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    Wenn unsere Enkel achtzig Jahre alt sind   

 

 

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Werden sie dann noch einen jungen Körper haben, frei von den typischen Altersbeschwerden, um eines Tages in voller Gesundheit dahinzugehen; oder werden sie gar um so viel länger leben, daß sie mit 80 sich noch keineswegs der Lebensgrenze nähern? Werden sie sogar schon hoffen dürfen, den Tod wieder abschaffen zu können? 

Dem Tod zu gebieten, ihm zu befehlen, daß er das Leben auslöscht auf dem ganzen Planeten — dies hat der Mensch nun gelernt. Wird seine Macht schließlich auch so weit reichen, daß er den Tod von sich fernzuhalten vermag? Der potentiell unsterbliche, immer jugendliche Mensch! Eine Vision, herrlich, solange sie Vision bleibt — grauenhaft, wenn sie Wirklichkeit würde.

Werden auch unsere Enkel noch davon überzeugt sein, daß das Sterben immer lebensnotwendig bleiben wird? Oder werden sie dabeisein, die Tore des Paradieses aus den Angeln zu heben, um das Erbe Adams, das er mit seiner Eva vertan hat, das »Nicht-sterben-Müssen« wieder zurückzugewinnen, selbst wenn sie sich klar darüber sind, daß sie damit keineswegs zu einem paradiesischen Leben gelangen würden? 

Hat sich der Mensch abhalten lassen, die teuflische, alles vernichtende Atombombe zu erfinden? Wird er auf Unsterblichkeit verzichten, auch wenn er sie fürchtet? Wird er verzichten können? Der Tod nur noch tätig als Gehilfe des Menschen? Werden unsere Enkel dieses Ziel erreichen?

Mephisto widerspricht:

Denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht.

Man kann Einwendungen machen gegen dieses Axiom. Aber für den Menschen gilt diese Weisheit. Er wird immer dem Tod verfallen sein. Die Wissenschaft wird ihm nie einen potentiell unsterblichen Körper verleihen können. Verzichten wir darauf, dies näher zu begründen. Bleiben wir bescheiden und fragen, ob die Wissenschaft wohl auf dem Wege ist, dem alternden Menschen einen jugendlichen Körper zu erhalten und damit wohl auch die Altersgrenze hinaus­zuschieben.

Das Substrat des Lebens sind die Kolloide. Während Kristalloide-Lösungen auf die Dauer keine Änderung erkennen lassen, zeigen die Kolloide eine stetige Zustandsänderung, indem sich die Teilchen des Kolloidalen­systems mehr und mehr zusammenballen und schließlich ausflocken. Damit verlieren sie ihren kolloidalen Charakter. Es ist somit begründet diesen Umbildungsprozeß als ein Altern des Kolloids zu bezeichnen. Nicht nur die Kolloide des lebenden Organismus zeigen diese Erscheinung; wir finden sie auch bei der Milch — hier äußert sie sich in der Gerinnung — und beim Leim u. a. Und immer geht diese Ausflockung mit Wasserabgabe und Oberflächen­verringerung einher.

Nehmen wir das Maß der Wasserabgabe als Indikator für das Altern des Kolloids, dann muß man sagen, daß der Neugeborene bereits im Eiltempo zu altern beginnt. Der Wasserverlust während des embryonalen Lebens darf allerdings noch nicht als Alterungsprozeß angesprochen werden. Das embryonale Gewebe des Säugetieres enthält 94% Wasser. Bei der Geburt ist der Gehalt bereits auf 70 bis 69% herabgegangen. Der erwachsene Mensch hat 62% Wasser, der 70jährige 58%. Im Greisenalter sind noch 56% Wasser in den Geweben vorhanden. Unter 55% ist kein Leben mehr möglich.

Der Wasserverlust läßt das Unterhautzellgewebe runzelig werden, die Augenlinse verliert ihre Elastizität, und damit ihre Akkommodationsfähigkeit. Das Gehirn büßt an Gewicht durch Wasserverlust ein. Dieser Prozeß setzt beim weiblichen Geschlecht schon mit 17, beim männlichen mit 20 Jahren ein. Selbst die Potenz beginnt dann schon zurückzugehen; und das Altern setzt ein. Vom vierzigsten Lebensjahr ab verhärten die Arterien, und das Herz muß sich vergrößern, um die gesteigerte Arbeit bewältigen zu können. Daß auch Nervenzellen (am Kleinhirn beobachtet) zugrunde gehen können, spielt hierbei eine untergeordnete Rolle.

Solange ein Organismus schnell wächst, nur so lange kann er nicht altern, da die neuentstehenden Kolloide die Lebensprozesse beherrschen und nicht die schon alternden. Die Jugend beginnt erst dann zu schwinden, wenn die alternden Kolloide gegenüber den neugebildeten funktionell ins Übergewicht kommen. 


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Daraus aber ist zu folgern: »Sterblich« und »unsterblich« bedeuten nicht ein grundsätzlich verschiedenes Verhalten, denn sie sind nicht ohne kontinuierlichen Übergang. Im Experiment kann durch Beschleunigung des Neubildungsprozesses durch fortgesetzt erzwungene Regeneration bei einem »sterblichen« Tier (Strudelwurm) und durch das hierdurch erzielte ständige Überwiegen der jungen Kolloide die Sterblichkeit in Unsterblichkeit übergeführt werden.

Das Wachstum der Organismen ist mehr oder weniger scharf begrenzt. Während beim Bakterium das Erreichen der normalen Größe dazu führt, daß sich der Organismus teilt und in den Teilstückchen das Wachstum wieder fortsetzt, ist diese Möglichkeit solchen Formen, die sich geschlechtlich fortpflanzen, versagt. Meist verlangsamt sich das Wachstum mit Erreichen der Geschlechtsreife. Von jetzt ab treten die Assimilationsprozesse immer mehr zurück, das Verhältnis der jungen neugebildeten Kolloide zu den alternden und alten verschiebt sich immer mehr zugunsten der letzteren, der Alterungsprozeß beschleunigt sich. Nicht nur, daß die Zellteilungen seltener werden, auch innerhalb der Zellen geht der Protoplasma-Ersatz immer langsamer vor sich. Das heißt, daß sich auch der Betriebsstoffwechsel verzögert.

Wenn also der Organismus geschlechtsreif geworden ist, setzt der Prozeß des Alterns beschleunigt ein. Die Zellteilungen gehen wohl noch weiter, aber mit dem Aufhören des Wachstums verzögern sie sich erheblich. Die Zellteilung — dies geht aus der Betrachtung hervor — ist nicht an sich ein Verjüngungsfaktor, sondern sie ist es lediglich dadurch, daß sie zur Neubildung von Kolloiden zwingt. Denn die Kolloide sind dem Prozeß des Alterns unterworfen.

Kann der Mensch hoffen, auch über die Geschlechtsreife hinaus ein Übergewicht der jungen Kolloide zu erzielen? Meist setzte er seine Erwartungen auf die Wirkung der Hormone. Ihnen traute man zu, daß sie auch hier zu helfen vermögen. Hat man doch in den letzten Dezennien immer mehr erfahren müssen, daß sie die Lebens Vorgänge in weitem Maße leiten. Vermögen sie doch dem Menschen Himmel und Hölle vorzutäuschen — und seine Psyche so zu verändern, daß er in dem banalsten Menschenkind einen anbetungswürdigen Engel sieht.

Sehen wir also, was man der Hilfe dieser Direktoren, die hinter den Kulissen am Werk sind, zutrauen darf.

Schon lange hatte man Zusammenhänge erkannt zwischen Erlöschen der Funktion der Geschlechtsdrüsen und dem beschleunigten Altern.

1889 forderte der Physiologe Brown-Sequard die Mitglieder der Französischen Akademie auf, sie möchten sich von seiner körperlichen und geistigen Verjüngung überzeugen. Alle Altersbeschwerden seien verschwunden, nachdem er sich Hodenextrakt eines Widders unter die Haut gespritzt habe. Brown-Sequard war damals 72 Jahre alt. Er starb 5 Jahre später.


