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    Der Radikalismus der Neuen Linken und der Utopismus der Gegenkultur 

 

 

 

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Nun ist aber das revolutionäre Projekt nicht mit dem Niedergang des Marxismus gestorben, obwohl vulgärmarxistische Ideen es seit den dreißiger Jahren jahrzehntelang belasteten. Ende der fünfziger Jahre und bis in die frühen Sechziger hinein bildete sich eine gänzlich neue Konstellation von Gedanken heraus. Der Aufschwung der Bürgerrechtsbewegung in den USA setzte um die einfache Forderung nach ethnischer Gleichheit soziale Triebkräfte frei, die in vielem an Forderungen nach Gleichheit erinnerten, die auf die Zeit der demokratischen Revolution des 19. Jahrhunderts und ihrer großartigen Visionen von einer neuen mensch­lichen Brüderlichkeit zurückgehen.

Die Reden Martin Luther Kings beispielsweise hinterlassen einen geradezu endzeitlichen Eindruck und erscheinen beinahe vorkapitalistisch. Seine Worte sind offen utopistisch und fast religiös. Sie sprechen von "Träumen" und erklimmen die von Moses beschriebenen "Berghöhen"; sie appellieren an eine ethische Leidenschaft, die weit über spezielle Interessen und beschränkte Vorurteile hinausreicht. Es sind Reden, die im Hintergrund von Chören begleitet werden, die Parolen wie "Freiheit!" und "We Shall Overcome" verkünden.

Die Ausweitung des Emanzipationsgedankens, ja seine Weihe durch eine religiöse Terminologie und eine Gebetshaltung, verdrängte die Pseudowissenschaftlichkeit des Marxismus. Es war eine auf das Ethische zugespitzte Botschaft geistiger Erlösung und eine utopische Vision menschlicher Solidarität, die über Klassen, Eigentum und ökonomische Interessen hinausging. Freiheitsideale wurden in der gängigen Sprache des vor-marxistischen revolutionären Projekts neuformuliert — das heißt in einer Sprache, die von den tagträumenden puritanischen Radikalen der englischen Revolution und vielleicht sogar von den radikalen Farmern der amerikanischen Revolution verstanden worden wäre. 

Die Bewegung wurde dann Stück für Stück immer weltlicher. Der zunächst im wesentlichen von schwarzen Priestern und Pazifisten orchestrierte friedliche Protest, der gegen die Einschränkung grundlegender menschlicher Freiheiten "Zeugnis ablegen" sollte, wurde durch wütende Konfrontationen und gewalttätigen Widerstand gegen den brutalen Einsatz der Staatsmacht verdrängt. Gewöhnliche Versammlungen endeten in Krawallen, bis etwa ab 1964 fast jeder Sommer in den Vereinigten Staaten einen Höhepunkt schwarzer Ghettounruhen erlebte, die fast den Charakter von Aufständen annahmen.

Die Bürgerrechtsbewegung monopolisierte jedoch nicht die egalitären Ideale, die in den 60ern hervortraten. Zu einem erheblichen Teil durch die vorausgegangene "Ostermarschbewegung" der fünfziger Jahre einschließlich der Kampagne für Atomare Abrüstung (CND, in England) und der Frauenstreikbewegung für den Frieden (in den USA) beeinflußt, begannen verschiedene Strömungen sich zur Neuen Linken zu vereinigen, zu einer Bewegung, die sich in ihren Zielen, Formen, Organisationsstrukturen und Strategien für soziale Veränderungen strikt von der alten Linken absetzte. Das revolutionäre Projekt wurde wiederbelebt — nicht in der Kontinuität des proletarischen Sozialismus, sondern mit vor-marxistischen libertären Idealen.

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Was in dieses Projekt mit einfloß, waren die gegenkulturellen Züge der "Jugend-Revolte" mit ihrer Betonung eines neuen Lebensstils, sexueller Freiheit und einem weitreichenden Geflecht kommunitärer libertärer Werte. Am Horizont erschien eine farbenreiche Vision sozialer Ideen, Experimente und Beziehungen, und hochfliegende Hoffnungen auf radikale Veränderungen leuchteten auf.

Dieser Glanz kam natürlich nicht allein von der Ideologie. Er wurde von technologischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen in der euro-amerikanischen Gesellschaft genährt. In der Phase zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den frühen 60ern war weitaus mehr als nur der proletarische Sozialismus gestorben. Andere wesentliche Züge der alten Linken, wie beispielsweise die Institutionalisierung des Radikalismus in Form hierarchischer Arbeiterparteien, die wirtschaftliche Verzweiflung, die das Jahrzehnt der Weltwirtschaftskrise kennzeichnete und ein archaisches technologisches Erbe, das sich auf gewaltige industrielle Anlagen und ein aufgeblähtes arbeitsintensives Fabriksystem stützte, waren ebenfalls verblaßt. Die typische industrielle Anlage in den Jahren der Weltwirtschaftskrise war technisch nicht sehr innovativ. Die 30er Jahre mögen ein Jahrzehnt ernsthafter, aber düsterer Hoffnung gewesen sein; die 60er Jahre dagegen waren eine Dekade sprudelnder Verheißung, eine Dekade, die die unmittelbare Erfüllung ihrer Wünsche einforderte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Kapitalismus weit davon entfernt, in dieselbe chronische Depression zu verfallen, in der er sich vor dem Kriege befunden hatte; er re-etablierte sich vielmehr auf einem stärkeren Fundament als jemals zuvor in der Geschichte. Er entwickelte auf der Grundlage der Rüstungsproduktion eine gesteuerte Wirtschaft, die von erstaunlichen technologischen Fortschritten in der Elektronik, Automation, Kernphysik und Agrarwirtschaft getragen war. In riesigen Mengen und Variationen schienen die Waren aus einem unendlichen Füllhorn zu fließen. Es herrschte ein derartiger Wohlstand, daß ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung von seinen bloßen Resten leben konnte. Aus dem Abstand von Jahrzehnten machen wir uns nur schwer klar, welch ein überschäumendes Gefühl der Verheißung diese Zeit erfüllte.

Dieses Gefühl der Verheißung war rein materialistisch. Die Ablehnung materieller Güter durch die Gegenkultur stand nicht im Widerspruch zum eigenen Besitz von Stereoanlagen, Schallplatten, Fernsehgeräten, "bewußtseins­erweiternden" pharmazeutischen Produkten, exotischen Kleidern und gleichermaßen exotischer Nahrung.


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Frühe liberale Abhandlungen wie die "Dreifache Revolution" ermutigten den durchaus gerechtfertigten Glauben, daß wir, zumindest in der westlichen Welt, technologisch in ein Zeitalter größerer Freiheit von Mühe und Arbeit eingetreten seien. Daß eine maximale Nutzung dieser materiellen und sozialen Wohltaten herbeigeführt werden könnte, schien außer Frage zu stehen, vorausgesetzt, die Gesellschaft könnte ein angenehmes Leben auf der Grundlage neuer ethischer Sichtweisen sicherstellen.

