Kapitel 6    Start 

    Libertärer Kommunalismus  

 

 

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Nach dem Vorausgegangenen sollte klar sein, daß die Volksversammlung ihre wahre Heimat in der Stadt hat — und zwar in Städten besonderer Art. Der janusköpfige Charakter der westlichen Zivilisation zwingt uns, die abstoßenden Züge der Stadt — die Legitimation, die sie dem Privateigentum, den Klassen, dem Patrizentrismus und dem Staat verlieh — von den großartigen zivilisatorischen Errungenschaften zu trennen, durch die sie einer universellen humanitas neue Bereiche erschloß.

Heutzutage, da antistädtische Ressentiments die Stadt in einem häßlichen sozialen Licht erscheinen lassen, sollte man die wesentlichen Fortschritte hervorheben, die die Stadt in der Bereitstellung eines gemeinsamen Lebensraumes für Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, Berufe und Status-Gruppen erzielt hat. "Zivilisation", ein aus dem lateinischen Wort für "Stadt" abgeleiteter Begriff, war nicht nur eine "Schlachtbank", um Hegels dramatischen Ausdruck zu gebrauchen. Indem sie die Perspektiven einer gemeinsamen Menschheit ebenso im Auge behielt wie die Barbarei, die sich mit Fortschritt und kulturellem Aufstieg rechtfertigte, war sie im wahrsten Sinne des Wortes janusköpfig (wie Hegel nur zu gut erkannte).

Zwar hatten partizipatorische Demokratien und Volksversammlungen ihren Ursprung in Dorf­gemeinschaften. Die Menschen empfanden sie aber bis zum Aufkommen der Städte nicht bewußt als Gemeinschaftsorgane, d.h. als Selbstzweck. Es gibt Hinweise dafür, daß sie schon in sumerischer Zeit in den mesopotanischen Städten existierten. 

Aber erst die griechische Polis und später die mittelalterlichen Städte vermittelten diesen Demokratien und Versammlungen ein Bewußtsein davon, daß sie eine Lebensform waren und nicht nur eine Technik, die Gesellschaft zu managen und daß sie nach ethischen und rationalen Maßstäben konstruiert sein sollten, die bestimmten Idealen von Gerechtigkeit und einem guten Leben entsprachen, statt nur durch Überlieferung geheiligte Institutionen zu sein. Die Städte bedeuteten im sozialen Leben einen entscheidenden Schritt nach vorn; immerhin verdanken wir ihnen Werke wie Platos Republik und Aristoteles' Politik, die für Jahrhunderte im Denken des Westens einen festen Platz hatten.

Die selbstreflektierende Natur der Stadt verwandelte sie in eine einmalige und kreative menschliche Institution. Für Aristoteles mußte die Stadt — genauer gesagt, die Polis, die eine sich ihrer selbst bewußte ethische Einheit war — bestimmten strukturellen Normen genügen, wollte sie ihre ethische Funktion erfüllen.


Sie mußte so groß sein, daß ihre Bürger ihren materiellen Bedarf überwiegend am Ort decken konnten, aber wiederum nicht so groß, daß man sich nicht mehr gegenseitig kannte und politische Entscheidungen im offenen und direkten Diskurs unmöglich würden. Struktur und Ethik, Funktion und Ideale der Freiheit waren untrennbar miteinander verbunden. Aristoteles mag viele Fehler gehabt haben, aber er suchte — wie so viele seiner athenischen Mitbürger — die Form in den Dienst des Inhalts zu stellen. Er lehnte jede Trennung dieser beiden Ziele ab, und wenn es nur um Details der Stadtplanung ging.

Dieser Ansatz wurde zu einem Eckstein der westlichen demokratischen Tradition. Er wird im Bewußtsein historischer Figuren wie den Gracchen im antiken und Cola di Rienzi im mittelalterlichen Rom oder wie Etienne Marcel im Paris des 14. Jahrhunderts lebendig gewesen sein, Männer, die die städtischen Massen in dramatische Revolten führten, um Städtebünde zu schmieden und Bürgerdemokratien zu schaffen. Er leitete die spanischen Städte, die im 16. Jahrhundert gegen die Zentralmacht revoltierten, ebenso wie die Französische Revolution und die Pariser Commune von 1871. Wir finden ihn bis in unsere Tage in den Kleinstädten der amerikanischen Neu-England-Staaten, wo viele Bürgerversammlungen immer noch streng über die Beachtung ihrer lokalen Rechte wachen.

Die Stadt eröffnete also ein neues Feld für soziale Organisation, das weder den Gebrauch staatlicher Institutionen voraussetzt noch die Privatsphäre, also Heim, Arbeitsplatz, Schule, religiöse Institutionen und Freundeskreis einbezieht. Wie die griechische Herkunft des Wortes schon andeutet, war es die Stadt, welche die Politik erschuf — jene ganz spezifische Welt, in der die Bürger sich versammeln, um gemeinschaftlich von Angesicht zu Angesicht ihre Probleme rational zu erörtern und ihre Angelegenheiten zu regeln.

Ob nun eine Gemeinde von allen Bürgern in einer einzigen Versammlung regiert werden kann oder ob getrennte Versammlungen nach Art eines Bundes zusammenarbeiten müssen, hängt sehr stark von ihrer Größe ab. Daher rührt wohl auch der Einwand des Aristoteles', daß eine Polis nicht größer sein sollte, als daß ein Hilferuf von der Stadtmauer noch gehört werden könne. Obwohl Versammlungen auch als Netzwerk auf der Ebene von Häuserblock, Nachbarschaft oder Stadt fungieren können, verwirklichen sie dann traditionelle Ideale bürgerlicher Demokratie, wenn die Städte, in denen sie existieren, dezentralisiert sind. 

Die anarchische Vision von dezentralisierten Gemeinschaften, die in freien Konföderationen und Zusammenhängen zur Koordination der regionalen Gemeinschaften vereint sind, stellt die traditionellen Ideale einer partizipatorischen Demokratie in einen modernen radikalen Kontext.


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Unter den heute vorherrschenden sozialen Bedingungen, die einen dunklen Schatten über die Zukunft unseres Zeitalters werfen, verlieren wir den Blick für die eigentliche Idee der Stadt, der Bürgerschaft und der Politik als einer Domäne städtischer Selbstregierung. Städte werden mit riesigen verstädterten Landstrichen verwechselt, die man besser als scheinbar unendlichen Prozeß der "Urbanisation" bezeichnen sollte. Ein Meer von Beton und Hochhäusern verschlingt die überschaubaren, im menschlichen Maße ausgelegten Einheiten, die wir einmal als Stadt bezeichneten. Auch das flache Land wird nicht verschont.

Dementsprechend wird der Bürger auf den Status eines anonymen "Wählers" parlamentarischer Vertreter reduziert Er hat vor allem die Aufgabe, Steuern zu zahlen, einer anstrengenden Arbeit zur Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Gesellschaft nachzugehen, für Nachkommen zu sorgen und sich bescheiden aus dem politischen Leben herauszuhalten — denn dieses bleibt dem Staat und seinen offiziellen Politikern vorbehalten. Unser entstellter Diskurs verwischt den lebenswichtigen Unterschied zwischen Stadt und Verstädterung, zwischen Bürgern und Wählern, zwischen Politik und Staatsapparat.

Die Stadt, als eine menschengerecht angelegte, sich selbst regierende Gemeinde, die frei und konföderativ mit anderen ebenfalls menschengerechten, sich selbst regierenden Gemeinden im Bündnis steht, löst sich in unübersehbare Stadtlandschaften auf. Der Bürger, der eigentlich die Politik aktiv vorgeben soll, wird zum passiven Steuerzahler und zum bloßen Empfänger öffentlicher Leistungen — bereitgestellt von büro­kratischen Gebilden. Bürgerpolitik verkommt zur Politik in einem Staatsapparat, zu einem Beruf für zynische, professionelle Machtakrobaten.

Die gesamte Sache wird wie ein Geschäft betrieben. Es gilt als Erfolg, wenn ein steuerlicher "Überschuß" erzielt und notwendige Dienstleistungen bereitgestellt werden, "defizitäre" Finanzen und eine ineffiziente Abwicklung zählen als Versagen. Der ethische Inhalt städtischen Lebens als einer Arena der Einübung bürger­licher Tugenden, demokratischer Ideale und gesellschaftlicher Verantwortung wird einfach ausgelöscht und durch eine unternehmerische Mentalität verdrängt, die um Einkommen, Ausgaben, Wachstum und Beschäftigung kreist

Gleichzeitig wird die Macht durch und durch bürokratisiert, zentralisiert und in immer weniger Händen konzentriert. Die Macht, die dem Volke zustehen sollte, wird durch den Staat und durch halbmonopol­istische Wirt­schaftsunternehmen usurpiert.


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Weit davon entfernt, einen partizipatorischen Charakter zu entwickeln, wird die Demokratie zu einer rein formalen Angelegenheit. So war auch die Neue Linke der Ausdruck eines heftigen Verlangens nach Wiedergewinnung der Macht, das uns seit den 60er Jahren umtreibt — das Verlangen, wieder zu Bürgern zu werden und dem Verfall der Politik im Staatsapparat ein Ende zu setzen; kurz, öffentliches Leben überhaupt wieder herzustellen.

Diese Fragen verbleiben an der Spitze unserer gesellschaftlichen Tagesordnung. 

