und sein Mandant Bahro noch sagen?

Gysi, inzwischen ein prominenter Politiker (und Medienstar) benutzte die Gelegenheit zu einer prinzipiellen Betrachtung der damaligen Politik und Justiz. Er würdigte zuerst den Mut und die Konsequenz Bahros, seine politischen Ideen trotz der ihm bekannten strafrechtlichen Maßnahmen öffentlich eingebracht zu haben. Wenn — so heißt es weiter — das Buch Die Alternative damals in der DDR erschienen wäre, hätte dies die Chance einer demokratischen Erneuerung des Sozialismus bedeuten können. Deshalb war die Verurteilung Bahros letztlich auch eine Tat gegen den Sozialismus. 

Das Ganze war von Anfang an ein politischer Prozeß — trotzdem habe man ihn nicht wegen Hetze (§ 106 StGB) verurteilt, weil nämlich mit

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Blick auf die Öffentlichkeit die Absicht bestand, aus einem Dissidenten einen Kriminellen zu machen. »Damit sollte nicht nur eine politische Auseinandersetzung verhindert werden, sondern jemand, der sich politisch auseinandersetzt, auch noch politisch diskreditiert und kriminalisiert werden.«

Des weiteren ging er auf die damaligen Anklagepunkte ein und stellte fest (was schon 1978 klar war), daß »beide Tatbestände nicht erfüllt« waren — wodurch natürlich auch die Verantwortung der Justiz neu gesehen werden müßte. (Und er deutete an, daß die Staatssicherheit das ganze Vorhaben Bahros vorher gekannt haben müsse und daß offensichtlich ein Interesse bestand, es nicht zu verhindern.)

Nach seinen Anträgen auf Freispruch und Haftentschädigung heißt es abschließend: »Vor allem aber ist nicht wiedergutzumachen, daß eine im Interesse von Millionen Menschen in der DDR gelegene Chance zur demokratischen Umgestaltung, wenigstens zur demokratischen Diskussion der Verhältnisse in der DDR im Jahre 1978, ungenutzt blieb. Kriminell war nicht der Angeklagte, kriminell war die Art und Weise, wie gegen ihn vorgegangen wurde.«

Bahro verzichtete in seiner Rede auf jeden Triumph, statt dessen bemerkte er, daß die ganze Angelegenheit für ihn eher traurig und tragisch sei: Es sei damals eine Farce gewesen — aber mit Substanz, und es sei heute eine Farce — ohne Substanz. Und er erläutert jene Farce, die darin bestand, daß damals der Richter ihm stundenlang Zitate aus der <Alternative> und der Dissertation vorlas und jedesmal fragte, ob er das geschrieben habe. (Bahro bissig: »Wahrscheinlich ging es darum, daß es mir ja der Lektor hätte reingeschrieben haben können in das Buch.«) 

Und die Substanz der Farce sollte darin bestanden haben, daß — »Honecker (ich meine da nicht nur die Person) recht hatte. Nämlich der real existierende Sozialismus, die Ordnung, für die ich mich so eingesetzt habe, war tatsächlich so beschaffen, daß Kritik meiner Art den Abgang des Ganzen zur Folge haben würde. Ich habe die Konterrevolution mit organisiert, mit der Alternative.« (Bahro hat, mit Ausnahme des Terminus, recht. Was er beim Schreiben des Buches noch nicht wußte, sagt er hier: daß »jeder Bruch mit diesen despotischen Strukturen, die aus der russischen Revolution hervorgegangen sind, die Preisgabe des [sozialistischen oder kommunistischen] Ganzen bedeutet«.) 

Und zur aktuellen Farce: Das »Zweifelhafte an der jetzigen Veranstaltung ist: [...] Das Subjekt (im geschichtlichen Sinne) ist weg, das mich damals verurteilt hat. 

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Es ist ein Machtwechsel und nicht ein Wechsel im Recht, der das hier jetzt erklärt.« (Damit hat er die politische Kehre des Obersten Gerichtes zur Rechtsstaatlichkeit als »Farce ohne Substanz« sowohl anerkannt als auch abgewertet!)