Diese Erwartungen flossen in alle gesellschaftliche Schichten ein, einschließlich der am meisten benachteiligten und unterprivilegierten. Die Bürgerrechtsbewegung entstand nicht einfach aus der Empörung, die schwarze Menschen während der drei Jahrhunderte Unterdrückung und Diskriminierung gefühlt hatten. In den 60ern entstand sie viel zwingender aus einer allgemeinen Erwartung der Menschen, ebenso gut leben zu können wie die weiße Mittelschicht, und dem Glauben, daß es mehr als genug für alle gäbe. Die ethische Botschaft Martin Luther Kings und seiner Gefolgsleute hatte tiefe Wurzeln in dem Mißverhältnis zwischen schwarzer Armut und weißem Wohlstand, welches die Unterdrückung der Schwarzen unerträglicher machte als jemals zuvor.

Analog hierzu erweiterte und vertiefte sich der Radikalismus der Neuen Linken in dem Maße, wie die wirtschaftlichen Reichtümer der Vereinigten Staaten ungerecht verteilt und irrational eingesetzt wurden — vor allem durch militärische Abenteuer im Ausland. Die Energie der Gegenkultur und ihre Ansprüche wurden zunehmend utopisch, da ein bequemes Leben für alle erreichbar erschien. Junge Menschen, die berühmten "drop-outs" der 60er, leiteten einen ethischen Anspruch ab aus der Tatsache, daß sie immer und mit "a little help from one's friend", um es mit den Worten eines berühmten Songs auszudrücken, gut von den Müllhalden dieser Gesellschaft leben könnten.

 

Ich sage dies nicht, um den Radikalismus der Neuen Linken und den Utopismus der Gegenkultur zu verunglimpfen. Vielmehr versuche ich, eine Erklärung für die extravaganten Formen zu geben, die sie annahmen — ebenso, warum sie wieder verschwanden, als die "Krisen-Management"-Techniken des Systems den Mythos der Knappheit wiederentdeckten und die Zügel der Wohlfahrtsprogramme kürzer zogen.

Genau so wenig behaupte ich, daß ethische Freiheitsideale sich automatisch an der materiellen Realität der Armut und des Überflusses orientieren. Die Bauernaufstände aus fünf Jahrhunderten und die utopischen Visionen, die sie verkündeten, ebenso wie die Revolten von Handwerkern aus derselben Zeit und mit ähnlichen Visionen, wie diejenigen von religiösen Radikalen wie den Wiedertäufern und den Puritanern, und schließlich die der rationalistischen Anarchisten und libertären Utopisten — von denen die meisten einem technisch rückständigen Zeitalter asketische Botschaften predigten — wären aufgrund dieser Prämisse nicht erklärbar.


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Diese revolutionären Projekte definierten die Freiheit aus der Armut, nicht aus dem Überfluß. Was sie zum Handeln bewegte, waren normalerweise die harten Tatsachen des sozialen Übergangs vom Dorf zur Stadt, von der Stadt zum Nationalstaat, von handwerklichen Formen der Arbeit zur industriellen Plackerei, von gemischten sozialen Formen zum Kapitalismus — jeder Zustand psychologisch wie materiell schlimmer als der jeweils vorhergehende.

Was die Neue Linke zu ihrem eigenen revolutionären Projekt und die Gegenkultur zu ihrer Version einer schrankenlosen Utopie führte, waren Bestimmungsgrößen einer Freiheit auf der Grundlage des Überflusses — jede Periode eine potentiell bessere, als die vorhergehende. Zum ersten Mal schien es tatsächlich so, als brauche sich die Gesellschaft nicht mehr um die technischen Möglichkeiten für einen allgemeinen materiellen Wohlstand zu sorgen und könne sich stattdessen auf das ethische Wohlbefinden aller konzentrieren.

Überfluß, zumindest in dem Ausmaße, in dem er für die Mittelschicht existierte und eine Technologie von unkalkulierbarer Produktivität begünstigte eine eigene radikale Ethik: die einschätzbare Gewißheit, daß die Abschaffung jeglicher Unterdrückung — sowohl der Sinne, als auch der von Körper und Geist — selbst auf der Grundlage bourgeoiser ökonomischer Instrumente erreicht werden könnte. Der liberale Ton in frühen Äußerungen der Neuen Linken — etwa in der "Erklärung von Port Huron" — könnte durchaus auf die Annahme zurückzuführen sein, man würde mit Hilfe der so außerordentlich produktiven Technik die Reichen beruhigen und ihnen die gewohnte Angst vor der Enteignung nehmen können. Die Reichen könnten ja ihren Reichtum genießen; sofern die gesellschaftliche Machtfrage gelöst sei, gäbe es genug zu verteilen, um ein Leben in Wohlstand für alle zu gewährleisten. Kapitalismus und Staat schienen im Grunde ihre Raison d' être , ihre Existenzberechtigung verloren zu haben. Die lebensnotwendigen Dinge müßten nicht länger über hierarchische Strukturen verteilt werden, weil die Technik alles auf Zuruf bereitstellt.

Plackerei hörte deshalb auf, eine historisch erklärbare Mühsal der Massen zu sein. Sexuelle Unterdrückung war nicht länger notwendig, um die libidinösen Energien in harte Arbeit umzusetzen. Konventionen, die dem Genuß entgegenstanden, waren unter diesen Bedingungen nicht mehr


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hinnehmbar und an die Stelle der Not konnte als wahrhaft menschliche Triebkraft der Wunsch treten. Das "Reich der Notwendigkeit" konnte also endlich durch das "Reich der Freiheit" ersetzt werden — dies erklärt die Beliebtheit, die damals Charles Fouriers Schriften vielerorts im Westen erreichten.

Anfangs waren die Neue Linke und die Gegenkultur zutiefst anarchistisch und utopistisch. Einige Punkte von allgemeinem Interesse nahmen in den Projekten, die aus ihrem kollektiven Bewußtsein auftauchten, einen zentralen Platz ein. Der erste war ein ausgesprochen demokratischer: es entstand die Forderung nach einem System der unmittelbaren Entscheidungsbefugnis. Der Begriff der "partizipatorischen Demokratie" zur Beschreibung der Basiskontrolle über alle und nicht nur politische Aspekte des Lebens wurde sehr modern. Für jeden wurde die Freiheit gefordert, in die politische Sphäre einzutreten und im Alltagsleben mit anderen Menschen auf "demokratische" Art und Weise umzugehen. Dies hieß im wesentlichen, daß von den Menschen erwartet wurde, in all ihren Beziehungen und Vorstellungen, die sie hauen, transparent zu sein.

Die Neue Linke und in beträchtlichem Maße auch die parallel zu ihr entstandene Gegenkultur hatten eine starke antiparlamentarische Ausrichtung, die oft an einen totalen Anarchismus grenzte. Man hat viel über das "Feuer in der Straße" geschrieben, das Teil der radikalen Aktionen zu dieser Zeit war. Es gab jedoch auch einen starken Impuls in Richtung auf eine Institutionalisierung von Entscheidungsprozessen, die über die in diesem Jahrzehnt so verbreiteten Straßenproteste und Demonstrationen hinausgingen.

Die wichtigste Organisation der amerikanischen Neuen Linken, Students for a Democratic Society (SDS), und ihr deutsches Gegenstück, der Sozialistische Deutsche Studentenbund (ebenfalls SDS), zeichneten sich durch eine Formalisierung ihrer vielen Konferenzen und Arbeitsgruppen aus. Dagegen wurde die Teilnahme kaum reglementiert — was diese Organisationen für eine zynische Invasion durch parasitäre dogmatische radikale Sekten anfällig machte. Mit Ausnahme der größeren Veranstaltungen bildeten viele ihrer Konferenzen und Workshops eine eigene egalitäre Geometrie aus — den Kreis, in dem es keinen formalen Vorsitzenden oder Leiter gab. Jeder erteilte sich selbst das Wort, indem er seinen Folgeredner aus der Menge der erhobenen Hände derjenigen benannte, die ihre Ansichten darstellen wollten.