Das Aufkommen von Bürger­initiativen in Deutschland, von Gemeinde-Bewegungen in den Vereinigten Staaten, die Ansätze zur Wiederbelebung bürgerlicher Ideale in verschiedenen europäischen Ländern, einschließlich der Wieder­ent­deckung von Begriffen wie decentralization in Frankreich, auch wenn es mit der Umsetzung noch hapern mag: all dies belegt, wie das Volk versucht, seine Macht über das Leben der Gesellschaft zurückzuerobern. An vielen Orten hat der Staat durch seine gravierenden Kürzungen der Sozialausgaben ein Vakuum geschaffen, das die Städte füllen müssen, wenn sie auch nur weiter funktionieren wollen. Aufwendungen für öffentlichen Nahverkehr, Wohnungsbau und Sozialhilfe müssen heute weitaus mehr als früher auf lokaler Ebene gedeckt werden. Unter dem Zwang für sich selbst zu sorgen, erlernen die Städter die Kunst des Teamwork und der Kooperation.

Eine zugleich ideologische und praktische Kluft hat sich zwischen dem immer anonymer, bürokratischer und sich abgehobener werdenden Nationalstaat und der Wohngemeinde aufgetan, welche die einzige Domäne außerhalb des persönlichen Lebens ist, mit der das Individuum sich ganz unmittelbar auseinandersetzen muß. Wir wenden uns nicht an den Nationalstaat, um Schulen für unsere Kinder, Arbeit, Kultur und angemessenen Wohnraum zu finden. Ob wir es wollen oder nicht, die Stadt ist immer noch die unmittelbarste Umgebung, die wir jenseits der Familiensphäre und Freunde finden und mit der wir zur Befriedigung unserer Bedürfnisse als soziale Wesen zurechtkommen müssen.

Potentiell könnte das Gefühl der Machtlosigkeit, das zum allgemeinen Unbehagen geworden ist, auch in unserer Zeit zum Ausgangspunkt einer dualen Machtverteilung in den großen Nationalstaaten der westlichen Welt werden. Bewußte Bewegungen, die nach Wegen suchen, um von einem zentralisierten, staatlichen "hier" zu einem bürgerlichen, dezentralisierten und konföderalen "dort" zu gelangen — Bewegungen, die die Forderung nach kommunaler Konföderation als Alternative des Volkes zu der heutigen Machtzentralisierung erheben können — sind bisher noch nicht entstanden.


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Wenn wir nicht versuchen wollen — vergeblich, wie ich meine — den Mythos von der Erhebung des Proletariats wiederzubeleben, was nichts weiter wäre als eine Konfrontation dürftigster Waffen mit dem gewaltigen nuklearen Arsenal des modernen Nationalstaats, dann werden wir gezwungen sein, Gegen-Institutionen zu schaffen, die der Macht des Nationalstaats Widerstand entgegensetzen.

Kommunen, Kooperativen und Arbeitskollektive mögen eine ausgezeichnete Schule sein, wo Menschen lernen können, wie selbstverwaltete Unternehmungen organisiert werden können. Allerdings sind sie für gewöhnlich marginale, oft sehr kurzlebige Projekte und eher als Lehrbeispiel denn als funktionierende Institutionen brauchbar. Eine Kooperative mag noch so gut ankommen, den Konkurrenzkampf gegen eine riesige Supermarktkette wird sie niemals gewinnen; und eine "Tauschbank" im Sinne Proudhons mag noch so viel Unterstützung finden, sie wird kein bedeutendes Geldinstitut verdrängen können.

 

Es gibt aber etwas anderes, das wir von Proudhon lernen können, der in der politischen Gemeinde ein wichtiges Betätigungsfeld des Volkes sah. Ich zögere nicht, hier das Wort Politik zu benutzen, solange es in der hellenischen Bedeutung als das Regieren der Gemeinschaft oder Polis durch Volksversammlungen verstanden wird und nicht als staatlicher Apparat und parlamentarische Aktivität. Jede Gesellschaft enthält Spuren der Vergangenheit — so von früheren, häufig entschieden libertären Institutionen, die in die gegenwärtigen eingegangen sind. 

Die amerikanische Republik beispielsweise weist noch immer demokratische Elemente wie etwa die Bürger­versammlung auf, die schon Tocqueville in seinem Buch Die Demokratie in Amerika beschreibt. Italienische Städte besitzen immer noch nachbarschaftlich geprägte Wohnviertel, die die Grundlage für neue Gemein­schafts­beziehungen bilden können. Französische Städte weisen auch heute noch Züge auf, in denen wir das menschliche Maß erkennen und aus denen sich neue politische Strukturen aufbauen lassen. Diese Beobachtungen können wir an Gemeinschaften in der ganzen Welt machen — Gemeinschaften, deren Solidarität die Aussicht auf eine neue Politik des libertären Kommunalismus eröffnet, woraus dem National­staat eines Tages eine Gegenmacht erwachsen kann.


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Ich muß aber als Bedingung betonen, daß wir hier von einer Bewegung reden und nicht von isolierten Fällen, wo Menschen in einer einzigen Gemeinde die Kontrolle über deren Verwaltungssystem erlangen und dieses auf der Grundlage von Nachbarschaftsversammlungen umstrukturieren. Wir setzen also voraus, daß eine Bewegung existiert, die eine Gemeinde nach der anderen reformiert und zwischen ihnen ein System konföderaler Beziehungen etabliert; ein System, welches dann eine eigenständige Regionalmacht verkörpert. Wie weit uns dieser libertäre kommunalistische Ansatz führen kann, ist ohne die Kenntnis der lebendigen Traditionen einer Region, der Bürgertugenden, die sich dort finden, und der Probleme, vor denen sie steht nur schwer zu beurteilen. Aufgrund der Erfahrungen des Autors mit örtlicher Selbstbestimmung in den Vereinigten Staaten läßt sich folgendes sagen: Nie hat die Staatsmacht sich widerspenstiger gezeigt, als wenn derartige Forderungen erhoben wurden. Der Nationalstaat weiß weitaus besser als seine Gegner aus den radikalen Bewegungen, wie sehr Forderungen nach örtlicher Selbstverwaltung seine Autorität destabilisieren können.

Und doch reicht der Stammbaum des libertären Kommunalismus bis zur amerikanischen und französischen Revolution und zur Pariser Commune zurück, als zahllose Menschen im Konföderalismus eine realistische Alternative sahen. Trotz der dramatischen Veränderungen seit jenen Tagen, gibt es keinen prinzipiellen Grund, warum der libertäre Kommunalismus nicht heute wieder aufgegriffen werden kann, in einer Zeit da Hausbesetzerbewegungen. Nachbarschaftsorganisationen und Selbsthilfegruppen kommen und gehen — als lebendige Zeugen einer unaufhörlichen Triebkraft, die vom Nationalstaat niemals ausgemerzt werden konnte.

 

    Dezentralisierung und Technik  

 

Die Soziale Ökologie hat eine besondere, ja dringend erforderliche Seite zu der Notwendigkeit einer libertären kommunalistischen Bewegung und den sie konfrontierenden Problemen beigetragen. Daß wir die Größe der Gemeinschaften an die natürliche Belastbarkeit ihrer Regionen anpassen und ein neues Gleichgewicht zwischen Stadt und Land herbeiführen müssen — alles traditionelle Forderungen der großen utopistischen und anarchistischen Denker des letzten Jahrhunderts — ist heute zum ökologischen Imperativ geworden. 

Dies sind keine scheinbar utopischen Visionen von gestern und vorgestern, keine Träume und Wunschvorstellungen einsamer Denker; es sind zwingende Notwendigkeiten, wenn wir als eine lebensfähige Art in Harmonie mit einer komplexen Natur, die von Zerstörung bedroht ist, überdauern wollen.


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Die Ökologie hat vielmehr die unmißverständlichen Alternativen dargestellt: entweder wir akzeptieren scheinbar "utopische" Lösungen auf der Basis der Dezentralisierung, eines neuen Ausgleichs, mit der Natur und der Harmonisierung sozialer Beziehungen, oder wir stehen vor der realen Vernichtung der materiellen und natürlichen Grundlage menschlichen Lebens auf diesem Planeten.

*

Die Urbanisierung droht nicht nur die Stadt, sondern auch das Land auszulöschen. Der berühmte Widerspruch zwischen Stadt und Land, der in der Geschichte des gesellschaftlichen Denkens einen so bedeutenden Platz einnahm, ist inzwischen bedeutungslos geworden. Dieser Widerspruch wird unter dem Beton begraben, der sich über unersetzliche Rächen agrarwirtschaftlich genutzten Landes und historisch einzigartigen bäuerlichen Gemeinschaften ausbreitet. Die Homogenisierung der ländlichen Kultur durch Massenmedien, urbane Lebens­formen und das allgegenwärtige Konsumdenken droht nicht nur regional einzigartige und bunte Lebensweisen zu zerstören, sondern führt zum völligen Ruin der Landschaft.

Wo die industrielle Landwirtschaft bisher den Boden noch nicht mit ihren Pestiziden und ihrem chemischen Dünger vergiftet und mit ihren schweren Geräten verdichtet hat, da vollbringen nun der saure Regen und die von unserer Gesellschaft in Gang gesetzten Klimaverschiebungen ihr Zerstörungswerk des Waldsterbens und der Austrocknung. Die Urbanisierung des Planeten reduziert komplexe Ökosysteme auf einfache Formen, vernichtet Boden, der Jahrhunderte zu seiner Entstehung benötigt hat, engt die Wildnis auf zerbrechliche "Reservate" ein und führt direkt oder indirekt zu erheblichen regionalen Klimaverschlechterungen.