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Harms konnte 1911 zeigen, daß bei alten männlichen Meerschweinchen der Begattungstrieb wieder erwacht, wenn man ihnen Hodensubstanz implantiert. Man hatte mittlerweile erkannt, daß bei alternden Individuen die spezifisch-geschlechtlichen Gewebe immer spärlicher und funktionsuntüchtiger und immer mehr durch indifferentes Gewebe ersetzt werden. Andererseits aber hatte sich ergeben, daß die Sexualhormone im männlichen Geschlecht nicht, wie man zunächst erwartete, von den Samenzellen gebildet werden, sondern, ganz oder zum weitaus größten Teil, von den Nährzellen der heranwachsenden Samenzellen.

Steinach versuchte nun auf die alternden Fabrikatoren der Hormone einzuwirken und ihre Funktionsfähigkeit zu heben. Er wendete Bestrahlung an, vor allem aber Unterbindung des Samenstrangs. Schon lange hatten die Chirurgen bei Prostata-Hypertorphie die Samenstrangunterbindung vorgenommen. Man hatte beobachtet, daß die Nährzellen der Samenzellen daraufhin bisweilen eine starke Vermehrung erfuhren. Darauf gründete Steinach seine Hoffnung, eine Verjüngung des Körpers zu erzielen. Er konnte aber — wie zu erwarten — keine andere Erfahrung machen, als die Chirurgen bis dahin gemacht hatten: bei manchen wirkte sich die Operation günstig im Sinne einer Verjüngung aus, bei anderen indifferent, wieder bei anderen trat bedenklicher Kollaps mit schnellem geistigen und körperlichem Verfall ein.

Diese Methode konnte nicht zu weiteren Versuchen ermuntern. Voronoff ging einen anderen Weg. Er implantierte dem Menschen frische Geschlechtsdrüsen vom Menschenaffen. Seine Versuche führten ihn zu der Entdeckung, daß auch beim Menschenaffen verschiedene Blutgruppen vorkommen. Die Berücksichtigung dieser Tatsache ermöglichte es ihm, Erfolge bis zu einer Dauer von 4 Jahren und darüber zu erzielen (?). Auf die Dauer bleibt kein fremdes Gewebe im Menschen normal funktionsfähig. 

Steinach wie auch Voronoff erreichten günstigsten Falles eine erneute Erotisierung des Körpers. Aber auch dieser Erfolg war kurzfristig. Ein großer Teil der Versuchstiere und Menschen reagierte ungünstig.

Waren vielleicht die Sporen zu scharf, die man dem Organismus gegeben hatte? Oder war der Weg falsch gewählt? Man erotisierte den Körper und hoffte, ihn damit in seiner gesamten Konstitution zu fördern und wieder auf höhere, d.h. jüngere Leistung zu bringen. Hätte man nicht besser getan, umgekehrt auf das Ganze zu zielen und damit auch die Teilleistungen günstig zu treffen?

Was wollte man erreichen? 


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Erstens eine Verlängerung des Lebens. Zweitens ein Reduzieren der Altersbeschwerden. Der Weg über die Erotisierung führte zu keinem der beiden Ziele, ebensowenig wie die Injektion von Urin junger, schwangerer Frauen, in dem viel Wuchs- und Hormonstoffe enthalten sind.

Metschnikoff, der Mitarbeiter Pasteurs, hatte schon auf die Bedeutung des Bindegewebes, im besonderen des Reticulo-Endothelialen-Systems hingewiesen. Es solle — so meinte er —, wenn es aktiviert wird, sich günstig auf die Vitalität des Organismus auswirken und dessen Jugendlichkeit erhalten, vor allem dadurch, daß es dem alternden Bindegewebe seine frühere Elastizität wiedergibt.

Hier knüpfte der Russe Bogomoletz und etwas später der Franzose Bardach an, Sie erhofften sich eine günstige Wirkung auf den gesamten Körper vor allem durch die Endothelzellen der Leber, der Milz und des Knochenmarks.

Bogomoletz stellte aus der Milz und aus dem Knochenmark gesunder, durch irgendeinen Unglücksfall verstorbener Menschen sofort nach ihrem Tod einen Extrakt her. Diesen injizierte er Pferden, um ein Serum aus deren Blut zu gewinnen. Bardach verwendete hierzu Kaninchen. Dieses Serum wurde nun alternden Individuen, Versuchstieren und — nach günstigen Erfolgen bei diesen — auch Menschen injiziert. Die Kur besteht aus mehreren Einspritzungen mit wachsenden Dosen und muß alle halbe Jahre wiederholt werden. Bogomoletz hatte während des Krieges auch junge, schwer verwundete Menschen behandelt. 

Bardach hat seine Erfahrung an Hunderten von Hunden gesammelt. Beide berichten von sehr günstigen Erfolgen: Die Haare werden wieder dunkler, es tritt Gewichtszunahme ein, die Wundheilung bessert sich, die Neigung zu allergischen Krankheiten wie Asthma, Rheuma, Heuschnupfen wird geringer oder verschwindet ganz. Hier muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß das Auftreten von allergischen Krankheiten durchaus nicht als Symptom des Alterns gewertet werden kann. Es würde sich also in dieser Hinsicht, ebenso bei der gesteigerten Wundheilung, viel eher um eine Konstitutionsbesserung allgemeiner Art handeln. Weiter wurde ein Stillstand der Paradentose beobachtet, ja, die schon locker gewordenen Zähne sollen sich bereits nach 2 Tagen wieder gefestigt haben. Auch psychisch wurden günstige Veränderungen festgestellt, besonders bei Menschen, die zu Depressionen neigten. Jedoch war bei bösartigen Geschwulsten nie eine günstige Beeinflussung zu erkennen.

Die von Bardach in großer Zahl behandelten Hunde sollen, auch wenn sie schon gebrechlich, bewegungsscheu, schwerhörig und schlechtsehend geworden waren, wieder munter, bewegungsfreudig, sogar ausgesprochen spiellustig geworden sein. Auch alternde Hühner wurden behandelt. Bei diesen wurde die bereits nachlassende Legetätigkeit wieder angeregt. Bei alten Kühen konnte die Milchleistung gehoben werden.


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Weder bei Tieren noch bei alternden Menschen wurden nach Angaben beider Autoren jemals Kollapserscheinungen beobachtet. Erst nach einem halben Jahr begann die Wirkung langsam abzuklingen. Durch eine Wiederholung der Kur konnte auch dies vermieden werden.

Wesentlich an dieser Art der Beeinflussung ist im Vergleich zu den früheren Versuchen dies: Hier wird nicht auf eine Erotisierung des alternden Körpers abgezielt. Nicht die Geschlechtshormone sollen hier primär wieder angestoßen und vermehrt werden. Dieses, durch den Extrakt des Reticulo-Endothelialen-Systems gewonnene Serum soll vor allem auf das Bindegewebe wirken und dieses stimulieren und die gesamte Konstitution heben. Die injizierten Antikörper sollen geschwächte Bindegewebs- und endotheliale Zellen toten, gesunde aber kräftigen und ihre Selbstabwehr steigern.

Es dürfen nur geringe Mengen eingespritzt werden, da sonst die günstige Einwirkung auf die gesunden Zellen sich ins Gegenteil verkehren kann. Ob es dabei auch auf die Hypophyse, diesen den ganzen Körper mit seinen Hormonen beherrschenden Gehirnanhang, wirkt, wird nicht gesagt. Sehr wesentlich ist, daß von beiden Autoren nie ein Kollaps beobachtet wurde. Dies würde dafür sprechen, daß es sich nicht wie bei den Versuchen von Steinach und Voronoff um eine die Natur zu sehr herausfordernde, zu scharfe Aufpeitschung handelt, sondern daß hier ein Weg gefunden wurde, der bis zu gewissem Grad als innerhalb der physiologischen Norm gelegen bezeichnet werden kann. 