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Geometrie und Verfahren waren nicht nur ein müßiger organisatorischer und demokratischer Symbolismus. Die ganze Anordnung drückte einen ernsthaften Glauben an das Ideal des unmittelbaren Dialogs und einer spontanen Form der Diskussion aus. Führern wurde weitgehend mißtraut, was oft seinen Ausdruck im Rotationsprinzip und der Ablehnung offizieller Strukturen als Schritt zu einer autoritären Kontrolle fand. Konferenzen der Neuen Linken bildeten einen scharfen Kontrast zu den äußerst formalisierten, meist sorgfältig vorbereiteten und gesteuerten Zusammen­künften, welche die Konferenzen der Arbeiterbewegung ein oder zwei Generationen zuvor gekennzeichnet hatten. In Wirklichkeit hatte ja der proletarische Sozialismus, vor allem in seiner Marx'schen Form, der Demokratie nur eine Nebenrolle im Vergleich zu den ökonomischen Faktoren zugewiesen.

In einem gewissen Sinn hat die Neue Linke fast wissentlich eine Tradition wiederbelebt, die von den demokratischen Revolutionen zweihundert Jahre früher begründet worden war. Eben weil die Lebensgrund­lagen potentiell für alle in Fülle vorhanden schienen, entwickelte die Neue Linke offensichtlich ein Gespür dafür, daß Demokratie und ein ethisches Freiheitsideal der direkte Pfad zu genau dem sozialen Egalitarismus waren, den der proletarische Sozialismus durch weitgehend ökonomische und parteiorientierte Lösungen zu erreichen suchte. Hier zeigte sich besonders deutlich die Neuorientierung hin zur Ethik in einer Zeit, in der die materiellen Probleme der Menschheit prinzipiell gelöst werden konnten . Das vormarxistische Zeitalter der demokratischen Revolutionen hatte sich de facto mit den vormarxistischen Formen des Sozialismus und Utopismus unter dem Zeichen der partizipatorischen Demokratie verschmolzen. Die Ökonomie war wahrhaft politisch geworden und das Politische hatte angefangen, die Patina der Staatskunst abzuwerfen, die sich über ein Jahrhundert auf ihm gebildet hatte — eine Veränderung, die fundamentale anarchische Implikationen hatte.

Zum zweiten war solch eine demokratische Ordnung des sozialen Lebens sinnlos ohne eine Dezentralisierung. Solange nicht die institutionelle Struktur des demokratischen Lebens auf ein für alle verständliches, ja faßbares menschliches Maß reduziert werden konnte, würde die Demokratie schwerlich eine echte partizipatorische Form erreichen. Neue soziale Kontaktstrukturen mußten entwickelt und neue Formen sozialer Beziehungen etabliert werden. Kurz, die Neue Linke fing an, sich an neue Formen der Freiheit heranzutasten. Es gelang ihr jedoch nicht, diese Formen über die Konferenzen hinauszuführen, die für gewöhnlich auf dem Universitätscampus stattfanden.


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Es wird berichtet, daß während der Mai-Juni-Unruhen 1968 in Frankreich, in verschiedenen Pariser arrondissements Nachbarschaftsversammlungen abgehalten wurden. In den Vereinigten Staaten wurden halbherzige Nachbarschaftsprojekte, insbesondere Mietstreik-Gruppen und Ghetto-orientierte Unterstützerkollektive ins Leben gerufen. Jedoch konnte der Gedanke, neue Arten libertärer städtischer Formen, als Gegenmacht zu den vorherrschenden staatlichen Formen zu entwickeln, nirgends Wurzeln schlagen außer in Spanien, wo die Madrider Bürgerbewegung eine wichtige Rolle im öffentlichen Protest gegen das Franco-Regime spielte. Somit blieb die Forderung nach Dezentralisierung ein wichtiger inspirierender Slogan, wurde allerdings nie außerhalb des Universitätscampus spürbar, wo sich die radikalen Bestrebungen auf "Student Power" konzentrierten.

Die Gegenkultur bot ihre eigene Version dezentralisierter Strukturen in der Form gemeinschaftlicher Lebensformen. Die 60er Jahre wurden par excellence das Jahrzehnt der Anarchisten-Kommunen, wie sie in vielen Büchern zu diesem Thema genannt wurden. In Städten wie auf dem Lande waren kommunitäre Projekte weit verbreitet. Diese Gebilde zielten weniger auf die Entwicklung einer neuen Politik ab, als auf Versuche mit radikalen neuen Lebensformen, die einen Gegenpol zu dem sie umgebenden konventionellen darstellten. Sie waren buchstäblich der Kern einer Gegenkultur.

Diese neuen Lebensformen umfaßten die Einführung gemeinschaftlichen Eigentums, die Deckung des Lebensunterhalts nach dem Nießbrauchprinzip, die gemeinsame Übernahme und die Rotation der notwendigen Arbeiten, kollektive Kinderbetreuung durch Männer und Frauen, eine radikal neue Sexualmoral, das Streben nach einem Mindestmaß an wirtschaftlicher Unabhängigkeit und das Hervorbringen einer neuen Musik, Poesie und Kunst, die sich gegen das eingefahrene Ästhetikverständnis wenden sollte.

Die Verschönerung des menschlichen Körpers wurde — was immer man auch von den neugesetzten Standards halten mag — Teil des Versuches, die Umwelt schöner zu machen. Fahrzeuge, Räume, die Außenwände von Gebäuden, selbst die Steinmauern der Wohnblocks wurden mit Wandgemälden geschmückt.

Die Tatsache, daß sich ganze Wohnviertel aus diesen Kommunen zusammensetzten, führte zu informellen Systemen inter-kommunaler Verbände und Unterstützungssysteme, wie etwa den sogenannten Stammes-Räten. Die "Stammes"-Idee, die sich die Gegenkultur etwas leichtfertig von der indianischen Kultur borgte, fand ihren Ausdruck eher in einem Sprachgebrauch der "Liebe" und in der verbreiteten Nutzung indianischer Bräuche, Rituale und besonders von Schmuck, als in der Realität dauerhafter Beziehungen und gegenseitiger Hilfe.


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Zwar gab es Gruppen, die nach stammesmäßigen, in manchen Fällen sogar bewußt anarchistischen Prinzipien, leben wollten, aber sie waren vergleichsweise selten.

Viele junge Menschen der Gegenkultur waren vorübergehende Exilanten aus den Vororten der Mittelschicht, wohin sie nach den 60ern zurückkehren sollten. Die Werte vieler kommunaler Lebensformen blieben jedoch als Ideale bestehen, die in die Neue Linke einflossen, als diese ihre eigenen Kollektive für die Verrichtung bestimmter Aufgaben wie das Drucken von Literatur oder die Leitung "freier Schulen" und Kinderläden gründeten. Anarchistische Begriffe wie "Affinitätsgruppen", die Aktionszellen der spanischen anarchistischen Bewegung, kamen stark in Mode. Die spanischen Anarchisten entwickelten diese Gruppen als persönliche Form der Zusammengehörigkeit im Gegensatz zu den anonymen Unterorganisationen der Sozialistischen Partei, die sich an den Wohnorten oder den Arbeitsplätzen orientierten. Die anarchischeren Teile der Neuen Linken vermischten jedoch weitergehende gegenkulturelle Elemente, wie etwa die Lebensform, mit Aktionen in den von ihnen gegründeten Affinitätsgruppen.