Die Technologien, die uns frühere industrielle Revolutionen beschert haben, die wahnwitzige Zahl der privaten Autos, die Konzentration gewaltiger industrieller Anlagen in der Nähe unserer Gewässer, der massive Einsatz fossiler und nuklearer Brennstoffe und ein ökonomisches System, dessen Lebensgesetz das Wachstum ist — sie alle zerstören innerhalb weniger Jahrzehnte die Umwelt in einem Grade, wie es die Menschen seit ihrer Entstehung nicht geschafft haben. 

Fast alle unsere Gewässer sind stinkende Cloaken. "Tote Meere" erstrecken sich über Hunderte von Kilometern in einst von Leben wimmelnden Ozeanen. Ich brauche diese traurige Litanei von weitverbreiteten, möglicherweise tödlichen Wunden, die jedem Teil dieses Planeten zugefügt werden, nicht weiter vorzutragen. Es ist nur zu gut bekannt, was unserer Atmosphäre angetan wurde, der das irdische Leben schützenden Ozonschicht, selbst den entlegeneren Gebieten des Globus' wie der Arktis und neuer­dings auch der Antarktis, den Regenwäldern und natürlich auch dem Wald in den gemäßigten Klimazonen.


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Nicht nur unsere Pflicht, ein menschliches Leben zu führen und unsere eher libertären Visionen zu erfüllen, sondern unser letztendliches Überleben auf diesem Planeten diktiert uns, daß wir unser Verständnis der städtischen Lebensweise und die Beziehung der Städte zu ihrem ökologischen Nährboden neu bestimmen. Es diktiert uns ebenso ein Überdenken unserer Technologien und der mit ihnen hergestellten Waren, ja unserer ganzen Einstellung zur Natur.

Nicht nur um unsere höchsten Freiheitsideale zu verwirklichen, brauchen wir kleinere Städte, sondern auch um die elementarsten Lebensbedürfnisse in einem einigermaßen ausgewogenen Verhältnis mit der Natur zu befriedigen. 

Gigantische Städte oder genauer gesagt, wuchernde Stadtlandschaften, tragen nicht nur zu kultureller Homogenität, individueller Anonymität und zentralisierter Macht bei; sie sind eine unerträgliche Belastung der örtlichen Wasserreserven, der Atemluft und aller natur­verbliebenen Elemente in ihrem Umkreis. Verkehrsstau, Lärm und der Streß des modernen Stadtlebens werden zunehmend unerträglich, psychisch wie physisch. Die Stadt, die einst Menschen mit verschiedenem Hintergrund zusammenbrachte und sozusagen in Solidarität vereinte, führt heute zu ihrer Atomisierung. Die Stadt ist der Ort, wo man sich verstecken kann, und nicht derjenige, wo man menschliche Nähe sucht. Angst nimmt die Stelle von Geselligkeit ein und Roheit nagt an der Solidarität. Menschen, die in überfüllten Wohnblocks, Nahverkehrsmitteln, Büros und Einkaufszentren zusammengepfercht sind, büßen den Sinn für ihre Individualität ein und werden gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Anderen.

Die Auflösung der großen Städte in für Menschen überschaubare Gemeinschaften ist weder eine romantische Mystifizierung eines naturliebenden Einzelgängers noch ein fernes anarchisches Ideal. Für eine ökologisch gesunde Gesellschaft ist sie unabdingbar. Um was es bei diesen scheinbar "utopischen" Forderungen jetzt geht, ist die Wahl zwischen einer sich rapide verschlechternden Umwelt und einer Gesellschaft, die sich mit der Natur auf einer lebensfähigen und dauerhaften Grundlage im Gleichgewicht befindet. Aus ähnlichen Gründen müssen wir das technologische Fundament unserer Gesellschaft kritisch durchleuchten. Die Produktion darf nicht länger als Quelle für Profite und zur Umsetzung privater Interessen dienen. Sauber gefertigte Dinge, die die Menschen zum nackten Leben oder zum körperlichen und geistigen Wohlbefinden benötigen, sind heiliger als die geheimnisumwitterten Fetische, mit denen religiöse und abergläubische Kulte die Menschen blenden.


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Brot ist - mit Verlaub - "heiliger" als priesterlicher Segen; Alltagskleider "gesegneter" als kirchliche Gewänder; der persönliche Wohnraum spirituell wichtiger als Kirchen und Tempel; das bessere Leben auf Erden ist segensreicher als das im Himmel verheißene. Die Lebensgrundlagen müssen als das gelten, was sie buchstäblich sind: Grundlagen, ohne die das Leben unmöglich ist. Sie Menschen vorzuenthalten, ist schlimmer als "Diebstahl" (um Proudhons Bezeichnung für Eigentum zu gebrauchen); es ist schlechterdings Totschlag.

Niemand hat das Recht, etwas zum Eigentum zu haben, von dem das Leben anderer — sei es moralisch, gesellschaftlich oder ökologisch — abhängig ist. Ebensowenig hat irgend jemand das Recht, privat betriebene technische Anlagen, die sowohl die menschliche Gesundheit als auch die des Planeten gefährden, zu entwickeln, anzuwenden oder der Gesellschaft aufzuzwingen.

Hier verbinden sich Ökologie und Gesellschaft fest miteinander, um eine soziale Ökologie zu ermöglichen, die die enge Beziehung zwischen ökologisch sozialen Problemen unterstreicht. Die Technik mit ihrem Doppelgesicht — sie ermöglicht die menschliche Existenz und gefährdet sie zugleich — ist eine der wichtigsten Schnittstellen zwischen sozialen und ökologischen Werten. In einer Zeit verheerender ökologischer Zerstörung können wir nicht an technischen Entwicklungen festhalten, die mutwillig menschliche Wesen und den Planeten schädigen — und es ist auch schwer vorstellbar, daß nur einem Schaden zugefügt werden kann, ohne die anderen dabei in Mitleidenschaft zu ziehen.

Es ist eine der großen Tragödien unserer Zeit ist, daß wir die Technik nicht mehr als eine ethische Beziehung begreifen. Im griechischen Denken war die Vorstellung fest verankert, daß die Herstellung eines qualitativ und künstlerisch hochwertigen Gegenstandes eine moralische Berufung war, die eine besondere Beziehung zwischen dem Gegenstand und dem ihn bearbeitenden Kunsthandwerker erforderte. Für viele Stammesvölker war die Bearbeitung eines Gegenstandes sogar gleichbedeutend damit, das dem Rohmaterial immanenten Potential zu verwirklichen; Speckstein, Marmor, Bronze oder anderem Material eine "Stimme" zu geben, quasi als Ausdruck seines latenten Formpotentials.

Der Kapitalismus hat diese Sichtweise restlos beseitigt. Er hat die Beziehung zwischen Produzent und Konsument abgeschnitten und jedes Element ethischer Verantwortlichkeit des ersteren gegenüber dem letzteren eliminiert, von anderen ethischen oder moralischen Verantwortungen ganz zu schweigen.


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Sollte es irgendeine moralische Seite der kapitalistischen Produktion gegeben haben, dann war es allenfalls die Beschwörung der das Eigeninteresse lenkenden "unsichtbaren Hand" — des Zusammenspiels der Marktkräfte — derzufolge die Produktion auf der Grundlage von Profit und persönliche Bereicherung letztendlich dein "Gemeinwohl" dienen würde.

Aber selbst diese schäbige Apologie ist heute kaum noch zu vernehmen. Grenzenlose Habgier, ein weiteres Beispiel für die Ethik des Bösen, hat jegliches Gefühl für das öffentliche Wohl verdrängt. Ein Unternehmen wird heutzutage höchstens deshalb gelobt, weil es weniger gierig als ein anderes ist, und nicht etwa, weil sein eigentliches Handeln gut ist. 

Es liegt zwar nahe, die Technik für etwas verantwortlich zu machen, was in Wirklichkeit ein Ausfluß bourgeoiser Interessen ist; dennoch kann Technik ohne moralische Schranken unter kapitalistischen Verhältnissen dämonische Züge annehmen. Ein Kernkraftwerk beispielsweise ist grundsätzlich von Übel; es kann keine Existenzberechtigung haben. Daß immer mehr Kernreaktoren den gesamten Planeten in eine riesige Atombombe verwandeln werden, wenn es noch einige Unfälle a la Tschernobyl gibt, wird heute von niemandem mehr bezweifelt. Und mit so vielen Reaktoren ist dies irgendwann keine Sache des Zufalls mehr, sondern nur noch eine Frage der Wahrscheinlichkeit.

Zunehmende ökologische Belastungen führen selbst in den eher konventionellen Industrien zu ähnlichen Problemen. Die industriell betriebene Landwirtschaft, die früher im Vergleich zum Familienhof nur eine Nebenrolle spielte, hat sich seit einigen Jahrzehnten derart ausgebreitet, daß ihre Pestizide und synthetischen Düngemittel ein globales Problem werden. Qualmende Schlote und der mutwillige Gebrauch von Kraftfahrzeugen bringen die gesamte Natur und insbesondere die Erdatmosphäre aus dem Gleichgewicht. Untersucht man die Szenerie der modernen Technologie, dann erkennt man unschwer, wie notwendig ein radikaler Wandel ist. Nicht nur aus ökologischen Gründen, sondern in unserem ureigensten Interesse müssen wir Schritte hin zu ökologischen Technologien wagen und unsere technische Interaktion mit der Natur kreativ anstatt destruktiv gestalten.

Ich möchte hier noch einmal betonen, daß ein solcher Wandel auch in unseren Interaktionen untereinander notwendig ist, d.h. daß wir ein umfassendes Menschheitsinteresse formulieren müssen, das die Sonder­inter­essen von Hierarchie, Klasse, Geschlecht, Ethnie und Staat überwindet. Die Vorbedingung einer harmonischen Beziehung mit der Natur ist eine gesellschaftliche: nämlich eine harmonische Beziehung der Menschen unter­einander. Dies schließt die Abschaffung der Hierarchie in all ihren Formen — der psycholog­ischen, kulturellen, sozialen — sowie der Klassen, des Privateigentums und des Staates ein.