Ein eindeutiges Urteil ist heute noch nicht über das Verfahren »Bogomoletz« zu gewinnen. Es scheint, daß man weniger von einer Verjüngung als viel eher von einer sehr starken Heilwirkung vor allem bei Herz- und Kreislaufstörungen sprechen kann. Neuerdings hat Perotti ein kombiniertes Serum hergestellt, das nicht nur auf das Bindegewebe, sondern auch auf die Nervensubstanz eine verjüngende Wirkung auszuüben scheint. Auch die Arbeiten von Niehans weisen in diese Richtung. Seine Zellulartherapie zielt auf bestimmte Organe. Er verwendet Zellen von Föten und von jungen Tieren und erreicht durch deren Implantation eine Förderung der Reaktion geschädigter Zellen. Doch besteht auch hier bei der Behandlung ein gewisses Risiko. Andrerseits hat man auch in der tierärztlichen Praxis günstige Erfahrungen damit gemacht.


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In den letzten Dezennien hat man noch zwei andere Wege versucht, um dem Menschen das Leben durch Jungerhalten des Körpers angenehmer zu gestalten. Der Chemiker war bestrebt, das männliche und das weibliche Sexualhormon zu isolieren, es zu erkennen und schließlich künstlich herzustellen, und zwar in Mengen und zu einem Preis, der wirtschaftlich tragbar war. Das Problem wurde nach schwierigen Vorarbeiten verschiedener Forscher schließlich gelöst von Ruzicka, der 1936 das männliche Sexualhormon aus dem im Organismus vorkommenden Cholesterin herzustellen vermochte.

Es ist gelungen, durch Verabreichung solcher Sexualhormone Versuchstiere wieder nachhaltig zu verjüngen, vorausgesetzt, daß die Hypophyse noch normal funktionierte. Aber immer hat man zu bedenken: Das Zuführen von Hormonen, welcher Art diese auch seien, verlangt einen äußerst erfahrenen Arzt, einen besten Lehrling der Natur. Aber auch dann noch bestehen Bedenken.

Ein anderer Weg wurde vom Operateur eingeschlagen. Aufbauend auf Arbeiten von May u. a. kehrte Greene, USA, zur Transplantation ganzer Drüsen zurück. Die Methode war verlassen worden, weil man feststellen mußte, daß das Implantat, also die eingesetzte Drüse, wie ein Fremdkörper behandelt wurde und von den Gefäßen des "Wirtes nicht versorgt, bald dagegen resorbiert wurde. Harry Greene hat nun die Beobachtung gemacht, daß ein solches Einwachsen und dauerndes Funktionieren im neuen Wirtskörper dann stattfindet, wenn die Drüse von einem Embryo frühesten Stadiums stammt. Eine menschliche Frühgeburt kann als Lieferant in Frage kommen, wenn sie noch nicht erheblich über 4 Monate alt ist. Ist sie bereits weiter entwickelt, dann ist ihre Individualität schon durch bestimmte Stoffe so weit ausgeprägt, daß das embryonale Gewebe den Wirt zur Bildung von Gegenstoffen reizt, die dann den Untergang des Implantats bedingen.

Das vielleicht Zukunftsbestimmende dieser Methode liegt also darin, daß man jetzt damit rechnen darf, daß bald die wichtigsten Drüsen beim alternden und beim kranken Menschen neu eingesetzt werden können; also vielleicht auch die entscheidende Drüse, die Hypophyse, obwohl hier jeder operative Eingriff außerordentlich schwer und bedrohlich ist.

Schon spricht man von Drüsenbanken. Der Mensch kann auch dem Tod gegenüber sein kommerzielles Denken nicht aufgeben. Was mag daraus wohl alles entstehen, außer der Erhaltung der Gesundheit. Der alternde Mensch erhält von einem Embryo neue Geschlechtsdrüsen — und pflanzt sich damit fort —, ein verwickelter Fall für den Juristen, ein Fall, wohl würdig, in ungezählten Doktorarbeiten ausgeschlachtet zu werden.


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Welcher Triumph des Intellekts: Die Frau kauft sich Sperma von irgendeinem Mann; der Mann kauft sich Hoden von irgendeinem Embryo, und beide pflanzen sich mit diesen eingekauften Utensilien lustig fort. 

Jedenfalls, die Neugierde mag dabei auf ihre Rechnung kommen. Spermabörse und Drüsenbanken, in Lichtreklame angepriesen, in 50 Jahren eine Selbstverständlichkeit. Welch herrliche Stoff-Fülle für den Film, für Lustspiele und Burlesken ebenso wie für tragische Verwicklungen.

Möglich, daß auch Zahnleisten des Embryo sich verwerten lassen, so daß nach Übertragung derselben auf einen 70jährigen dieser erst wieder ein Milchgebiß und mit 80 seine bleibenden Zähne zum zweitenmal erhält — wenn die Durchblutung ausreicht.

Immer wieder war es dem Menschen verlockend erschienen, primär seine Geschlechtsfunktion zu erhalten und zu erhöhen, weil er darin das Kriterium des Jungbleibens sah. Ist es aber richtig, zu sagen, daß das Altern weiter nichts ist als ein langsam fortschreitender Kastrationsprozeß? Entscheidet die rosa Brille, mit der der Erotisierte die Welt betrachtet, alles? Mit ihr — ewige Jugend, ohne sie ein dem Alter verfallener Körper? Stimmt dies wirklich? Immerhin ist zu beachten: Stoffe wie das Testosteron, das männliche Sexualhormon, vermögen günstige Wirkungen nicht nur im Sexualbereich hervorzurufen; auch die Altersdegeneration der Arterien soll verzögert werden. Immer wieder tritt uns die innige Verzahnung aller Vorgänge entgegen.

Besonders entscheidend für die Zukunft mag wohl werden, wenn es in absehbarer Zeit gelingt, der alternden Hypophyse, diesem alle anderen Hormondrüsen steuernden Gehirnanhang, eine junge Drüse zu Hilfe zu schicken. Damit wäre eine Einwirkung auf den ganzen Körper garantiert. Eine Dauerwirkung wird aber nur erzielt werden können, wenn dadurch im ganzen Körper die Durchblutung wieder gesteigert und damit der Abbau gebrauchter, verbrauchter alternder Kolloide beschleunigt und im selben Maße der Ersatz durch junge Kolloide gesteigert wird.

Der Flügel, auf dem die Lebensmelodie gespielt wird, muß völlig aufgefrischt und überholt werden. Es genügt nicht, wenn nur der Spieler mit neuem Elan sich an den alten (kolloid-alten) Flügel setzt und ihn zuschanden spielt.

Hier könnte die Methode von Greene große Erfolge bringen, falls es gelingen sollte, dem alternden Menschen eine neue, frische, lebensmutige Regierung in Gestalt einer Hypophyse an günstiger Stelle einzusetzen. Voraussetzung wäre allerdings, daß das Implantat in derselben Weise mit dem Zwischenhirn in Verbindung treten kann wie die eigene Hypophyse. Aber selbst dann noch wird man gewärtigen müssen, daß der junge, neu berufene Dirigent den alternden Körper etwas zu forsch dirigiert.


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Man bedenke, daß die Hypophyse erst bei dem Neugeborenen, dann bei dem sich Entwickelnden und dann wieder bei dem Geschlechtsreifen und schließlich bei dem Alternden verschieden arbeitet. (Dies Problem spielt auch beim Einsetzen von Nebennieren u.a. Organen eine Rolle.) Wird das Implantat einigermaßen auf das Alter des Wirts Rücksicht nehmen, oder wird es den Großpapa so dirigieren wollen, wie es dem Neugeborenen oder dem 20jährigen angemessen wäre? Dann käme es zu einer gefährlichen Wirrnis der Vorgänge. Wird man Einfluß gewinnen können und die übertragene Hypophyse zu einem wirtsgemäßen Reagieren zwingen können? Denn für einen gealterten Organismus kann ein zu junges Organ ebenso verhängnisvoll werden wie ein zu altes.

