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4    Freiheitsideale  

 

 

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Ich habe Versuche des Volkes erwähnt, dem Versinken der Gesellschaft in das "Übel" zu widerstehen, insbe­sondere den Widerstand der spanischen Comuneros und der französischen sans culottes gegen den National­staat und, in einer weniger direkten Weise, der Handwerker und unabhängigen Bauern gegen den Kapital­ismus.

Aber das Abgleiten patrizentristischer, urbaner und ökonomischer Institutionen in eine verstärkt antihuman­istische und anti-ökologische Richtung wurde auch noch auf vielen anderen Ebene und mit explosiveren Ideen ausgefochten, als ich es hier angedeutet habe. Da wir heutzutage Gefahr laufen, alle Kenntnis der Geschichte zu verlieren, insbesondere der revolutionären Traditionen und utopischen Alternativen, die sie anzubieten hat, müssen wir vor allem die libertären Bewegungen untersuchen, die an jedem Wendepunkt der Geschichte entstanden, und die jeweiligen Vorstellungen von Freiheit, die sie hervorbrachten.

Wir werden hier eine bemerkenswerte Entwicklung von Ideen vorfinden, die bestrebt waren, dem Absinken der "Zivilisation" in das Übel entgegenzuwirken. Wir werden in der Tat Fortschritt im reinsten, authentischen Sinne vorfinden: eine Ausweitung der gesellschaftlichen Konflikte auf immer fundamentalere Bereiche, bis hin zu einer Vertiefung des Begriffs der Freiheit selbst.

Gleich zu Beginn möchte ich eine sehr wichtige Unterscheidung treffen: nämlich zwischen Freiheitsidealen und dem Begriff von Gerechtigkeit. Diese beiden Wörter werden so austauschbar gebraucht, daß sie fast als synonym erscheinen. Gerechtigkeit unterscheidet sich jedoch grundlegend von Freiheit, und es ist wichtig, das eine von dem anderen zu trennen. Im Laufe der Geschichte haben beide zu sehr unterschied­lichen Kämpfen geführt und bis zum heutigen Tag radikal verschiedene Forderungen an die jeweiligen Machthaber und Regierungssysteme gerichtet. Wenn wir zwischen bloßen Reformen und grundlegenden Veränderungen der Gesellschaft unterscheiden, so geht es dabei großenteils bei den einen um Forderungen nach Gerechtigkeit, bei den anderen aber um Freiheit — so eng beide Ideale in instabilen sozialen Perioden auch miteinander verwoben sein mochten.

Gerechtigkeit ist die Forderung nach Gleichheit, nach "Fairneß" und einem Anteil an den Erträgen des Lebens, zu denen man selbst einen Beitrag leistet. Mit den Worten Thomas Jeffersons ist sie auf der Grundlage des Äquivalenzprinzips "gleich und exakt...". Diese faire, äquivalente, anteilsmäßige Behandlung, die einem sozial, juristisch und materiell im Austausch für die eigene eingebrachte Leistung zuteil wird, wird traditionell durch Justitia, die römische Göttin, dargestellt, die mit einer Hand die Waage und mit der anderen das Schwert hält und deren Augen verbunden sind. 

Zusammengenommen bezeugt die Ausstattung der Justitia die Quantifizierung von Rechtsgütern, die auf beide Waagschalen verteilt werden können; die Macht der Gewalt, die in der Form des Schwertes hinter ihrem Urteil steht (unter den Bedingungen der "Zivilisation" wurde das Schwert zum Äquivalent des Staates), und die "Objektivität" ihres Richtens, die sich durch die verbundenen Augen ausdrückt.

Ausführliche Diskussionen über Theorien der Gerechtigkeit, von Aristoteles in der Antike bis zu John Rawls in unserer Zeit, brauchen hier nicht untersucht zu werden. Sie beinhalten Ausführungen über das Naturrecht, über Verträge, Gegenseitigkeit und Egoismus — Themen, die nicht von unmittelbarem Belang für unsere Darstellung sind. Aber die Binde um Justitias Augen und die Waage in ihrer Hand sind Symbole für eine höchst problematische Beziehung, die wir nicht ignorieren dürfen. 

Vor Justitia sind alle menschlichen Wesen scheinbar "gleich". Sie stehen ihr gleichsam "nackt" gegenüber, allen Status und aller gesellschaftlicher Privilegien und Sonderrechte entkleidet. Der berühmte "Schrei nach Gerechtigkeit" hat einen langen und komplexen Stammbaum. Schon in den frühen Tagen systematischer Unterdrückung und Ausbeutung gaben Menschen der Justitia — mit offenen oder verbundenen Augen — eine Stimme und machten sie zur Sprecherin der mit Füßen Getretenen gegen die gefühllose Ungerechtigkeit und gegen die Verletzung des Äquivalenzprinzips.

Anfänglich wurde Justitia dem stammesmäßigen Gesetz der Blutrache, der bedenkenlosen Vergeltung für die Verletzung eines Blutsverwandten entgegengesetzt. Das berühmte lex talionis — Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben — wurde ausschließlich bei Schädigung eines Verwandten und nicht für Menschen im allgemeinen angewendet. Auch wenn die Forderung nach Rechtsausgleich innerhalb des eigenen Stammes rational erscheinen mag, so zeugte doch dieses Gesetz von einer beschränkten Denkweise und einem engen Horizont.

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Niemand außer den Blutsverwandten in einem fernen Land kümmerte sich um den Fremden, der mißhandelt oder getötet wurde. Dagegen war Bestrafung oft willkürlich. Mehr als ein Leben wurde für ein Vergehen gefordert, das lediglich in den Augen der Betroffenen eines war — oft mit dem tragischen Resultat, daß sich Blutsfehden über Generationen erstreckten und das Leben von Menschen oder ganzer Gemeinschaften forderten, die völlig unschuldig an Rechtsbrüchen waren, an die sich selbst keiner der Kämpfer mehr erinnern konnte.

Die heftig diskutierte Bedeutung der Orestie des Aischylos — einer dramatischen griechischen Trilogie, in der die Rache der Sippe für den Mord der Mutter durch den eigenen Sohn als Vergeltung für den von ihr herbeigeführten Tod des Vaters behandelt wird — hat verschiedene Züge. Ein wichtiger davon war die vorrangige Verpflichtung eines Sohnes (oder auch einer Tochter) der Mutter gegenüber in einem System sogenannten matriarchalischen Rechts, in dem offensichtlich die gesellschaftlich anerkannten Verbindungen zu Verwandtschaft und Vorfahren sich eher über die Frauen als über die Männer definierten. Aber mindestens ebenso wichtig — und im klassischen Athen, wo man diese Trilogie besonders schätzte, vielleicht noch wichtiger — erschien die Notwendigkeit, Gerechtigkeit aus einer archaischen Welt roher, gedankenloser Rache in die Domäne rationaler und objektiver Fairness zu bringen: der Gerechtigkeit "Gleichheit und Exaktheit" zu verleihen.

Damit soll nicht gesagt werden, daß die Gerechtigkeit ihren Ursprung in Griechenland hat. In der Epoche, die auf den Übergang von der Stammesgesellschaft zur feudalen Aristokratie und absoluten Monarchie folgte, wurde der Ruf nach Gerechtigkeit — ja sogar nach einem schriftlich niedergelegten Gesetzescodex, der die Bestrafung von Vergehen eindeutig festlegte — zu einer Hauptforderung der Unterdrückten. Ob in den Gesetzen des hebräischen Deuteronomiums oder in Solons Reformen in Athen: die Vorstellungen über Gleichwertigkeit in Form jener "gleichen und exakten" Gerechtigkeit wurden schrittweise von ihren klassen­bedingten Verzerrungen befreit. 

Das römische Recht, das vielen westlichen Rechtssystemen zu Grunde liegt, baute frühere Errungenschaften des Volkes erheblich aus. Es gestand in seinem jus naturale mdjus gentium den Menschen von Natur aus Gleichheit zu, wie sehr auch immer die Gesellschaft Ungleichheit hervorbringt. Selbst die Sklaverei wurde als eine Art "Vertrag" aufgefaßt, in welchem der Sklave sein im Kriege verschontes Leben dem Sieger durch seine Arbeit als Gegenleistung übereignet.


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Das Problem bei einer "gleichen und exakten" Gerechtigkeit ist aber nun, daß trotz der formalen Gleichheit, die ihnen von einer "gerechten" Gesellschaft zugestanden wird, alle Menschen nicht von Natur aus gleich sind. Manche sind von Geburt an körperlich kräftig; andere können im Vergleich zu ihnen schwächer sein. Wiederum andere unterscheiden sich merklich aufgrund von Gesundheit, Alter, Gebrechen, Talent, Intelligenz und den zur ihrer Verfügung stehenden materiellen Möglichkeiten voneinander. Diese Unterschiede mögen nichts bedeuten; sie können aber auch im Hinblick auf die Anforderungen des täglichen Lebens überaus wichtig sein.

Ironischerweise kann also der Begriff der Gleichheit ganz subtil dazu benutzt werden, um Menschen sehr ungleichen Bedingungen zu unterwerfen: gleiche Lasten werden sehr ungleichen Individuen auferlegt, die sehr unterschiedliche Fähigkeiten besitzen, damit umzugehen. So "gleich und exakt" die Rechte, die sie besitzen, auch sein mögen, sie sind für diejenigen bedeutungslos, die sie aufgrund physischer oder materieller Handicaps gar nicht ausüben können. Die Gerechtigkeit wird substantiell sehr ungleich, sobald sie nur formal existiert. Ungleichheit unter Gleichen kann in einer Gesellschaft entstehen, die jede oder jeden, ungeachtet des körperlichen und geistigen Zustands als juristisch gleich behandelt.

 

Sogenannte egalitäre Stammesgesellschaften trugen der Tatsache Rechnung, daß solche wesentlichen Ungleichheiten existierten und suchten kompensatorische Mechanismen zu entwickeln, um substantielle Gleichheit herzustellen. Das Prinzip des Existenz­minimums beispielsweise schaffte eine sichere Grundlage, ökonomische Ungleichheit zu überwinden, die in der modernen Gesellschaft formal gleiche Menschen substantiell sehr ungleich macht. Jeder Mensch, ungeachtet seiner Fähigkeiten, seines Status oder Willens, der Gemeinschaft einen materiellen Beitrag zu leisten, hatte ein Recht auf die grundlegenden Mittel zum Leben. Diese Grundversorgung konnte keinem Mitglied der Gemeinschaft versagt werden.

Wo immer möglich, wurde Gebrechlichen, Alten und Schwachen eine besondere Behandlung zugestanden, um ihre materielle Situation "anzugleichen" und das Gefühl der Abhängigkeit zu minimieren. Es gibt Hinweise darauf, daß eine derartige Fürsorge bis auf die Neanderthaler vor etwa fünfzigtausend Jahren zurückgeht. Knochenfunde eines erwachsenen Mannes, der von Geburt an schwer behindert war und dessen Überleben ohne die besondere Zuwendung, die er von der Gemeinschaft erhielt, nicht möglich gewesen wäre, belegen dies. Die oberste Maxime der Gerechtigkeit — die Ungleichheit der Gleichen — hat sich jedenfalls auf der ökonomischen Ebene noch nicht völlig herausgebildet.


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Die schriftlosen Völker scheinen von einer anderen Maxime — Gleichheit der Ungleichen — geleitet worden zu sein. Und dies ist eine Maxime, die die Grundlage für das Freiheitsideal bildet.

Der Versuch, auf nahezu jeder Ebene des Lebens unvermeidbare Ungleichheiten und Mängel zu kompensieren, die durch Umstände verursacht sind, über die man keine Kontrolle hat, — seien es physische Schädigungen irgendwelcher Art oder selbst ein Verlust an Rechten aufgrund des Zusammenkommens unausweichlicher Faktoren — bildet den Startpunkt auf dem Weg in eine freie Gesellschaft. Hierbei spreche ich nicht von den naheliegenden kompensatorischen Mechanismen, die einsetzen, wenn ein Individuum krank oder verletzt ist.