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Der Schritt vom "Hier nach dort" wird keine plötzliche Explosion des Wandels sein, sondern bedarf einer langen Periode intellektueller und ethischer Vorbereitung. Die Welt muß so viel wie möglich hinzulernen, Menschen sollen ihr Leben selbst ändern und nicht bloß auf selbstgesalbte Eliten warten, aus denen dann doch nur eigennützige Oligarchien werden. Unsere Sensibilität, unsere Ethik, unsere Art, die Wirklichkeit zu sehen, und unser Identitätsgefühl müssen durch Wissen geändert werden, durch eine Politik des vernünftig argumentierenden Diskurses, der vorsichtigen Experimente und der kalkulierten Fehlschläge; nur so kann die Menschheit jenen Grad der Selbsterkenntnis gewinnen, den sie zu ihrer schließlichen Selbstbestimmung benötigt.

Die radikalen Bewegungen können es sich nicht mehr leisten, sich gedankenlos in Aktionen um ihrer selbst willen zu stürzen. Die Notwendigkeit theoretischer Erkenntnis und Auseinandersetzung war nie so groß wie heute, da ein politischer Analphabetismus erschreckende Ausmaße angenommen hat und Aktionen als Fetisch um ihrer selbst willen dienen. Bitter nötig haben wir außerdem Organisationsformen — und nicht das nihilistische Chaos jener selbstbestimmter Egoisten, die jede Art von Struktur als "elitär" und "zentralistisch" abschmettern. Geduld und verantwortungsbewußtes Engagement im harten Alltagsgeschäft, eine Bewegung aufzubauen, sind höher zu bewerten als die theatralischen Auftritte von Primadonnen, die bereit sind, auf den Barrikaden irgendeiner fernen "Revolution in den Tod zu gehen", sich aber zu schade für die alltäglichen Aufgaben der Agitation und der Aufrechterhaltung einer Organisation sind.

Der Schritt von "Hier nach dort" ist ein anspruchsvoller Prozeß und nicht eine dramatische Geste. Er wird immer von Ungewißheiten, Scheitern, Umwegen und Auseinandersetzungen begleitet sein, bevor er seine endgültige Orientierung gewinnen kann. Wir können auch nicht sicher sein, daß wir grundlegende gesellschaftliche Veränderungen noch selbst erleben dürfen. Die Revolutionäre von heute müssen sich von den strahlenden Idealisten der Vergangenheit inspirieren lassen, beispielsweise von den großen russischen und französischen Revolutionären des letzten Jahrhunderts, die kaum hoffen konnten, noch mit eigenen Augen die gewaltigen Umwälzungen späterer Generationen zu sehen, die sie doch durch das Vorbild ihres Lebens, ihrer Entschlossenheit und Überzeugung mit vorbereiteten.


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Revolutionäres Engagement ist nicht nur eine Berufung, welche die Welt zu verändern sucht, es ist zugleich eine nach innen gerichtete Aufforderung, die eigene Identität und Individualität aus einer korrupten Gesellschaft zu retten, die mit billigen Genüssen lockt und Status in einer völlig sinnlos gewordenen Welt verheißt und damit geradezu den Kern der Persönlichkeit zerstört.

Eine neue Politik muß entwickelt werden, die die Fallstricke des Parlamentarismus und das schnelle Erfolgserlebnis einer sogenannten Medien-"öffentlichkeit" vermeidet, die statt der sachlichen Information eher der Selbstüberhöhung dient. Bewegungen wie die Grünen in Deutschland wimmeln bereits von Stars, die nur sich selbst im Auge haben und die Integrität, die ethische Ausrichtung und den Elan ihrer besseren Tage desavouieren. Neue Programme und eine neue Politik muß an der unmittelbaren Umwelt des Einzelnen ansetzen — an der Wohnsituation und den Problemen in der Nachbarschaft, am öffentlichen Nahverkehr oder den wirtschaftlichen Bedingungen, an den Umweltverschmutzungen und der Situation am Arbeitsplatz. Die Macht muß allmählich in die Stadtteile und Gemeinden verlagert werden, in Form von Stadtteilzentren, Kooperativen, Werkstätten und schließlich Bürgerversammlungen.

Die Erfolge können nicht an der unmittelbaren und dauerhaften Unterstützung gemessen werden, die eine derartige Bewegung gewinnt. Anfänglich wird nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Menschen in einer solchen Bewegung mitarbeiten und nur relativ wenige werden an Nachbarschaftsversammlungen und Gemeindebünden teilnehmen — außer vielleicht, wenn sehr wichtige Themen anstehen, die ein großes öffentliches Interesse erwecken. Alte Vorstellungen und Methoden, die im alltäglichen Leben zur Routine wurden, sterben nur langsam aus; neue werden sich auch nur sehr langsam entwickeln.

Bürgerinitiativen werden vielleicht mit einem plötzlichen Eifer und Elan entstehen, wenn etwa in unmittelbarer Nähe einer Gemeinde ein Kernkraftwerk geplant oder eine Giftmülldeponie entdeckt wird. Eine ökologisch orientierte kommunalistische Bewegung darf aber nicht davon ausgehen, daß solche Massenbewegungen von Dauer sind. Sie können ebenso so schnell verschwinden, wie sie entstanden sind. Man kann nur die Hoffnung haben, daß sich aus ihnen eine Tradition entwickelt, auf die sich in der Zukunft zurückgreifen läßt, und daß die allgemeine Vermittlung von Erkenntnis und Wissen nicht an der Gemeinschaft vorbeigegangen ist.


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Gleichzeitig müssen die wahrhaft überzeugten Mitglieder einer solchen Bewegung mit einer Vision hervortreten, wie die Gesellschaft in der Zukunft aussehen sollte. Ihre Ziele müssen sehr weit gesteckt sein, damit andere in ihren Aktivitäten auch immer weiter gehen. Eine solche Kerngruppe muß sowohl historische Lösungen als auch unmittelbar praktische vermitteln. 

Die gegenwärtige Gesellschaft legt sämtliche Spielregeln fest, an die sich selbst die gesinnungsstärksten Rebellen halten. Solange diese außerordentlich wichtige Tatsache nicht klar erkannt wird, wird es mehr und mehr zu moralisch zweifelhaften Kompromissen kommen, die über viele "kleinere Übel" zu einer Ethik des Bösen führen und beim schlimmsten aller Übel enden werden. Letzten Endes kann keine radikale Bewegung ihre ferne Vision einer ökologischen Gesellschaft aus dem Blick verlieren, ohne Stück für Stück auch alle Bestandteile ihrer Identität aufzugeben.

Diese ferne Vision muß klar benannt werden, so daß sie niemals gefährdet werden kann. Der vage Charakter der sozialistischen und marxistischen Ziele hat eben diesen Zielen irreparablen Schaden zugefügt, indem er sie den Erfordernissen einer "pragmatischen" Politik und manipulativen Kompromissen geopfert hat — womit letzten Endes jede Bewegung ihre Existenz­berechtigung aufgibt. Eine Bewegung darf ihre Vorstellungen nicht nur in programmatischen Erklärungen präsentieren, sondern muß ihre Ideale visualisieren, damit sie einer neuen Politik eine Vision vermitteln. Solche Ansätze wurden bereits früher sehr erfolgreich von Gruppen wie den "Volks-Architekten" durchgeführt, die sich die Mühe machten, ganze Wohnviertel im kalifornischen Berkeley neu zu planen und visuell darzustellen, wie sie wohnlicher, gemeinschaftsfördernder und ästhetisch ansprechender gestaltet werden können.

 

     Eine ökologische Gesellschaft   

 

Wir verfügen heute über eine großartiges Repertoire neuer Ideen, Pläne, technischer Entwürfe und Daten, die uns die bildliche Vorstellung einer ökologischen Gemeinschaft und einer partizipatorischen Demokratie vermitteln können. Zwar läßt sich mit diesen Unterlagen sehr gut demonstrieren, daß wir nun endlich in der Lage sind, menschliche Gemeinschaften allein aus erneuerbaren Ressourcen zu unterhalten. Dennoch sollten sie nicht nur als ein neues Steuerungssystem aufgefaßt werden, um die Gesellschaft in eine Gleich­gewichts­beziehung mit einer gegebenen natürlichen Umgebung zu lotsen.


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Sie haben vielmehr auch weitreichende ethische Implikationen; diese aber werden von denjenigen übersehen, die eine öko-technokratische Vorliebe für die sogenannten angepaßten Technologien propagieren — ein Begriff übrigens, der zu mehrdeutig ist, als daß er in einem ökologischen Kontext von Ideen benutzt werden kann. Daß organischer Gartenbau unseren Grundbedarf an chemisch unbehandelter Nahrung erfüllen, uns mit hochwertigen Nährstoffen versorgen und unserem Boden zugute kommt statt ihn zu zerstören, sind die üblichen Argumente für einen Wechsel von der industriellen Landwirtschaft zu ökologischen Formen des Nahrungsmittelanbaus. 

Organische Landwirtschaft bedeutet aber viel mehr. Sie führt uns in die Erzeugung der Nahrung, nicht nur ihre Konsumption. Wir begeben uns selbst in die Nahrungskette, die ihren Anfang im Boden hat — in einem Kreislauf, dessen lebendiger Bestandteil wir sind und in dem wir als Umwandler fungieren. Sie bringt uns der Natur insgesamt, der wir so entfremdet sind, näher. Wir wachsen gleichsam mit unserer Nahrung und setzen unseren Körper kunstvoll zum Pflanzen, Jäten und Ernten ein. Wenn man so will, nehmen wir an einem ökologischen "Ballett" teil, das der gegenwärtigen Joggingmode auf asphaltierten Straßen und Bürgersteigen weit überlegen ist.

