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3.10  Spiritueller Kommunismus und integraler Mensch

   Politische Texte, 1995-1997  

 

570-582

Im letzten großen <Spiegel>-Gespräch bekannte Rudolf Bahro: »Im Herzensgrunde bin ich noch immer Kommunist, was meiner grünen Option weniger denn je widerspricht.« Er sehe sich allerdings »nicht mehr links«, seine...

»Auffassung von Kommunismus schließt materielle Expansion, auf der Karl Marx alles aufbaut, aus. Deswegen habe ich immer Zoff mit Leuten, die sich für links halten. Ich denke, daß der Ausgangspunkt für Kommunismus von jeher eine Weggemeinschaft von Menschen gewesen ist, die auf der Suche nach Befreiung, nach Selbstbefreiung sind.« (Macht, 46)  

Der von ihm erwartete Kommunismus werde... 

»ein Zeitalter sein, in dem die Menschen, die einander verbunden sind durch gemeinsames Interesse am Gemeinwohl und in hingebungsvoller Arbeit für die Schaffung des Schönen, gemeinsam ihre Zukunft gestalten. Dies ist eine Utopie, die nicht untergehen kann. Sie kann bloß degenerieren oder zeitweiligem Vergessen anheimfallen.« (ebd., 47)

Im Herbst des gleichen Jahres formulierte Bahro in einem Gespräch mit Kurt Seifert: 

»Für mich ist Kommunismus keine Systemfrage im Sinne Ost oder West, schon gar keine Nostalgie­frage und auch nicht die Frage, Marx endlich zu verwirklichen. Marxens Kommunismus war nämlich im westlichen Fortschrittsmodell befangen. Kommunismus verstehe ich als Begleit­erscheinung jeglicher spirituell fundierter Gemeinschaft. Bei Buddha hieß die: Sangha. Die Buddhas bettelten, und die übrige Gesellschaft arbeitete. Aber wenn das nun demokratisiert wird: Wenn alle Leute zur Sangha gehören und auch alle arbeiten, dann geht es doch um die Frage der Gleichverteilung, nicht qualitativ, sondern quantitativ.« (Freitag, Nr. 50, 8.12.1995)

Mit seiner Auffassung saß Bahro politisch so ziemlich zwischen allen Stühlen: Von den <Grünen> erwartete er nichts mehr. Das sei bloß »eine Systempartei mehr. Ich bin gerade rechtzeitig verschwunden. Die <Grünen> sind einfach kein Identifikationsgegenstand mehr für mich.« (Macht, 51)

Und die PDS betreibe »kleinkarierte Klientelpolitik, die sich nur um Sonderinteressen von Underdogs kümmert«, obwohl sie doch einmal als »Partei der allgemeinen Emanzipation des Menschen« (ebd., 48) angetreten sei. Aber auch ohne parteipolitisches Engagement führe er ein alles andere als unpolitisches Leben. In Niederstadtfeld beispielsweise habe die durch sein Engagement geprägte ökologische Akademie »geistige Grundlagen für die politische Erneuerung bearbeitet«. (Ebd., 51)

Bei aller Kritik an der PDS setzte er doch weiter Hoffnungen in diese Partei. Im Oktober 1995 (kurz vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus) erklärte Bahro im Gespräch mit Seifert, er werde wohl für die PDS stimmen. Seine Hoffnung richtete sich darauf, daß es »in ihren Reihen trotz unserer verdorbenen Geschichte einen Anteil von im guten Sinne unverbesserlich kommunistischen Menschen« gebe. Um die von Bahro intendierte Rolle wahrnehmen zu können, müsse die Partei allerdings erst einmal die Bedeutung der Ökologie »als Schlüssel zur gesamtdeutschen, ja zur europäischen, ja zur Weltsituation« begreifen (Befreiung, 6). 

Um den Demokratischen Sozialisten in dieser Hinsicht theoretisch ein wenig unter die Arme zu greifen, schrieb er im Frühjahr 1995 einen ausführlichen Essay unter dem weitschweifigen Titel Das <Buch von der Befreiung aus dem Untergang der DDR. Dabei über das scheinbar abseitige Thema Ökologie und Kommunismus, ja über das scheinbar noch viel abseitigere, wie die PDS doch einen Sinn machen könnte>. Gerichtet war dieser »Versuch« an die Exponentin der Kommunistischen Plattform der PDS, Sahra Wagenknecht. Warum gerade sie? 