Zum dritten war die Akkumulation von Eigentum verpönt. Die Fähigkeit, erfolgreich Essen, Kleidung, Bücher und dergleichen aus Kaufhäusern und Supermärkten zu "befreien", wurde zur Berufung und zur Ehrensache. Diese praktizierte Mentalität war so verbreitet, daß sie selbst konventionelle Angehörige der Mittelschicht ansteckte. Ladendiebstähle erreichten in den 60er Jahren epidemische Ausmaße. Eigentum wurde generell als eine Art öffentliche Ressource angesehen, die von der breiten Öffentlichkeit frei genutzt oder auch persönlich "enteignet" werden konnte.

Ästhetische Werte und utopistische Ideale, die in den künstlerischen oder politischen Manifesten der Vergangenheit begraben waren, erlebten eine außergewöhnliche Wiedergeburt. Es gab Blockaden vor Museen, weil diese als Grabmäler der Kunst betrachtet wurden, deren Werke, so die Forderung, sich an öffentlichen Plätzen befinden sollten, damit sie Bestandteil der lebendigen Umwelt sein könnten. Straßentheater wurden an den ausgefallensten Orten, wie etwa auf den Bürgersteigen der Geschäftsviertel, aufgeführt; Rockbands spielten auf Straßen oder auf öffentlichen Plätzen; Parks wurden als Ort für Festlichkeiten oder Diskussionsveranstaltungen oder einfach als open-air-Wohnraum halbnackter junger Menschen genutzt, die in flagranter Weise unter den Augen der Polizei Marihuana rauchten.


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Schließlich wurde die Vorstellungskraft der westlichen Gesellschaft von Bildern eines allgemeinen Aufstandes überflutet. Innerhalb der Neuen Linken entwickelte sich der fatale Glaube, die ganze Welt stünde am Rande einer revolutionären Veränderung. Der Vietnamkrieg mobilisierte Versammlungen von Hunderttausenden in Washington, New York und anderen Städten, gefolgt von vergleichbaren Massen in europäischen Städten — eine Mobilisierung wie es sie seit der Russischen Revolution nicht mehr gegeben hatte. Schwarze Ghettoaufstände wurden alltäglich, gefolgt von Auseinandersetzungen mit Armee und Polizei, die auch Menschenleben forderten. Die Ermordung prominenter Persönlichkeiten wie Martin Luther King und Robert Kennedy waren nur die Spitze eines Eisbergs von Mordanschlägen, die das Leben von Bürgerrechtsaktivisten, Studentenprotestlern und bei einem besonders schrecklichen Verbrechen — von schwarzen Kindern während einer kirchlichen Feier forderten. Diese Gegenaktionen brachten den linken individuellen Terrorismus bei bestimmter Strömungen der Neuen Linken ins Gespräch.

Das Jahr 1968 erlebte die spektakulärsten Aufstände der Studenten- und der Farbigenbewegung. In Frankreich folgten Millionen von Arbeitern im Mai und Juni den Studenten in einem wochenlangen Generalstreik. Diese "Beinahe-Revolution", wie sie kürzlich genannt wurde, fand in der ganzen Welt ein Echo in irgendeiner Form, allerdings nur geringe Unterstützung durch die Arbeiterklasse — wenn nicht sogar aktive Ablehnung durch amerikanische und deutsche Arbeiter — eine Tatsache, die eigentlich den Tod des proletarischen Sozialismus hätte besiegeln müssen.

Trotz eines weiteren größeren Aufbegehrens amerikanischer Studenten 1970, in dem die amerikanische Invasion Kambodschas mit einem Generalstreik beantwortet wurde, war die Bewegung eher die imaginäre Projektion eines Aufstandes. In Frankreich mußten sich die Arbeiter schließlich auf Befehl ihrer Parteien und Gewerkschaften zurückziehen. Die Mittelschicht befand sich in einem echten Konflikt zwischen den materiellen Vorteilen, die ihnen die etablierte Ordnung bot, und den durch die Neue Linke oder sogar durch die eigenen Kinder artikulierten Appelle.

Bücher von Theodore Roszak und Charles Reich, die der älteren Generation die ethische Botschaft der Neuen Linken und insbesondere die Gegenkultur zu erklären suchten, wurden erstaunlich wohlwollend aufgenommen. Vielleicht hätten sich Millionen relativ konventioneller Menschen zu einer aktiv sympathisierenden Haltung gegenüber Antikriegs-Demonstranten, ja sogar gegenüber der Neuen Linken selbst durchgerungen, wäre deren Ideologie in der populistischen und libertären Form vermittelt worden, die zu Amerikas eigenem revolutionären Erbe paßte.


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Die späten 60er Jahre waren nämlich eine hochbedeutsame Periode der amerikanischen Geschichte. Hätte es eine langsamere, geduldigere und abgestuftere Entwicklung der Neuen Linken und der Gegenkultur gegeben, dann hätte das öffentliche Bewußtsein in weiten Teilen geändert werden können. Der "Amerikanische Traum" hat — vermutlich ebenso wie die nationalen "Träume" anderer Länder — nicht nur materielle, sondern tiefsitzende ideologische Wurzeln. Ideale von Freiheit, Gemeinschaft und gegenseitiger Hilfe, selbst von dezentralisierten Konföderationen, sind durch die radikalen puritanischen Siedler mit ihrer kongregationalen Form des Protestantismus, der jede klerikale Hierarchie ausschloß nach Amerika gebracht worden.

Diese Radikalen predigten das Evangelium eines primitiven christlichen Kommunalismus anstelle des "Ellbogen-Individualismus" (im Grunde ein westliches Cowboy-Ideal eines rein persönlichen "Anarchismus", in dem das einsame "Lagerfeuer" des bewaffneten Einzelkämpfers den Familienherd der dörflichen Hütte ersetzt). Die Puritaner legten großen Wert auf öffentliche Volks- oder Gemeinde­versammlungen als Instrument der Selbstregierung, anstelle zentralistischer Regierungen. Wenn auch häufig mißachtet, so hatte doch diese Botschaft noch immer einen enormen Einfluß auf das amerikanische Denken, einen Einfluß, der die Ideen der Neuen Linken und der Gegenkultur leicht mit einer ethischen Demokratie hätte verknüpfen können, die von vielen Amerikanern akzeptiert worden wäre.

Es ist eine erschreckende Geschichtstatsache, daß die Neue Linke, weit davon entfernt, dieser historischen Entwicklung zu folgen, in den späten 60ern eigentlich genau das Gegenteil machte. Sie entfernte sich von ihren anarchischen und utopistischen Ursprüngen. Schlimmer noch, sie übernahm völlig unkritisch Dritte-Welt-Ideologien, inspiriert von vietnamesischen, chinesischen, nordkoreanischen und kubanischen Gesellschaftsmodellen. Es wird einem schlecht, wenn man sieht, wieviel davon aus den sektiererischen marxistischen Trümmerstücken stammt, die noch aus den 30er Jahren in den USA und in Europa umher­geistern. Bei dem Versuch, den SDS sowohl in Amerika als auch in Deutschland zu "übernehmen", richteten autoritäre Maoisten ausgerechnet die demokratischen Instrumente der Neuen Linken gegen diese selbst.