Vor allem besteht die Frage: Wird die Hypophyse durchaus auf ihren spezifischen Auswirkungen beharren, oder wird es im wesentlichen nur zu einer grundsätzlichen Beeinflussung des Körpers kommen, dahingehend, daß sie der Entquellung entgegenarbeitet, daß sie die Durchblutung steigert und daß sie so den Ersatz der alten Kolloide durch neue, junge beschleunigt? Dies wäre entscheidend. Und wie wird sich die Zusammenarbeit des Implantats mit dem Zwischenhirn gestalten? Wenn nach dieser Richtung günstige Ergebnisse mit der Zeit zu erzielen sein werden, dann wird die Menschheit vielleicht mit einem gesünderen und vielleicht auch späteren Altern rechnen dürfen.

Aber eine üble Folge würden solche Fortschritte auf diesem Gebiete haben. Menschliche Aborte von unter 5 Monaten werden dann hoch und höchst bezahlt werden. Was liegt für Dirnen näher, als daraus ein Geschäft zu machen? Alljährlich ein Abgang, und ein »angemessener« Lebensstandard ist gesichert.

Die billigste und sicherste Kur, das Leben zu verlängern, wird aber auch weiterhin darin bestehen, es nicht zu verkürzen.

Der Wunsch, gesund zu bleiben und seine Mitmenschen gesund zu sehen, auch noch in hohem Alter, wird von jedem als berechtigt anerkannt und wird daher allgemein bejaht werden. Wozu aber Lebensverlängerung? Es wäre interessant, zu erfahren, welche Gruppe von Menschen am zähesten am Leben hängt und auch in 100 und auch 200 Jahren nicht satt werden zu können glaubt. Ich habe den Verdacht, daß es vor allem diejenigen sind, die sich von Tag zu Tag mühsam durchlangweilen ihr ganzes Leben lang bis zum Grab. Und was erwarten sich diese Meister im Totschlagen der Zeit von einem doppelt so langen Leben? Doppelt soviel Langeweile, der sie durch doppelt so viele circenses zu entgehen hoffen.

Aber die Wissenschaft kann nicht haltmachen, weder vor dem Gedanken, dem Leben unserer Erde durch weitere Forschung die Vernichtung zu bringen, noch vor der Idee, des Menschen Leben zu verlängern, auch wenn dadurch schlagartig die Zahl der Menschen auf der Erde sich verdoppelt, bis es schließlich hinsichtlich der Ernährung nur noch zwei Kategorien gibt: die Hungernden und die Verhungerten. 


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      Die Zeit des religiösen Exils ist abgelaufen    

 

Zum Herrn der Erde hat sich der Mensch gemacht. Herr zu werden über andere Himmelskörper, ist heute schon sein paralytischer Traum. Es wird wohl auch nicht mehr lange währen, und er erreicht den ersten Konnex mit anderen Welten. Ist ihm dies erst gelungen, dann werden auch gleich seine merkantilen Interessen erwachen. »Der gestirnte Himmel über ihm« bedeutet ihm dann nicht viel mehr als Kolonisieren, Gründen von Filialen, Ausbeuten, Geldverdienen.

Wird der Mensch aber stark genug sein, den Gedanken zu ertragen, daß er dann auf die Bühne des Weltenraumes hinaustritt? Wird er sich nicht hoffnungs­los verloren vorkommen? Ein Statist in dem unendlichen Theater; hineingestellt in ein übermenschliches Schauspiel. Wird er nicht erdrückt, so völlig vereinsamt?

Fürwahr, ein starkes Geschlecht muß heranwachsen, stark durch eine verinnerlichte, religiöse Verankerung; dadurch stark genug, selbst die Vereinsamung im Weltall zu ertragen, ein Homo sapiens solitarius.

Oder wird der »vereinsamte Mensch« aussterben, bevor er diese Stufe erreicht hat? Wird er aussterben wollen, oder wird seine Intelligenz zu seiner Selbstkastration führen?

Muß ich mich hier entschuldigen, wenn ich trotz allem der Ansicht bin, daß man der Menschheit in ihr Zeugnis schreiben darf: Sie wird ihren Weg schon finden. Oder ist ein solcher Optimismus ungehörig, nicht zeitgemäß und suspekt?

Es läßt sich der Menschheit aus der Entwicklung, die sie eingeschlagen hat, kein Vorwurf machen. Mußte doch schon vor Hunderttausenden von Jahren der Mensch sehen, wie er mit der Natur, die ihn immer wieder auf die verschiedenste Art gefährdete, fertig werde. Immer war er in Abwehr, in geduldiger Abwehr. Eines Tages aber - vor einigen hundert Jahren -wurde er gewahr, daß er das Zeug hatte, um zum Angriff vorzugehen gegen die Natur und gegen all ihre Bedrohungen. Und er nutzte diese Fähigkeiten, obwohl ihm scheinen mußte, daß er sich damit gegen Gott auflehnte, ja, daß er zum Gottlosen werde. Aber auch dies nahm er auf sich, der stolze, herrschsüchtige, selbstbewußte und neugierige Renaissancemensch, der die Macht der Wissenschaft zu ahnen begann. 


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Heute haben  wir ein ungeheures Wissen, verglichen mit dem vor 500 Jahren. Und wir sollten stolz darauf sein. Auch der Intellekt ist eine göttliche Gabe, die nur solche zu Intellektualbestien werden läßt, die die Voraussetzungen zur Bestie primär in sich tragen. Aber — und hier liegt das Entscheidende — alles hat für uns zu betonten Nützlichkeitswert. Es fehlt uns das Allgemeingültige, das allem erst den Sinn gibt, es fehlt uns das Beherrschtwerden durch Metaphysik. Noch fehlt es uns.

Unsere Vorfahren, die im Mittelalter lebten, waren andere Menschen, und sie waren vielleicht glücklicher. Sie hatten den Sinn dafür, Gotteshäuser zu planen und zu beginnen, von denen sie wußten, daß erst die dritte Generation sie vollenden werde. Sie bauten nicht, um selbst schon Vorteil zu haben, sie bauten in dem Bewußtsein, Gott zu dienen. Man dachte nicht schon bei der Grundsteinlegung an das Richtfest, man dachte nur daran, mitzuhelfen, wo eine große Idee Gestalt gewinnen sollte. Das Bauen ward zum Bekenntnis. Und heute? Auch die Kirche muß schnell gebaut werden, auch sie muß sich möglichst bald verzinsen.

Eines darf man dabei allerdings nicht übersehen: Im Mittelalter war es dem Menschen leicht gemacht, religiös zu sein. Kannte man doch damals die Hölle ganz genau in ihrer erschreckenden Furchtbarkeit, und man kannte auch alle ihre so bedrohlichen intimen Einrichtungen. Man war eingehend orientiert über Gestalt und Wesen des Teufels sowie seines umfangreichen Personals, und man wußte sogar um die geographische Lage der Hölle, tief in der Erde. Ja, selbst die Eingangspforte war bekannt; und sie wirkte abschreckend genug — der dampfende, qualmende Krater des Vesuvs. All dies aber ist sehr entscheidend. Wer die Hölle solchermaßen unter sich brennen fühlte, dem konnte die Inbrunst beim Gebet nicht fehlen. Himmel und Hölle, das waren damals die gewaltigen Gegenspieler im Drama des Menschseins. Die Realität eines solchen Himmels und einer solchen Hölle konnte aber nur auf dem Boden allgemeiner Religiosität wachsen.

Und ein Wichtiges, das die Grundlage für wahre Religiosität bildet, ist noch hinzuzufügen: der Hang zur Besinnlichkeit. Im Mittelalter hatten die Menschen nicht nur Neigung, sondern auch Zeit, besinnlich zu sein. Die Arbeit war damals eine quantité négligable. Man war mit gleicher Hingebung fromm wie faul; — faul, vom Standpunkt des gschaftelhuberischen modernen Menschen aus gesehen.