Bahro glaubte in ihr — obwohl er sie nur ein einziges Mal im Fernsehen gesehen hatte — einen Menschen gefunden zu haben, der »jeden Augenblick einer gerade erst heraufkommenden neuen Essenz den unerwarteten Ausdruck verleihen« könnte. 

Er wollte sie mit seiner Schrift gern »ein wenig belehren« und hoffte zugleich, »über diese Ansprache noch mit ganz andern Leuten ins Gespräch zu kommen« (ebd., 18). Deshalb heißt sein Text im Untertitel <Ein Essay für Sahra Wagenknecht, ihre Freunde und ihre Partner — diesseits und jenseits von »Plattform« und Partei>. 

Diesen Essay schrieb er im Krankenhaus auf einem geborgten Computer, dann passierte etwas Unangenehmes: Marina verlor ihn samt Text in der S-Bahn. 

Es mußte ein neuer Computer gekauft und der ganze Text von ihm ein zweites Mal geschrieben werden. Er ist bis heute noch nicht veröffentlicht, obwohl er eine Reihe grundsätzlicher politischer und philosophischer Positionen enthält. Wir sind der Meinung, daß dieser Text — trotz formaler Schwächen — als sein drittes Hauptwerk bezeichnet werden kann. 

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Der Aufbau ist »locker« zu nennen, das kann die Lust an literarischer Komposition sein, genauso gut auch ein Nachlassen strikt konzipierender Kraft (auch darin würde er seinem großen Vorbild Hölderlin folgen). Wichtiger ist, daß er — nachdem er die Wagenknecht ausreichend apostrophiert (oder umworben) hat — zu den ihn zutiefst beschäftigenden Fragen seine Gedanken in beinah ultimativer Weise darlegt. 

Daneben gibt es Rückblicke auf sein politisches Leben (sein — nunmehr auch kritisches — Verhältnis zum »Prager Frühling«, der Brief an Walter Ulbricht, seine Hoffnung auf Gorbatschow, der Auftritt auf dem Sonderparteitag der SED-PDS, seine Verklärung von Honeckers Antwortbrief), wobei er seine Alternative neu einschätzt und auch manch frühere Illusionen benennt. 

Doch die wichtigeren Aussagen befassen sich mit einer Neubestimmung des Kommunismus, die direkt von Marx und dem Marxismus abgetrennt wird. Nicht ganz von Marx, denn in jungen Jahren habe der mit einer Vision von Kommunismus angefangen, in der sich »vollendeter Naturalismus des Menschen und vollendeter Humanismus der Natur«19) (ebd., 27) auf einem Punkt treffen. 

Diese intendierte »Wiedereingliederung des Menschen in die Welt« sei der größte, integralste Gedanke gewesen, »den Marx jemals hatte« — sein »erster und eigentlich kommunistischer Gedanke, noch nicht der mit den zwei vom materiellen Produktionsumfang abhängigen Phasen« (ebd., 23). Bahro spielt dabei mit dem Gedanken, was aus Marx weiter hätte werden können, wenn er den Hölderlin gelesen und verstanden hätte. So aber sei sein »ungeheurer Gedanke, der, als grundlegend genommen, zu einem völlig anderen Aufbau seines ganzen Systems hätte führen können, verlorengegangen« (ebd., 28). 

Statt dessen ist Marx den Tendenzen der Zeit gefolgt, befaßte sich mit der Ökonomie — in ihrer Trennung von der Natur! — und engagierte sich für das Proletariat, in dem er die welthistorische Kraft für die allgemeine Emanzipation sah. Diese theoretische Positionierung ist — so Bahro — ein Irrweg gewesen:

»Marx ließ seine Theorie der allgemeinen Emanzipation absolut kapitalkonform auf die prinzipielle Forderung nach unendlich erweiterter Reproduktion und schrankenlosem technischem Fortschritt hinauslaufen. Ökonomisch-krisenanalytisch weist sie darauf hin, daß das Kapital immer noch nicht genug, immer noch nicht effizient genug produziert. Polit-ökologisch erklärt sie die ständige Überproduktion zur maßgeblichen Realisierungsbedingung des Sozialismus und Kommunismus. Von da zu der heutigen Wegwerfproduktion ist nur ein kleiner Schritt. So mündet sie ganz unentrinnbar und ganz unmittelbar in die Logik der Selbstausrottung.« (Ebd., 29)

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Selbst die von Marx so notwendig angesehenen Klassenkämpfe führen nicht zum vorgestellten Ziel, im Gegenteil: »Antagonistisches Klassenkämpfen« bleibt dem Teufelskreis der Kapitaldynamik verhaftet. Die Idee der allgemeinen Emanzipation an bestimmten Klasseninteressen festzumachen, sei gänzlich gescheitert (ebd., 57).