Und er verriet erstmals in der Öffentlichkeit auch ein sehr subjektives Motiv seines Handelns und seine tiefste Angst: 

»Ich habe die ganzen Jahre bis zur Verhaftung wirklich nicht vor der Verhaftung gebangt und nicht vor den Jahren [der Haft] Angst gehabt, sondern davor, daß die mich erwischen, ehe ich berühmt genug geworden bin. Das war das Innerste. [...] Wir sind mit uns identifiziert, statt mit der großen Sache. Und auf die große Sache bin selbst ich damals nur gekommen über das Bedürfnis, auch im Lexikon zu stehen.« 

Und er reißt sich — statt eine Heldenpose einzunehmen — die ganze Seite auf und wirft sich aus egoistischen Motiven ein Versagen angesichts des Einmarsches der Warschauer-Pakt-Staaten am 21. August 1968 vor: »Also, weil ich ja noch nicht fertig war mit meinem Denkmal, habe ich mich nicht erhoben in den Monaten, in denen es wirklich darauf ankam, wo wir den Tschechen hier hätten an die Seite treten müssen.«

Hier stolpert Bahro über seine eigenen Maßstäbe und hat in einem Anfall von Sündenbewußtsein weggeschoben, daß er offen und mutig den »Prager Frühling« verteidigt, die Invasion verurteilt hatte und daß seine Motive zur Analyse des Sozialismus (und damit zur Entstehung der Alternative) auch und nicht zuletzt sachlich-politischer Art waren (und dabei die Chance, ins Lexikon zu kommen, nicht gerade groß gewesen ist).

Direkt an das Richterkollegium gewandt, beendete er sein Nachdenken mit der sicherlich zutreffenden Vermutung: »Wenn es Sie getroffen hätte, da [im Prozeß 1978] Richter und Staatsanwalt sein zu sollen — ich glaube nicht, daß Sie ein anderes Urteil getroffen hätten.«

Damit wurde die Hauptverhandlung unterbrochen, sie hatte ganze 75 Minuten gedauert. Drei Tage später, am 16. Juni, erging das Urteil: Aufhebung der Entscheidung des Stadtgerichtes vom 30. Juni 1978 und des Beschlusses des Obersten Gerichtes vom l. August 1978, Freispruch des Angeklagten.

Die achtseitige Begründung stützte sich dann weitgehend auf den Kassationsantrag des Präsidenten und war nicht frei von offensichtlichen Fehlern. 

Wenigstens ging aus dem Urteil klar hervor, daß der § 98 mißbraucht worden war, um politisch Andersdenkende zu verfolgen (besser hätte es heißen müssen: gebraucht) und daß entgegen der praktizierten Rechtsprechung es keinen rückwirkenden Geheimnisverrat geben kann (was übrigens jeder Jurist auch vorher wußte).

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So erhielt Bahro letztlich Recht in allen Punkten. Warum es aber zu diesem Fehlurteil gekommen war, erwähnten weder der Staatsanwalt noch der Verteidiger noch die Richter. Ungenannt von allen Beteiligten blieben die SED und ihr langer Arm, das Ministerium für Staatssicherheit. Nur Bahro traf beinahe den Grund seiner Verurteilung, als er die Vermutung äußerte, daß seine Kritik an den despotischen Zuständen auch das Ende jener Zustände selbst hervorrufen mußte. 

Aber nur beinahe: Denn in der Herbstrevolution hatte die <Alternative> keine unmittelbare Rolle gespielt. Doch in den Jahren zuvor hatte sie dazu beigetragen, eine große Reihe kritischer Köpfe aufzuklären, das Bewußtsein ihrer eigenen Subalternität zu verdeutlichen und aufzubrechen. Sie hat die Überzeugungen vieler Akteure von 1989/90 herausgebildet oder vertieft und damit auch den Untergang der DDR und ihres autoritären Sozialismus vorbereitet. (Für jemanden wie Bahro, der die DDR nicht abschaffen wollte, sondern verbessern, war dies ein durchaus »konterrevolutionäres« Resultat.)

Das <Neue Deutschland> brachte am 14. Juni einen Bericht von der Verhandlung — übrigens mit der Legende, daß Gysi 1978 Freispruch gefordert hätte — und ein Foto von Bahro mit seinem Anwalt, zwei Tage später dann nur noch eine Neun-Zeilen-Notiz vom erfolgten Freispruch durch das Oberste Gericht. Andere Zeitungen fanden diesen Freispruch bestenfalls einer kurzen Meldung wert.

Das Ganze hatte sechs Jahre später ein weiteres rechtsstaatliches Nachspiel — da ging es um den Prozeß gegen den Staatsanwalt und die Richter im Bahro-Prozeß von 1978. Auch hier spielte Bahro eine ungewöhnliche Rolle (vergleiche das Kapitel Politische Auseinandersetzungen).

Was mit dieser Rehabilitierung eng zusammengehören würde und doch nicht geschah: Die PDS hat sich — anders als in den Fällen von Bloch und Havemann oder vielen anderen — nicht bei Bahro für die Handlungen der SED entschuldigt, vermutlich allein aus dem Grunde — wie ich von der Schiedskommission und aus dem Archiv der PDS erfahren habe —, weil kein entsprechender Antrag vorgelegen hat. (Zwei Jahre später wird sich zeigen, was Bahro gewollt hat: die menschliche Versöhnung mit Erich Honecker — dazu ebenfalls mehr im Kapitel Politische Auseinandersetzungen.)

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