Ich spreche vielmehr von Einstellungen; von einem Blick in die Welt, der sich durch Fürsorge, Verantwortung und ein grundsätzliches Gefühl für menschliche und nichtmenschliche Wesen auszeichnet, deren Leid, Mühsal und Schwierigkeiten durch unsere Mitwirkung gelindert oder beseitigt werden können. Das Konzept der Gleichheit von Ungleichen mag sich auf emotionale Determinanten, etwa das Gefühl von Sympathie und Gemeinschaft und eine Tradition, die das Gefühl von Solidarität hervorruft, gründen; ja selbst auf ein ästhetisches Gefühl, das Schönheit in der Natur und Freiheit in der Wildnis entdeckt. Die im Grunde libertäre Idee, daß die meist als "exakt und gleich" ausgegebene Gerechtigkeit nicht ausreicht — daß sie sogar zahllose Menschen durch Faktoren, die durch rationale Mittel beseitigt werden können, zu einem unterprivilegierten Leben oder Schlimmerem verurteilt — ist der Grundstein einer ethisch verstandenen Freiheit. Die "freie" Entfaltung des eigenen Potentials und die eigene Selbsterfüllung setzen voraus, daß dieses Potential überhaupt entfaltet werden kann, weil nämlich die Gesellschaft von einer Ethik der Gleichheit unter Ungleichen beherrscht wird.

Ich möchte an dieser Stelle das Wort "Ethik" hervorheben. 

Schriftlose Gemeinschaften lebten aus Überlieferung unter der Maxime der Gleichheit von Ungleichen — in einer unklaren Form ererbter Tradition. Bedingt durch ihre Abschottung, fand dieser Brauch indessen ausschließlich den Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft und nicht "Außenstehenden" gegenüber Anwendung. In dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem sie lebten, waren die schriftlosen Völker Angriffen auf ihre Sitten und Gebräuche ebenso schutzlos ausgesetzt wie den Invasionen technisch höherentwickelter Gemeinschaften. Es war ein Leichtes, Bräuche wie die Gleichheit unter Ungleichen zu zerstören und sie durch Systeme von Privilegien zu ersetzen, die jeglicher Ansätze von Gerechtigkeit entbehrten.


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Sobald überlieferte Freiheiten einmal zerstört waren, erscholl der "Ruf nach Gerechtigkeit" umso lauter — ein schwacher Trost, aber immer noch besser als die schrankenlose Herrschaft von Adel und Königtum. Moralische Gebote, die später in Gesetze gegossen wurden, begannen, seine Macht einzuschränken. Biblische Propheten, insbesondere der anarchische Amos, schleuderten nicht nur rhetorische Blitze gegen die Privilegierten und Könige Judäas, sondern erweiterten die Grenzen auf Traditionen gegründeter, unbewußter Bräuche in den Bereich der Moral.

Die Unterdrückten waren nicht länger genötigt, die Begründungen für die Wiederherstellung des Rechts im Nebel der Traditionen zu suchen. Um die begrenzten Rechte, die sie einforderten, zu wahren, konnten sie moralische Regeln entwerfen, die sich auf bereits existierende Autoritätssysteme beriefen. Es wurden allerdings keine ernsthaften Versuche unternommen, diese Rechte in rationalen Begriffen zu formulieren, das heißt, sie in eine kohärente Ethik zu verwandeln, die einer rationalen Diskussion offenstand.

So blieb die Gerechtigkeit jahrhundertelang eine moralische Kategorie, die sich in quasi-religiösen, ja übernatürlichen Vorschriften anstelle diskursiver Urteile äußerte. "Gleich und exakt" bedeutete Präzision, nicht aber die Abwägung von richtig und falsch. Richtig und falsch galten eher als vom Himmel verordnet, mehr als "Tugend" und "Sünde" denn als "gerecht" und "ungerecht". Wir müssen unser Augenmerk erst auf die Griechen und Römer richten — und hierbei auch eher auf die Philosophen als auf die Juristen — um eine vernunftbestimmte Diskussion über Recht und letztlich Freiheit in der Sprache der realen Welt zu finden.

Erst bei diesen Denkern schälte sich die Gerechtigkeit — im rationalweltlichen Bezugssystem — als ethisches Problem heraus. Die Menschen begannen, über die Unterschiede zwischen gerechtem und ungerechtem Handeln nachzudenken, anstatt sie als moralische Verfügung einer Gottheit oder als ehrwürdige Überlieferung hinzunehmen. Andererseits entwickelte sich die Idee der Freiheit nicht nur als ein sehnsüchtiges Verlangen, sondern als eine stetig expandierende Gesamtheit von Ideen, die ihre Weiterentwicklung durch Kritik und durch gedankenreiche Programme zur Erneuerung der Gesellschaft erfuhr. Der Evolution wurde ein neues Feld eröffnet, welches nicht nur natürlich und sozial, sondern ebenso ethisch und emanzipatorisch war. Freiheitsideale wurden Bestandteil der Evolution hin zu einer besseren und, bezogen auf die heutige Zeit, ökologischen Gesellschaft.


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     Mythos   

 

Ich habe zwischen Brauch, Moral und Ethik klare Trennungslinien gezogen, weil die Freiheitsideale im Verlauf der Geschichte, als sie sich aus ihrer traditionellen zu einer in Gesetze gefaßten und schließlich zu einer rationalen Auffassung entwickelten, sehr unterschiedliche Formen annahmen.

Diese Unterscheidungen sind nicht nur von historischem Interesse. Gerechtigkeit ist heute mehr als jemals zuvor in der jüngsten Vergangenheit mit Freiheit verknüpft, so daß bloße Reformen oft gedankenlos mit radikaler gesellschaftlicher Veränderung verwechselt werden. Versuche, eine gerechte Gesellschaft zu erreichen, die wenig mehr darstellen als einige korrektive Änderungen in einer grundsätzlich irrationalen Gesellschaft beinhalten, werden mit Ansätzen vermischt, eine freie Gesellschaft zu erreichen, die eine fundamentale soziale Rekonstruktion beinhalten. Die heutige Gesellschaft wird tatsächlich nicht erneuert; sie wird durch kosmetische Änderungen, anstelle von grundsätzlichen Veränderungen, modifiziert. Im Namen der Gerechtigkeit werden Reformen vorgeschlagen, um mit einer tiefgehenden und wachsenden Krise umzugehen, anstatt sie zu beseitigen.

Nicht weniger besorgniserregend ist die Tatsache, daß die Vernunft mit ihrem Verlangen nach fundamentaler Kritik, Analyse und intellektueller Kohärenz, durch populistische, von oftmals plattem religiösen Charakter gekennzeichnete Moralisierung unterminiert wird, während eine mystische Mythenbildung, die primitivistische und potentiell reaktionäre Vorstellungen von Befreiung hervorruft, selbst in die moralischen Interpretationen der Freiheit eindringt. Diese atavistischen Tendenzen sind normalerweise persönlich und nicht gesellschaftlich ausgerichtet. Die persönliche Therapie ersetzt im Zeichen der "Selbst­befreiung" Politik; Mythenbildung vermischt sich mit Religion zu einem wuchernden Dschungel mystischer Exotika. Alles dieses wird vereint und im Namen eines kosmischen "Einsseins" — in einer "Nacht", um hier Hegels Ausdruck zu verwenden, "in der alle Kühe schwarz sind", — der Rationalität entgegengesetzt.

Der regressive Charakter dieser Entwicklung bedarf einer genauen Untersuchung. Frühe Vorstellungen von Freiheit waren auf eine mythenschaffende Vorstellungswelt beschränkt. Ihre Umsetzung war weitgehend zum Scheitern verurteilt, weil sie nur in den träumerischen Fantasien einer Rückkehr zu einem "goldenen Zeitalter" existierte, das deshalb nicht wiedererrichtet werden konnte, weil selbst frühe menschliche Gesellschaften sich in einem beträchtlichen Ausmaße von einer angeblichen Stufe unverdorbener Animalität entfernt hatten.


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Nur in Mythen wie Homers Insel der Lotosesser existierten die von uns lebhaft ausgemalten Fantasien vom Leben unter den Bedingungen einer alles beherrschenden Natur, in der das Tierische die menschliche Gemeinschaft durchdringt, so daß selbst die Erinnerung getrübt ist. Die lächelnde Passivität der Lotosesser, die über keinen Willen verfügen und kein Gefühl für eine eigene Identität haben, beraubt sie in ihrer zeitlosen Unmittelbarkeit und scheinbar "natürlichen" Ewigkeit, jeglicher Vergangenheit oder Zukunft. Als Odysseus seine Männer, beauftragt, die Insel auszukundschaften, werden diese "freundlich" empfangen, und die Eingeborenen gaben ihnen "die honigsüße Lotosfrucht" zu essen, welche sie Heimat und Freunde vergessen lassen. Sie sind nicht nur "glücklich zu bleiben" und lassen sich einlullen; sie löschen die "Erinnerung an die Heimat" und an sich selbst als individuelle Wesen aus. Wie bei den modernen Nachkömmlingen der therapeutischen und mystischen Zeit bleibt kein "Selbst" zur Erfüllung übrig, weil es noch nicht einmal ein "Selbst" gibt, das hervorgerufen werden kann.

Diese mythischen, prähistorischen Phantastereien von einer Harmonie mit der Natur, die noch eher pflanzliche als tierische Züge trägt, ist ein Hohn auf die gesamte Menschheit — auf Menschen, die sowohl einen Intellekt als auch physiologische Funktionen besitzen und die nicht nur ein Gefühl für ein "wie-es-ist", sondern auch "wie-es-sein-sollte" haben. Daß der Geist und der Körper fälschlicherweise durch Religion und Philosophie in scharfen Gegensatz zueinander gestellt wurden, kann nicht die Tatsache ungeschehen machen, daß sie sich dennoch in markanter Weise voneinander unterscheiden.

Keine dieser Bemerkungen soll abstreiten, daß die Menschheit in der Vergangenheit zu unterschiedlichen Graden mit der Natur in einem harmonischen Verhältnis lebte. Diese Harmonie war aber niemals so statisch, so zeitlos und bar jeder Entwicklung, wie es die Welt der Lotosesser und all ihrer Varianten in den verschiedenen Mythen beschreibt. Der völlig willkürliche Charakter der Mythen, das Fehlen jeglicher kritischen Korrektur durch die Vernunft, leitet uns auf völlige Irrwege. Von einem primitivistischen Standpunkt aus betrachtet, nimmt "Freiheit" die trügerische Form der Abwesenheit von Verlangen, Aktivität und Willen an — ein so sinnloser Zustand, daß die Menschheit die Fähigkeit aufgibt, qua Vernunft über sich selbst nachzudenken und somit auch die Entstehung von, sie völlig dominierenden herrschenden Eliten zu verhindern.


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In einer solchen mythischen — und mystifizierten — Welt gäbe es keine Grundlage dafür, vor der Hierarchie auf der Hut zu sein oder sich ihr zu widersetzen.

Ebensowenig ist Natur — wie ursprünglich und "wild" auch immer — so zeitlich fixiert, so undynamisch und so ewig, daß sie kaum mehr wäre als die unmittelbare Wahrnehmung eines Landschaftseindruckes vom Fenster eines Sommer-Ferienhauses. Dieses Naturverständnis eines Stadtrandbewohners ist blind für ihre Schöpfungskraft, ihren Reichtum und ihr Entwicklungsvermögen. Die Natur ist wirbelnd aktiv, selbst wenn es die Lotosesser nicht sind. Wir werden noch sehen, daß die Ideologie der jeweils herrschenden Klasse solche statischen und gedankenlosen Visionen eines Paradieses um so mehr kultiviert, um die Freiheit unerreichbar und das Streben danach unerfüllbar erscheinen zu lassen. Tatsächlich ist die Insel der Lotosesser ein regressiver Mythos, der Traum von einer Rückkehr in die passive Kindheit, wo das Neugeborene ausschließlich auf Streicheleinheiten, eine pralle Brust und die beruhigende Zuwendung einer stets bereiten Mutter reagiert. Der Umstand, daß das früheste Wort für "Freiheit" Amargi ist, ein sumerischer Ausdruck für "Zurück zur Mutter", ist zweideutig. Es kann genausogut regressiv gemeint sein, wie von dem Glauben zeugen, daß die Natur in der Vergangenheit so freigebig war und Freiheit nur in der Wiege einer matrizentristischen Gesellschaft existierte.