So kommt Bahro zu dem ultimativen Urteil, daß am Marxismus als Theoriepaket »emanzipatorisch und ökologisch, d.h. von den ausschlaggebenden Urteilsmaßstäben her«, nichts zu retten sei — er sei gar keine kommunistische Theorie, auf dieser theoretischen Grundlage sei der Kommunismus »explizit unmöglich« (ebd., 29 f.).

Die PDS — die er dabei immer im Blick hat — tue sich mit ihrer Kritik am Stalinismus auch deshalb so schwer, »weil sie das ökologische Problem, das am Grunde der ganzen Frage liegt, gar nicht erfaßt hat. <Sozialismus> als nachholende <Entwicklung>, als Modernisierung, wie er vom Bolschewismus, vom Leninismus verstanden war, mußte — wie in aller Welt — auf <Naturzerstörung>, d.h. Zerstörung <der Erde20) und des Arbeiters> d.h. auf eine rigorose sozial-ökologische Destabilisierung hinauslaufen.« 

Nur befreit vom »praktischen Vulgärmaterialismus« wie vom »theoretischen historischen Materialismus«, sei Kommunismus »wieder möglich und denkbar«, und zwar — unter dem tut es Bahro nicht »wieder als die einzige formative Alternative für das Überleben der Menschheit, für die Annäherung an den Weltfrieden« (ebd., 30). 

In diesem Kommunismus werde es darum gehen, »der ökonomischen Sphäre das Gros der menschlichen Antriebsenergie nicht etwa — wie im Kapitalismus und im daran anknüpfenden <rohen Kommunismus> — zuzuführen, sondern zu entziehen«. (ebd., 31)

Kommunismus sei zunächst das Prinzip einer vergleichsweise unwichtigen Ökonomie. Statt Überfluß­gesellschaft also das positive Gegenteil: einfache Reproduktion als Lebensbedingung (ebd., 34), »loslassen, damit wir der Erde leicht sind« (ebd., 32), »Bewußtseinsentfaltung als die eigentliche menschliche Aufgabe« (ebd., 31). 

Damit hat er den Brückenschlag zwischen »spirituell« und »Kommunismus« hergestellt, und so will er auch »endgültig« den Kommunismus verstehen als »Praxis der Gnade« womit Bahro vermutlich auch das letzte kommunistische PDS-Mitglied verschrecken wird.

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Warum er sich weiterhin an den Gedanken vom Kommunismus klammert, liegt an seiner Überzeugung, daß Ökologie nicht ohne Kommunismus gehe, daß »ökologische und kommunistische Perspektive identisch sind«, daß »die beiden Topoi <Ökologie> und <Kommunismus> kosmologisch untrennbar« seien. (ebd., 8)

Von dorther will Bahro nicht verstehen, wie sein Sorgenkind und einziger »politischer Ansprechpartner« — die PDS — sich den Luxus erlauben kann, eine »Kommunistische Plattform« (Sahra Wagenknecht) und eine davon getrennte »Ökologische Plattform« (Marko Ferst) zu besitzen.

 

Auch um diesen Genossen deutlich zu machen, wie sehr sie sich zu Unrecht auf Marx berufen, verortet Bahro diesen auf eine Marxisten eher schockierende Weise: daß 

»Marxens Faustisch-Unsterbliches nur dann dauerhaft gerettet werden kann, wenn man vom Grunde her erfaßt, daß der große Ahn seinen tatsächlichen geschichtlichen Ort ziemlich genau in der Mitte zwischen den zwei größten <Ver-rückten> der deutschen Geistesgeschichte, zwischen Friedrich Hölderlin und Friedrich Nietzsche, hat« (ebd., 28).

Bei aller früheren Bewunderung für Marx zieht Bahro hier einen Grenzstrich: 

»Marxens Perspektive war zu kurz (die des bürgerlichen Zeitalters und seiner immanenten Überwindung), ihr Horizont zu eng (im Anthropologischen verkürzt, der eines ökonomisch beschränkten historischen Materialismus eben). Sie war zwar historisch, aber nicht <seinsgeschichtlich> begründet. Sie brach, ohne ihm noch explizit verfallen zu sein, dennoch nicht aus dem zweieinhalbtausendjährigen Platonismus aus — worum nachher Nietzsche sich mühte und was schließlich Heidegger wenigstens im Prinzip gelang.« (Ebd., 35)