Gesprengt wurde diese dogmatisch religiös betonte, kontemplativ eingestellte Welt des Mittelalters, dieses Miteinander-versponnen-Sein aller in einem durchdringenden religiösen Substrat erst durch den aufkommenden Individualismus; gleichbedeutend mit der Geburt des Augenmenschen, aber eines Augenmenschen, der zu viel mit den Augen und zu wenig mit der Seele sah.


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Jetzt wollte der Verstand zeigen, daß er fähig sei, die Welt völlig zu durchdringen. So wurde Gott immer mehr zur ornamentalen Figur, zum Minister ohne Portefeuille, zum Gott von Menschen Gnaden. Schließlich hoffte man eines Tages auf die Formel zu stoßen, die ein einwandfreies Funktionieren des Weltalls verbürge, auf die Formel, die Gott völlig überflüssig werden ließ. Wie war es doch berauschend, frisch und frei darauf losdenken zu dürfen, ohne den Scheiterhaufen fürchten zu müssen.

Der Verstand als oberster Richter des Universums; das war die Versuchung; allerdings eines Universums, wie es auch von einem Komitee intelligenter Naturwissenschaftler zur Not hätte entworfen werden können, bewundernswert nur für den extremen Rationalisten, der die Welt als Maschine zu konzipieren wünscht, und der nicht davor zurückschreckt, in dem Individuum Mensch ein zufälliges Konglomerat von Einzelfaktoren zu sehen.

»Das Buch des Universums ist in mathematischen Lettern geschrieben«, sagte Galilei, und Keppler erklärte: »Wahres Erkennen ist nur dort, wo Quanta erkannt wurden.« Kann man sich wundern, daß die Quantität und die Zahl im Denken der Menschen schließlich einen so magischen Glanz erhielten, daß sie die Qualität, daß sie Gott zu entthronen vermochten?

Der Gott in der Zahl. Der Gott im Reagenzglas. So lautete das Brevier. Der materialistische Rationalismus ließ nur das Vordergründige gelten und lehnte es ab, dahinter noch etwas zu suchen und anzunehmen. Kurz, man nahm das Bewegte für das Bewegende; und als Folge davon: Man schämte sich jeder religiösen Regung; man sah darin eine Konzession an die menschliche Schwäche und eine Gefährdung der wissenschaftlichen Objektivität. Denn man leugnete alles, was nicht als physikalisches Problem aufgestellt werden konnte, oder man kettete es als belanglose Nebenerscheinung an physikalisch erklärbare Vorgänge.

Eines Tages aber begann sich die Einsicht durchzuringen, daß es nicht ein Reservat unserer Hirnrinde sein könne, Ideen zu haben. Jetzt legte man Metermaß und Zirkel aus der Hand gegenüber dem Unwägbaren, Unmeßbaren, gegenüber dem Leben und seiner Eigengesetzlichkeit.

Noch vor 50 Jahren hofften die Materialisten auf die Physik und Chemie. Und heute?

Weyl sagt: »Die Gesetzmäßigkeit, nach welcher die Materie Wirkungen auslöst, ist, soweit wir heute beurteilen können, nur statistisch zu beschreiben.«


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Aber nicht nur dies. Man muß die Teleologie zu Hilfe rufen. Nernst wies schon 1922 in seiner Rektoratsrede darauf hin, »daß eine gewisse Verwandtschaft der neuen Auffassung vom Kausalgesetz mit teleologischen Gedankengängen nicht zu verkennen sei«. Sommerfeld kommt zu dem Ergebnis: »Auch im Prinzip der kleinsten Wirkung nehmen wir einen teleologischen, keinen kausalen Standpunkt ein.« Teleologisch aber heißt: vom Endglied her zurückwirkend; und in erweitertem Sinn: vom Zweck her bestimmt. Darin liegt dann schon ein Bewerten.

»Alle Physik ist Meta-Physik.« Hätte man es vor 100 Jahren für möglich gehalten, daß ein Einstein wenige Dezennien später zu solcher Formulierung gelangen wird?

Das atomare Geschehen läßt die Möglichkeit zu Regulationen erkennen. Jedes Teilchen »handelt« jeweils so, wie wenn es sich der Ganzheit, in die es eingeordnet ist, bewußt wäre, nicht viel anders als der Embryo, der, wenn er in eine atypische Entwicklungsbahn gezwungen wird, alles versucht, um auf atypischem Weg wieder das typische Endziel zu erreichen. Wer aber gibt dem Embryo, und wer gibt dem Elektron, dem Atom, wer gibt unserer Welt und dem ganzen Kosmos das Ziel?

Die Unerbittlichkeit der klassischen Physik mußte jetzt einem Paktieren weichen, einem Sichbegnügen mit Wahrscheinlichkeiten. Man glaubte zu erkennen: Will man der Präzision des Makrokosmus auf den Grund gehen, so stößt man auf einen Mikrokosmus, der unpräzis zu sein scheint. Zuverlässigkeit im Großen, UnZuverlässigkeit im Kleinen.

Aber seien wir etwas mißtraurisch. Sollte dieses Unpräzise vielleicht nur scheinbar sein und durch einen Mangel unserer Denkfähigkeit bedingt werden? Sollte nicht Einstein recht behalten mit seinem Bekenntnis: »Ich glaube nicht, daß der liebe Gott mit uns Würfel spielt.«

»Das Weltall fängt an, mehr einem großen Gedanken als einer großen Maschine zu gleichen. Der Geist erscheint im Reich der Materie nicht mehr als ein zufälliger Eindringling, wir beginnen zu ahnen, daß wir ihn eher als den Schöpfer und Beherrscher des Reichs der Materie begrüßen sollten.« Dies sind die Worte von James Jeans.

Der Physiker Mie findet die Welt viel eher einem Kunstwerk als einem Uhrwerk ähnlich. In den Abweichungen von den Gesetzen erkennt er die Wirkung des geistigen Urgrundes der Welt.

Und der Philosoph? A. Wenzl kommt zu dem Schluß: »Das Prinzip der Welt ist Verwirklichung des Geistes.«

Es scheint wohl, daß der Mensch sich erst außerhalb des Paradieses gestellt haben muß, um wieder von Sehnsucht nach ihm erfüllt zu werden.


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So wie das Kind die Puppe zergliedert, um schließlich traurig vor den Trümmern zu sitzen, so muß wohl auch der Erwachsene erst alles zerteilen, gesondert betrachten und in tausend Schubladen einordnen, um dann erst mit Resignation gewahr zu werden, daß ihm das Leben, das er damit einfangen wollte, schon längst entschlüpft ist. Aber für uns unzulängliche Wesen gibt es nur unzulängliche und keine direkten Wege, um zum Fortschritt zu gelangen.

Im Mittelalter war das Religiös-Sein eine Selbstverständlichkeit, über die es gar kein Nachdenken gab. Es gehörte zu den physiologischen und psychologischen Unmöglichkeiten, anders als religiös zu empfinden und zu denken. Damals verdankte man seine Religion der Unfähigkeit zu kritisieren. Die Religion der Zukunft aber wird eine Folge der Kritikfähigkeit sein.

In der »Morgenröte« sagt Nietzsche: »Diese ernsten, tüchtigen, rechtlichen, tief empfindenden Menschen, welche jetzt noch von Herzen Christen sind: sie sind es sich schuldig, einmal auf längere Zeit versuchsweise ohne Christentum zu leben, sie sind es ihrem Glauben schuldig.« Vielleicht war auch die ganze christliche Menschheit sich und ihrem Glauben schuldig, einige Generationen ohne Gott zu leben, um dann mit einer um so tieferen, bewußteren und heller leuchtenden Innigkeit zu ihm wieder zurückzufinden.

Uns scheint, die Zeit dieses religiösen Exils ist nun abgelaufen.