Daß es eine Freiheit gab, die durch Aktivität, Willen und ein Bewußtsein gewonnen werden kann, nachdem die Gesellschaft die Grenzen des reinen Brauchtums hinter sich gelassen hatte, und daß Hoffnung notwendig war, um ein neues, rationales und ökologisches Regime für die Menschheit und die Natur zu erreichen, mußte erst noch entdeckt werden. Sobald die Bindungen zwischen Menschheit und Natur einmal zerrissen waren, wurde genau dies der harte Lauf der Geschichte. Auf die Mythen heute zurückzugreifen heißt, einen gefährlichen Quietismus zu begründen, der uns vor die Schwelle der Geschichte zurückversetzt in die düstere, oft selbst erdachte und weitgehend atavistische Welt der Prähistorie. Solch ein Rückzug läßt uns die Geschichte und den Reichtum an Erfahrung, den sie zu bieten hat, vergessen. Die Persönlichkeit löst sich in einem vegetativen Status auf, der noch vor die tierische Entwicklung und den evolutionaren Vorstoß der Natur zu einer größeren Sensibilität und Subjektivität zurückführt. So wird selbst die "erste Natur" beleidigt, herabgewürdigt und ihrer eigenen reichen Dynamik beraubt zugunsten eines festgefahrenen statischen Bildes der natürlichen Welt, wo die farbenfrohe Evolution des Lebens in blassen Pastelltönen gezeichnet wird, bar jeder Form, Aktivität und Selbstausrichtung.


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Solche pflanzenartigen Vorstellungen vom "goldenen Zeitalter" — die heute von Mystikern in den nordamerikanischen, englischen und mitteleuropäischen ökologischen Bewegungen wiederbelebt werden — stammen nicht einfach von den Unterdrückten der Geschichte. Zwar trifft zu, daß durch die Verdrängung des Stammeslebens durch die "Zivilisation" im Nahen Osten, in Ägypten und Asien ein Gefühl des Verlusts und ein sehnsüchtiger Blick zurück zu einem verlassenen Garten Eden die utopischen Träume der Unterklasse durchdrang. Die Menschen sprachen sehnsüchtig von einer Zeit, als der Löwe und das Lamm Seite an Seite lagen und die Natur eine in Harmonie lebende Menschheit mit allem Notwendigen versorgte. Die conditio humana wurde im Sinne eines goldenen Zeitalters aufgefaßt, dem ein weniger paradiesisches silbernes folgte, das schließlich in ein von Konflikten, Ungerechtigkeiten und Kriegen begleitetes eisernes Zeitalter mündete — und diese drei wiederholen sich bis in alle Ewigkeit wie die Jahreszeiten immer aufs neue. Es gab kein Geschichtsverständnis im Sinne von Entwicklung, sondern bloß eines der Degeneration, Erholung und kontinuierlichen Wiederholung.

Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, daß diese Vorstellungen etwa nur von den Unterdrückten entwickelt wurden. Der Glaube an eine rein passive Beziehung zur Natur und zu den nichtmenschlichen Wesen diente viel eher den Interessen der herrschenden Eliten in der Geschichte als den Unterdrückten, auch wenn es häufig genug in den Tagträumen der unterdrückten Völker sichtbar wurde. Zunächst einmal blieben diese Vorstellungen nichts als bloße Tagträume. Mythen, die als Sicherheitsventil für die sehr reale Unzufried­enheit unter den Unterdrückten dienten und die alle aktiven Versuche, die Welt zu verändern, in Rituale der Katharsis oder in stille Sehnsüchte kanalisierten.

Von Priestern und Priesterinnen gehütet, wurden sie als umsichtig choreografierte Dramen zum Takt der Pauken und zum Spiel der Flöten dargeboten und spielten in kontrollierten Ritualen jene Wut nach, die sich andernfalls in aktivem Handeln und in grundsätzlicher sozialer Veränderung entladen hätte. Keine Gesellschaft ist jemals zu ihrer "goldenen" Vergangenheit zurückgekehrt; tatsächlich unterstützte die Vorstellung eines unentrinnbaren Kreislaufs mit seiner Verheißung einer "ewigen Wiederkehr" die priesterliche Manipulation einer passiven Gemeinde.

Noch ironischer mutet an, daß das Trugbild vom verlorengegangenen "goldenen Zeitalter" zur Rechtfertigung der Tyrannei des "eisernen Zeitalters" genutzt wurde.


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Vereint begründeten Priester, Priesterinnen und der Adel den Verlust des "goldenen Zeitalters" mit der Bestrafung für einen Sündenfall. Sei es eine Eva, die Adam dazu verleitete, die Frucht vom Baume der Erkenntnis zu essen, oder eine Pandora, die die Büchse mit allen Übeln öffnete, die dann über die Menschheit kamen: das Paradies oder das "Goldene Zeitalter" wurde verloren — wie behauptet wurde — weil die Menschheit oder ihre Stellvertreter den Vertrag mit der übernatürlichen Macht brachen. Elend kam nicht etwa durch Hierarchien, Eigentum, den Staat und herrschende Eliten über die Menschheit, sondern durch eigenes Verschulden oder durch Hybris.

Herrschaftsverhältnisse der verschiedensten Form wurden erforderlich, um eine unruhige Menschheit zu disziplinieren, die es an dem Gehorsam fehlen ließ, dessen es zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Welt bedurfte. Wir finden deshalb eine erstaunliche Kontinuität retrospektiver Mythen eines "Goldenen Zeitalters" nicht nur in den Mythen der Unterdrückten, sondern auch in der Literatur der Unterdrücker. Daß der Mythos sehr geschickt nicht nur die Unterdrückung der Frauen rechtfertigt (so in der Geschichte der Pandora), sondern auch die der Männer in der Geschichte der Odyssee (einem wahrhaft aristokratischen Epos, in welchem die nächste Insel, die Odysseus nach den Lotosessern antrifft, von den streng patriarchalischen Zyklopen bewohnt wird), verdeutlicht, daß das Drama erstaunlich geschlechtsblind in seiner Behandlung von Unterwerfung ist. Männer sind nicht weniger Opfer der verschiedenen dämonischen Wesen, die die von Odysseus vorgefundenen Inseln beherrschen — von denen alle eine mythische Epoche darzustellen scheinen — als Frauen.

Indem der griechische Rationalismus sich — vorwärts- statt rückwärtsgewandt — zu einem Sinn für geschichtliche Prozesse vorantastete, erwies er sich als weit radikaler als jene Bilder, die auf falschen Vorstellungen einer zyklischen und im wesentlichen statischen Natur beruhten. Thukydides' Geschichte des griechischen Volkes in den Anfangskapiteln des Peloponnesischen Krieges ist makellos weltlich und naturalistisch. Keine Mythen belasten diese realistische Darstellung der Entstehung der Polis und der Besiedelung des griechischen Mutterlandes. Jahrhunderte später ist Diodorus Siculus in seiner Geschichte der Evolution der Menschheit seit vorgeschichtlichen Zeiten ausgesprochen realistisch; er beschreibt die dramatischen Veränderungen, durch welche die Bande der Mythen, Kreisläufe und der kleinräumigen Weltsicht gesprengt wurden. Diodors Blick richtet sich auch nicht nur auf die Griechen, sondern auf "die Rasse aller menschlichen Wesen und ihre Geschichte in den bekannten Teilen der bewohnten Erde".


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Trotz seiner Ambivalenz und seiner Abkehr vom Säkularismus der griechischen Chronisten brachte das Christentum einen Sinn für Geschichte, Zukunft und Erlösung zu den Massen, die in Zyklen ewiger Wiederkehr gefangen waren. Daß Kirchenväter wie Augustinus, den Sündenfall im Garten Eden beschworen, war von einer Religion kaum anders zu erwarten, die sich bereitwillig der Autorität und dem römischen Staat anpaßte. Aber ihre eigenen Ursprünge als jüdische Volks-, ja Aufstandsbewegung, verwickelte sie in Widersprüche, die sie sowohl für radikale als auch für konservative Interpretationen offen sein ließen. Die jüdische Religion, mit all ihren transzendentalen und dualistischen Visionen eines Schöpfer-Gottes, der klar von seiner Schöpfung getrennt ist, entfernte die Gottheit sowohl aus dem gesellschaftlichen Leben als auch aus der Natur.

Wie H. und H.A. Frankfort bemerkten, konnten nunmehr soziale Probleme in einer weitgehend säkularen Domäne ausgetragen werden. Sie waren nicht länger mit Mythen und einem göttlichen Anspruch auf Autorität verwoben. In den alten Imperien, war die Tyrannei mit göttlicher Autorität und dem Recht der Monarchen auf die Verhängung von Gottesstrafen ausgestattet. Tatsächlich implizierte ein "geheiligter Kosmos" eine "geheiligte Gesellschaft", so daß soziale Unterdrückung die mystische Qualität einer Naturerscheinung annahm — ein Gedankengang, der, wie Janet Biehl bemerkt, neuerdings in Versuchen wiederbelebt wird, die natürliche Welt als "geheiligt" zu behandeln und die Göttinnen-Verehrung in der nichtsozialen, mythenbeladenen Form eines "Öko-Feminismus" zu neuem Ansehen zu verhelfen.

Die Kirche übernahm das Erbe dieser transzendentalen Tradition auch wenn sie versuchte, es zu modifizieren. Ernst Bloch machte hier die Beobachtung:  "... zum ersten Mal in der Geschichte erscheint eine politische Utopie (Hervorhebung M. Bookchin). Tatsächlich macht sie die Geschichte; die Geschichte kommt als eine Erlösung hin zum Königsreich, als ein einziger ungebrochener Prozeß, der von Adam bis Jesus auf der Grundlage der stoischen Einheit der Menschheit und der christlichen Erlösung, zu der sie auserwählt wurde, reicht."12)

Die Utopie wurde im wesentlichen zu einer irdischen Vision, die sich an der Zukunft statt an der Vergangenheit orientiert. Trotz ihres religiösen Beiwerks, konnte die Erlösung auf Erden mit der Wiederkehr Jesu erreicht werden, wenn die Bösen von den Tugendhaften geschieden werden.


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In der Tat zeigen die hebräischen Schriften einen Aktivismus und eine Parteinahme für die Unterdrückten, die in anderen Religionen des Nahen Ostens praktisch unbekannt war. Wie H. und H.A. Frankfort hervorheben, betrachten ägyptische Schriften, die über die sozialen Turbulenzen berichten, die dem Zusammenbruch des alten Königsreiches der Pyramidenbauer folgten, "die Störung der bestehenden Ordnung ... mit Horror." — Die Macht, die die Unterdrückten eroberten, ist Zeugnis von "Verzweiflung und Klage ... ›Ich berichte Euch, wie das Unterste zuoberst gekehrt wird,‹" lamentiert der Chronist. "Der Arme wird Reichtum erlangen". Im Gegensatz hierzu beschreibt die hebräische Bibel die soziale Revolte der Unterdrückten als Triumph. Die Geburt des Propheten Samuel beispielsweise wird mit den Worten gefeiert: "Der Bogen der Starken ist zerbrochen, und die Schwachen sind umgürtet mit Stärke. Die da satt waren, sind ums Brot Knechte geworden, und die Hunger litten, hungern nicht mehr." Gott der Herr "hebt auf den Dürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus dem Kot, daß er ihn setze unter die Fürsten und den Stuhl der Ehre erben lasse ..."13)

Nicht nur werden die den Geist — wie die lethargischen Nachwirkungen eines starken Beruhigungsmittels — betäubenden Effekte des Mythos abgeschüttelt; sondern sein Immobilismus und Konservatismus werden durch ein Gefühl für Dynamik und Veränderbarkeit ersetzt, aus dem sich zunehmend expansive Ideale der Freiheit ergeben. Die Joachimiten, eine der subversivsten Strömungen des mittelalterlichen Christentums, brechen radikal mit der wolkigen und kalkulierten Unklarheit der offiziellen Heilsgeschichte und teilen sie provozierend in unterschiedliche Epochen menschlicher Befreiung ein. Wichtiger noch als die großen chiliastischen Volksbewegungen, als halbverrückte Asketen wie die Flagellanten und die Hirten oder Pastoreaux, die auf ihren Zügen den Klerus und die Juden ziellos attackierten, waren Mönche wie Joachim von Fiore, die die Grundlage für eine dauerhaftere libertäre Strömung schufen. Im 12. Jahrhundert arbeitete Joachim, ein zisterziensischer Abt des Klosters Corazzo im italienischen Kalabrien, die Trinitätslehre, eine weitgehend mystische Auffassung von Gottes dreieiniger Natur, in eine radikale Chronologie um. Das Alte Testament sollte das Zeitalter Gottvaters repräsentieren; das Neue Testament, das Zeitalter des Sohnes; und der Heilige Geist war das erst noch kommende "Dritte Königreich", eine Welt ohne Herren, in der die Menschen in Harmonie und Eintracht, ungeachtet ihres religiösen Glaubens, inmitten einer reichhaltigen Natur lebten, die die Mittel zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse für alle bereithält.