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Man benutzte vor allem die Schuldgefühle wegen ihrer Herkunft aus der Mittelklasse dazu, diesen Bewegungen eine unterwürfige Haltung gegenüber einem selbsternannten Proletariat oder farbigen Gruppen einzureden, ja einen wilden, ultrarevolutionären Eifer zu entwickeln, der die Anhänger dieser Strömungen zunächst marginalisierte und später völlig demoralisierte. Daß es den vielen Anarchisten im amerikanischen und deutschen SDS, ebenso wie in ähnlichen Bewegungen anderswo, nicht gelang eine gutorganisierte Bewegung innerhalb der größeren aufzubauen (insbesondere mit der "ultra-revolutionären" Prahlerei und radikalen Angeberei in den USA), kam den besser organisierten maoistischen Strömungen zugute, mit katastrophalen Auswirkungen für die Neue Linke insgesamt.

Es war aber nicht nur der Mangel an Ideologie und Organisationsform, der der Neuen Linken und einer reichlich unsteten Gegenkultur das Ende bescherte. Die expandierende, überhitzte Wirtschaft der 60er Jahre wurde unaufhaltsam durch die stagnierendere, instabilere Wirtschaft der 70er Jahre ersetzt. Die beschleunigte Rate des wirtschaftlichen Wachstums wurde bewußt eingefroren und zum Teil in die umgekehrte Richtung gelenkt. Nixon in Amerika und Thatcher in England, ebenso wie die entsprechenden Figuren in anderen Ländern, schufen ein neues politisches und ökonomisches Klima, das die überschäumende Nachmangel-Mentalität der 60er durch eine der ökonomischen Unsicherheit ablöste.

Die materielle Unsicherheit der 70er und die politische Reaktion, die nach der Wahl konservativer Regierungen in Amerika und Europa einsetzte, begann einen persönlichen Rückzug aus der öffentlichen Sphäre zu begünstigen. Privatismus, Karrierismus und Selbstinteresse, gewannen zunehmend die Oberhand über das Interesse für das öffentliche Leben, die Ethik der Fürsorge und über den Drang nach Veränderung. Die Neue Linke schwand noch schneller dahin, als sie entstanden war, und die Gegenkultur wurde zu einer Industrie der Boutiquen und pornografischer Formen sexueller Freizügigkeit. Die bewußtseinserweiternde "Drogenkultur" der 60er machte der einlullenden "Drogenkultur" der 70er Jahre Platz — welche nationale Krisen in der euro-amerikanischen Gesellschaft mit der Entdeckung neuer Pharmazeutika und ihrer exotischen Kombinationen von noch intensiveren "Highs" und "Lows" nach sich zog.

Eine verständnisvolle Chronik der Neuen Linken und der Gegenkultur, der Vorgänge, die zu ihrem Ursprung, Fortgang und Zerfall führten, müßte noch geschrieben werden. Viel von dem Material, das uns zur Verfügung steht, ist mehr von Sentimentalität als von ernsthafter Analyse gezeichnet.

Der Radikalismus jener Ära wurde immerhin intuitiv wahrgenommen. Die Neue Linke war niemals so geschult wie die alte, der sie mehr durch eine Betonung des Aktivismus als der theoretischen Erkenntnis zu folgen suchte.


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Trotz einer Reihe hervorragender und elektrisierenden Propagandaschriften, produzierte sie keine durch­sichtigen intellektuellen Darstellungen der Ereignisse, die sie auslöste oder der realen Möglichkeiten, denen sie sich gegenüber sah. Anders als die alte Linke, die bei allen Schwächen doch an einer jahrhundertealten Tradition teilhatte, ja die eine Epoche darstellte, reich an Analysen gesammelter Erfahrungen und kritischen Einschätzungen ihrer Resultate, erscheint die Neue Linke eher als eine isolierte Insel in der Geschichte, deren bloße Existenz als Teil einer größeren historischen Ära schon der Erklärung trotzt.

Mehr der Aktion als der Reflexion zugeneigt, griff die Neue Linke zu aufgemöbelten Versionen der vulgärsten marxistischen Dogmen, um ihre aus Schuldgefühlen erwachsene Begeisterung für Dritte-Welt-Bewegungen, ihre eigene Mittel­schichts­unsicherheit und den versteckten Elitismus ihrer besonders opportunistischen, medienorientierten Führer zu legitimieren, die der Beweis dafür sind, daß Macht letztlich doch korrumpiert. Die Entschlosseneren der radikalen 60er Jugend gingen für kurze Zeit in die Fabriken, um eine überwiegend desinteressierte Arbeiterklasse zu "gewinnen", während andere sich dem "Terrorismus" zuwandten - in manchen Fällen eine bloße Parodie davon, in anderen Fällen eine verlustreiche Tragödie, die das Leben engagierter, aber arg fehlgeleiteter junger Menschen forderte.

Fehler, die sich im Laufe des letzten Jahrhunderts von Generation zu Generation wiederholt hatten, wurden daher wieder recyled: eine Mißachtung der Theorie; die Betonung von Aktionen, die jeglicher ernsthafter Gedanken entbehren; eine Tendenz, auf abgegriffene Dogmen zurückzugreifen, wenn die Aktion im Vordergrund steht; und am Ende die sichere Niederlage und Demoralisierung. Und genau dies geschah gegen Ende der 60er Jahre.

Aber im Zuge einer Entwicklung geht nicht alles verloren. Der proletarische Sozialismus hatte den Schwerpunkt seines revolutionären Projekts auf die ökonomischen Aspekte der sozialen Veränderung gelegt - die besonders im Kapitalismus bestehende Notwendigkeit, die materielle Basis für die nach vom gerichtete Vision der menschlichen Befreiung zu schaffen. Er wiederbelebte und durchleuchtete die — schon seit langem von Schriftstellern wie Aristoteles betonte — Tatsache, daß die Menschen einigermaßen frei von materieller Not sein müssen, um als Bürger in der politischen Sphäre funktionieren zu können. Eine Freiheit, der die materielle Grundlage dafür fehlte, daß Menschen als sich selbstverwaltende oder selbstregierende Individuen oder Kollektive handeln konnten, war die rein formale Freiheit von Ungleichen unter Gleichen, das Reich bloßer Gerechtigkeit.


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Der proletarische Sozialismus ging zwar zum Teil an seiner Trockenheit und Phantasielosigkeit zugrunde, er stellte aber auch ein notwendiges Korrektiv dar zu dem rein ethischen Gewicht, das frühere Radikale den politischen Institutionen beigemessen hatten, und zu den weitgehend irrealen Vorstellungen davon, wie eine Wirtschaft beschaffen sein müßte, damit alle die Gesellschaft mitgestalten können.

Die Neue Linke stellte die anarchischen und utopischen Visionen des prä-Marx'schen revolutionären Projekts wieder her und erweiterte sie gemäß den neuen materiellen Möglichkeiten, die die Technologie nach dem Zweiten Weltkrieg bot. Die notwendige solide ökonomische Untermauerung einer freien Gesellschaft wurde von der Neuen Linken und der Gegenkultur um bestimmte Fourier'sche Qualitäten ergänzt. Sie vermittelten das Bild einer nicht nur gut ernährten, sondern auch sinnenfreudigen Gesellschaft; einer Gesellschaft, die nicht nur von ökonomischer Ausbeutung, sondern von schwerer Arbeit überhaupt befreit war; einer nicht nur formalen, sondern substantiellen Demokratie; nicht nur befriedigter Bedürfnisse, sondern uneingeschränkten Genießens.