In allem aber muß sich zeigen, daß die Menschen durch Aufklärung und Materialismus hindurchgegangen sind. Und es wird gerade deshalb nicht mehr ein pessimistischer Geist sein wie im Mittelalter, und auch kein kurzlebiger romantischer, wie ihn die religiöse Erneuerung zu Anfang des 19. Jahrhunderts zur Grundlage hatte, sondern ein optimistischer, stets bereit zur Tat.

 

      Zufall und »Anti-Zufall«    

 

Cézanne sollte Clémenceau malen. Später erzählte er darüber: »Eines Tages habe ich alles liegen- und stehenlassen. Eine Mauer richtete sich vor mir auf. Dieser Mensch glaubte nicht an Gott. Machen Sie von so etwas ein Porträt!« Bei der Wissenschaft des vorigen Jahrhunderts lagen die Verhältnisse umgekehrt. Sie wollte die Natur porträtieren. Hier aber war es der Maler, der es geradezu perhorreszierte, einen Gott in der Natur anzunehmen. Das Porträt mißlang.


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In dem letzten Jahrhundert ersehnte man von der Wissenschaft den bündigen Beweis, daß physikalische und chemische Prozesse das Wesen unserer Welt und des ganzen Kosmos und damit auch unseres geistigen, kulturellen und ethischen Strebens erschöpfend erklären können. Dann aber wurde man gewahr, daß dieses physikalisch-chemische Geschehen nur einen Teil des Lebens darstellen könne, daß somit ein Wesentliches noch hinzutreten müsse. So entschloß man sich zu einer Konzession: Der Bios, in dem die physikalisch-chemischen Prozesse mitenthalten sind, wurde und wird auch heute noch vielfach als das leitende, beherrschende Prinzip angesprochen. Die Zukunft aber wird — so möchte ich glauben — zu der Erkenntnis führen, daß auch der Bios nur Stufe ist, und zwar eine höhere Stufe als die nur physikalisch-chemischen Gegebenheiten, daß aber auch er nicht die oberste Sprosse der Leiter ist, und somit auch noch nicht das Letzte umfaßt.

Die Physik lehrt uns, daß alle Änderungsvorgänge, die sich in der Natur vollziehen, eingespannt sind in ein Gesetz, dem der Zufall zugrunde liegt. Handelt es sich nun hier um ein kosmisches Gesetz, das alles beherrscht, also um ein Gesetz, das auch gilt für die Weiterentwicklung der Menschheit? An dieser Frage können wir nicht vorübergehen, wenn wir erkennen wollen, welche Vorzeichen wir der Zukunft unserer Nachkommen zu geben haben, ob positiv oder negativ.

Gilt dieses Gesetz grundsätzlich, gilt es also auch für den Bios, gilt es auch für die Erscheinungen des Lebens? Gilt es auch für das kulturelle, für das ethische und religiöse Streben des Menschen?

Der zweite Hauptsatz der Thermo-Dynamik, das Gesetz der Entropie sagt, daß der Zustand der größten Unordnung der wahrscheinlichste ist, daß also die Unordnung ständig sich auf Kosten der Ordnung mehrt.

Das Gesetz fordert somit den restlosen Übergang von geordneter Bewegung in ungeordnete, von Differenziertem zum Einfachen, zum Homogenen, zum Ausnivellierten, den Übergang von der Qualität zur Nur-Quantität und damit zum Nichts, zum Tod. Die Entropie fordert den Sieg der Destruktion über die konstruktiven Kräfte. Sie fordert also die Annahme, daß im Anfang höchste Ordnung war, die sich nun mit der Zeit restlos auflöst in Homogenität sowohl der Materie wie auch der Zeit und des Raumes.

Und die Organismen? Sie gehen den entgegengesetzten Weg: vom Primitiven, Einfachen, weniger Gegliederten und weniger Differenzierten zu höher differenzierten Formen mit immer stärker ausgeprägtem, individuellem Akzent.

Was für eine Spontanität und schöpferische Kraft aber ist es, die, durch Jahrmillionen, die Materie in eine andere Bahn zwingt, als die es ist, der sie folgen würde, wenn sie sich selbst überlassen bliebe?


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Die Entropie ist die Welt des Zufalls. Dieser Zufall bedeutet Ohnmacht, wenn wir an Entstehung und Entwicklung des Organismenreiches denken. Ja, er bedeutet mehr als nur Ohnmacht. Er ist ausgesprochener Widersacher aller Lebensvorgänge und aller Entwicklung. Man kann daher nicht umhin, anzunehmen, daß hier dem zerstörenden Zufall ein mächtigerer Antizufall (Eddington 1936) entgegenwirkt; ein aufbauendes Prinzip, das wir getrost Gott nennen können.

Die Wissenschaft will nicht glauben, sie will wissen. Denn aus Neugier und Mißtrauen wurde sie geboren. Fängt aber nicht beim Antizufall, bei Gott der Glaube an? Wie soll sich der Mensch verhalten? Er kann versuchen, dem Zufall seine destruktive Wirkungsweise zu nehmen. Dies hieße aber nichts anderes, als ihm sein Wesen zu nehmen, das Gesetz der Entropie zu annullieren oder ihm das Wunder zu Hilfe zu schicken. Als zweite Möglichkeit bleibt die Anerkennung des Antizufalls. Dieser wird von den Organismen mindestens ebenso eindeutig bewiesen wie die Entropie außerhalb dieses Bereiches.

Ein Drittes könnte von einer zu weitgehenden Vorsicht empfohlen werden: abzuwarten mit dem Urteil. Wer aber könnte sich dazu verstehen? Abwarten in der Frage, die die Menschheit seit ihrer Geburtsstunde am meisten bewegt, hieße, Unmögliches verlangen. Abwarten — wie lange? Der Zufall bleibt, was er ist, und wird sich nie fähig zeigen, auch nur ein einziges unsymmetrisches Eiweißmolekül (Lecomte du Noüy), eine Amöbe oder einen Goethe erstehen zu lassen; nie wird der Zufall Unordnung zur Ordnung werden lassen.

Im Reich der Organismen gibt es keine Entropie, sondern nur ein Sichhinaufentwickeln, den Drang zur Vervollkommnung des Typus; und dies äußert sich im Geistigen ebenso wie im Körperlichen.

Vom primitivsten voreiszeitlichen Menschen zu Goethe — Goethe, der mit 80 Jahren noch besessen war von der Idee, sich zu vervollkommnen. »Steigerung aller Fähigkeiten!« — Man glaubt, den alten Goethe zu hören, wenn man diese Forderung noch in seinen letzten Schriften liest.

Dieser Vervollkommnungsdrang war keine Marotte Goethes, es war keine skurrile Erfindung von ihm; hier sprach die Natur aus ihm. Man könnte, um ein Goethisches Wort zu gebrauchen, sagen: Dieser Drang, sich hinaufzuentwickeln, war seiner Natur »gemäß«. Die Natur aber kann nichts verschenken, was sie nicht selbst ist.

Lassen wir die Animosität gegen die Annahme eines Gottes. Die Untauglichkeit eines Nichtgottes verlangt nach ihm. Nicht abwarten, wohl aber jederzeit bereit sein zur Korrektur, zur Verwertung neuer Erkenntnis, das allein hat für die Wissenschaft überall zu gelten.


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Der Mensch konzipiert heute den Typ, den er in der Zukunft verwirklichen wird. Die abschreckenden Grotesken, die von Phantasiebegabten entworfen werden, brauchen uns nicht zu ängstigen. Der Typus Mensch wird sich nicht zu dem entwickeln, was er heute in schärfster Form ablehnt. Diese Ausgeburten der Scheußlichkeit mit riesiger Intelligenzkugel als Kopf, mit vollkommener Glatze in beiderlei Geschlecht, mit Hängebauch und reduzierten Beinen, oder wie man sich auch die Auswirkung der Zivilisation weiterhin vorstellen mag, all dies wird der Menschheit erspart bleiben. 