Als eine der vielen Beschäftigungen, denen (nach Fouriers Rat) jedermann im Laufe eines Tages nachgehen kann, trägt organischer Gartenbau zur Bereicherung und Vielfalt unseres Alltags bei, schärft unser natürliches Empfindungsvermögen für Wachstum und Zerfall und stimmt uns in einen natürlichen Rhythmus ein. Im Organischen Gartenbau, um das nur an einem Punkt festzumachen, würde in einer ökologischen Gesellschaft mehr, als nur die Lösung unserer Ernährungsprobleme gesehen. Er würde Teil unseres gesamten Seins als gesellschaftlich, kulturell und biologisch bewußte Wesen.

Dasselbe trifft für die Aquakultur zu, vor allem in der Überwachung sich selbst erhaltender Systeme, bei der das Institut für Soziale Ökologie in Vermont Pionierarbeit geleistet hat. Dort wurden sogar die Ausscheidungen pflanzenfressender Fische durch Wasserpflanzen recycled, um wiederum Nahrung für dieselben Fische zu liefern, und somit ein fast geschlossener, sich selbst erhaltender ökologischer Kreislauf geschaffen, der menschliche Gemeinschaften mit eßbaren Proteinen versorgen kann. Der Einsatz von Solarenergie, eine Technologie, die einen außerordentlich hohen Entwicklungsstand und Wirkungsgrad erreicht hat, kann nicht nur wegen der erneuerbaren Energiequelle als ökologisch angesehen werden, sondern weil sie uns mit der Sonne auch die klimatischen Veränderungen, quasi den Himmel selbst in greifbare Nähe rückt.


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Ebenso ist es mit der Windenergie, der Viehhaltung in einer Gemeinde, gemischter Landwirtschaft, mit Kompostierungstechniken, die die Abfälle einer Gemeinde in Bodennährstoffe verwandeln; alles in allem ein umfassendes ökologisches Netzwerk, wo im Zusammenwirken der verschiedenen Komponenten nach menschlichen Gesichtspunkten ein abgewandeltes Ökosystem entsteht, das menschlichen Bedürfnissen dient und doch das natürliche Ökosystem als Ganzes bereichert. 22)

Eine ökologische Gesellschaft, die sich um das konföderale System einer Kommune von Kommunen strukturiert, von denen jede an das Ökosystem und die Bioregion angepaßt ist, in der sie gelegen ist, würde dieses technologische Rüstzeug gekonnt einsetzen. Sie würde auf die örtlichen Ressourcen zurückgreifen, von denen schon viele als Folge der Massen­produktions­techniken aufgegeben wurden.

Wie aber würde in einer solchen Gesellschaft mit dem Eigentum und mit der Verfügungsgewalt darüber umgegangen werden? 

Historisch hat der moderne Radikalismus die Verstaatlichung von Boden und Industrie oder ihre Kontrolle durch die Arbeiter gefordert. Eine verstaatlichte Ökonomie letzt natürlich die Existenz eines Staates voraus, worauf schon Anarchisten früh hingewiesen haben. Allein das würde genügen, um diese Forderung von vornherein abzulehnen. Mindestens ebenso beunruhigend ist, daß eine verstaatlichte Volkswirtschaft der Nährboden für parasitäre Wirtschafts­bürokratien ist, die selbst die sogenannten sozialistischen Staaten des Ostens in ein ökonomisches, krisengeschütteltes Chaos gestürzt haben. Wir müssen ihren praktischen Wert gar nicht mehr aus streng theoretischen Gründen in Frage stellen, als Ursache von Staatsvergottung bis hin zum Totalitarismus. Ironischerweise haben ihre eigenen Apologeten sie zugunsten relativ "marktwirtschaftlicher" Lösungen aufgegeben.

Der Arbeiterkontrolle, wie sie die syndikalistischen Strömungen lange Zeit — gegen die Verstaatlichung — vertreten haben, sind eigene enge Grenzen gesetzt. So hatten zwar in Spanien anarchistische Gewerkschaften wie die C.N.T. die wenigen unbotmäßigen Unternehmen, die sich gern in kapitalistische Konzernkollektive verwandelt hätten, fest im Griff; aber im allgemeinen ist ein Kollektivunternehmen nicht notwendigerweise eine Kommune oder vertritt kommunistische Standpunkte. Mehr als ein Unternehmen unter Arbeiterkontrolle hat in einer kapitalistischen Art und Weise funktioniert, hat wie andere Konzerne um Rohstoffe, Kunden, Privilegien und selbst Profite konkurriert.

22)  Jean Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Röderberg-Verlag, Frankfurt, 1978.


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Kooperativen im öffentlichen Besitz oder unter Arbeiterkontrolle werden nicht selten zu oligarchischen Korporationen, wofür es in den Vereinigten Staaten oder auch in Skandinavien zahlreiche Beispiele gibt. Bezeichnend für diese Unternehmen ist, daß sie — mehr oder weniger harmlose — Sonderinteressen vertreten. In ihrem Wesen unterscheiden sie sich aber nicht von kapitalistischen Unternehmen und sie sind demselben gesellschaftlichen Druck des Marktes ausgesetzt, in dem sie überleben müssen. Diese Sonderinteressen untergraben dann zunehmend ihre höheren ethischen Ziele — meist im Namen der "Effizienz", der Notwendigkeit des "Wachstums" um des Überlebens willen und der überwältigenden Versuchung, die Erträge zu steigern.

Libertärer Kommunalismus verfolgt einen holistischen Ansatz für eine ökologisch orientierte Ökonomie. Politische und Sachentscheidungen auf dem Sektor der Landwirtschaft und der Industrie werden von Bürgern in direkten Versammlungen gefällt — als Bürger und nicht bloß als Arbeiter, Bauern oder Akademiker, die im übrigen — unabhängig von ihren Fachkenntnissen — durch die verschiedenen Tätigkeiten rotieren. Als Bürger treten sie in solchen Versammlungen in ihrer höchsten Eigenschaft — der als menschliche Wesen — und nicht als Bewohner gesellschaftlicher Getthos auf. Sie vertreten ihre allgemeinen menschlichen Interessen und nicht ihre eigenen Statusinteressen.

Statt Fabriken, Handwerksbetriebe, Versorgungszentren sowie Grund und Boden zu verstaatlichen und zu kollektivieren, kommunalisiert jede ökologische Gemeinschaft ihre Wirtschaft und integriert ihre Ressourcen mit denen anderer Gemeinschaften in einem regionalen konföderalen System. Land, Fabriken und Betriebe werden durch die Volksversammlung freier Gemein­schaften kontrolliert und nicht durch den Nationalstaat oder durch die Produktionsarbeiter, die nämlich ein durchaus eigennütziges Interesse in ihnen entwickeln könnten.

Jeder fungiert in einem gewissen Sinne als Bürger und nicht als Ego, als Klassenwesen oder als spezieller Teil eines "Kollektivs" mit jeweils eigenen Interessen. Das klassische Ideal der rationalen Bürgerinnen und Bürger, die untereinander in einer persönlichen diskursiven Beziehung stehen, gewinnt eine ökonomische Basis und durchdringt jeden Aspekt des öffentlichen Lebens. Menschen dieser Art, die in einer Gemeinschaft, zu der jeder nach seinen Fähigkeiten beiträgt und von der jeder nach seinen Bedürfnissen nimmt, keine eigennützigen Interessen mehr verfolgen müssen, verleihen der bürgerlichen Existenz eine breite und solide Grundlage, wie es sie noch nie gab und die dem Privateigentum durchaus überlegen ist.


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Es ist nicht zu abwegig anzunehmen, daß eine ökologische Gesellschaft letztlich aus mittelgroßen Gemeinden bestehen würde, jede eine Kommune aus kleineren Wohnkommunen oder Privathaushalten, die sorgfältig auf das sie umgebende natürliche Ökosystem abgestimmt sind. Die Entscheidung, gemeinschaftlich oder individuell zu leben, kann nur jeder für sich treffen; wir müssen sie deshalb den Generationen nach uns überlassen. Die Kontakte unter den Kommunen werden — wie auch heute schon — bewußt gefördert. Keine Gemeinde ist von ihren Nachbargemeinden weiter entfernt, als daß sie von dort nicht bequem zu Fuß erreicht werden könnte. Das Transportwesen stützt sich auf den kollektiven Gebrauch der Verkehrsmittel, seien es nun Eisenbahnen oder noch modernere Schienenfahrzeuge, Autos oder Fahrräder; aber es gibt nicht die Alleinfahrer, die mit ihren leeren Autos riesige Autobahnnetze verstopfen.

Die Arbeit rotiert zwischen Stadt und Land und von Mensch zu Mensch. Man kann sogar Fouriers Ideal eines abwechslungs­reichen Arbeitstages verwirklichen, indem man nacheinander im Garten arbeitet, gewisse Dinge selbst herstellt, liest oder rezitiert, sowie eine angemessene Zeit in einer Fabrik arbeitet. Der Boden wird ökologisch genutzt; Wald und Nutzpflanzen dort angebaut, wo sie jeweils am besten gedeihen. Obstgärten und Hecken gibt es im Überfluß, um Nischen für eine große Vielfalt von Lebensformen zu bieten und somit durch biologische Gleichgewichtssysteme Pestizide überflüssig zu machen. 