Antihierarchische, dezentrale, kommunalistische und sinnliche Werte reichten trotz der ideologischen Verzerrung in der sich zersetzenden und in eine imaginäre Welt der Aufstände, der "Tage der Wut" und des Terrorismus abgleitenden Neuen Linken bis in die 70er Jahre hinein.

Obwohl es bis heute zutrifft, daß viele der Aktivisten der Neuen Linken ihren Weg in eben jenes Universitätssystem fanden, das sie in den 60er Jahren so verachtet hatten, und ziemlich konventionell lebten, so erweiterte die Bewegung doch auch die Definition der Freiheit und die Spannweite des revolutionären Projekts über die traditionellen ökonomischen Grenzen hinaus in weite kulturelle und politische Bereiche. Keine auch nur einigermaßen bedeutende radikale Bewegung wird in Zukunft das von der Neuen Linken und den kommunalistischen Experimenten der Gegenkultur hervorgebrachte ethische, ästhetische und anti-autoritäre Vermächtnis ignorieren können, wobei diese beiden Strömungen keinesfalls identisch waren. Zwei Fragen blieben jetzt aber: Welche spezifischen Formen sollte eine zukünftige Bewegung annehmen, wenn sie hoffen wollte, die Menschen im allgemeinen zu erreichen? Und welche neuen Möglichkeiten und zusätzlichen Ideen lagen vor ihr, um die Ideale der Freiheit noch zu erweitern?

 


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Feminismus und Ökologie

 

Die Antworten auf diese Fragen entwickelten sich schon zu einer Zeit, als die Neue Linke und die Gegen­kultur noch sehr lebendig waren und zwei wesentlich neue Bereiche thematisierten: Ökologie und Feminismus

Auf Bewahrung bedachte Bewegungen, selbst Umweltbewegungen, die es sich zur Aufgabe machten, spezifische Verseuchungen zu bekämpfen, haben eine lange Tradition in den englischsprachigen Ländern, besonders in Amerika, sowie in Mitteleuropa, wo ein Naturmystizismus bis ins späte Mittelalter zurückverfolgt werden kann. Der Aufstieg des Kapitalismus und die erschreckenden Schäden, die er der Natur zufügte, gaben diesen Bewegungen ein neues Element der Dringlichkeit.

Die Erkenntnis, daß bestimmte Krankheiten wie etwa die Tuberkulose — die berühmte "Weiße Pest" des 19. Jahrhunderts — ihre wesentliche Ursache in schlechten Lebens- und Arbeitsverhältnissen haben, wurde zu einem wichtigen Anliegen vieler sozial bewußter Ärzte wie Rudolf Virchow, ein deutscher Liberaler, der wegen des Mangels an ausreichenden sanitären Einrichtungen bei der armen Bevölkerung Berlins sehr besorgt war. Ähnliche Bewegungen entstanden in England und verbreiteten sich über große Teile der westlichen Welt. Die Beziehung zwischen Umwelt und Gesundheit wurde also über 100 Jahre lang als beherrschendes Problem angesehen.

Zum größten Teil wurde diese Beziehung unter sehr praktischen Aspekten gesehen. Die Notwendigkeit von Sauberkeit, richtiger Ernährung, belüfteten Wohnungen und gesunden Arbeitsplätzen wurde nur in einem sehr engen Rahmen behandelt, der keine Bedrohung der sozialen Ordnung darstellte. Umweltschutz war eine Reform-Bewegung. Sie warf keine Probleme auf, die über eine humanitäre Behandlung der Armen und der Arbeiterklasse hinausreichten. Im Laufe der Zeit und mit stückweisen Reformen konnten seine Anhänger erwarten, daß es keine ernsthaften Konflikte zwischen einer streng umweltbewußten Orientierung und dem kapitalistischen System geben würde.

Eine andere Umweltbewegung, die sich im wesentlichen in den Vereinigten Staaten entwickelte (obwohl in England und Deutschland ebenfalls sehr verbreitet), entstand aus einer mystischen Leidenschaft für die Wildnis. Die verschiedenen Stränge, die sich in dieser Bewegung miteinander verflochten, sind zu komplex, als daß sie hier dargestellt werden können. Amerikanische Umweltschützer wie John Muir fanden in der Wildnis eine Form spiritueller Wiederbelebung der Gemeinschaft mit nicht-menschlichem Leben, die offenbar tiefsitzende menschliche Sehnsüchte und Instinkte ansprach.


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Diese Ansicht geht sogar noch weiter zurück bis zu Rousseaus idyllischer Begeisterung für ein abgeschiedenes Leben inmitten einer natürlichen Umgebung. Als Lebensgefühl war sie stets durch ein beträchtliches Maß an Zweideutigkeit gekennzeichnet. Die Wildnis, oder was von ihr heute noch übriggeblieben ist, kann einem ein Gefühl der Freiheit vermitteln, einen geschärften Sinn für den Reichtum der Natur, eine Liebe für nicht-menschliche Formen des Lebens und eine reichere ästhetische Wertschätzung der natürlichen Ordnung.

Sie hat aber auch eine weniger unschuldige Seite. Sie kann zu einer Ablehnung der menschlichen Natur führen, zu einer introvertierten Verweigerung des sozialen Umgangs, zu einem willkürlichen Gegensatz zwischen Wildnis und Zivilisation. Rousseau neigte zu einem solchen Standpunkt, aus einer Vielzahl von Gründen, die uns hier nicht zu beschäftigen haben. Daß Voltaire Rousseau einen "Menschenfeind" nannte, ist keine völlige Übertreibung. Die Wildnisenthusiasten, die sich in die entfernten Berge zurückziehen und menschliche Kontakte meiden, haben uns im Laufe der Zeit mit zahllosen Misanthropen versorgt. Für Stammesvölker dienen solche individuellen Rückzüge, das "Suchen nach Visionen", dazu, um reicher an Erkenntnissen zu den Gemeinschaften zurückzukehren; für den Misanthropen sind sie häufig eine Revolte gegen die eigene Art, ja eine Ablehnung der natürlichen Evolution, wie sie sich in den menschlichen Wesen verkörpert.

Dieses Gegeneinanderstellen einer scheinbar wilden "Ersten Natur" und einer gesellschaftlichen "Zweiten Natur" beweist nur das blinde und qualvolle Unvermögen, zwischen dem zu unterscheiden, was in einer kapitalistischen Gesellschaft irrational und anti-ökologisch ist, und dem, was in einer freien Gesellschaft rational und ökologisch sein könnte. Man verwirft einfach die Gesellschaft an sich. Man verschmilzt die Menschheit, ungeachtet ihrer internen Konflikte zwischen Unterdrückern und Unterdrückten zu einer einzigen "Art", die wie ein Fluch auf einer angeblich unverdorbenen, "unschuldigen" und "ethischen" Naturwelt lastet.