Je mehr unsere Generation von solchen Abscheulichkeiten mit Bangen redet, um so weniger besteht Gefahr, daß »Miß Universum« in tausend Jahren ein solches Prachtexemplar eines zugkräftigen Mißgeburtenpanoptikums darstellt. Und je mehr wir um den Verfall eines tragenden Ethos fürchten, um so eher darf man hoffen, daß der Mensch der Zukunft einen von edlem Geist geprägten Kopf besitzen wird.

 

    Primat der Idee     

 

Napoleon erklärte Goethe gegenüber: »Was wollen Sie; die Politik ist das Schicksal der Völker.«  Rathenau war der Ansicht: »Die Wirtschaft ist das Schicksal der Völker.« Immer aber zeigt sich, daß die Idee das Schicksal der Völker bestimmt.

Im vorigen Jahrhundert konnte Marx noch sieghaft verkünden: »Die Idee wird sich immer blamieren, wenn sie nicht mit dem Interesse verknüpft ist.« Und Marx hat damit den materialistisch orientierten Ideen seiner Zeit gar nicht unrecht getan. Aber ein neues Menschengeschlecht wird heraufsteigen, das diesen Satz ins Gegenteil verkehrt. Dann wird es heißen: Immer werden sich die Interessen blamieren, wenn sie nicht mit der Idee verknüpft sind.

Sind wir soweit, dann sind damit auch alle Bedingungen erfüllt, um die Menschheit zu retten und den Materialismus endgültig zu überwinden.

Überwinden für immer? Würde man damit dem aufkommenden Idealismus nicht jede Triebkraft absprechen? Immer wird sich ein lebendiger Idealismus mit der Zeit übersteigern und damit einen Materialismus wieder heraufbeschwören, der, wenn auch er wieder gehen muß, doch zu heilsamen Korrekturen des vorausgegangenen idealistischen Denkens geführt haben wird.


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Dies ist das große Pendelschwingen des menschlichen Geistes. Das Pendel kann zum Idealismus nur hinüberschwingen, wenn es vom Materialismus herüberkommt. Ein Verharren an einer Stelle gibt es nicht. Heute stehen wir am Anfang einer neuen Weltschau, stark fundiert, selbst von der exaktesten der Naturwissenschaften, von der Physik. Wir brauchen uns über den »Unbestimmtheitsrand« der kommenden Welt noch kein Gewissen zu machen. Dies können wir unseren Urenkeln überlassen.

Wunderbares hat die Welt hervorgebracht. Und schließlich hat sie den Menschen erstehen lassen, eine Kreatur, die befähigt ist, all dieses Wunderbare bewußt zu erleben. Aber es bleibt diesem mit Vernunft und Verstand begabten Wesen versagt, auf dieser Wunderbühne, auf der es mitzuspielen gezwungen ist, hinter die Kulissen zu schauen. Dieser Zwang — man könnte von Verdammnis sprechen —, Hauptakteur zu sein in einem Spiel, dessen Sinn nicht durchschaubar ist, läßt den Menschen zum Gläubigen oder zum Nihilisten, zum Leichtfertigen, zum Tragiker oder zum Selbstmörder werden.

Aber was wäre der Mensch ohne diese Tragik, von der doch die stärksten Impulse ausgehen?

»Was bin ich innerhalb des zoologischen Systems?« Dies war die Frage des vergangenen Jahrhunderts. »Was bin ich innerhalb der Weltordnung?« Dies ist die Frage der Zukunft. Jene galt dem Körper, diese gilt dem Geist. 

Europa erlebte sein Inferno. Nur starke Seelen hatten den Mut, die Frage zu stellen: Wird diese Schreckenszeit Gutes bringen? Kann sie die Menschheit fördern? — Die Antwort ist heute schon zu geben. Denn ein solches Aufgewühltwerden aller Geister ist bereits Förderung. Es führt wieder zurück zu den tiefsten Menschheitsproblemen, zu inbrünstigem Suchen, Fragen und Ringen, und läßt hellsichtig werden. Alles Unwesentliche verstummt im Fühlen des gewaltigen geistigen Rhythmus, der die Welt ergriffen hat, im Ahnen der Zeitwende.

Als die Menschen im Jahre 1918 aus den Schützengräben herauskamen und sich umsahen, wurden sie gewahr, daß sie in einer anderen Welt lebten; und sie hofften, etwas Besseres, Erfreulicheres möchte sich entwickeln. Man traute damals noch der Menschheit zu, daß sie durch einen einzigen Schicksalsschlag lerne und vernünftig werde. Aber schnell erwies es sich, daß man allenthalben mit dem falschen Fuß angetreten war und daß der Weg in die Irre ging. Ein zweiter Weltkrieg mußte kommen mit noch größeren Schrecken und tieferem Elend, um der Menschheit die Möglichkeit zu geben, einen zweiten Versuch zu wagen. Wie wird er diesmal ausfallen? Wird Menschlichkeit in Zukunft die Welt beherrschen?


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Der Vorhang fällt, aber nicht, um nur auf den nächsten Akt vorzubereiten, in dem dann wieder dieselben Personen erscheinen wie bisher. Das Drama geht dem Ende zu. Wenn die Bühne sich wieder erhellt, werden andere Menschen auftreten mit anderen Ideen, anderem Streben und anderem Gehalt.

Nicht als ob der Mensch sich so schnell und so radikal zu ändern vermöchte. Das Trägheitsmoment gilt auch für den Geist. Aber die beiden Hauptakteure, die das dramatische Ende herbeiführten, sie werden verschwinden müssen. Und diese sind: die persönlichkeitsfeindliche Masse und ihr notwendiger Gegenspieler, der Tyrann; wobei oft schwer zu entscheiden sein mag, welcher von diesen zweien der gefährlichere Despot ist. Vermaßte und Tyrann aber müssen abgetreten sein, damit eine neue Zeit beginnen kann. Bis dahin werden Friedhöfe und Ruinenfelder die Szenerie bilden.

Eine gute Gesellschaftsordnung erzeugt nicht den tüchtigen, gütigen Menschen, sondern sie setzt ihn voraus. Also müssen wir beim Menschen beginnen und nicht beim Staat. Man kann den Staat auffrisieren und umfrisieren — Wesentliches wird damit nicht geändert, wenn sich nicht zunächst der Mensch geändert hat.

Den entgegengesetzten Weg geht der autoritäre Staat. Sein Dogma lautet: Der Einzelne ist nichts, die Gemeinschaft ist alles. Aber, was wäre das schon für eine Gemeinschaft, die nur aus Nichtsen besteht?

Wo der Tyrann das Wort führt, gilt nur das Menschenwerk Staat. In ihm »eine ganz große Schraube zu sein« (Lenin) muß höchster Ehrgeiz sein.

Und im Westen: »Gebet dem Kaiser was des Kaisers und Gott was Gottes ist.« Ist dies nicht eine ganz andere Fanfare, wenn das Göttliche im Menschen aufgerufen wird?

Eine Menschheit, die nach dem Mond und dem Mars zu greifen wagt, wird sich klar darüber werden, daß sie nicht irgendeiner Staatsform zuliebe da ist, sondern daß die Regierungen ihrem Volk zu dienen haben. Eine solche Menschheit erkennt, daß jede Staatsform letzten Endes ein notwendiges Übel ist und daß eine Regierung um so besser ist, je mehr sie dies einsieht und auch dementsprechend handelt.


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        Das Göttliche wird wieder sichtbar     

 

Im Anfang war der Vervollkommnungstrieb, war die heilige Unruhe der Materie, aus der das Leben dann erst hervorbrechen konnte. Die Vervoll­kommnungs­tendenz äußert sich im Menschen als Lustgefühl nicht etwa erst, wenn er etwas erreicht hat, sondern schon, wenn er sinnvolle Anstrengungen zur Erreichung eines Zieles macht. Jeder geistige Genuß hat die geistige Anstrengung zur Voraussetzung, ja diese Anstrengung enthält den Genuß. Dies gilt für den Handwerker wie für den Bauern, für den Wissenschaftler wie für den Künstler und den Kunstfreund, und es gilt ebenso für den, der vernünftig Sport treibt.