Andere Gebiete sind vielleicht mehr als heute zu Naturreservaten erklärt. Die Menschen betätigen sich stärker körperlich, da sie wechselnde Arbeiten ausüben und mehr Sport treiben. Solar- und Windenergie werden extensiv genutzt; der Abfall wird gesammelt, kompostiert und recycled. In der Produktion wird die Betonung auf Qualität statt Quantität gelegt: Häuser, Möbel, Gebrauchsgegenstände und Bekleidung werden so hergestellt, daß sie jahrelang und manchmal über Generationen halten. Die gesamte Gemeindestruktur, die ich beschrieben habe, ist mit der größten Rücksicht auf die Region geplant, um deren Naturformen so weit wie möglich zu erhalten, also von der Sorge um nichtmenschliche Lebensformen und das Gleichgewicht der Natur getragen.

Die Industrieanlagen sind auf dem neuesten Stand einer am menschlichen Maße orientierten Technologie; es werden kleine Mehrzweckmaschinen eingesetzt und Qualitätsprodukte unter minimalem Aufwand an Energie hergestellt. Die Standorte in der Region sind so gewählt, daß möglichst viele Gemeinschaften beliefert werden können, um die unsinnige Vervielfachung der gleichen Anlagen und Produkte zu vermeiden, die man in einer Marktwirtschaft findet.


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Ich muß aber unzweideutig klarmachen, daß man größten Wert auf arbeitsersparende Geräte legen wird — seien es nun Computer oder automatische Maschinen — um die Menschen von unnötiger Plackerei zu befreien und um ihnen den zeitlichen Freiraum dafür zu sichern, an sich selbst als Einzelwesen und als Bürger zu arbeiten. 

Wenn neuerdings vor allem die amerikanische Umweltbewegung den Einsatz von arbeitsintensiven Technologien fordert, offenbar um auf den Knochen der arbeitenden Klassen Energie zu "sparen", so ist dies eine skandalöse, selbstgerechte Anmaßung der Mittelschichten. Diese Professoren, Studenten, Akademiker und der ganze übrige gemischte Salat der Leute, die diese Ansichten vertreten, sind meist solche, die noch nie in ihrem Leben gezwungen waren, einen mühsamen Arbeitstag etwa in einer Gießerei oder am Fließband einer Automobilfabrik hinter sich zu bringen. Ihre eigenen arbeitsintensiven Aktivitäten haben sich meistens auf ihre "Hobbies" beschränkt, die allenfalls Joggen, Sport und erholsame Wanderungen in Nationalparks und Wäldern einschließen. Ein paar Wochen heiße Sommerwochen in einem Stahlwerk würde sie schnell von der Vorliebe für arbeitsintensive Industrien und Technologien heilen.

Zwischen einem völlig irrationalen und verschwenderischen "Hier" auf der einen Seite, mit riesigen Industrie­revieren und Stadtlandschaften, einer chemieintensiven Agrarwirtschaft, zentralisierter und bürokratisierter Macht, einer schwindelerregenden Rüstungsindustrie, massiver Verschmutzung und geisttötender Schwer­arbeit, und einer ökologischen Gesellschaft, wie ich sie versucht habe zu beschreiben, auf der anderen Seite, liegt eine undefinierbare Zone hochkomplexer Übergänge, die mit der Entwicklung neuer Sensibilitäten und einer neuen Politik verknüpft ist. 

Wenn wir nicht bewußt handeln und uns dabei auf die Lehren der Geschichte stützen, werden wir diesen Übergang nicht bewerkstelligen können. Kein <deus ex machina> kann beschworen werden, den Sprung von "hier nach dort" zu vollziehen; es wäre auch gar nicht zu wünschen. Was Menschen nicht selbst gestalten, werden sie auch nicht handhaben können. Es kann ihnen ebenso schnell weggenommen werden, wie es ihnen überreicht wurde.

Im tiefsten Grunde ruht jedes revolutionäre Projekt auf der Hoffnung, daß die Menschen ein neues Bewußtsein entwickeln werden, wenn sie nur mit durchdachten Ideen und Vorstellungen bekannt gemacht werden, die offensichtlich ihren Bedürfnissen entgegenkommen, und wenn die objektiven Verhältnisse — Geschichte, Natur, oder beides — sie die Dringlichkeit eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels empfinden läßt.


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Ohne die objektiven Umstände, die ein neues Bewußtsein fördern und die organisatorischen Möglichkeiten, es auch öffentlich zu vermitteln, wird es keine weitreichenden Veränderungen geben, nicht einmal die notwendigen maßvollen Schritte, um sie herbeizuführen. Jedes revolutionäre Projekt ist vor allem ein Vorgang in den Köpfen. Der Rest muß aus der realen Welt kommen, in der die Menschen leben, und aus den in ihr stattfindenden Veränderungen.

Ein Lernprozeß, der nicht den engen Kontakt mit der realen Welt, ihren Traditionen und Realitäten des Alltags hält, wird nur einen Teil seiner Aufgabe erfüllen. Wie ich weiter oben schon behauptet habe, hat jedes Volk sowohl seinen eigenen libertären Hintergrund als auch seine eigenen libertären Träume, die man nicht mit der Propaganda und ihren Zerrbildern verwechseln darf.

Der heute so in Mode gekommene "amerikanische Traum" zum Beispiel besitzt sowohl anarchistische als auch bourgeoise Komponenten und hat ganz unterschiedliche Formen angenommen. Ein Strang läßt sich zu den revolutionären Puritanern zurückverfolgen, die mit dem Ziel der Gründung eines quasi-kommunistischen "Neuen Jerusalem" den Atlantik überquerten. Man kann an ihnen manches kritisieren, aber immerhin schufen sie geschlossene, grundsätzlich egalitäre Gemeinden, die sich in direkten demokratischen Bürger-Vollversammlungen selbst regierten.

Ein anderer "American Dream" realisierte sich in der Cowboykultur des Südwestens, wo das einsame Lagerfeuer an die Stelle des heimischen Herdes der nordöstlichen Staaten trat. Seine Helden waren rabiat individualistische Revolverhelden, wie sie etwa in Sergio Leones Italo-Western "The Good, the Bad and the Ugly" verherrlicht worden sind. 

Wiederum einen anderen "Amerikanischen Traum" träumten um die Jahrhundertwende die verarmten Einwanderer. Es war der Mythos von einem Amerika, dessen Straßen mit "Gold gepflastert" sind, ein Traum von unbegrenzten materiellen Möglichkeiten für ein besseres Leben und der Glaube, daß in den Vereinigten Staaten "alles möglich" sei.

 

Ich habe diese quasi-utopischen Visionen, die in jedem europäischen Land anders geträumt wurden, hier aufgeführt, um zu betonen, daß das revolutionäre Projekt in der einen oder anderen Art an diese verbreiteten Wunschvorstellungen anknüpfen und Wege finden muß, sie in heute gültige Freiheitsideale umzusetzen.


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Der Anarchismus ist eben nicht das Arbeitsprodukt eines Genies, das den größten Teil seines Lebens in einem Londoner Museum verbrachte und seinerzeit der Welt eine sozialistische "Wissenschaft" bescherte. Er ist eine Frucht der ganzen Gesellschaft — sicherlich von fähigen Theoretikern ausgefeilt, aber trotz allem etwas, das aus den tiefsten, weitherzigsten und freiheitsliebendsten Hoffnungen eines Volkes erwächst — oder er ist nichts.

So war es im spanischen Anarchismus zwischen 1880 und den späten 30er Jahren unseres Jahrhunderts, oder im italienischen und russischen Anarchismus vor Mussolini und Stalin, als die Schriften von Bakunin, Kropotkin und Malatesta dem tief empfundenen Sehnen der unterdrückten Menschen einen theoretischen Ausdruck verliehen. Der Anarchismus schlug überall dort Wurzeln, wo er einem nach Freiheit lechzenden Volk buchstäblich Stimme verlieh und dessen Sprache sprechen konnte — also die höchsten Ideale und glühendsten Hoffnungen der Menschen in ihnen vertraute Worte faßte. Weil sie in erster Linie auf die Menschen schauen und im gesellschaftlichen Leben eines Volkes und seiner Gemeinschaften so tief verwurzelt sind, sind die anarchistischen Ideen ihrem Wesen nach im höchsten Grade ökologisch und die anarchistischen Theoretiker zu den authentischen radikalen Initiatoren ökologischer Ideen in unserer Zeit geworden.

 

      Für eine freie Natur   

 

Anarchismus und soziale Ökologie — also der Öko-Anarchismus — muß auf die Wahrscheinlichkeit bauen, daß in jedem normalen Menschen bislang noch unerschlossene Lenkkräfte schlummern, die denen der größten Menschheitsgenies in nichts nachstehen.

Der Öko-Anarchismus muß von der Annahme ausgehen, daß die Menschheit als Ganze etwas Besonderes darstellt. Sie nimmt einen ganz eigenen Platz innerhalb der Evolution ein, was natürlich nicht zu der Vorstellung berechtigt, sie solle, geschweige denn könne, die Natur "beherrschen". Was dem Menschen im Vergleich zu allen anderen Formen des Lebens seine einzigartige Stellung verleiht, ist seine außergewöhnliche Fähigkeit zum begrifflichen Denken, zum sprachlichen Einsatz eines mächtigen Begriffsapparats sowie seine ungehinderte Macht, die natürliche Umwelt zu verändern, was zu furchtbaren Zerstörungen, aber auch zu großartigen Neuschöpfungen führen kann. Können wir diese eindrucksvollen Fähigkeiten als reine Zufallsereignisse im Zuge der Evolution des Lebens, ja der gesamten Natur abtun?