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Vom 14. Jahrhundert in England bis zum 16. Jahrhundert in Deutschland — einschließlich der böhmischen Hussitenkriege, die stürmische kommunistische Bewegungen, wie die extremen Taboriten hervorbrachten —, kämpften Bauern und Handwerker erbittert in chronischen Aufständen, um ihre kommunalen, zunftmäßigen und lokalen Rechte zu verteidigen. So konservativ sie im Lichte der "Modernen" mit ihren städtischen, technologischen und individualistischen Wertvorstellungen auch erscheinen mögen, so gab doch diese jahrhundertelange Welle unlösbarer Konflikte der Freiheit einen moralischen Inhalt, den sie in unserer eigenen Zeit des "wissenschaftlichen Sozialismus" und der auf die ökonomistische Sicht beschränkten Analysen eingebüßt hat.

Im Lauf der Jahrhunderte, die in der protestantischen Reformation gipfelten, wurde die Religion, trotz ihres beharrlichen Einflusses auf die bäuerlichen und Handwerkerbewegungen, zunehmend weltlicher und weniger übernatürlich, als sie es in der Vergangenheit gewesen war. Zur Zeit der englischen Revolution in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts waren die demokratischen "Levellers" in ihren Ansichten weitgehend weltlich und verspotteten Cromwells opportunistische Frömmigkeit. Es war weniger das Christentum als vielmehr ein naturalistischer Pantheismus (wenn dies überhaupt als Theismus irgendeiner Art bezeichnet werden kann), der das Denken kommunistischer Revolutionäre wie Gerard Winstanley beeinflußte der die kleine Diggers-Bewegung während des englischen Bürgerkriegs um 1650 anführte.

Freiheit, ein im Vergleich zum Schrei nach Gerechtigkeit relativ exotisches Wort, hatte einen eindeutig realistischen Inhalt bekommen. Männer und Frauen begannen nicht nur für die Religionsfreiheit, sondern auch für die Freiheit von der Religion zu kämpfen. Sie nahmen nicht nur den Kampf gegen spezifische Formen von Herrschaft auf, sondern auch gegen Herrschaft an sich und für die Freiheit, die Lebensgrundlagen für eine kommunitäre Gesellschaft zu schaffen. Aktivismus begann die pflanzenhafte Ergebung in eine sehnsüchtige Verehrung der Vergangenheit zu ersetzen. Moral begann das Brauchtum in den Schatten zu stellen; und Naturalismus begann den Hang zum Übernatürlichen zu verdrängen; aus der Opposition zur kirchlichen Hierarchie entstand eine Opposition zur bürgerlichen Hierarchie. Ein erfrischendes Gefühl von Entwicklung fing an, die Starre der Mythenbildung zu ersetzen, ihre wiederkehrenden Rituale und den atavistischen Einfluß einer dunklen, abergläubischen Vergangenheit auf die Gegenwart und die Zukunft.


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   Vernunft   

 

Sollte es eine einzelne Bedingung geben, die die Expansion der Freiheitsideale kennzeichnet, ist es das Ausmaß, in dem sie durch Vernunft genährt wurden. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Geschichte der Philosophie, Religion und Moral war der Rationalismus in den späten Jahrhunderten des Altertums und im Mittelalter nie aufgegeben worden. Der Überflutung des späten Römischen Reiches durch die Isiskultur und die asketischen Religionen des Ostens zum Trotz, wurde das hellenische Bemühen, eine rationale Interpretation der Welt zu entwickeln, nicht nur bewahrt, sondern erfuhr eine allmähliche Differenzierung in neue Interpretationen dessen, was Vernunft konstituierte.

Wir leben heute in einer geradezu lähmenden Ignoranz der verschiedenen Ansätze von Logik und Rationalismus, die Denker bis in unsere heutige Zeit entwickelt haben. Die Auffassung, es gäbe nur eine einzige Form der Vernunft — eine relativ statische, formale, im Grunde syllogistische Logik, wie sie Aristoteles in seinem Organum zusammengestellt hat — ist völlig falsch. Aristoteles selbst verwendet nämlich in seinen anderen Schriften eine hochorganische, entwicklungsorientierte Vernunft. Formale Vernunftarten waren nach mathematischen und insbesondere geometrischen Modellen geformt. Auf der anderen Seite betonte die organische, oder wie wir auch sagen können, dialektische Vernunft eher Wachstum als Fixiertheit; eher Potentialität als eine schlußfolgernde Aneinanderreihung von Thesen; eher die. flüssige Ableitung immer tiefer differenzierter Phänomene aus generalisierten, wachstumsträchtigen, ja fast saatartigen Anfängen zu reich entwickelten Ganzheiten anstelle einer schematischen Deduktion fixierter Schlußfolgerungen, die auf rigide aufgestellten Prämissen beruht. Kurz, eine reiche spekulative, organische Dialektik koexistierte mit der formalen, allgemeinverständlichen Logik, die wir im Umgang mit unseren nüchternen Alltagsproblemen anwenden.

Die Theologie war am ehesten ein Versuch, die Interaktion des Schöpfergottes mit seiner Schöpfung, insbesondere der Menschheit, rational zu verstehen. Im "Zeitalter des Glaubens", d.h. der mittelalterlichen Welt wurden aus beiden Denksystemen erheblich mehr Erkenntnisse abgeleitet als aus dem Glauben, dem sich ironischerweise der Mystizismus — in seiner melancholischen Sehnsucht nach einer längst verlorenen Unschuld — bereitwilliger zuwandte als der klerikale Scholastizismus.


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Franz von Assisi hatte ein tiefes Mitgefühl für das Leiden der Armen, sah allerdings in den nichtmensch­lichen Formen des Lebens primär einen Tribut zu Ehren eines Schöpfer-Gottes. Der Franziskanerorden hingegen wurde ohne Schwierigkeiten vom Papsttum vereinnahmt und wurde während der Inquisition vom Verfolgten zum Verfolger, selbst seiner eigenen joachimitischen Brüder. Unschuld, Intuition und atavistische Sehnsüchte schützen nicht besonders vor Manipulationen — auch wenn unsere modernen Mystiker das Gegenteil behaupten. Es waren oft genug scharfsinnige Denker wie Galileo, die man durch Hausarrest zum Schweigen brachte, und spekulative Rationalisten wie Bruno, die von der Inquisition auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, nicht aber Mystiker wie Franz oder Meister Eckhart.

Was ich aber hiermit sagen will ist, daß die Vernunft nicht aus einem einzigen Stamm geschnitzt wurde. In ihrer dialektischen Ausprägung vermittelt die Vernunft dem Denken ein Gefühl für Geschichte, Entwicklung und Prozesse anstelle "linearer", propositionaler und syllogistischer Methoden und Analysen. In ähnlicher Weise erhielten, durch die ersten Vorstöße in die Biologie und die Physik in den frühen Annäherungen an die Welt, organismische und nicht bloß mechanistische Ansätze neues Leben. Bereits im 15. Jahrhundert existierten schon Ansätze einer Evolutionstheorie, wenn wir den Schriften Leonardo da Vincis über Meeresfossilien, die in den Bergen des Landesinneren gefunden wurden, und seinen Bemerkungen folgen, daß in der sich stetig ändernden Welt der Po eines Tages "auf dieselbe Weise, in der er bereits einen Großteil der Lombardei abgelagert hat, in der Adria trockenes Land schaffen wird." Spätestens im 18. Jahrhundert war die Evolutionstheorie dank der Arbeiten von Maupertuis, Diderot und Buffon unter den französischen Philosophen eine anerkannte Tatsache.

Die Wiederentdeckung des Körpers, die Forderung nach Sinnlichkeit, das Recht auf physische Freuden — nicht lediglich als ruhig erlebtes Glück — wurden zu einer Herausforderung an den Asketismus, wie er nicht nur vom offiziellen Christentum, sondern auch von dessen radikalen Spiritualisten propagiert wurde. Der gerade unter den Armen so verbreitete Glaube, die Privilegierten sollten aus einem mutmaßlich gottgegebenen Topf des Elends und der Selbstverleugnung mit ihnen teilen, wurde von den einfachen Menschen ständig selbst untergraben. Die Freuden des Körpers und die völlige Befriedigung materieller Bedürfnisse wurden zur Zeit der Renaissance zunehmend als himmlische Gabe an gesehen. Lebensfrohe Utopien wie die des Schlaraffen­landes, wo Mühsal unbekannt war und die gebratenen Tauben von alleine angeflogen kommen, florierten unter den Massen, meist in deutlichem Kontrast zu der Lebensweise mönchischer Entsagung, die ihre mystischen Anführer predigten.


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Anders als die radikalen Verkünder des tausendjährigen Reiches Christi oder als selbst die Joachimiten erhofften sich die Massen diese Utopien nicht für eine ferne Zukunft oder ein himmlisches Paradies. Sie existierten, geographisch gesehen, im Westen, außerhalb der Landkarten der Renaissance-Zeit; und es waren Welten, die es nicht durch träges Gedankenspiel, sondern durch aktives Forschen zu erdecken galt. Es waren dann auch nicht immer die rationalistischen christlichen Scholastiker, die diesem naturalistischen Trend die ärgsten Hindernisse entgegensetzten, sondern eher mittelalterliche Mystiker wie Fra Savonarola, die mönchische Stimme der Unterdrückten, der die florentinischen Kunstwerke verbrannte und eine flammende Botschaft der Selbstverleugnung predigte.

Verglichen mit den hoch differenzierten freiheitlichen Ideen und Visionen, die mit dem Herannahen des "Zeitalters der Vernunft" aufkamen, erscheinen die Bewegungen der Unterdrückten, wie die der Pastoreaux, Flagellanten und selbst der Joachimiten, zaudernd und unberechenbar. Indem die Renaissance die auf die reale Welt bezogenen Stränge des griechischen Rationalismus wieder freilegte, die von der christlichen und islamischen Theologie verwirrt worden waren, konnte sie hochspekulativen und kritischen Ideen eine Stimme leihen.

Wichtig ist, daß die besten dieser Gedanken, seien sie nun in der Form systematischer Schriften, von Dialogen oder imaginären Utopien dargestellt, erstaunlich vielseitig sind. Sie sind nicht nur rational (sogar dialektisch rational), sondern auch sinnlich erfaßbar; sie verbreiten die Botschaft einer neuen Gesellschaft, in der alles Menschliche grundsätzlich gut ist und voll entfaltet werden sollte.

Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus gesehen, können sie als ökologisch in dem Sinne bezeichnet werden, daß sie voll partizipatorisch sind: alle Aspekte von Erfahrung ergänzen sich zu einem reich differenzierten Ganzen. In diesen neuen Öko-Gemeinschaften werden dem menschlichen Körper nicht weniger Bürgerrechte gewährt als dem Geist; dem Organischen nicht weniger als dem Anorganischen; der Leidenschaft nicht weniger als der Vernunft; der Natur nicht weniger als der Gesellschaft; Frauen nicht weniger als Männern. Mögen diese Gedanken, aus unserer Perspektive der Moderne gesehen, noch so zeitgebunden gewesen sein, so konnte sich doch kein Bereich der menschlichen oder natürlichen Welt ihren kritischen Hinterfragungen und Rekonstruktions­versuchen entziehen.


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Sie dringen nicht nur in soziale Organisationsformen, Kultur, Moral, Technologie und politische Institutionen ein, sondern auch in Familienbeziehungen, Erziehung, in den Status der Frauen und in die irdischsten Wesenszüge des Alltagslebens. Wie in der Renaissance und der Aufklärung wird alles vor das hohe Gericht der Vernunft zitiert, an den Maßstäben eines aufkommenden Säkularismus und Naturalismus gemessen und entweder verworfen oder für rechtmäßig befunden.