Dann macht Bahro seinen philosophischen Standort deutlich. Mit Hinweis auf die Brüder Heinrich und Thomas Mann will er zeigen, daß Nietzsche nicht als Vordenker der Nazis mißverstanden werden dürfe:

»Er selbst hat nie ein faschistisches oder auch nur faschistoides politisches Programm entworfen. Er hätte sich durch den als Übermenschen verkleideten <letzten Menschen> der sich nicht selbst auswählte, sondern zur SA zusammengeschlossen wurde, unendlich beschmutzt gefühlt. <Verwechselt mich vor allem nicht!> hätte er verzweifelt wiederholt.« (ebd., 108)

Angesichts der Ereignisse im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sei es allerdings »kein Wunder, daß der neue Geist des Bruches mit den verheuchelten alten Werten erst mal mit unter die Räder kam wie so vieles andere auch«.

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Jetzt wäre die Zeit gekommen, diese geistige Gestalt auf sich wirken zu lassen und ihre Bedeutung zu ergründen: 

»Er kann uns jetzt ein weit vorausgegangener Lehrer des Bruches mit dem ganzen Wertekanon sein, an dessen Dominanten und Widersprüchen die moderne Welt zu Bruch geht. Unser bisheriger Kommunismus gerade ist — wie ich in diesem Text unausgesetzt zu zeigen versuche — tief in die Komplizität mit diesem falschen Wertekanon verstrickt. Niemand, der besseres Scheidewasser bereithielte als dieser vor uns an den richtigen Stellen Verzweifelte!« (Ebd., 109)

Der Titel einer Tagung der Lernwerkstatt hieß einmal <Umkehrübungen für Rationalisten>. Das ist es wohl auch, was Bahro mit Hilfe seines Essays nahezulegen versucht: Sich auf Nietzsche einzulassen würde bedeuten, das »linke« Koordinatensystem zu überprüfen und neu auszurichten. 

Er erläutert seine Sicht am Beispiel des Kapitels <Von der schenkenden Tugend> aus dem ersten Teil des <Zarathustra> (Nietzsche 1988): Die »für meine Begriffe essentiell kommunistische <Schenkende Tugend>« stehe im Gegensatz zu jener »kranken Selbstsucht« (ebd., 98), »die wir in unserer durchschnittlichen Sekretärs- und Sozialarbeiter­mentalität nur allzu schnell damit verwechseln — und alles ernten, nur nicht Kommunismus, immer nur die feldwebel- und gouvernantenhafte Reglementierung, die niemals ausbleibt, wo sich Sklavenseelen befreien« (Befreiung, 107).

 

Im weiteren Verlauf des Textes findet Bahro dann Nietzsches »Lesart von der Idee eines Kommunistischen Bundes« (ebd., 110):

»<Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder ...> Auf die Brüder — statt Schwestern und Brüder — hin will ich nur soviel kurz einwerfen, daß jedenfalls das <Verlassen der Erde>, diese große Treulosigkeit, verfluchte Männersache ist; nur werden wir's alleine nicht zurückholen. Es geht nichts männerbündisch mehr.« 

Und weiter mit Nietzsche: 

»Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde zurück — ja, zurück zu Leib und Leben: daß sie der Erde ihren Sinn gebe, einen Menschen-Sinn. [...] Wahrlich, eine Stätte der Genesung soll noch die Erde werden! Und schon liegt ein neuer Geruch um sie, ein Heil bringender — und eine neue Hoffnung!« (Nietzsche 1988, 100f.)

Diese Hoffnung könne keimen, wenn sich die »Leute der Schenkenden Tugend« miteinander verbinden — mit einem »Minimum an institutioneller Stütze, fern aller neuesten Logensektiererei!«.

»Übermenschen«, wie Nietzsche sie bezeichnete, »müssen wir sie ja nicht weiterhin nennen«, wenn wir »auf das Wahre des Impulses nicht verzichten, indem wir das Wort ersetzen ...« (Befreiung, 111) 

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Bahro erinnert an die in der DDR entstandene »wunderbare Dau-De-Dsching-Übersetzung und -Kommentierung von Ernst Schwarz, die uns in vielem einen Weg weist, nun u.a. auch darin, wie wir Nietzsche von seinem Kothurn herunterbitten können unter uns unzulängliche, aber das einfache Lebenswahre suchende, unüberhöhte Menschen. Gerade, was die Treue zur Erde und zu unserem Leibe angeht, ist da bei Lau-dse, dem alten Meister, ein Hafen, der immer schon auf Nietzsches Einkehr wartet:

Es folgt der mensch der erde
die erde folgt dem himmel 
der himmel folgt dem Dau 
das Dau folgt sich selbst.« 
(Ebd., 111 f.)