Solche Ansichten führen leicht zu einem krassen Biologismus, der keine Möglichkeit bietet, Menschheit und Gesellschaft in der Natur oder genauer, in der natürlichen Evolution, einen Platz einzuräumen. Der Tatsache, daß auch der Mensch ein Produkt der natürlichen Evolution ist und daß die Gesellschaft aus diesem evolutionären Prozeß erwachsen ist, indem sie in ihre eigene Evolution wiederum die natürliche Welt — in das soziale Leben transormiert — einfließen ließ, wird in einer sehr statischen Vorstellung von der Natur nur ein zweitrangiger Platz zugewiesen.


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 Diese simplistische Vorstellung betrachtet die Natur als ein bloßes Stück Landschaft, wie wir es etwa von Ansichtskarten kennen. In diesen Vorstellungen finden wir nur sehr wenig Naturalismus; sie sind eher ästhetisch als ökologisch. Wildnis-Enthusiasten sind für gewöhnlich auf Besuch oder Urlaub in einer Welt, die, so beflügelnd sie auch eine Zeitlang wirken mag, ihrer eigentlichen sozialen Umgebung grundsätzlich fremd ist. Solche Wildnis-Enthusiasten tragen ihr soziales Umfeld bewußt oder unbewußt mit sich herum, ebenso wie der Rucksack auf ihren Schultern oft das Erzeugnis einer hochindustrialisierten Gesellschaft ist.

Die Notwendigkeit, die Grenzen der traditionellen Strömungen der Umweltbewegung zu überwinden, wurde in den frühen 60er Jahren erkannt, als 1964 Anarchisten den Versuch unternahmen, libertäre Ideen nach hauptsächlich ökologischen Mustern zu überarbeiten. Ohne die Notwendigkeit leugnen zu wollen, die Zerstörung der Umwelt durch Verschmutzung, sinnlose Waldvernichtung, den Bau von Atomkraftwerken und dergleichen aufzuhalten, wurde der reformistische Ansatz mit seiner Verengung auf einzelne Themen zugunsten eines revolutionären Ansatzes aufgegeben, der die völlige Rekonstruktion der Gesellschaft nach einem ökologischen Modell anstrebte.

Das Wichtigste an diesem neuartigen Ansatz, dessen Wurzeln in den Schriften Kropotkins zu finden sind, ist der darin herausgearbeitete Zusammenhang zwischen Hierarchie und Naturbeherrschung. Oder einfacher gesagt: Schon der Gedanke einer Beherrschung der Natur, so wurde in der anarchistischen Interpretation argumentiert, leitet sich von der Beherrschung des Menschen durch den Menschen ab. Wie ich bereits weiter oben bemerkte, kehrt diese Interpretation völlig die traditionell liberale und marxistische Ansicht um, daß die Herrschaft des Menschen über den Menschen von einem gemeinsamen historischen Projekt stamme, nämlich die Beherrschung der Natur durch den Einsatz menschlicher Arbeit zu erreichen, um einer scheinbar "rauhen", ungebändigen natürlichen Welt ihre "Geheimnisse" zu entreißen und allen zugänglich zu machen, um so eine für alle ergiebige Gesellschaft zu schaffen.

Seit den Tagen des Aristoteles hat in der Tat keine Ideologie mehr zu einer Rechtfertigung von Hierarchie und Herrschaft mehr beigetragen als der Mythos, die Beherrschung der Natur setze die Herrschaft des "Menschen über den Menschen" voraus. Liberalismus, Marxismus und frühere Ideologien hatten die Herrschaft des Menschen über die Natur unauflöslich mit der menschlichen Freiheit verknüpft. Ironischerweise wurde die Herrschaft des Menschen über den Menschen, die Entstehung von Hierarchien, Klassen und Staaten als "Voraussetzungen" ihrer eigenen Eliminierung in der Zukunft gesehen.


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Die von den Anarchisten entwickelten Ansichten wurden absichtlich Soziale Ökologie genannt, um zu betonen, daß die entscheidenden ökologischen Probleme ihre Wurzeln in sozialen Problemen haben — in Problemen, die auf die allerersten Anfänge der patrizentristischen Kultur selbst zurückgehen. Die Entstehung des Kapitalismus mit seinem Lebensgesetz aus Konkurrenz, Kapitalakkumulation und uneingeschränktem Wachstum, brachte diese Probleme — ökologische und soziale — zu einem akuten, ja zu einem in vorausgegangenen Epochen menschlicher Entwicklung noch nicht dagewesenen Höhepunkt Indem die kapitalistische Gesellschaft die organische Welt mehr und mehr in leblose, unorganische Warenberge verwandelte, vereinfachte sie die Biosphäre und wirkte so geradewegs dem Strom der natürlichen Evolution mit ihrem fortwährenden Drang nach Unterschiedlichkeit und Vielfalt entgegen.

Um diesen Trend zu brechen, müßte der Kapitalismus durch eine ökologische Gesellschaft auf der Grundlage nichthierarchischer Beziehungen, dezentralisierter Gemeinschaften, Öko-Techniken wie der Solarenergie, organischer Landwirtschaft und einer Industrie in einem menschlichen Maßstab ersetzt werden — kurz, durch direkte demokratische Siedlungsformen, die ökonomisch und strukturell an die jeweiligen Ökosysteme angepaßt sind. Solche Gedanken wurden bereits in Pionierarbeiten wie "Ecology and Revolutionary Thought" (1964) und "Toward a Liberatory Technology" (1965) erforscht, Jahre bevor der "Earth Day" ausgerufen wurde und das obskure Wort "Ökologie" in die Umgangssprache Eingang fand.

Es muß betont werden, daß diese Schriften zum ersten Male ökologische Probleme an der Hierarchie und nicht einfach an der ökonomischen Klasse festmachten; daß ernsthaft versucht wurde, den Blick über jeweils isolierte Umweltprobleme hinaus auf gewaltige und tiefgreifende ökologische Verwerfungen zu richten; daß die Beziehung zwischen Natur und Gesellschaft, die früher als unvermeidlich antagonistisch gesehen wurde, als Teil eines langen Kontinuums erforscht wurde, in dem sich die Gesellschaft durch einen komplexen und kumulativen evolutionären Prozeß von der Natur getrennt hatte.


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Es wäre wohl von einer zunehmend maoistischen Neuen Linken und einer zunehmend kommerzialisierten Gegenkultur, beide mit einer starken Vorliebe für Aktionen und einem tiefen Mißtrauen gegenüber theoretischen Ideen zu viel verlangt gewesen, die Soziale Ökologie in ihrer Gesamtheit anzunehmen. Wörter wie "Hierarchie", ein Begriff, der in der Rhetorik der Neuen Linken nur wenig Anwendung fand, verbreiteten sich in den radikalen Diskursen der späten 60er Jahre und gewannen eine besondere Relevanz für eine neue Bewegung — nämlich den Feminismus. Mit der Vorstellung, daß die Frau als solche Opfer einer männer-orientierten "Zivilisation" ist, unabhängig von ihrer "Klassenlage" und ihrem ökonomischen Status, wurde der Begriff "Hierarchie" für die frühen feministischen Analysen besonders relevant. Die Soziale Ökologie wurde zunehmend durch frühe radikale feministische Autorinnen mehr und mehr in eine Kritik hierarchischer Formen anstelle einfacher Klassenformen verwandelt.