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Zwar können wir Bertrand Russels berühmte Klage nicht widerlegen, daß nämlich das menschliche Bewußtsein nur ein zufälliges Ergebnis unvorhergesehener Umstände sei, ein kurzlebiger Funke in einem dunklen, bedeutungs- und leblosen Kosmos, aus dem Nichts der Realität hervorgegangen und dazu bestimmt, am Ende wieder spurlos darin zu verschwinden. Vielleicht ist es so — allerdings muß Jeder philosophische Ansatz, der die Frage nach dem "Sinn" der Menschheit stellt, von nicht überprüfbaren Annahmen ausgehen. Im vergangenen Jahrhundert gingen Physiker von der entscheidenden Annahme aus, daß Bewegung ein "Attribut" der Materie sei, und errichteten auf dieser nicht beweisbaren Prämisse ein ausgeklügeltes System glaubhafter Erkenntnisse. Daß diese Prämissen geeignet waren, die Realität besser zu erkennen, mag der beule "Beweis" gewesen sein, den die Physiker benötigten, um das Arbeiten mit derartigen Annahmen für zulässig zu erklären.

Die moderne Ökologie, und insbesondere die Soziale Ökologie, benötigt ebenfalls Annahmen, wenn sie eine geschlossene Sichtweise entwickeln will, um den Platz der Menschheit in der Natur zu erklären . Einige oberflächliche ökologische Theorien wurden aufgestellt, die im wesentlichen der Menschheit jede einzigartige Stellung in der Natur bestreiten; unser "innerer Wert" unterscheide sich in nichts von, sagen wir, dem einer Schnecke. Ich sagte schon, daß diese Weltsicht einen Namen trägt: "Biozentrismus", sie behauptet, daß im Rahmen der Natur menschliche Wesen nicht mehr und nicht weniger "wert" sind als Schnecken (daher rührt der Mythos einer "biozentrischen Demokratie"). Im natürlichen Plan der Dinge sind diese beiden lediglich "anders". Daß sie "anders" sind, ist eine ziemlich platte Feststellung, die absolut nichts über die Art des Unterschieds und über die Bedeutung für die Natur aussagt.

Wir stehen also vor einer wichtigen Frage: Welchen Platz nimmt die Menschheit innerhalb der Natur ein? Fast intuitiv auf die Evolution des Universums zurückschauend, können wir — so wie dies kein anderes Tier vermag — eine allgemeine Entwicklungs­tendenz turbulenter Substanzen erkennen, vom Einfachen zum Komplexen, von der relativen Homogenität zur relativen Heterogenität, von der Einfachheit zur Variation und Differenzierung. Die auffallendste Eigenschaft der Substanz — ich glaube, wir benötigen diesen Begriff, um den dynamischen und kreativen Charakter einer scheinbar "toten", statischen "Materie" herauszustellen — ist der Entwicklungsprozeß. Mit Entwicklung meine ich nicht eine bloße örtliche Verlagerung; vielmehr beziehe ich mich auf ein Entfalten des latenten Potentials eines Phänomens, der Verwirklichung von Möglichkeiten und noch unentwickelter Form in der Fülle des Wesens.


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Innerhalb der Substanz in ihrer ursprünglichsten Form spielt sich ein keimartiges Entfalten über verschiedene Entwicklungsstadien ab, wobei jedes Ganze das Potential für ein starker differenzierteres Ganzes in sich birgt, hin zu einer immer stärker ausgeprägten Subjektivität und Flexibilität. Ich spreche hier nicht von einer im voraus verfügten Teleologie oder einem vorbestimmten Ende, das den Abschluß einer unerbittlichen Entwicklung markiert. Vielmehr versuche ich, ein inhärentes Streben oder Drängen vorzustellen und eine Entwicklung hin zu größerer Differenzierung, Komplexität, Subjektivität (die, bis wir menschliche Wesen vorfinden, noch nicht Intellektualität meint) und physischer Flexibilität.

Dies sind Annahmen, und zwar grundlegende. Aber die Tendenz der anorganischen Entwicklung zur Komplexität erreicht offensichtlich von einem gewissen Punkt ab eine erkennbare und eindeutige Schwelle, an der das Leben auftritt. Die Trennlinie zwischen den beiden Bereichen ist durch ein Phänomen gegeben, das wir mit Stoffwechsel bezeichnen und bei dem Proteine, aus Aminosäuren geformt, die Eigenschaft einer aktiven Selbsterhaltung und zugleich ein vages Moment von Selbst-Identität entwickeln. Gestein und das fließende Wasser, das es aushöhlt, sind passiv. Wasser löst und erodiert nur die Minerale im Gestein.

Im Vergleich hierzu ist schon eine einfache Amöbe immens aktiv. Sie muß ein dynamisches Gleichgewicht, zwischen dem Aufbau- und dem Zerfallsprozeß aufrechterhalten, von dem ihre Existenz abhängt, und ist somit buchstäblich damit beschäftigt, sie selbst zu sein. Die Amöbe ist in der Beziehung zu ihrer Umwelt nicht einfach passiv: sie ist ein entstehendes Selbst, ein identifizierbares Wesen, das immanent damit beschäftigt ist, seine Identität zu bewahren. Sie verkörpert bereits ein schwaches Gefühl einer Selbstgerichtetheit, einen Keim von dem, was eines Tages als Zielstrebigkeit, Willen und Intentionalität erscheinen sollte, wenn wir komplexere und in ihrer Subjektivität weiterentwickelte Formen des Lebens in einer späteren Phase der Evolution untersuchen.

Die weitere Differenzierung einzelliger Organismen wie der Amöbe in vielzellige wie die Schwämme, und allmählich in hochkomplexe wie die Säugetiere, führt zu einer fortschreitenden Spezialisierung von Organen und Organsystemen. Wir können deutlich erkennen, wo in diesem langen Evolutionsprozeß Nervenstränge, autonome Nervensysteme, Gehirnschichten und schließlich mit Bewußtsein begabte Wesen entstanden sind.


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Dies ist ganz einfach der Nachweis eines Trends innerhalb der Natur selbst, der sich bis zu den Interaktionen von Atomen zur Bildung komplexer Moleküle, Aminosäuren und Proteine zurück­verfolgen läßt. Mit den Warmblütern gewinnt das Leben eine größere Flexibilität, da sich nun bestimmte Lebensformen an unterschiedliche Klimazonen anpassen können. Mehr noch: Arten treten miteinander und mit ihrer Umwelt in Wechselwirkung und lassen immer mannigfaltigere Ökosysteme entstehen. Viele von diesen eröffnen neue Wege für evolutionäre Entwicklungen und eine verstärkte Subjektivität, die zu elementaren Alternativen führt, um wiederum evolutionären Pfaden zu folgen oder sogar neue zu erschließen. Auf dieser Komplexitätsebene beginnt das Leben, eine aktivere Rolle in seiner eigenen Evolution zu spielen. Es ist mehr als nur das passive Objekt "natürlicher Selektion", es nimmt Anteil an seiner eigenen Evolution und zwingt uns somit, die seit Darwin gebräuchliche Terminologie abzuändern und von "partizipatorischer Evolution" zu sprechen.

Wenn wir die evolutionäre Entfaltung dieses kumulativen Prozesses überschauen — bei dem Lebensformen frühere Entwicklungen in der eigenen Entwicklung rekapitulieren, wie in den rudimentären Nervensystemen auf der Haut, den Ganglienzellen in der Wirbelsäule oder dem Reptilstadium des Gehirns — scheint es mehr als eine bloße Hypothese zu nein, daß der Natur die Tendenz zu ihrer eigenen selbst-gerichteten Evolution innewohnt, der Drang zu einer bewußteren Entwicklung, wo das undeutliche Aufdämmern von Wahlmöglichkeiten das Freiheitspotential der Evolution des Lebendigen erkennen läßt.

Von der Natur lediglich als dem "Reich der Notwendigkeit" zu sprechen heißt, ihre Fruchtbarkeit, ihren Trend zur Vielfalt, ihre schöpferische Rolle bei der Entwicklung von Subjektivität, Identität, elementarer Wahlfreiheit und bewußter Intentionalität zu übersehen, — kurz, ein Reich potentieller Freiheit, in dem das Leben aus seiner langen Evolution schließlich als Träger genuiner Selbstheit und Selbst-Gerichtetheit hervorgeht. Voll entfaltet finden wir diese Entwicklung beim Menschen, wenn auch in den Grenzen, die von der Gesellschaft und von der vernunftgemäßen Behandlung menschlicher Angelegenheiten gezogen werden. Die Menschheit wird praktisch zur potentiellen Stimme einer ihrer selbstbewußt gewordenen und sich selbstgestaltenden Natur.

Wir können deshalb von der vormenschlichen Natur als "erster Natur" in dem Sinne sprechen, daß das Selbst, das Bewußtsein und die Grundlagen der Freiheit noch zu schwach und rudimentär sind, um als selbstorientierend bezeichnet werden zu können.


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Wir mögen sogar viele Annäherungen an ein Selbst-Bewußtsein antreffen, vornehmlich bei den Primaten, aber erst mit der Menschheit wird dieses Potential zu einer neuen gesellschaftlichen oder "zweiten Natur", um so zu seiner vollen Entfaltung zu gelangen: ein Produkt der Evolution, ausgestattet mit der Fülle des Geistes, außergewöhnlichen kommunikativen Fähigkeiten, bewußter Assoziation und der Gabe, sich selbst und die natürliche Welt wissentlich zu verändern. Wer diese außergewöhnlichen menschlichen Eigenschaften leugnet, die wir doch täglich um uns herum erleben, und sie stattdessen durch Gebilde wie die "biozentrische Demokratie" aufsaugen will, wo Schnecken und Menschen den "gleichen inneren Wert" besitzen (was immer damit gemeint sein mag), den kann man nur als frivol bezeichnen.