Nietzsches Hoffnung hänge »an unserer Bereitschaft und Begabung, uns selbst auszuwählen zu <einem neuen Volke>, das die Erde zu leben weiß als eine Stätte der Genesung.« 

Bahro wendet sich dann noch einmal an Sahra Wagenknecht: »Weißt Du eine bessere Arbeit als diese für unsere nächsten und für unsere letzten Jahre? Ich nicht.« (Ebd., 112)

Doch Bahro wäre nicht Bahro, wenn er nicht noch eine Chance für sich sähe: »In der Begegnung mit den denkschärfsten Vertreterinnen [des] <ökofeministischen> Paradigmas, ihrerseits so verschieden wie Heide Göttner-Abendroth, Elga Sorge, Christina Thürmer-Rohr, Claudia von Werlhof, mache ich immer wieder die Erfahrung, daß es noch einmal einen Umsturz aller eingefahrenen Denkgewohnheiten, insbesondere des Denkens in historischen (<Fortschritts>-) Stufen verlangt, das auch mir in Fleisch und Blut übergegangen ist. Da bedarf es noch eines sehr umfassenden Austauschs, und ich komme noch nicht ganz damit zu Rande.« (Ebd., 36) 

Viel Zeit blieb ihm nicht mehr.

Er beendete diesen Essay mit seiner in der <Logik der Rettung> entwickelten Idee eines sich über dem Parlament, »diesem Tummelplatz der metropolitanen Besitzstände und Sonderinteressen«, erhebenden Oberhauses, in dem die grundlegenden Menschheitsinteressen verhandelt werden müßten — vor allem das Mensch-Natur-Verhältnis, das gegenüber allen Mensch-Mensch-Verhältnissen Verfassungsvorrang haben müsse. Und dazu brauche es, »gegenüber den ökonomischen Supermächten, die die Welt kaputtmachen«, die Wiederherstellung der politischen Souveränität des Staates.

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Zu dieser politischen Rekonstituierung gehöre aber wesentlich die »Wiedergewinnung einer geistlichen Instanz von wirklicher gesamtgesellschaftlicher Autorität« (ebd., 116). Was einst das Papsttum war — »eine Integrationsebene des gesellschaftlichen Prozesses« —, sucht jetzt eine zeitgemäße Fortsetzung, auch um einen institutionellen Rahmen für eine ökologische Wende zu schaffen.

Damit bricht Bahro diesen Gedankengang ab, wie er auch seine angekündigte Bestimmung des Kommunismus als eine »Praxis der Gnade« nicht mehr entwickelt.

 

Zu seinem 60. Geburtstag erschien in der Berliner <edition ost> das Buch <Apokalypse oder Geist einer neuen Zeit> mit Beiträgen von Rudolf Bahro und anderen Autorinnen und Autoren. 

Das Buch dokumentiert im ersten Teil - Geistige Suche - einige ältere Bahro-Texte sowie verschiedene Vorlesungen an der Humboldt-Universität. Der zweite Teil - Die Praxis - widmet sich der Entstehung und Entwicklung des Pommritz-Projekts. Der abschließende Teil enthält Buchhinweise sowie Erinnerungen an Menschen, die wie Bahro auf der Suche nach einer neuen humanen Vision waren: Meister Eckhart, Hölderlin, Gustav Landauer. Im Vorwort schreibt Maik Hosang: 

»Wer selbst ein freier Geist ist, kann andere dieser Qualität verstehen und als Freund in letztlich gemeinsamem Ringen anerkennen. Wie sein [Bahros] Liebling Hölderlin einst formulierte, besteht die Hoffnung des Menschengeschlechts darin, daß genug solcher weltumspannender Geister einander als wesentlich erkennen und so sich ergänzend dem Geist des Ganzen eine neue Chance geben.« (Apokalypse, 8)

Zu den Beiträgen dieses Buches gehört eine Rede, die Bahro 1993 auf einem Symposium hielt, das dem Werk des Philosophen Wolfgang Heise gewidmet war. Er sprach über sein Verhältnis zu Heise und — wie könnte es anders sein — zu Hölderlin. Dessen Bedeutung liege darin, daß es in einer Zeit, 