 

In einem erweiterten Sinn stellen die Soziale Ökologie und der frühe Feminismus einen direkten Angriff auf die ökonomistische Betonung dar, die der Marxismus der sozialen Analyse und Rekonstruktion gegeben hatte. Sie machten die antiautoritäre Ausrichtung der Neuen Linken expliziter und eindeutiger definierbar, indem sie die hierarchische Dominanz statt einfacher antiautoritärer Unterdrückung hervorhoben. Der niedrige Status der Frau als Geschlechts- und Statusgruppe zeigte sich deutlich erkennbar gegen den Hintergrund ihrer scheinbaren "Gleichheit" in einer Welt, deren Rechtsverständnis vom Prinzip der Ungleichheit unter Gleichen geleitet ist. Während die Neue Linke in marxistische Sekten zerfiel und die Gegenkultur sich in eine neue Form von Boutiquenbranche verwandelte, haben die Soziale Ökologie und der Feminismus das Ideal der Freiheit über alle Schranken, die in der jüngsten Geschichte errichtet wurden, hinaus erweitert.

Hierarchie als solche — sei es in der Art zu denken, in grundlegenden menschlichen Beziehungen, sozialen Verhältnissen oder im Umgang der Gesellschaft mit der Natur — konnte nun aus der traditionellen Verstrickung der Klassenanalysen herausgelöst werden, die sie unter dem Teppich ökonomischer Interpretationen der Gesellschaft verborgen hatten. Geschichte konnte nun im Hinblick auf allgemeine Interessen wie Freiheit, Solidarität und Einfühlungsvermögen in die eigene Art erforscht werden, ja auf die Notwendigkeit hin, aktiver Teil des natürlichen Gleichgewichts zu sein.

Diese Interessen waren nicht länger spezifisch für ein Geschlecht, eine Klasse, Rasse oder Nationalität. Es waren universelle Interessen, die von der Menschheit als Ganzer geteilt wurden. Natürlich konnte man ökonomische Probleme und Klassenkonflikte nicht ignorieren, aber sich auf sie zu beschränken hieße, einen riesigen Berg pervertierter Sensibilitäten und Beziehungen unberücksichtigt zu lassen, mit dem man sich auseinandersetzen und den man in einem erweiterten gesellschaftlichen Rahmen abtragen mußte.


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In Begriffen, die weiter ausholten als diejenigen, die in den 60er Jahren oder früher formuliert worden waren, konnte das revolutionäre Projekt jetzt eindeutig definiert werden als die Beseitigung der Hierarchie, die Reharmonisierung der Menschheit mit der Natur vermittels der Reharmonisierung der Menschen untereinander und die Realisierung einer auf ökologisch verträglichen Technologien und direkten demokratischen Gemeinschaften errichteten ökologischen Gesellschaft. Der Feminismus ließ die Bedeutung der Hierarchie in einer sehr existentiellen Form hervortreten. Häufig auf die Literatur und die Sprache der sozialen Ökologie zurückgreifend, machte der Feminismus über den Status der Frauen in allen Klassen, Berufen, sozialen Institutionen und familiären Beziehungen Hierarchie konkret, sichtbar und schmerzhaft real. 

Indem er die menschlichen Erniedrigungen aufdeckte, die alle Menschen, insbesondere Frauen, erlitten, entmystifizierte der Feminismus subtile Formen von Herrschaft im Kinderzimmer, Schlafzimmer, in der Küche, auf dem Spielplatz und in der Schule - und nicht nur am Arbeitsplatz oder im öffentlichen Leben im allgemeinen. Dergestalt verschwisterten sich Soziale Ökologie und Feminismus und ergänzten sich gegenseitig in einem gemeinsamen Prozeß der Entmystifizierung. Sie zerrten einen teuflischen Incubus ans Licht, der jeden Fortschritt der "Zivilisation" mit dem Gift der Hierarchie und Dominanz pervertierte. Mitte der 60er Jahre war die Liste der drängenden Fragen länger geworden als alles, was die Neue Linke und die Gegenkultur hervorgebracht hatten — Fragen, bei deren Behandlung Sorgfalt, Bildung und Organisationstalent benötigt wurden, um alle Menschen und nicht nur bestimmte Schichten zu erreichen.

Dieses Projekt hätte durch Themen verstärkt werden können, die sich quer durch alle traditionellen Klassen und Statusgruppen hindurchziehen: die Störung riesiger natürlicher Kreisläufe, die zunehmende Verschmutzung des Planeten, massive Urbanisierung und die sich ausbreitenden umweltbedingten Erkrankungen. Eine wachsende Öffentlichkeit trat hervor, die sich von Umwelt­problemen betroffen fühlte. Fragen des Wachstums, des Profits und der Zukunft des Planeten nahmen einen allum­fassenden, sozial-planetarischen Charakter an; es waren nicht länger Einzelprobleme oder Klassenfragen, sondern menschliche und ökologische Fragen.

Daß verschiedene Eliten und privilegierte Klassen noch immer ihre eigenen bourgeoisen Interessen voranstellten, hätte dazu dienen können, aufzuzeigen, wie sehr der Kapitalismus selbst zu einem Sonderinteresse wurde, dessen Existenz nicht länger gerechtfertigt werden konnte. Es könnte eindeutig nachgewiesen werden, daß der Kapitalismus weder eine universelle historische Kraft noch gar ein universelles menschliches Interesse vertritt.

Das Ende der 60er und der Beginn der 70er Jahre war eine Zeit außergewöhnlicher Alternativen. Das revolutionäre Projekt war endlich zur Reife gelangt. Ideale der Freiheit, deren Spuren der Marxismus verwischt hatte, wurden erneut aufgegriffen und umfaßten nun, auf anarchistischer und utopischer Grundlage, universelle menschliche Interessen — die Interessen der Gesellschaft als Ganzer, nicht die des Nationalstaats, der Bourgeoisie oder des Proletariats als eigenständiger gesellschaftlicher Erscheinungen.

Konnte aber genug von der Neuen Linken und der Gegenkultur aus dem Zerfallsprozeß, der auf das Jahr 1968 folgte, gerettet werden, um in das durch die Soziale Ökologie und den Feminismus erweiterte revolutionäre Projekt einzufließen?

Konnten radikale Gefühle und Energien von einem Ausmaße und einer intellektuellen Schärfe mobilisiert werden, wie es dem weitgespannten revolutionären Projekt dieser beiden Bewegungen angemessen wäre?

Vage Forderungen nach partizipatorischer Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Abrüstung und dergleichen mußten in einen Zusammenhang gebracht und zu einem Programm verknüpft werden. Es bedurfte eines Orientierungssinnes, der nur durch tiefere theoretische Einsichten, ein relevantes Programm und klarere Organisationsformen zu gewinnen war, als dies die Neue Linke der 60er Jahre leisten konnte.

Rudi Dutschke's Aufruf an den SDS zum "langen Marsch durch die Institutionen" bedeutete letzten Endes kaum mehr als sich den existierenden Institutionen anzupassen, ohne sich die Mühe zu machen, neue zu entwickeln, und führte zum Verlust Tausender an eben diese Institutionen. Sie gingen hinein — und kamen niemals wieder heraus.

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Anmerkungen zu Kapitel 5

16)  Ronald Fraser, Blood of Spain (New York: Pantheon Books, 1979) S. 66
17)  Für eine vollständigere Diskussion einer gemischten vorkapitalistischen Ökonomie verweise ich auf mein Buch 
      "The Rise of Urbanization and the Decline of Citizenship", San Francisco, 1987, Nachauflage bei Black Rose Books, Montreal 1992
18)  K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte
19)  K. Marx, Grundrisse
20)  K. Marx, Grundrisse

 

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