Darüber hinaus — und bezeichnenderweise — will dieser "biozentrische" Ansatz den charakteristischsten Zug der Menschheit verwässern: ihre Fähigkeit zum zweckgerichteten Handeln.

Er versagt den Menschen die Macht, die Welt und zu einem großen Teil auch sich selbst zu verändern. Stattdessen erliegt diese "biozentrische" Denkweise den tödlichen Einflüsterungen einer rezeptiven Passivität und neigt zu kritikloser Anpassung. Solche quietistischen Lehrsätze dringen zu uns aus dem Taoismus, aber auch aus der Feder westlicher "Seins"-Philosophen von Parmenides bis Heidegger, dessen Position in meinen Augen ohne Schwierigkeiten mit dem Gedankengut der Nationalsozialisten in Einklang gebracht werden kann, deren Bewegung er mehr als ein Jahrzehnt lang angehörte.

 

Was uns die großen radikalen Denker, von Roben Owen, Charles Fourier, Michael Bakunin, Karl Marx und viele andere bis in unsere Tage lehren wollen, ist die entscheidende Betonung des Glaubens, daß die Menschheit ein aktiver Teil in dieser Welt sein müsse. Diese Gebote bilden den Kern des revolutionären Projekts und der Freiheitsideale. Wenn nun verschiedene ökologische Schulen entstanden sind, die ein passives Verhältnis zwischen Menschheit und Natur predigen, ja eine sklavische Unterwerfung der Menschen unter die "Gesetze der Natur", denen dann wohl Hungersnöte zur "Bevölkerungskontrolle" dienen, so könnte dies der Ökologie einen noch schlechteren Ruf verschaffen als ihn die Ökonomie besitzt. Wenn die Ökonomie einst den Ruf einer "furchtbaren Wissenschaft" hatte, dann hat die Ökologie, in ihrer reaktionären Ausprägung den Spitznamen "Grausame Wissenschaft" verdient.


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Noch immer ist — ich wiederhole es — die Menschheit nicht vollends menschlich geworden. Betrachtet man unsere konkurrierende, gespaltene und gefühllose Gesellschaft, liegt noch ein langer Weg vor ihr, bevor sie ihr Potential für Vernunft, Fürsorge und Mitgefühl realisieren kann. Aber dieses Potential drückt sich auf die unterschiedlichste Art aus und findet nichts Vergleichbares bei anderen Lebensformen; seine Umsetzung hängt von den grundlegenden sozialen Veränderungen ab, die noch vollzogen Werden müssen. Das abscheulichste Verbrechen bestimmter Ökologen im Umgang mit diesen sozialen Imperativen liegt darin, leichten Herzens die gesellschaftliche conditio humana sogar aus ihren Überlegungen auszuschließen. Wenn man nämlich die Menschen auf eine "Art" reduziert, macht man sie zu Komplizen, nicht nur der Naturzerstörung durch eine Wachse-oder-stirb-Gesellschaft, sondern sogar ihrer eigenen Zerstörung durch Eliten, Klassen und den Staat.

Ausgehend von dem, was Menschheit sein kann, haben wir guten Grund, von einer Beziehung der Menschen untereinander und einer Beziehung zwischen Mensch und Natur zu sprechen, welche die ursprüngliche "erste Natur", aus der eine gesellschaftliche "zweite Natur" hervorgeht, transzendieren und das Tor zu einer radikal neuen "freien Natur" aufstoßen wird, in der eine emanzipierte Menschheit die Stimme, ja der Ausdruck einer natürlichen Evolution sein wird.

Einer Evolution indessen, die ein eigenes Bewußtsein und ein sorgendes Gewissen entwickelt hat und die die Schmerzen, das Leiden und die Wirren jener anderen, sich selbst und ihrem unberechenbaren Drang ausgelieferten Evolution wie am eigenen Leibe spürt. Von daher wird die Natur, dank rationaler menschlicher Intervention neben einer Intentionalität, auch die Macht, gewisse komplexere Formen des Lebens zu entwickeln, und somit die Fähigkeit erhalten, sich selbst zu differenzieren. 

An diesem Punkt begegnen wir der weitreichenden Frage der Umwicklung einer ökologischen Ethik. Die Intervention des Menschen in die natürliche Welt ist keine krankhafte Verirrung der Evolution. Menschen können so wenig von der Natur und ihrer eigenen Animalität getrennt werden, wie Lemminge ohne ihre Haut gedeihen könnten. Es sind nicht allein seine physischen Primateneigenschaften, die das Menschentier zum Produkt der natürlichen Evolution macht sondern ebenso die Tatsache, daß die Menschheit einen kräftigen Evolutionssprung in Richtung auf Bewußtsein des eigenen Seins und der Freiheit darstellt. Hierin liegt das Fundament einer wahrhaft objektiven Ethik, die aus einer Philosophie der Möglichkeit und der Wirklichkeit erwächst und nicht einer rein mechanischen Beziehung von Ursache und Wirkung oder dem kausalen Agnostizismus eines Hume und seiner modernen positivistischen Jünger.


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Die Wirklichkeit ist immer gestaltend. Sie ist kein bloßes "hier" und "jetzt", das nicht über das direkt sinnlich Wahrnehmbare hinaus existierte. Als gestaltend verstanden, ist die Wirklichkeit immer ein Prozeß der Realisierung von Potentialen. Was sie sein könnte, ist nicht weniger "real" oder "objektiv" als was sie zu einem gegebenen Moment ist.

Von diesem dialektischen Begriff von Kausalität aus gesehen, ist die Menschheit mehr als das, was sie heute darstellt; sie ist ebenso das, was sie sein könnte — und vielleicht auch morgen oder Generationen nach uns sein wird. Insofern, als wir eine Strömung vorfinden, ja sogar ein Potential, das Freiheit und Eigenbewußtsein ermöglicht, sind Freiheit und Eigenbewußtsein in der Gesellschaft nicht weniger real (oder mit Hegels präziserem Begriff "wirklich") als in der Natur potentiell.

Der Mensch (als Tier) ist auch nicht nur deshalb als Geschöpf der Natur anzusehen, weil er ihr eine Stimme verliehen hat, sondern weil er gerade als Produkt der Evolution der Natur in diese eingreifen kann; mehr noch, weil ihm in Äonen organischer Entwicklung genau diese Aufgabe zugewachsen ist, wenn er denn eine Bestimmung in der Natur hat.

Das Perverse an der conditio humana ist nicht, daß der Mensch die Natur durch seine Eingriffe verändert, sondern daß er sie dadurch zu zerstören trachtet, weil seine gesellschaftliche Entwicklung pervertiert worden ist. Wer angesichts der unbestreitbaren Tatsache dieser Pervertierung den Kopf verliert und fordert (wie es viele besorgte Ökologen tun), unsere Eingriffe in die Natur müßten "minimiert" werden oder ganz aufhören, handelt ebenso naiv wie ein Kind, das wütend nach dem Stuhl tritt, über den es gestolpert ist.

In der Botschaft der Sozialen Ökologie ertönt nicht nur der Ruf nach einer Gesellschaft frei von Hierarchie und von hierarchischen Reflexen, sondern ebenso nach einer Ethik, die der Menschheit in der Natur die Aufgabe zuweist, der Evolution — in der Natur wie in der Gesellschaft — das volle Bewußtsein ihrer selbst und eine möglichst uneingeschränkte Fähigkeit zu vermitteln, in äußerster Rationalität die Bedürfnisse aller Lebewesen, auch des Menschen, zu erfüllen. 

Ich will mich hier keinesfalls für ein "Natur-Management" aussprechen. Wie ich in früheren Schriften wiederholt unterstrichen habe, ist die natürliche Welt viel zu komplex, um von menschlicher Erfindungskraft, Wissenschaft und Technologie "gelenkt" zu werden. Meine eigenen anarchistischen Neigungen haben in meinem Denken eine Liebe zur Spontaneität, sei es im menschlichen Verhalten oder in natürlichen Entwicklungsprozessen, erwachsen lassen.

Die Phantasie steht gleichberechtigt neben der Rationalität; das Intuitive, das Ästhetische und die Faszination durch das Wunderbare gehören ebenso zum menschlichen Geist wie das Intellektuelle. Der natürlichen Evolution kann ihre eigene Spontaneität und Fruchtbarkeit so wenig abgesprochen werden wie der sozialen Evolution.

Aber wir können nicht leugnen, daß die Rationalität ihren Platz in der Lebenswelt hat und daß sie gleichermaßen ein Entwicklungsprodukt der Natur wie des Menschen ist. Zwei Wege stehen uns offen, aber wir müssen uns für einen davon entscheiden: entweder ergeben wir uns einem gedankenlosen Irrationalismus, der die soziale Evolution mit Mythen, Gottheiten und dem dumpfen Gruppenegoismus eines Geschlechts oder einer heimlichen Elite mystifiziert — der die soziale Evolution ihrer Zielrichtung beraubt, mit furchtbaren Folgen für das menschliche und nicht-menschliche Leben — oder wir gewinnen unsere Handlungsfreiheit zurück, die heute so verpönt ist, und verwandeln die Welt in ein wachsendes und blühendes Reich der Freiheit und der Vernunft. 

Dafür brauchen wir eine neue Form der Rationalität, eine neue Technik, eine neue Wissenschaft, neue Empfindungen und ein neues Selbst — und vor allem, eine wahrhaft libertäre Gesellschaft.

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Ende

 

 

 

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