»wo uns das Panzerhemd der Zivilisation in den Abgrund zieht, viel wichtiger ist, nach dem lebendigen Geist zu fragen, und zwar ganz parallel zu Marxens lebendiger Arbeit, aber gerade infolge der Bewahrung vor dieser Konkretion energetisch weit über Marx hinausreichend. Marx hat ja eben nicht wirklich zeigen können, wie wir der toten Arbeit, als des ganzen menschlich objektivierten Geistes, doch noch Herr werden können vom Subjekt aus. Dies ist, glaube ich, unerfüllbar ohne einen Einbruch aus den Tiefenschichten der menschlichen Existenz.« (Apokalypse, 258)

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Jener Einbruch des Ursprünglichen ist als »Wiederkunft des Dionysos« zu verstehen. Dieser Gott hatte »ältere Momente der gesellschaftlichen Existenz des Menschen« repräsentiert, die durch ihn neu zu ihrem Recht kommen. Sie tragen jedoch schon einen »reaktiven Einschlag« gegen spätere Epochen - oder anders gesagt: Hier »wurzeln die Wut und der Haß, die mit dem Unbehagen an der Kultur zusammenhängen. Es ist nicht gefahrlos, aber wir müssen uns der Sache stellen. Das Dionysische muß riskiert werden, damit in ihm selbst die Zugänge zur Heilung berührt werden können.« (Ebd., 260) Diese Kräfte zuzulassen und aktiv, zugleich reinigend, mit ihnen umzugehen, »das scheint mir am Ende dieses Jahrhunderts wirklich die große Frage zu sein« (ebd., 261).

 

»Bahro war der erste und der letzte Romantiker bei den Grünen«, schrieb die bündnisgrüne Politikerin Antje Vollmer zu seinem 60. Geburtstag. »Er hat nie die politische Partei gesucht, sondern eine politisch-spirituelle Bewegung. Bahro fehlt den GRÜNEN. Ich wünsche ihm, daß er nicht ganz von der Politik abdriftet und daß er, was seine spirituelle Politik betrifft, endlich aus den Kinderschuhen wächst.« (taz, 17.11.1995) 

Was Vollmer vielleicht übersah: In solchen »Kinderschuhen« steckte auch etwas von der Kraft des Ursprungs - der Naivität im besten Sinne des Wortes -, auf die Bahro nicht verzichten wollte.

Manfred Kriener fragte ihn für die <taz>: »Warum sind Sie nicht mißtrauischer gegenüber den großen Antworten? Heute weiß doch keiner mehr, wo es langgeht — das Ende der großen Entwürfe.« Dazu Bahro: »Das ist das typische Zeitgeist-Vorurteil.« Er wolle sich »nicht hüten, nach der Wahrheit zu fragen und zu formulieren, was ich erkennen kann. Meine Krankheit hat mir geholfen, zu sehen, daß auch Leute aus ganz anderen Lagern Momente der Wahrheit vertreten. Niemand hat sie gepachtet. Aber Ihrem Umkehrschluß — niemand weiß etwas, und wehe, es wagt jemand eine Richtung vorzuschlagen — kann ich nicht folgen.« (Ebd.)

 

Welche Bedeutung für ihn die Frage nach der Wahrheit hatte, wurde auch aus einem Fernseh-Gespräch deutlich, das Günter Gaus mit Rudolf Bahro führte und das der ORB am 27.01.1996 ausstrahlte. (Auszüge daraus sind im Freitag, Nr. 51, 12.12.1997, abgedruckt worden.) Wenn es um eine Entscheidung zwischen Wahrheit und Macht ging, sei für ihn der Vorrang der Wahrheit immer klar gewesen. Er habe von früh an einen Blick für Objektives gehabt, bekannte Bahro. Das verstoße manchmal gegen Beziehungen: Vor allem Frauen hätten hin und wieder die Erfahrung seiner »Menschenferne« gemacht.

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An Friedrich Nietzsche bewundere er dessen »ungeheure Aufrichtigkeit und Rücksichtslosigkeit in der Kulturkritik«. Noch lieber sei ihm aber Martin Heidegger geworden, der über Nietzsche hinausgehe, weil er bereit gewesen sei, mit dem Prinzip des »Willens zur Macht« zu brechen. Damit habe er einen Schritt über die westliche Zivilisation hinausgewagt. 

Mit Heidegger hatte sich Bahro bereits einmal intensiv befaßt: Am 3.12.1990 sprach er im Rahmen seiner Berliner Vorlesungen zum Thema <Mit High Tech gegen die ökologische Krise? Unser Verfallensein an das Wesen der Technik> (abgedruckt in Rückkehr, 158-173). Heidegger habe in der Zeit nach seiner Erfahrung als »praktizierender Nazi [...] sukzessiv diesen machtwilligen, angreiferischen, welterobernden, auch welterlösenden Gestus in der Nazipsychologie abgelegt« und ihn »in einer genauen immanenten Kritik am Nationalsozialismus überwunden« (ebd., 163).

