An einem Dienstag
im Februar

Ricarda Herbrand 
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Autor: Ricarda D. Herbrand  # Hochschule: FSU Jena  #  Veranstaltung: Totalitarismus und Politische Religion (HpS)  #  WS 2002/03 (D: Niethammer) Benotung: 2,0

      Bahro Start

 

 

Sonnenstrahlen blinzeln durch die Fensterscheiben, verdubter Debussy (Musikstil) kratzt aus den Boxen. Tabakrauchschwaden der vorangegangenen Nacht hängen noch im Raum der Bar. An einem Sonntag im August, so nennt sie sich, Kastanienallee 103, Prenzlauer Berg. Ein Februarmorgen. Den Laden habe ich soeben auf dem Weg von der Pappelallee her entdeckt, hinweg über die Kreuzung Schönhauser-Danziger. Vor mir dampft eine Schale arabischen Kaffees, daneben ein Buch: <Rudolf Bahro — Glaube an das Veränderbare>. Eine Biographie von Guntolf Herzberg und Kurt Seifert, erschienen 2002 im Links-Verlag.

Ich bin unterwegs auf den Wegen dieser Biografie. Doch wo beginnt man eine solche am besten zu erzählen? Von Beginn an? Oder eher vom Ende her, als Retrospektive? Vielleicht in der Pappelallee 83, Berlin-Prenzlauer Berg, einige Tage im Oktober 1979. Ein Grenzstein im Leben Rudolf Bahros — Kritiker, 'Kommunist', Dissident. Autor des weltweit rezipierten Buches <Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus>.

Hier, in der Nr. 83, wohnte seine Frau Gundula mit den Kindern; hier ging er oft ein und aus in diesen wenigen Tagen im Herbst '79, nachdem er aus der Haft in Bautzen entlassen worden war. Kurze Besinnung vor seiner Ausreise in die BRD, zurückschauend — sicherlich, und nach vorn. Doch wie kam er bis hier her? Guntolf Herzberg und Kurt Seifert versuchen in ihrer Biografie Rudolf Bahro — Glaube an das Veränderbare ihn als kritischen Denker vorzustellen, eingeflochten in die Beschreibung der Persönlichkeit Bahros, von der der Denker Bahro nicht zu trennen ist und ohne die er schwer erklärbar bliebe.

 

Die umfangreiche Biografie ist nur 5 Jahre nach dessen Tod 1997 erschienen — vielleicht, um diesen Denker und Kritiker nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, hatte er doch in seinen letzten Jahren mit zunehmendem Miss- und Unverständnis der Öffentlichkeit zu kämpfen. Für viele war sein Ideen- und Gedankenkosmos kaum mehr nachvollziehbar. Sein "weite[r] Weg vom gläubigen Leninisten zum spirituellen Kritiker der Moderne" ist indes nicht einfach zu verstehen; zu oft wechselt Bahro im Laufe seines Lebens die Denkrichtung.

Diesen Weg des in Ost und West immer unbequem gebliebenen Denkers zeichnen Herzberg und Seifert auf 656 Seiten detailreich nach. Es gelingt ihnen, den Denker Bahro nachvollziehbar zu machen — unabhängig davon, ob und wie gut der Leser mit Bahros Hauptwerken <Die Alternative> und <Logik der Rettung> vertraut ist.

Sie teilen Bahros Leben in drei Teile: der erste gehört der Zeit in der DDR, der gründlich recherchiert und in guter Kenntnis sämtlicher Stasi-Akten von Herzberg verfasst wurde. Detailreich und spannend veranschaulicht er die Gedankenwelt Bahros. Nur die vielen in Klammern gesetzten Informationen strapazieren die Geduld des Lesers ebenso, wie dass jede noch so kleine Tagebuchaufzeichnung beider Autoren nachgelesen werden müssen.

Der zweite, von Seifert verantwortete Teil beschreibt die Zeit in der BRD: die politische Neuorientierung im westlichen Europa, Bahros Kritik am System der zwei Blöcke, die Entwicklung hin zum spirituellen Kritiker bis hinein in den deutsch-deutschen Herbst 1989.

Die Ereignisse der Wende leiten den letzten Teil des Buches ein, der sich neben den letzten Lebens- und Wirkungsjahren an der Humboldt-Universität Berlin und dem Leidensweg des an Leukämie Erkrankten auch Bahros schwierigem Verhältnis zu Frauen annimmt — ein mutiges, wenngleich konfliktreiches Thema. Neben der eigenen Problematik des Themas charakterisiert dieses Kapitel auch die Persönlichkeit Bahros sehr deutlich, hier in der Schattierung des Privaten. Die Autoren beschreiben ihn als von einem Sendebewusstsein beseelten, sich als vorausschauend sehenden Kritiker, der wenigstens einen Lexikonartikel wert sein wollte. Bereits durch sein Buch Die Alternative, sagte er einst, wollte er berühmt werden. Diese Haltung spiegelt sich nach Meinung der Autoren auch in seinem relativ verantwortungslosen Verhalten seinen (Ehe-)Frauen gegenüber — seine zweite Frau Beatrice springt schließlich 1993 von der Berliner Siegessäule.