Daß es Denkern selten gelingt, ihrer Zeit weit voraus zu sein, sollte uns nicht überraschen. Es bedarf schon eines wahrhaft generösen Geistes, um die Spannweite ihrer Ideen zu erkennen, zieht man die Epoche ihres Wirkens in Betracht. Es ist eine der großen Wahrheiten dialektischer Weisheit, daß alle großen Ideen, so zeitbezogen und lückenhaft sie uns auch erscheinen mögen, ihre Relativität verlieren, wenn sie als Teil eines ständig differenzierten Ganzen gesehen werden — so, wie ein Marmorblock aufhört, lediglich ein Stück mineralisierte Materie zu sein, sobald er in eine großartige Skulptur strukturiert worden ist. Innerhalb eines größeren Ganzen gesehen, dessen Teil er ist, kann er ebenso wenig als bloßes Mineral angesehen werden, wie die Atome, die einen lebendigen Organismus ausmachen, als bloße Partikel betrachtet werden können. Mit dem Leben ist der Stoffwechsel verbunden, ein Phänomen, das es in der anorganischen Welt nie gab und das niemals einem Atom oder gar seinen elektromagnetischen Eigenschaften zugeschrieben werden kann.

Wenn das Bleibende ihrer Arbeit begriffen werden soll, müssen die Denker der Befreiungs-, wenn nicht sogar revolutionären Tradition sowohl für das geachtet werden, was sie uns zu sagen haben, als auch für das, was sie für ihre Zeit bedeuteten.

Wir können deshalb verschiedene bedeutende Strömungen innerhalb der sich ausbreitenden Freiheitsideale unterscheiden: erstens, ein Bekenntnis zur existierenden Welt, zur Säkularisierung der Realität, anstatt zu einer Realität, die in den jeweiligen Himmeln oder jenseits der bekannten Welt liegt. Damit will ich nicht sagen, daß sich die radikalen Theoretiker, Utopisten und Ideologen der Renaissance, der Aufklärung oder des frühen 19. Jahrhunderts "realistischerweise" der Welt, in der sie lebten, anpaßten. Ganz im Gegenteil haben die Besten unter ihnen den Blick weit darüber hinaus zu richten getrachtet und versucht, ihre Ideale auf der Grundlage der besten Wesenszüge der jeweiligen Epoche zu errichten.


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Dies bringt uns zu der zweiten Strömung, die in den Freiheitsideen zum Ausdruck kommt: der Notwendigkeit einer sorgfältig strukturierten Gesellschaft, die frei ist von den Explosionen, die durch einen ungezügelten Adel in England und auf dem europäischen Festland ausgelöst wurden. Die Renaissance, insbesondere die Aristokratie dieser Zeit, hatte die Gesellschaft in einen Zustand chronischer Kriegsführung geworfen.

Inmitten der von den englischen Rosenkriegen und den religiösen Kriegen in Mitteleuropa hinterlassenen Ruinen konnte sich keiner der radikalen sozialen Theoretiker und Utopisten eine menschenwürdige Gesellschaft vorstellen, die nicht völlig stabil gewesen wäre und in der kooperativen Symmetrie ihres Handelns fast einer Maschine geglichen hätte. Lange bevor Descartes die Mechanik zu einer philosophischen Weltanschauung machte, wurde sie durch die explosiven sozialen Verschiebungen zu einem radikalen Wunschtraum. Daß viele Utopisten die durchreglementierten Klöster zu ihrem Modell nahmen, ist an sich schon radikal; sie hätten ebenso gut auch die sich in ihrer Mitte bildenden zentralistischen Nationalstaaten wählen können, wie dies im 19. Jahrhundert innerhalb der sozialistischen Bewegung geschah. Wenn zur damaligen Zeit eine "Planwirtschaft" gebraucht wurde, teils um dem chaotischen Verhalten des Adels etwas entgegenzusetzen, teils um der Ausplünderung der Bauern und der städtischen Armen durch eine entstehende kommerzielle Bourgeoisie zu steuern, dann erschienen die traditionellen und von sozialer Verantwortung erfüllten Regeln für das tägliche Verhalten in den Klöstern ethischer und humaner als andere Alternativen. Später erst, im 19. Jahrhundert oder zu einem gewissen Grade auch schon früher, sollte eine geordnete Gesellschaft und eine "Planwirtschaft" mildern zentralisierten Nationalstaat identifiziert werden — ironischerweise im Namen eines wertfreien Begriffs von "wissenschaftlichem Sozialismus" und in Versuchen, eine "verstaatlichte" Wirtschaft zu schaffen.

Eine dritte Tendenz, die zu den wachsenden Freiheitsidealen im radikalen Denken der Renaissance und wiederum in der Aufklärung beitrug, war die hohe Wertschätzung der Arbeit. Nicht nur wiesen Thomas Morus, Tommaso Campanella, Valentin Andreae, Francis Bacon und andere den Handwerkern und Bauern eine ehrenvolle Rolle zu, sondern Denis Diderot nahm darüber hinaus ihr Können und ihren Beitrag für die Gesellschaft in die Seiten der französischen Encyclopedie auf, wo ihnen eine nie gesehene Beachtung zuteil wird und ihre Tätigkeiten bis in atemberaubende Details ausgeführt wurden. Kropotkin zitiert eine mittelalterliche Verordnung, in der es heißt: "Jedermann muß an seiner Arbeit Freude haben und niemand soll sich mit Nichtstun aneignen, was andere mit Fleiß und Arbeit geschaffen haben, weil die Gesetze die Arbeit und den Fleiß beschirmen müssen."14)


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Diese Konstellation von Traditionen und Geist hatte keinen Vorläufer in der Antike und stand selbst der Industriellen Revolution als unerreichtes Ideal vor Augen. Tief menschliche Werte durchdrangen die gemischte Wirtschaft von Bauern, Handwerkern, Freisassen und Proletariern in den Jahrhunderten, die dem Aufstieg des industriellen Kapitalismus in England unmittelbar vorausgingen. Selbst Beschränkungen der Plackerei wurden in dieser im Halbdunkel liegenden, meist wenig verstandenen Zeit eingeführt.

Wie Marie-Louise Berneri einst in ihrer tiefschürfenden Arbeit <Reise durch Utopia> beobachtete: Die utopische Vorstellung eines kurzen Arbeitstages erscheint uns, die wir gewohnt sind, bei der Vergangenheit an das 19. Jahrhundert zu denken, eine sehr radikale zu sein. Sie stellt sich jedoch nicht als bedeutende Innovation heraus im Vergleich mit einer Verordnung Ferdinands I bezüglich der Kohlengruben des Reiches, die die tägliche Arbeitszeit auf acht Stunden festlegte. Thorold Rogers zufolge arbeiteten die Männer im England des 15. Jahrhunderts achtundvierzig Stunden in der Woche.15)

Als letzte unter den Strömungen, die in dieser gemischten Gesellschaft, besonders während der Renaissance, zutage traten, ist diejenige zu nennen, die der Gemeinschaft einen hohen Stellenwert zuwies. Dies war eine Ära, die mit der Auflösung von Dörfern und Städten durch eine stetig wachsende, alles atomisierende Marktgesellschaft konfrontiert war. Der ungebärdige Bourgeois-Bürger mußte unter Kontrolle gebracht werden. Er griff nicht nur die zerbrechlichen Bande an, die die Menschen unter einem gegenseitigen gemeinschaftlichen Interesse zusammenhielten, sondern bedrohte auch deren Zünfte, religiöse Gesellschaften, die sich um die Armen und Kranken kümmerten, ihre erweiterten Familienbande und die hohe Wertschätzung menschlicher Solidarität. Da vom gemeinsamen Landbesitz bis zur verwandtschaftlichen Verantwortlichkeit alles dem Zugriff des Geldes ausgesetzt wurde, stärkten radikale Theoretiker und Utopisten ihre Muskeln — und Visionen — gegen das asoziale Verhalten der neuen Bourgeoisie und der geldgierigen Aristokratie.

Wir sollten deshalb nicht zu streng mit dem Versuch des Thomas Morus umgehen, der in seinem Utopia enge familiäre Bindungen zu bewahren sucht und der an der katholischen Orthodoxie festhielt angesichts des ungestümen Monarchen Heinrich VIII., dessen "Reformation" lediglich den Bischofshut durch die Krone eines englischen Königs ersetzte. Wie so viele seiner Zeitgenossen der Renaissance tendierte Morus eher zu einer humanistischen Ökumene, wie sie sich im Papsttum ausdrückte, als zu dem durch einen provinziellen Monarchen verkörperten Nationalismus.


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 Morus' Zurückhaltung gegenüber einem königlichen Placet für seine ideale Gesellschaft wird durch Hythloday, als der den Autor verkörpernde Erzähler von Utopia, in einem scharfzüngigen Kommentar ausgedrückt: " ... die meisten Fürsten widmen sich der Kriegskunst anstatt der viel nützlicheren Kunst des Friedens; und zu ersterer fehlt mir zum einen das Wissen, noch habe ich den Wunsch, es zu besitzen; sie sind allgemein darauf aus, neue Königreiche zu erwerben, ob zu Recht oder zu Unrecht, anstatt diejenigen zu regieren, die sie bereits besitzen ..."

Noch weiter als Morus' ideale Gesellschaft geht Valentin Andreaes "Christianapolis", eine überaus moralische Gemeinschaft, die das Verhalten streng reglementiert, zugleich aber eine zutiefst humane Einstellung zu menschlichen Bedürfnissen und Nöten zeigt. "Christianapolis" ist tatsächlich eine Polis — eine Stadt im menschlichen Maß mit klar definierten Grenzen, kein Nationalstaat. Ihre fast mathematische Aufteilung in Funktionen und Zonen, ihr Gleichgewicht zwischen Industrie und Landwirtschaft und ihre Häuser sind hochgradig standardisiert.

Keines dieser Utopias gründet sich auf privatem Eigentum — eine weitere klösterliche Eigenschaft — und die Mittel zum Lebensunterhalt werden je nach Bedarf verteilt. Ob sie nun wie im Falle von "Utopia" als Inseln oder wie im Falle "Christianapolis" als Gemeinschaften beschrieben werden, es handelt sich letztlich um Städte, und ungeachtet des Lebensstandards der Bevölkerung weisen alle asketische Qualitäten auf. Diese erkennbar pränationalen und präkapitalistischen Züge sollten nicht übersehen werden; das mönchische Ideal des Dienens, Arbeitens, Teilens und der Bevormundung im Interesse eines sichtbaren gemeinschaftlichen Gutes durchdringt das radikale Denken der Zeit, insbesondere unter den Utopisten.

Sie tauchen in Tommaso Campanellas "Sonnenstaat" auf, wo die Frauen einen ungewöhnlich hohen Status genießen, eine geradezu platonische Eugenik praktiziert und der Naturwissenschaft ein besonderer Stellenwert beigemessen wird. Die disziplinierte, arbeitsorientierte und schriftkundige Welt, die hier entworfen wird, verschmilzt aufs engste mittelalterliche Tradition mit moderner Innovation. Die Sozialtheoretiker und Utopisten der Renaissance waren fasziniert von den Fortschritten für die Menschheit, die durch die Wissenschaft ermöglicht wurden — so etwa Francis Bacon in seinem bruchstückhaften "Das neue Atlantis", wo er besonders die Rolle der Erziehung beim Umbau der Gesellschaft hervorhebt.


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Diese Themen — insbesondere Aufklärung durch Lernen, der Einsatz der Vernunft zur Regelung der menschlichen Angelegenheiten, eine begeisterte Faszination von der Wissenschaft und ein hoher Stellenwert der Arbeit — blieben bis in die Aufklärung des 18. Jahrhunderts hinein aktuell. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Nationalstaat bereits deutlich etabliert, und die Stadt war nicht länger Träger tiefgreifender Neuerungen. Mit Montesquieu, der für dieses Jahrhundert tonangebend ist, begannen politische Institutionen Eigentums­verhältnisse, familiäre Beziehungen und kulturelle Angelegenheiten zu ersetzen. Eine interessante Feststellung ist, daß die von Abbe Mably und Morelly entwickelten kommunistischen Programme von den philosophes fast völlig ignoriert wurden; wir wissen ja bis heute noch nicht einmal Morellys Vornamen, und er errang erst gegen Ende der Französischen Revolution einen gewissen Einfluß, als Gracchus Babeuf, der unglückliche Anführer der "Verschwörung der Gleichen", Morellys Naturkodex las.

In der Aufklärung war man bereits stärker spezialisiert als in der Renaissance, wo ein Einzelner noch ganze Lehrgebäude mit einem Federstrich errichten konnte, und man sah mehr auf die Rechte des Individuums als auf den Erhalt der Gemeinschaft. Die Klöster — mit der Kirchenmacht verflochten und hierarchisch organisiert — waren bestenfalls ein Anachronismus und schlimmsten­falls absolut undiskutabel. Tatsächlich waren die Denker der Aufklärung, oft mehr psychologisch als rationalistisch, um die menschliche Natur und nicht nur die menschliche Vernunft besorgt. Sowohl Diderot als auch Rousseau, die vielleicht berühmtesten Vertreter dieser Epoche, waren sowohl Männer des "Herzens" als auch brillante Köpfe, und spontane Leidenschaft prägte ihre Werke nicht weniger als die Vernunft.