Riegl spricht zwar nur von der Kunst der Römer, da wo er sagt: »Der künstlerisch maßgebende Teil der damaligen Menschheit hat begonnen, einen Reiz darin zu finden, beim Genuß des Kunstwerkes zugleich eine geistige Anstrengung vollziehen zu müssen.« Hier bringt Riegl meines Erachtens etwas Grundsätzliches zum Ausdruck. Der Kunstgenuß sowie jeder geistige Genuß wurzelt in der geistigen Anstrengung. Und der Drang und Zwang zur geistigen Arbeit ist die letzte Emanation des Vervollkommnungsdranges. Dieser ist das Treibende ebenso beim bewußt lebenden Menschen wie auch bei der ganzen Natur. Ohne ihn würde alles stillstehen.

Von Jahr zu Jahr wird Albert Schweitzer in der ganzen Welt immer stärker beachtet, mehr geehrt und verehrt. Er symbolisiert geradezu das Erkennen des rechten Weges bei allen Kulturvölkern, das Lebendigwerden einer neuen, optimistischen Religiosität, die um so stärker jetzt durchzubrechen scheint, je mehr sie vorher mit brutaler Gewalt niedergehalten wurde und zum Teil heute noch niedergehalten wird. Die überspannten, grotesken Atheismen und Nihilismen einzelner moderner Schriftsteller geben insofern einen Gradmesser für die Zunahme des Glaubens an eine Ordnung der Welt, als dieser Glaube in seiner Innigkeit geradezu nach einem extremen Negativ verlangt. Auf der einen Seite ein von Gott erfüllter Mensch, auf der anderen Seite eine Überbetonung des Gottleugnens, das den Verdacht erregt, daß der Autor vor allem sich selbst von seiner Behauptung überzeugen möchte.

»Die Größe des Menschen besteht im Erkennen seiner Hoffnungslosigkeit, die er akzeptiert.« So: René Huygue. Aber er scheint bereits dabeizusein, diese Hoffnungs­losigkeit zu überwinden und in ihr nur ein Übergangsstadium zu erblicken. Der Mensch von heute — so meint er — ist sich der Notwendigkeit eines Umgusses bewußt; die Vernunft darf in Zukunft nicht mehr so pedantisch an die Vorstellung konkreter Dinge geknüpft werden wie bisher. Also doch wieder: Absage an die Hoffnungslosigkeit.


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Die aufwühlenden, alles umwertenden Zeiten der beiden Weltkriege haben den Menschen gelehrt, immer bereit zu sein, Abschied zu nehmen von allem, was ihm wert ist, sie haben ihn gewöhnt, in allem das Relative hinzunehmen, sie haben aber in ihm zugleich die Sehnsucht gesteigert nach einem Absoluten, das ihm die Unerschütterlichkeit der Seele sichern sollte.

Die ersten großen Erfolge der Naturwissenschaft vor hundert Jahren haben den Menschen noch übermütig und snobistisch aufgeblasen werden lassen. Die Wende ist schon erreicht, und unsere Enkel werden um so mehr den Schutz eines kosmischen Geistes suchen, je mehr sie die Angst vor ihren eigenen technischen Produkten überkommt.

 

      »Es sei, wie es wolle, es war doch so schön«     

 

Man stelle sich vor: Eine paradiesische Landschaft, belebt mit schönen, unbefangenen, heiteren, guten und aufgeschlossenen Menschen, deren vollendet-harmonische Bewegungen einem ewigen Dankgebete gleichen, voll der Lebensfreude, voll Inbrunst und Hingebung. Man lasse sie immerdar singen und tanzen, lachen und feiern zu Ehren des Schöpfers, der die Mühsal der Arbeit von ihnen genommen, der sie in einen überfruchtbaren Garten gesetzt hat, der ihnen Zeit schenkt, allenthalben heitere Tempel zu bauen für die Lebenden und übermütig-bunte Schreine für die Toten. — Bali.

Und der Balinese fragt uns kindlich, harmlos: »Warum könnt ihr nicht auch so leben wie wir? Ihr seid klüger als wir, ihr wißt unendlich viel mehr. Selbst die Natur muß euch gehorchen. Warum seid ihr nicht auch heiter und lustig wie wir? Es ist doch so leicht.« 

Was sollen wir ihm antworten? Wir laufen um die Wette mit der immer steigenden Bevölkerungszahl. Immer mehr Nahrung erpressen wir dem Boden, damit die neu hinzukommenden Millionen satt werden. Wie sollten wir auch Zeit haben für solches Leben? Zeit zu haben, das müßte köstlich sein. Immer nur über sich selbst nachdenken zu können! Und doch, solange wir nicht auch euer Klima haben, und vor allem, solange wir Europäer sind, würden wir diese Zeit, diese erzwungene Untätigkeit dazu mißbrauchen, uns mit der Frage zu zermürben, ob solche Art, glücklich zu sein, ein erstrebenswertes Ziel sei. Und wir würden schließlich tief unglücklich werden über all dem. Denn Prometheus, der Ruhelose, der Faustische, lebt in uns allen weiter. 

Nur im Kampf vermögen wir unser Wesen zu erkennen, nur in der Bewährung fühlen wir uns lebend. Nein, wir können euch nicht beneiden um euer Paradies. Das, was euch paradiesisch erscheint, uns würde es auf die Dauer nicht taugen.

In all dem liegt keineswegs ein Pessimismus. Der Europäer ist seinem Wesen nach immer voll Zukunftserwartungen. Möge er so bleiben. Was er auch tut, immer treibt es ihn, sich zu bewähren, eben deshalb, weil er die Welt liebt und darin mit Lust und Humor spazierengeht — und mit Sehnsucht. Mit Sehnsucht und Streben —

»sich einem Höhern, Reinem, Unbekannten 
aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, 
enträtselnd sich den ewig Ungenannten«.

Wer vermag dieses seltsame, wehmutsvolle Verlangen zu deuten, das uns trotz allem oft das Realste zu sein scheint in dieser Welt des Irrealen? Ein Verlangen ohne erkennbares Ziel. Tragisches und zugleich beseligendes Schicksal des Menschen. Vielleicht erfüllen wir damit unseren Sinn. Vielleicht liebt es die Schöpfung, von den Erschaffenen in dieser unstillbaren Sehnsucht geliebt und auch anjubiliert zu werden; vielleicht liebt sie es, wenn solchermaßen jedes Wesen sich selbst genießt.

Der Mensch, »das erste Gespräch, das die Natur mit Gott hält«. So hat sich die Natur »auseinandergesetzt, um sich selbst zu genießen. Immer läßt sie neue Genießer erwachsen, unersättlich sich mitzuteilen.«

Auch er, der dies schrieb — war er nicht ein göttlicher Genießer? — Goethe, dionysisch aufgewühlt und apollinisch heiter genießend in einem.

Gibt es ein Dankgebet, das beseligter den Schöpfer preist, als die Worte des Türmers:

Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr geseh'n,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön.

Barthel sagt: »Die Dichter vermehren Gott.« Nun, wir wollen nicht so exklusiv denken: Wir wollen dieses schöne Wort auf alle Menschen ausdehnen, in denen Ehrfurcht und Demut lebendig sind. Vielleicht kommen wir so dem Sinn unseres Daseins am nächsten.

Den Sinn aber, der den Weltengeist bewegt, wirklich zu fassen, ist uns nicht gegeben. Wir hören Laotse und stimmen ihm zu: »Der Sinn, den man ersinnen kann, ist nicht der ewige Sinn.«

Aber: Eingespannt zwischen den Ewigkeiten, die vor und denen, die hinter unserem ephemeren Dasein liegen, erleben wir wie ein tiefes Ahnen die Weisheit der Schlußworte des Faust:

Denn alles Vergängliche
ist nur ein Gleichnis

312

Ende

 

 

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Bändigt den Menschen: Ketten für Prometheus - Gegen die Natur oder mit ihr?  (1957) Professor Reinhard Demoll