Herzbergs und Seiferts Interesse an Bahro geht über das rein fachliche hinaus; beide sind ihm auch persönlich verbunden: Herzberg gehört in den Jahren 1976/ 77 in den Kreis von Bahros Helfern zur Fertigstellung der Alternative. Der studierte Philosoph widmet seine Forschungen seit der Wende den Vorgängen um Rudolf Bahro und publizierte dazu bereits mehrfach. Seifert lernt Bahro Anfang der Achtziger Jahre in der BRD während einiger längerer Interviews kennen.

Die Biografen stützen sich auf private Unterlagen, zahlreiche Selbstzeugnisse Bahros und Archivdokumente, vor allem aber auf Stasiunterlagen und Zeitzeugen, welche neben der Stellungnahme einer Zeitzeugin (ehem. IM) an den Verleger des Buches Christoph Links in dem umfangreichen Anhang dokumentiert sind.

Bahro wird 1935 in Bad Flinsberg, Niederschlesien, geboren. Der Verlust seiner Mutter und zweier Geschwister ist für das Flüchtlingskind traumatisch. Mit 18 tritt er in die SED ein, beginnt 1954 an der HU Berlin Philosophie zu studieren — und fällt zum ersten Mal der Staatssicherheit auf. Er hängt 1956 eine Wandzeitung in der Universität auf, in der er sich mit den Ereignissen vom Herbst in Polen und Ungarn solidarisiert und die bewusst lückenhaften Informationen über die Ereignisse seitens der politischen Führung anklagt. Nach dem Ende des Studiums 1959 geht er für zwei Jahre als Dorfzeitungsredakteur in den Oderbruch und heiratet. Weiter führt ihn sein Weg als Parteizeitungsredakteur an die Universität Greifswald, wo er bis 1962 bleibt. Noch stimmt er mit Überzeugung den Verhältnissen in der DDR zu. In diese Zeit fällt auch eine sehr kurze Phase der Stasi-Mitarbeit, über die Bahro später resümiert, er wäre wohl dafür einfach nicht geeignet gewesen.

1960 veröffentlicht er unter dem Titel In diese Richtung eine Broschüre mit eigenen Gedichten. Nach einer Position im Zentralvorstand der Gewerkschaft Wissenschaft in Berlin folgt 1965 der erste interessante Posten: er wird stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitschrift Forum — "eine der lebendigsten Zeitschriften der DDR". Zu dieser Zeit beginnt bei ihm das große Nachdenken über die Fehler der politischen Entwicklung in der DDR. Und auch im Forum eckt er an: er sagt zu oft 'aber'.

Die urlaubsbedingte Abwesenheit seines Chefredakteurs nutzt er, um Volker Brauns umstrittenes Stück Kipper Paul Bauch abzudrucken. Das Stück hatte aber nach Meinung des Politbüros keinesfalls diskutiert werden sollen. So endet seine Zeit als Forumsredakteur; er wird in die Produktion geschickt und landet in der "Gummibude" in Berlin-Weißensee. Hier beginnt er mit seiner Dissertation über den Einsatz von Hochschulkadern in sozialistischen Betrieben. Die TU Merseburg wird sie als "unwissenschaftlich" ablehnen. Erst in der BRD findet sie Anerkennung. Im Rahmen dieser Arbeit werden ihm immer mehr die Schwachstellen des Systems bewusst.

Der Prager Frühling und die anschließend in die CSSR einrollenden sowjetischen Panzer führen für Bahro zum völligen inneren Bruch mit dem bestehenden System. Parallel zu seiner Dissertation arbeitet er an der Alternative, die schließlich Anfang September 1977 in einem Kölner Verlag veröffentlicht wird. Kurz vor der Publizierung druckt der Spiegel Auszüge daraus ab. Was nun folgt, ist klar: prompt wird Bahro verhaftet und — trotz engagierter Verteidigung durch Gregor Gysi — verurteilt: zu 8 Jahren wegen Geheimnisverrats und Nachrichtenübermittlung. Aus der Berliner U-Haft wird er nach Bautzen II verlegt, wo er bis zu seiner Entlassung aufgrund einer Amnestiewelle im Oktober 1979 bleibt. Anschließend reist er mit Frau, Kindern und Geliebter in die BRD aus.