 

       Anarchie und libertäre Utopien     

 

Aus dem Austausch radikaler Gedanken, der sich in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert unter der Oberfläche abspielte, entwickelten sich mehrere Streitpunkte zu einer scharfen Konfrontation. Konnte beispielsweise materieller Wohlstand von Menschen in einer Periode tiefer ökonomischer Krise nur auf Kosten der Unterwerfung des Individuums unter eine streng geordnete Gesellschaft, die sich auf eine mönchische Disziplin und später auf die Staatsautorität gründete, erreicht werden? Konnte materielle Gleichheit durch Verzicht auf Freiheit und durch Einführung einer zwangsmäßigen Planwirtschaft erkauft werden?


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Gefährdete eine erfüllte, sinnliche, ja fast spielerische Lebensweise die allgemeine Notwendigkeit zu arbeiten, eine Notwendigkeit, aus der jenes Asketentum erwuchs, das so viele Utopien und radikale Vorstellungen der Gesellschaft belastet? War Überfluß für alle in einer Zeit möglich, die noch den Nachweis zu erbringen hatte, daß die elementarsten Bedürfnisse aller erfüllt werden konnten? Und in welchem Maße konnten Männer, von Frauen ganz zu schweigen, eine lebendige, partizipatorische politische Kultur entwickeln, wenn sie acht oder noch mehr Stunden (im Originaltext, wohl versehentlich und sinnwidrig, "weniger", Anm. d. Übersetzers) angestrengt nur für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen? Trotz aller moralisierenden Grundsätze, die in die Ideale jener ungewöhnlichen Periode einfließen, sind die mit ihnen verbundenen Visionen unübersehbar von Fragen dieser Art geprägt. Es ist einfach unmöglich, ihre Möglichkeiten und Grenzen zu verstehen, ohne diese Fragen mit in Betracht zu ziehen.

Im Zuge dieser langsamen Entwicklung von der Stadt zur Nation, vom Mönchtum zum Staat, von der Ethik zur Politik, vom gemeinschaftlichen Eigentum zum Privateigentum und von einer Welt des Handwerks zu einer Industriegesellschaft bildete sich eine faszinierende Kombination von Visionen, die oft die besten — und ebenso auch die schlimmsten — dieser tiefgreifenden gesellschaftlichen Antinomien einschlossen. Ich sage hier mit Bedacht "Antinomien" und nicht "Veränderungen", weil ich hier von einer anscheinend widersprüchlichen Co-Existenz von Ideen spreche, von denen nur wenige in den Köpfen der radikalen Denker des 19. Jahrhunderts die früheren ersetzten.

Wie wir noch sehen werden, sind sie sogar heute als stark modifizierte Forderungen in einer völlig neuen Synthese von Vorstellungen unter der Rubrik der Sozialen Ökologie wieder aufgetaucht. Allerdings sollten in der paarweisen Gegenüberstellung, bestimmte radikale Theoretiker in vielen Fällen dem einen den Vorzug vor dem anderen geben. Der Marxismus beispielsweise stellte entschieden die Nation über die Stadt und den Staat über das disziplinierte klösterliche Gemeinwesen, wie es besonders von Andreae propagiert wurde, dessen Ansichten vielfach Robert Owens "industrielles Dorf vorwegnehmen.

Aber auch andere Formen radikalen Denkens traten ins Licht und formten eine Synthese ihrer Zeit — einer Zeit der rapiden Industrialisierung und Verstädterung — und sie haben uns ein reiches Vermächtnis von Gedanken hinterlassen, das die Radikalen nicht länger ignorieren können. Und es ist an der Zeit, dieses Vermächtnis zu sichten, ohne jene einseitige Sehweise, die mehr in kleinlichem Flügelgezänk als in ernsthaften Überlegungen begründet ist.


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Ich meine damit die libertären Utopien und die anarchistischen Ideen, die im 19. Jahrhundert aufkamen:

Traditionen, die Freiheitsideale entwickelten, die sowohl rational als auch ethisch und so selbstreflektierend wie leidenschaftlich waren. Man kann nicht einfach die von William Godwin entwickelten unwiderstehlichen Analysen in <Enquiry Concerning Social Justice>, die gesamten Schriften Pierre-Joseph Proudhons, die schneidende Kritik Michail Bakunins, das Werk Peter Kropotkins über den Umbau der Gesellschaft, vor allem seine weitreichenden ökologischen Erkenntnisse, und die utopischen Visionen von Robert Owen und Charles Fourier übergehen, ohne den rationalen und moralischen Reichtum an Ideen einzubüßen, der aus Jahrhunderten voller Befreiungskämpfe und -hoffnungen in ihre Werke eingeströmt ist.

 

Ebensowenig können sie als visionäre Vorläufer — oder schlimmer noch, als ideologische Protagonisten — des "wissenschaftlichen Sozialismus" von Karl Marx betrachtet werden. Mit der gleichen Arroganz könnte man den Naturalismus eines Aristoteles zugunsten des ideologischen Idealismus eines Hegel verwerfen oder das historische Werk eines Thukydides durch das eines Charles Beard verdrängen. Im besten Falle ergänzen sich diese Denker gegenseitig; wo sie gegensätzliche Positionen vertreten, beleuchten sie zumindest wichtige Probleme, jedes durch unterschiedliche soziale Auslöser in einem Geschichtsdrama hervorgerufen, das sich immer noch entfaltet.

Der Verlauf der menschlichen Entwicklung vollzog sich nicht in klarer definierten und zwangsläufig "progressiveren" Etappen als die Geschichte der menschlichen Ideen. Wenn wir zu einer mehr dezentralisierten Gesellschaft zurückkehrten, wären für uns ein Aristoteles und ein Thukydides wegen ihrer gesammelten Weisheit über die griechischen poleis relevanter als ein Hegel oder Beard, die sich mit dem Nationalstaat beschäftigten. Uns fehlt noch die vollständige Beurteilung der menschlichen Geschichte, der Wege, die sie hätte einschlagen sollen, und der Ideen, die für eine auf Vernunft und ökologische Prinzipien gegründete gesellschaftliche Neugestaltung relevant sind.

 

Die auf die Französische Revolution folgenden radikalen Theoretiker und Utopisten stellten ausgreifendere Freiheitsideale vor als ihre Vorgänger aus der Zeit der Aufklärung — insbesondere eine Unzahl von alternativen Geschichtsverläufen, die wiederum naiverweise sämtlich von ihren sozialistischen Nachfolgern ignoriert wurden.


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Beide Vermächtnisse sind für den modernen Radikalismus von immenser Bedeutung — die Spannweite ihrer Ideale und die Alternativen, vor die sich die Menschheit gestellt sah. Die anarchistischen Denker und libertären Utopisten waren äußerst sensibel für Alternativen, die man hätte wählen können, um der menschlichen Gesellschaft einen rationalen und befreienden Weg zu weisen. Sie warfen die weitreichende Frage auf, ob Gemeinschaft und Individualität in harmonischen Einklang miteinander gebracht werden können; ob die Nation die notwendige, wenn nicht sogar ethische Nachfolgerin der Gemeinschaft oder Commune war; ob der Staat der unvermeidliche Nachfolger von regionalen oder Städtebünden war; ob der gemeinschaftliche Gebrauch von Ressourcen durch den privaten Besitz ersetzt werden müsse; ob die handwerkliche Produktion von Waren und kleine, auf menschliche Größenordnungen abgestimmte landwirtschaftliche Projekte durch eine Fließbandproduktion und ein mechanisiertes System von Agrarwirtschaft aufgrund einer "historisch notwendigen" Bestimmung aufgegeben werden mußten. Sie warfen schließlich die Frage auf, ob Ethik der Staatskunst das Feld zu räumen hätte und was aus der Politik werden würde, machte sie sich einem zentralisierten Staat dienlich.

Sie sahen keinen Widerspruch zwischen materiellem Wohlstand und einer wohlgeordneten Gesellschaft, zwischen substantieller Gleichheit und Freiheit oder zwischen Sinnlichkeit, Spiel und Arbeit. Sie stellten sich eine Gesellschaft vor, in der Fülle möglich war und eine geschlechtsneutrale politische Kultur entstehen, jedoch die Arbeitswoche, Überflußproduktion und exzessiver Konsum abgeschafft würden. Diese vor fast zweihundert Jahren antizipierten Fragen, vollgesogen mit dem zweitausend Jahre alten moralischen Feuer ketzerischer Bewegungen wie der der Joachimiten, sind gegen Ende des 20. Jahrhunderts mit aller Macht wieder aufgetaucht.

Worte wie "Vorläufer" sind bedeutungslos geworden für eine krisengeschüttelte Gesellschaft wie die unsere, in der wir die gesamte Geschichte von Ideen und Alternativen, die die soziale Geschichte der Vergangenheit eröffnete, neu bewerten müssen. Was an ihrer Arbeit unmittelbar augenfällig ist, ist der wache Sinn für Alternativen zu den Mißständen ihrer Zeit — und der unseren. Wir können nicht die Differenzen übergehen, in welchen sich die anarchistischen Theoretiker und die libertären Utopisten des letzten Jahrhunderts von denen einer weiter zurückliegenden Vergangenheit unterschieden. Anarchische Strömungen wie etwa die Urchristen, die radikalen Gnostiker, die mittelalterliche Bruderschaft des Freien Geistes, die Joachimiten und die Wiedertäufer, sahen in der Freiheit eher eine Folge der Wiederkunft Gottes als ein Produkt menschlichen Handelns. 


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Diese im Grunde passiv-rezeptive, mystisch untermauerte Mentalität ist entscheidend. Daß bestimmte prämoderne Strömungen in der anarchischen Tradition weltverändernd handelten, ändert nichts an der Tatsache, daß auch dieses Handeln als Ausdruck einer theistischen Vorsehung verstanden wurde. In ihren Augen erfolgte Handeln als Übertragung des göttlichen Willens auf den des Menschen, als Produkt einer sozialen Alchemie, das auf der Grundlage einer übernatürlichen Entscheidung und nicht einer menschlichen Autonomie möglich wurde. Bei diesen frühen Ansätzen ruhte der "Stein der Weisen" der Veränderung im Himmel und nicht auf der Erde. Freiheit "kam" durch überirdische Wesen, sei es als "Wiederkehr" Jesu oder als Verheißung eines neuen Messias. In Übereinstimmung mit dem gnostischen Denken gab es im allgemeinen immer Eliten wie "Psychos", die frei von Bösem, oder Führer, die mit moralischer Vollkommenheit gesegnet waren. Die Geschichte war letzten Endes ebenso sehr eine Uhr wie eine joachimitische Chronik: in ihr verstrich so lange eine Art metaphysischer Zeit, bis die Sünden der Welt so unerträglich wurden, daß sie Gott zum Handeln zwangen, der nicht länger seine Schöpfung sowie das Leid der Armen, Benachteiligten und Unterdrückten verleugnen konnte.

Die Renaissance, die Aufklärung und vor allem das 19. Jahrhundert veränderten radikal diese naive soziale Ordnung. Das "Zeitalter der Revolutionen", wie wir die Periode vom späten 18. bis zur Mitte des 20.Jahrhunderts bezeichnen können, verbannte die übernatürlichen Heimsuchungen und die passiv-rezeptive Haltung der Unterdrückten von der historischen Tagesordnung. Die Unterdrückten mußten handeln, wenn sie sich selbst befreien wollten. Sie mußten ihre eigene Geschichte nach ihrem Gusto gestalten — ein einschneidender Gedanke, den Jean-Jacques Rousseau bei allen persönlichen Schwächen der Geschichte radikaler Ideen hinzufügte und für den er Unsterblichkeit verdient. Die Unterdrückten mußten logisch denken. Man konnte nicht an irgendwelche Mächte appellieren, nur an die eigene Vernunft. Die Verbindung von Vernunft und Willen, von Denken und Handeln, von Reflexion und Intervention, veränderte die gesamte Landschaft radikalen Denkens und befreite sie von ihren mystischen, mythischen, religiösen und intuitiven Zügen — die bedauerlicherweise heute wieder in eine entkräftete und psychologisch therapierte Welt zurückkehren.