Heidegger sei mit seiner Technikkritik, die er während der Naziherrschaft entwickelt hatte, »mental wirklich ein anderer darüber geworden, hat sich auf dem Weg über die Rezeption Hölderlins gegen Hitler und dann Nietzsches gegen Hitler auf eine seelischgeistige Umstimmung und Umstellung eingelassen, die völlig unvereinbar war mit der Art und Weise, wie der Nazi in der Welt zu sein pflegte« (ebd., 164). 

Heideggers ganzes späteres Werk nach Sein und Zeit sei »eine anhaltende Meditation zur Überwindung der Selbstverständlichkeiten abendländischen Denkens gewesen«. Mit dem Abbau überkommener griechisch-abendländischer Grundmuster habe er dazu beigetragen, den Weg zur Begegnung mit dem asiatischen Denken, zur »Korrespondenz mit Zen, mit dem Tao« (ebd., 164), frei zu machen.

 

(Klein-)Asien war übrigens auch das Ziel von Bahros letzter Auslandsreise: Anfang März 1997 fuhr er auf Einladung der dortigen Stadtregierung für eine Woche nach Istanbul, um über Ökologie und Spiritualität zu sprechen. Es gab viele Medienkontakte, da zwei seiner Bücher auf türkisch veröffentlicht worden waren: eine Sammlung von Aufsätzen sowie eine Übersetzung des Interviewbandes <From Red to Green>. 

»Die Türkei setzt gerade zum Tigersprung an, möchte das jedenfalls, und nicht zur Ökologie, so dringlich Umweltschutz ist in einer Stadt, die von 1990 bis 1996 von neun auf über 13 Millionen Einwohner gewachsen ist und weiter wächst«, schrieb er in einem Brief (21.3.1997).

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Auch in einem anderen Bereich flossen bei ihm europäische und asiatische Tradition zusammen: In Anlehnung an den Schweizer Evolutionsforscher Jean Gebser und den indischen Philosophen Aurobindo Ghose prägte er in einem seiner letzten Texte, der im Frühsommer 1997 für einen Vortrag in Paris geschrieben wurde, den Begriff des »Homo integralis«, der an die Stelle des nietzscheanisch-überhebenden »Übermenschen« treten sollte. 

Damit ist — in Maik Hosangs Worten — ein Menschsein gemeint, »das die lähmenden Spaltungen, Entfremdungen und Verdrängungen der Moderne ebenso überwindet wie die Beschränkungen, Unbewußtheiten und Projektionen der magisch-mythischen Epochen. Ein Menschsein, welches Natur und Geist ebenso integriert wie Rationalität und Emotionalität, welches Wissen, Liebe und Arbeit ebenso wenig voneinander spaltet wie Körper, Seele und Geist.« (Hosang 2000, 15)

Der Mensch besitze - anthropologisch gesehen - die Anlage zu einer integralen Verfassung, hält Bahro mit Gebser fest. Das Problem sei, daß der verdinglichte Verstand »fast alle energetisch verfügbare Bewußtseinskapazität« beschäftige (Die Idee des Homo integralis - oder ob wir eine neue Politeia stiften können, in: ebd., 28). 

»Diese eine unserer Bewußtseinsfakultäten macht uns zum weithin unbewußten Top-Parasiten an allen Schichten des Lebens, weil wir unsere anthropologische Gesamtwirklichkeit nicht mehr zur Verfügung haben.« (Ebd., 29) Daraus folge, daß die Bewußtseinsinstanzen »für die Einordnung in die umgreifende Große Natur« völlig ausfallen. Das bedeutet: »Es gibt seit Jahrhunderten keine Ordnung mehr in Europa, aus der wir dem Ökonomischen und Technischen einen übergreifenden Rahmen setzen könnten.« (Ebd., 30) 

Die Herausforderung unserer Zeit »läßt sich auf den Nenner bringen, daß der Mensch sich institutionell wieder über die Unsichtbare Hand stellen muß, an die er am Eingang der Moderne alle Verantwortung für die gemäße Einrichtung seiner Welt abgegeben hat. [...] Wir werden nur überdauern, wenn wir ein wieder vollständiges, in den Gewichtigkeiten stimmiges institutionelles System zustande bringen, eines also, das überhaupt den Zusammenhalt der Gesellschaft und den Bezug zwischen Gesellschaft und Natur artikulieren kann.« (ebd., 31)

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An dieser Stelle kommt noch einmal die bereits in der <Logik der Rettung> entwickelte Idee eines »Ökologischen Rates«21) bzw. eines »Oberhauses«, eines »House of the Lord«, ins Spiel (Logik, 491 ff.). 