Interessant aber ist, dass die Stasi schon längst vor der Fertigstellung von Bahros Alternative wusste, mindestens lagen ihr Auszüge daraus vor. Bis heute fragt es sich also, warum das Ministerium nicht schon eher eingriff. Sicher kann diese Frage die 2002 erschienene Bahro-Biografie auch nicht beantworten; die häufig so detail-peniblen Stasi-Akten schweigen in diesem Punkt. Der Ausreise in die BRD folgt eine Phase der Neuorientierung im westlichen Europa, die Zeit als GRÜNEN-Vorstandsmitglied und sein Austritt aus der Partei 1985, wiederum Neuorientierung — mit Besuch bei Shree Rajneesh Baghwhan in Oregon. Er entwickelt sich zum spirituellen Kritiker seiner Zeit.

Im Herbst 1989 bricht Bahro sofort aus der Eifel auf und eilt nach Ostberlin. Er möchte dabei sein, mitgestalten, die DDR vor dem von ihm kritisierten Kapitalismus bewahren — in einer Situation, da sich die Mehrzahl der DDR-Bürger nach Mikrowelle und VW sehnt. Entsprechend unverstanden bleibt auch seine Rede auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED-PDS. Er gründet Anfang der neunziger Jahre das Institut für Sozialökologie an der HU Berlin. Der Tod seiner zweiten Frau Beatrice 1993 stürzt ihn in eine tiefe Krise: er setzt mit seinen studium generale — Vorlesungen über Sozialökologie für ein Semester aus. Schließlich widmet er sich verstärkt dem — theoretischen — Verhältnis zwischen Mann und Frau in der Welt, vielmehr: dem Verhältnis von männlichem und weiblichem Element.

Die Megamaschine, die seiner Meinung nach vom (abstrakt) männlichen dominiert würde, sei eine der Hauptursachen für die Apokalypse, auf die die Menschheit zusteuere. Dieser sei nur beizukommen, indem der Mensch vollständig umdenke und alte Verhaltensmuster ablege — auf spirituellem Weg. Seine Gratwanderung zwischen Spiritualität und Wissenschaftlichkeit belegt nicht nur sein Antrag an die Deutsche Forschungsgesellschaft in seiner Position als Professor für Sozialökologie. Die letzten Lebensjahre sind vom Krebs gezeichnet, dem er schließlich 1997 in Berlin erliegt. Noch in seinen letzten Tagen diskutiert er im Fieberwahn heftig mit Dschingis Khan und Karl dem Großen über den Zustand der Welt.

 

Wenige Gehminuten von der Bar in der Kastanienallee entfernt hat der Links-Verlag sein Domizil, der 2002 Herzbergs und Seiferts Bahro-Biografie publizierte. Dorthin führt mich mein Weg, nachdem ich meine Schale Kaffee geleert habe: zu dem Verleger Christoph Links. Links zählt in der DDR (d.h. für die Stasi) zu Bahros mittelbarem Freundeskreis, wenngleich die beiden Männer sich zu dieser Zeit nie begegnen. Links' bester Freund Rudi Wetzel ist während Bahros Haftzeit in Bautzen II dessen Kurier. Wetzel (und Links) sorgen für die Vervielfältigung der Alternative in der DDR, d.h. sie tippen sie ab und organisieren die Kontakte zu bundesdeutschen Medien.

In der Zeit der Wende 1989, da Bahro wieder nach Berlin eilt, treffen sie sich zum ersten Mal und sitzen die ganze Nacht zusammen. In dieser Nacht verspricht Links, Bahros nächstes Buch in seinem noch zu gründenden Verlag zu publizieren. Doch dazu wird es nicht kommen. Ich laufe durch die Ziegelstein gefärbten Höfe der Kulturbrauerei in der Schönhauser Allee, Kopfsteinpflaster spiegelt grauen Himmel. Kino, Theater, Gastronomie. Immer noch ein Rest Kardamom auf meinen Lippen.

Nach einigem Suchen entdecke ich die kleine Tafel neben einer Tür: Verlag Chr. Links. Gehe hinein, steige Stufen hinauf. Eine Glastür gibt den Blick auf das Entree des Verlags frei: helles Büroambiente. Wolken wabern an Fenstern vorbei. "Es lag mir sehr am Herzen, gerade dieses Buch zu veröffentlichen" erzählt mir Christoph Links, als ich ihn auf die Bahro-Biografie anspreche. Ein verspätetes Einlösen des Versprechens von 1989. Wir sitzen in seinem Büro, blicken über Glasdächer auf Backsteinmauern. Er lächelt.

Ich kehre zurück in die Pappelallee 83. Blicke die Straße hinab, zu Christoph Links, zu Gysi, nach Bautzen. Denke an die GRÜNEN, an Baghwhan, an den Herbst 1989, das Institut für Sozialökologie. Auch von hier kann man eine Biografie erzählen: mitten im Prenzlauer Berg, an einem Dienstag im Februar.

 

 

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