Der Radikalismus des "Zeitalters der Revolution" ging jedoch noch weiter. Das Geschichtsverständnis der Joachimiten bewegt sich, den Marxisten nicht unähnlich, zum Trommelschlag einer unerbitterlichen "Endzeit",


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zu einem Ende, gleich einem hegelianischen Absoluten, wo alles was war, in einem gewissen Sinne sein mußte, wo alles was sich entfaltete, der Weisung einer "verborgenen Hand" folgte, sei es derjenigen Gottes, des Weltgeistes und der "List der Vernunft" (um Hegels Worte zu gebrauchen), oder ökonomischen Interessen, so verborgen diese auch denen bleiben mochten, die durch sie beeinflußt wurden. Es gab keine wirklichen Alternativen zu dem, was war, ist, oder sogar sein wird — wie absurde Debatten über die "Zwangsläufigkeit des Sozialismus" vor ein oder zwei Generationen offenbarten.

 

Wenn Anarchisten und libertäre Utopisten das Element der Wahl in der Geschichte betonten, so schlugen sie damit eine radikal neue Richtung ein, weg von den zunehmend teleologischen Visionen der religiösen und später der "wissenschaftlichen" Sozialismen. Zu einem großen Teil erklärt diese Betonung die Aufmerksamkeit, welche die Anarchisten und libertären Utopisten des 19. Jahrhunderts der individuellen Autonomie schenkten, der Fähigkeit des Individuums, eine Wahl auf der Grundlage rationaler und ethischer Urteile zu treffen. 

Diese Sicht ist völlig verschieden von der liberalen Tradition, mit der anarchische Vorstellungen von Individualität durch ihre Opponenten und besonders durch die Marxisten, assoziiert wurden. Der Liberalismus offerierte dem Individuum sicherlich ein bißchen "Freiheit", eine Freiheit jedoch, die von der "unsichtbaren Hand" des konkurrierenden Marktes und nicht etwa durch die Fähigkeit freier Individuen, entsprechend ethischen Überlegungen zu handeln, eingeschränkt wurde. Der "freie Unternehmer", an dem der Liberalismus sein Bild von der individuellen Autonomie entwickelte war in Wirklichkeit ein Gefangener eines kollektiven Marktes, auch wenn er sich scheinbar von der erkennbar mittelalterlichen Gemeinschaft der Zünfte und der religiösen Pflichten "emanzipiert" hatte. Er wurde zum Spielball "höherer Gesetze" einer Marktordnung, die auf konkurrierenden Egos beruht, von denen jedes seine egoistischen Interessen in der Formierung eines allgemeinen gesellschaftlichen Interesses gegenseitig aufhebt.

Der Anarchismus und die libertären Utopisten haben das freie Individuum niemals in diesem Lichte gesehen. Für die anarchistischen Theoretiker sollte das Individuum die Freiheit haben, sich als ethisches Wesen — und nicht als engstirniger Egoist — zu betätigen, um eine rationale, hoffentlich uneigennützige Wahl zwischen rationalen und irrationalen Alternativen in der Geschichte zu treffen. 

Die marxistische Ente, daß der Anarchismus das das Produkt eines liberalen oder bourgeoisen "Individualismus" sei, hat ihre


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Wurzeln in Ideologien, die in ihrem tiefsten Kern selbst bourgeois sind, wie jene, die sich auf den Mythos einer "unsichtbaren Hand" (Liberalismus), den Geist (Hegelianismus) und einen ökonomischen Determinismus (Marxismus) gründen. 

Die Betonung der individuellen Freiheit durch die Anarchisten und libertären Utopisten bedeutete die Emanzipation von einer ahistorischen Präordination der Geschichte selbst und unterstreicht die Bedeutung ethischer Einflüsse auf die Wahl. Das Individuum ist wahrhaft frei und erhält wahre Individualität, wenn es von einer rationalen, humanen und hochstehenden Vorstellung vom Wohle der Gesellschaft oder Gemeinschaft geleitet wird.

 

Und schließlich implizieren die anarchistischen Visionen einer neuen Welt, insbesondere die libertären Utopien, daß die Gesellschaft immer wieder erneuert werden kann. Qua Definition ist Utopie schließlich die Welt, wie sie gemäß den Gesetzen der Vernunft sein sollte, im Gegensatz zur Welt, wie sie unter der blinden, nichtdenkenden Interaktion verständnisloser Kräfte ist. Die anarchistische Tradition des 19. Jahrhunderts, weniger illustrativ und bildhaft als die Utopisten, die ein Gemälde neuer und detaillierter Vorstellungen entwarfen, entwickelte ihre Theorien auf der Grundlage der menschlichen und nicht einer theologischen, mystischen oder metaphysischen Geschichte. Die Welt hat sich schon immer durch leibhaftige menschliche Wesen aus Fleisch und Blut gestaltet, die an den Wendepunkten der Geschichte vor einer tatsächlichen Wahl standen. Und sie konnte sich entlang erwiesener Alternativen, mit denen Menschen in der Vergangenheit konfrontiert waren, erneuern.

Ein Großteil der anarchistischen Tradition ist in der Tat kein "primitivistisches" Schmachten nach der Vergangenheit, wie marxistische Historiker wie Hobsbawn uns glauben lassen wollen, sondern ein Erkennen unerfüllter Möglichkeiten der Vergangenheit, wie etwa der Vergangenheit der weitreichenden Bedeutung von Gemeinschaft, Konföderation, selbstverwalteter Ökonomie und neuem Gleichgewicht zwischen Menschheit und Natur. Marx' berühmte Aufforderung, daß die Toten ihre Toten begraben sollen, ist ebenso gut gemeint wie bedeutungslos, wenn die Gegenwart die Vergangenheit zu parodieren versucht. Nur die Lebenden können die Toten begraben, aber auch nur dann, wenn sie unterscheiden können, was bereits tot und was noch lebendig ist, ja was auf den mit Leichen übersäten Schlachtfeldern der Geschichte noch von Leben strotzt.


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Hierin liegt die Stärke von William Godwins Sorge um individuelle Autonomie, um den ethischen Menschen, dessen Geist frei von der sozialen Last übernatürlicher Mächte und aller möglichen Formen der Fremdbestimmung ist, seien es Götter oder Politiker, die Macht des Hergebrachten oder die des Staates. Hier liegt auch die Stärke des von Pierre-Joseph Proudhon propagierten Munizipalismus und Konföderalismus als Assoziationsformen, ja als Lebensweisen, deren Freiheit weder durch den Nationalstaat noch durch die schädliche Rolle des Eigentums eingeschränkt ist. Hier findet sich Michail Bakunins Hypostasierung der Spontaneität des Volkes und der transformatorischen Rolle der revolutionären Handlung, der Tat als Ausdruck des von Beschränkungen durch Kompromisse und parlamentarischen Kretinismus unbehinderten Willens. Und schließlich liegt hierin die Kraft von Peter Kropotkins ökologischen Visionen, seiner praktischen Beschäftigung mit dem menschlichen Maß, mit Dezentralisation und der Harmonisierung der Menschheit mit der Natur, als Gegensatz zu dem explosiven Wachstum der Urbanisation und Zentralisation.

Ich werde noch Gelegenheit haben, die Ideen dieser bemerkenswerten, aber nur geringgeschätzten Denker im Kontext der Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, und der Notwendigkeit einer ökologischen Gesellschaft näher zu betrachten und neu darzustellen. Im Moment möchte ich hier kurz einhalten, um den Aspekt der Emanzipation einer anderen Art zu betrachten — die Emanzipation des Körpers in Form einerneuen Sinnlichkeit und die des menschlichen Geistes in Form einer ökologischen Sensibilität. Diese Themen tauchen in den meisten Diskussionen über gesellschaftliche Erneuerung nur selten auf, obwohl sie innerhalb des utopischen Denkens eine herausragende Stellung einnehmen.

Ein Gefühl wahrer joie de vivre, von Lebensfreude, ist eng mit der anarchistischen Tradition gepaart, trotz der trockenen Askese, die stellenweise in ihr zum Vorschein kommt. Emma Goldmans Ermahnung — "Wenn ich in eurer Revolution nicht tanzen kann, dann will ich sie nicht!" — ist typisch anarchisch in ihrer Anlage. Es existiert eine bunte Tradition, die sich über Jahrhunderte zu handwerklichen und sogar zu bestimmten bäuerlichen Anarchisten zurückverfolgen läßt, die für ihre Sinne die gleiche Emanzipation einforderten wie für ihre Gemeinschaften. Die Ophiten interpretierten in der ausgehenden Antike die Bibel neu und erblickten im Wissen den Schlüssel zur Erlösung, in Eva und der Schlange die Vermittler der Freiheit, in der ekstatischen Befreiung des Fleisches das beste Ausdrucksmittel für ihre Seelen. 

Die Brüder vom Freien Geiste, eine unter vielen verschiedenen Namen existierende, dauerhafte Bewegung im mittelalterlichen Europa, lehnten die kirchliche Verehrung der Selbstverleugnung ab und huldigten ihrer Version des Christentums, in der sowohl die reine Zügellosigkeit als auch die soziale Befreiung verkündet wurde.


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In Rabelais' Erzählung <Die Abtei von Theleme> hieß die Maxime "Tue was du willst" alle Zurückhaltung ablegen, so daß die Mitglieder dieses ausgelassenen Ordens frei waren aufzustehen, zu essen, zu lieben und alle Freuden des Fleisches und des Geistes nach belieben zu pflegen.

Die technischen Grenzen der vergangenen Epochen, in denen allgemein hart gearbeitet werden mußte und deshalb Wohlleben und Parasitentum kaum voneinander zu trennen waren, machten all diese Bewegungen und Utopien elitär. Was die Brüder vom Freien Geiste den Reichen stahlen, nahmen die Reichen wiederum den Armen weg. Was die Bewohner der Abtei von Theleme als ein Recht genossen, war letztlich Produkt der Ausbeutung der Arbeit der Handwerker, Bauern, Köche und der Knechte, die sie bedienten. Man mußte annehmen, daß, außer in einigen wenigen bevorzugten Gebieten dieser Welt, die Natur nicht freigebig war. Die Emanzipation der Sinne erschien den Armen und ihren revolutionären Propheten lediglich als ein Privileg der herrschenden Klasse, obwohl sie in den Städten und Dörfern verbreiteter war, als uns eingeredet worden ist Und selbst die Unterdrückten hatten ihre Träume utopischer Freuden, Visionen einer üppigen Natur, wo Milch und Honig floß. Immer aber verdankten sie diese wunderbare Fügung einem Wesen von gänzlich anderer Art, das ihnen die Fülle vermittels eines "Gelobten Landes" bescherte — vielleicht einem Gott oder einem reizbaren Dämon, nicht aber dem technischen Fortschritt und neuen, gerechteren Regelungen von Arbeit und Verteilung der Güter.

Die größten Utopisten des 19. Jahrhunderts stehen für einen radikalen Wandel in diesem überlieferten Geflecht von Anschauungen, und in diesem Sinne verdienen sie unsere Aufmerksamkeit. Robert Owens frühes "industrielles Dorf", das die fortgeschrittensten Techniken der damaligen Zeit mit einer auf menschliche Maßstäbe angelegten landwirtschaftlichen Gemeinschaft verband, war im Kontext der technologischen Möglichkeiten strukturiert, die die Industrielle Revolution eröffnete. Ob nun die "Erste Natur" üppig ist oder nicht, es ist eindeutig die "Zweite Natur" oder menschliche Gesellschaft, die ökonomisch produktiv ist. Die Menschen schaffen sich ihr eigenes soziales Utopia, anstatt seine messianische Erfüllung durch übermenschliche Wesen abzuwarten.

Und sie können dies infolge ihrer eigenen technischen Erfindungskraft, kooperativen Leistung und sozialen Phantasie tun. Die technischen Utopien sollten zwar ein Eigenleben entwickeln und in unserem Jahrhundert in


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H.G. Wells technokratisch verwalteter Weltgipfeln — nach dem jahrhundertealten Vorbild von Francis Bacons "Das Neue Atlantis", einer naturwissenschaftlich geprägten utopischen Skizze aus dem 16. Jahrhundert. William Morris' Utopie dagegen wirkte eher handwerklich und trauerte dem Mittelalter nach, war aber dennoch durch und durch libertär. In seiner "Kunde von Nirgendwo" wird der Kapitalismus gestürzt und die mittelalterlichen Kommunen werden mit ihrem Handwerksstolz, ihrem menschlichen Maß und ihren kooperativen Werten wiederbegründet. Die Industrie ist, zusammen mit der Staatsmacht im großen und ganzen zum Scheitern verurteilt, und die Qualitätsproduktion kompensiert für die Vorteile der Massenherstellung schäbiger Waren.