Wenn es nicht gelinge, eine Struktur einzurichten, »in der unsere höchsten Bewußtseinskräfte Ausdruck finden«, werde es auch nicht zu der »kontraktiven Ordnung kommen, die wir brauchen, um der Endlichkeit der Erde von Grund auf gerecht zu werden«

Um »den Staat neu denken« zu können, »um ihn auch neu zu schaffen, und zwar jenseits der bisherigen repressiven Muster, jenseits der jahr­tausende­langen Tradition der Kämpfe um Machtmonopolisierung« (ebd., 32), bedürfe es »einer geistig-kulturellen Sezession vom Status quo«

Der »Leerlauf der Megamaschine« lasse uns dort genügend freien Raum und freie Zeit, wo wir uns nicht von ihr beschäftigen lassen.

Die Idee des Homo integralis mache erst Sinn, 

»wenn sie politisch wird, im Hinblick auf die Gestalt einer menschenwürdigen, auf Geist und Herz, nicht auf Geld und Blech, auf Beton und Chips gebauten Ordnung unserer Angelegenheiten auf der einen Erde. Und im Hinblick auf die Männer und Frauen, die das bewußte Doppelleben, die Sezession für nochmals einen neuen Bund riskieren.« (Ebd., 33)

Als letzten größeren Text schrieb Rudolf Bahro im August 1997 ein Nachwort zum Buch <Sprung aus dem Teufelskreis> von Johannes Heinrichs. Er hält dort fest, die Struktur der Moderne sei »eine prinzipiell ahumane Veranstaltung, die im Überlebensinteresse der Menschheit verschwinden muß«. Es gebe »keine andere Hoffnung« als ihren »frühestmöglichen Kollaps« (ebd., 328). 

Heinrichs' »Versuch einer Ehrenrettung der Moderne« sei für ihn persönlich »das eigentlich geistesgeschichtlich Anstößige und aufregend Denkanstößige seiner Neuordnung des sozialen Ganzen aus dem Prinzip der Reflexion heraus«

Bahro faßt hier letztmals seine Gegenposition zusammen: »Nur eine Logik, die einer Praxis vorgängiger intuitiver Weltwahrnehmung, einer Mystik, einer meditativen Einübung von Selbstlosigkeit aufruht, kann überhaupt der Entgleisung in defiziente Mentalität« — die Bahro als Zeichen der Moderne wahrnimmt — »entgehen« (ebd., 329).

Der »durchgegangene instrumentelle Machtverstand« lasse sich nur durch eine »Revolution« einholen, 

»bei der der Blitz von oben — durch den Logos — induziert, von unten durch alle Ebenen schlägt. Die Kraft <von oben> kann nur aus dem geistigen Erwachen der menschlichen Wesenskräfte <von unten> oder durch den äußersten Schrecken der Geschichte kommen oder beides zusammen. En masse ist der Schrecken wahrscheinlich unerläßlich. Wie Schiller wußte: Die Menschen finden sich in ein verhaßtes Müssen weit besser als in eine schwere Wahl.« (Ebd., 330) 

Da kommt noch einmal ein »diktatorischer« Zug zum Ausdruck — und die Ungewißheit, ob es rechtzeitig gelingen wird, die menschlichen Wesenskräfte in ausreichendem Maß zu wecken.

Es war ein weiter Weg vom gläubigen Leninisten zum spirituellen Kritiker der Moderne.  Am Ende steht kein vollendetes, in sich abgeschlossenes Denk­gebäude. Als Bild kommt einem das seit Jahrzehnten immer noch unvollendete Hauptwerk des spanischen Baumeisters Antoni Gaudi, die Kathedrale der Sagrada Familia, der Heiligen Familie, in Barcelona in den Sinn. 

Die Fülle unterschiedlichster denkerischer Elemente, die Bahro zusammenzutragen und miteinander in Verbindung zu bringen versuchte, ist erstaunlich, beeindruckend — und manchmal auch erschlagend. 

Das von ihm Geschaffene steht als Torso da. Nun gilt es, daran weiterzudenken.

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 Von Seifert und Herzberg