In diesem Sinne ist Morris' Utopie ein romantisches Zurückversetzen in eine Welt, die zwar für immer vergangen ist, die aber durchaus seiner oder auch unserer Zeit etwas mitzuteilen hat. Die Qualität der Produktion und das künstlerische Geschick des Handwerks stehen uns immer noch als Vorbild vor Augen; sie zeigen, wie Güter eine Generation überdauern können, wenn eine Wirtschaft nicht dem Wegwerf-Prinzip huldigt und mit kurzlebigen Erzeugnissen jeden guten Geschmack beleidigt. Morris' Werte waren eindeutig ökologisch. Sie vermittelten ein Bild des menschlichen Maßes, der Integration von Landwirtschaft und Handwerk, der Produktion langlebiger, wahrhaft künstlerischer Güter und einer nichthierarchischen Gesellschaft.

Der Utopist, der diese scheinbar gegensätzlichen Traditionen miteinander zu verschmelzen suchte — Sinnlichkeit und Geist, die Produktion langlebiger Güter und die Industrie, den Glauben an eine üppige Natur und das menschliche Handeln, das Spiel und die Arbeit — war weder ein Sozialist noch ein müßiger Visionär, sondern es war Charles Fourier, der (aus seiner Sicht) Träume in Wissenschaft und Newton'sche Modelle einer geordneten Welt in eine kosmologische Phantasie verwandelte. 

Es ist für den Zweck unserer Diskussion nicht erheblich, Fouriers Sendungsbewußtsein oder den Grad seiner sozialen Prinzipien zu untersuchen. Er war nicht nur kein Sozialist, er war auch kein Egalitarist. Seine Arbeiten sind von Widersprüchen und krassen Vorurteilen gezeichnet. Seine Bemühungen, sein System des "leidenschaftlichen Umgangs" in eine mathematische Form zu bringen, sind ebenso gescheitert wie das Werben um Unterstützung durch die Mächtigen und Reichen für seine idealen Phalanstere — riesige Paläste, in denen jeweils jene 1620 Menschen mit geeigneten, einander ergänzenden Neigungen wohnen sollten, deren es für eine emotional ausgeglichene Gemeinschaft bedürfte.


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Selbstverständlich sollte jede Phalanstere so autark wie möglich sein, mit Werkstätten, Ackerland, Wohnhäusern, Schulen und Tanzsälen, die alle zum Schutz der Bewohner vor widrigem Wetter durch überdachte Gänge verbunden waren und bequemen Zugang zueinander ermöglichten.

Das Bedeutende an Fouriers Phalanstere sind nicht ihre strukturellen Prinzipien, sondern die Prinzipien, die das Leben in ihnen bestimmen, von denen viele als Gegensatz zur Monotonie der industriellen Arbeit formuliert wurden, zu den puritanischen Werten jener Zeit und den Lasten der Armut, denen Sinne wie Körper ausgesetzt waren. Entsprechend unterhöhlten sexuelle Freiheiten traditionelle Familientabus und philiströse Konventionen. Gott regiert die Welt durch Anziehung und nicht durch Gewalt. Dies war ein ungewöhnlicher, ja ein sozial rebellischer Standpunkt. Herrschaft besteht aus Befriedigung eigener Bedürfnisse und nicht aus Unterwürfigkeit einer Autorität gegenüber. Die Antwort auf die industrielle Disziplin ist die tägliche Rotation der Arbeit, unterbrochen durch persönliche Vergnügungen für Körper und Geist, hervorragende Küche zur Befriedigung des Gaumens, eine Palette fantasiereicher Vorschläge, das Leben zu verschönern, und der überaus wichtige Glaube, daß lästige Arbeit durch Charme, Festlichkeiten und die Gegenwart komplementärer leidenschaftlicher Naturen in der Form von Mitarbeitern in Spielerei verwandelt werden könne. Fourier suchte hierdurch jenes herrische "Reich der Notwendigkeit" auszulöschen, das jeden im Joch der Plackerei hält, und es durch das kunstvolle "Reich der Freiheit" zu ersetzen, in dem selbst harte Arbeit zum angenehmen Wunschtraum wird.

Die "Harmonische Welt", die Fourier vorschwebte und die weniger auf Zwang als auf Neigung gegründet war, wurde zum sozialen Programm — auf jeden Fall für seine Jünger, die ihr nach seinem Tode einen eindeutig anarchistischen Charakter verliehen. In Fouriers Vorstellung gab es keinen Widerspruch zwischen der menschlichen Kunstfertigkeit und der natürlichen Schöpfungskraft, so wenig wie zwischen Körper und Geist, Spiel und Arbeit, Freiheit und Ordnung, Einheit und Vielfalt. Bis jetzt waren dies rebellische Intuitionen, die eine naturalistische Version der Dialektik noch aufarbeiten muß. Fouriers Schriften fallen zeitlich, wenn auch nicht örtlich, mit Robert Owens "industriellem Dorf" zusammen, das Fabriken, Werkstätten und Land­wirtschaft in überschaubare Einheiten integrierte und das als Prototyp für Kropotkins Idee einer libertären Gemeinschaft dienen sollte.


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Zwischen dem Ende der Französischen Revolution und der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Freiheitsideale eine solide naturalistische, technologisch lebensfähige und feste materielle Grundlage angenommen. Hier lag erneut ein bemerkenswerter Wendepunkt der Geschichte, an dem die Menschheit so oder so vom Pfad der markt- und profitorientierten Expansion zu einer kommunitären und ökologisch orientierten Harmonie hätte umschwenken können — zu einer Harmonie unter den Menschen, die kraft einer neuen Sensibilität in eine Harmonie zwischen Mensch und Natur hätte erweitert werden können.

Mehr als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Gesellschaft bereits von einen Grad an Industrialisierung überrollt wurde, der die natürliche Welt völlig umgestaltete, und sie im Laufe der Zeit weitgehend in eine synthetische verwandelte, lebte die erste Hälfte des Jahrhunderts noch unter der Verheißung einer neuen Integration von Gesellschaft und Natur und einer kooperativen Welt­gemeinschaft, die die stärksten Freiheitsimpulse befriedigt hätte. Daß dies nicht geschah, war nicht wenig durch das Ausmaß bedingt, in dem der bourgeoise Geist die gemischte euro-amerikanische Gesellschaft des vergangenen Jahrhunderts durchdrang — und nicht nur sie, sondern selbst das revolutionäre Projekt einer Erneuerung der Gesellschaft, das einen so reichen Ausdruck bei den Utopisten, den visionären Sozialisten und den Anarchisten gefunden hatte, die im Gefolge der Französischen Revolution auftraten.

Das revolutionäre Projekt hatte ein reiches ethisches Erbeangetreten, und die Verpflichtung übernommen, den Dualismus von Geist, Körper und Gesellschaft zu überwinden, der Vernunft gegen Sinnlichkeit, Arbeit gegen Spiel, Stadt gegen Land und die Menschheit gegen die Natur ausspielte. Die besten utopischen und anarchistischen Ansätze sahen diese Widersprüche sehr deutlich und versuchten, sie mit einem Freiheitsideal, das auf Komplementarität. Existenzminimum und der Gleichheit unter Ungleichen beruhte aufzulösen. Die Widersprüche wurden als Anzeichen für eine Gesellschaft gesehen, die tief in das "Übel" verstrickt war, für eine "Zivilisation", um Fouriers Begriff zu gebrauchen, die aufgrund der irrationalen Richtung, der sie bis zum damaligen Zeitpunkt folgte, gegen die Menschheit und die Kultur gerichtet war. Die Vernunft und ihre Fähigkeit, spekulativ zur Überschreitung der gegebenen Verhältnisse eingesetzt zu werden, wurde zu einer krassen Form des Rationalismus, der sich auf die effiziente Ausbeutung von Arbeitskraft und natürlichen Resourcen beschränkte.


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Die Wissenschaft, in ihrem forschenden Untersuchen der Wirklichkeit und der ihr zugrunde liegenden Ordnung, verkehrte sich in einen szientistischen Kult, der wenig mehr darstellte als ein Instrument der Kontrolle über Menschen und Natur. Die Technik mit ihrem Versprechen, die Arbeit zu erleichtert, verkehrte sich in ein technokratisches Rüstzeug zur Ausbeutung der menschlichen und nichtmenschlichen Welt.

Trotz ihres verständlichen Glaubens, daß Vernunft, Wissenschaft und Technik eine kreative Rolle bei der Erneuerung der Gesellschaft spielen könnten, stimmten die anarchistischen Theoretiker und die libertären Utopisten einen kollektiven Protest gegen die Reduzierung dieser Kräfte zu bloßen instrumentellen Zwecken an. Wie wir in der Rückschau aus unserer eigenen historischen Krise sehen können, waren sie sich über den raschen Wandel, den ihr Jahrhundert durchlebte, völlig im klaren. Ihre leidenschaftlichen Forderungen nach sofortigen Veränderungen im Sinne freiheitlicher Grundsätze drückten ein Gefühl der Angst aus vor der Gefahr, daß die Gesellschaft insgesamt von einer "Bourgeoisierung" bedroht war, womit Bakunin seine bemerkens­wert hellsichtigen Ängste und den Fatalismus kennzeichnete, der ihn in den letzten Jahren seines Lebens überkam.

Im Gegensatz zu den kleinkarierten Urteilen von Gerald Brenan und Hobsbawn war die anarchistische Betonung einer "Propaganda der Tat" kein primitiver Akt der Gewalt noch eine bloß kathartische Reaktion auf die allgemeine Passivität angesichts der Schrecken des industriellen Kapitalismus. Zum großen Teil war sie Produkt einer verzweifelten Einsicht in die Tatsache, daß ein historischer Augenblick einer sozialen Entwicklung verpaßt wurde, wodurch sich in der Zukunft immense Hindernisse vor der Realisierung des revolutionären Projektes auftürmen würden. Von ethischen und visionären Vorstellungen beseelt, sahen sie mit Recht ihre Zeit als eine, die die unmittelbare Emanzipation des Menschen forderte, und nicht als eine von vielen "Phasen" in der langen Geschichte der Evolution der Menschheit zur Freiheit mit ihren endlosen "Vorbedingungen" und technologischen "Unterbauten".

Was die anarchistischen Theoretiker und libertären Utopisten nicht sahen, war, daß die Ideale der Freiheit selbst von einer "Bourgeoisierung" bedroht waren. Niemand, vielleicht noch nicht einmal Marx selbst, der eine so wesentliche Rolle in dieser Infizierung spielte, hätte vorhersehen können, daß der Versuch, das emanzipatorische Projekt in eine "Wissenschaft" unter der Rubrik "wissenschaftlicher Sozialismus" zu verwandeln, es sogar noch mehr zu einer "furchtbaren Wissenschaft" machte, als es die Ökonomie bereits war — ja daß dadurch das emanzipatorische Projekt seines ethischen Herzens, seines visionären Geistes und seiner ökologischen Substanz beraubt werden würde.

Mindestens ebenso aufregend ist die Erkenntnis, daß Marx "Wissenschaftlicher Sozialismus" sich im Gleichklang mit der bösartigen Vernichtung des eigentlichen Ziels wie auch der ideologischen Grundlagen des revolutionären Projekts durch die Bourgeoisie bewegte, indem er nämlich eine Rechtfertigung dafür lieferte, dezentrale Einheiten in einem zentralistischen Staat, föderalistische Visionen in einer chauvinistischen Nation und menschlich angepaßte Technologien in einem System allesverschlingender Massenproduktion aufgehen zu lassen.

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Anmerkungen zu Kapitel 4
12)  Ernst Bloch, Man on His Own, New York, Herder and Herder, 1970, S. 128
13)  H. Frankfort, "The Emancipation of Thought From Myth", aus Before Philosophy, H. Frankfort u.a., (Baltimore: Penguin Books, 1951) S.242-243
14)  Pjotr Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Leipzig 1908, S. 179; NA Trotzdem Verlag Grafenau 1989
15)  Marie Louise Berneri, Journey Through Utopia, London, Routledge & Kegan Paul, n.d., S. 54

 

 

 

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von Murray Bookchin 1990