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2.3 - Die Berufs-Entwicklungsdiplomaten

  Anmerk

 

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Entwicklungshilfe ist noch für eine andere Gruppe ein lohnendes Geschäft: die Experten und die Entwick­lungs­politiker. Sie verdienen viel Geld193 und genießen ein hohes Prestige, schließlich verstehen sie es als ihren Beruf, Gutes zu tun. Und sie kommen in der Welt herum. 

Das schöne Genf etwa gehört zu den beliebtesten Konferenzorten der Erde. Dem Schweizer Kanton Genf verdanken wir die folgenden bemerkens­werten Zahlen für das Jahr 1977, an deren Dimension sich bis heute nichts geändert hat: In diesem Jahr besuchten 52.000 Experten für Entwicklung 14.000 Sitzungen bei 1020 Tagungen über das Thema Dritte Welt. Außerdem befaßten sich mit dieser Frage allein rund 20.000 internationale Beamte von 110 internationalen Organisationen, die ihren Sitz in Genf haben. 

Im Bericht des Schweizer Kantons nicht erwähnt sind naturgemäß vergleichbare Aufwendungen am UNO-Hauptsitz in New York, ebensowenig die Sitzungen und Tagungen über Entwicklungsfragen in anderen internationalen Gremien, etwa der Europäischen Union. Leider hat bisher niemand ausgerechnet, was die Tagungen und Reisen pro Jahr kosten und welchen Anteil sie einnehmen an den weltweiten Entwicklungs­hilfezahlungen.194 Nach Angaben des »Spiegels« von 1994 verfliegen die Entwicklungshelfer des UN Development Program jährlich rund elf Millionen Dollar, die Funktionäre des Kinderhilfswerks UNICEF vier bis fünf Millionen. Nicht gerechnet die bei all diesen Reisen anfallenden Reisespesen. Die Damen und Herren gehen ihrer Lieblingsbeschäftigung selbstredend in der ersten Klasse nach, sobald ein Flug länger als acht Stunden dauert.195

Die UNO zählte im Jahr 1994 184 Staaten zu ihren Mitgliedern, von denen eine große Mehrheit nicht als demokratisch bezeichnet werden kann. Im New Yorker Hauptsitz der Weltorganisation am East River arbeiten rund 14.000 Menschen. Weltweit bezahlen die Vereinten Nationen 51.600 Mitarbeiter, hinzu kommen noch knapp 10.000 Berater. Experten bezeichnen die Vereinten Nationen als »korrupte Weltmacht«. Die Londoner Zeitung »Sunday Times« bezifferte den Verlust durch Korruption, Verschwendung und Mißwirtschaft auf 680 Millionen Mark. Pro Jahr! 

Vor allem die Vetternwirtschaft scheint ein beliebtes Spiel der Diplomaten zu sein. Sie bewirkt, daß der Personalapparat auf groteske Dimensionen aufgebläht ist. Mit Öffentlichkeitsarbeit beschäftigt sich die größte Abteilung des Hauses. Sie zählt tausend Mitarbeiter, käme aber mit einem knappen Drittel PR-Leute aus, folgt man der Einschätzung des Abteilungsleiters. Seine Versuche, die Abteilung zu verkleinern, scheiterten am Generalsekretär. Von der UNO sei noch niemand entlassen worden, und dabei werde es bleiben, erklärte dieser.  

Werden Beamte trotz lascher oder fehlender Kontrollen erwischt bei der Selbstbereicherung oder anderen krummen Geschäften, werden sie bei vollen Bezügen kaltgestellt. Da sitzen dann Spitzenfunktionäre der UNO mit Jahreseinkommen von einer Viertelmillion Mark und vergnügen sich in den Luxusstädten der Welt. Ehrliche Spitzenkräfte, oder solche, die nicht ertappt wurden, dürfen im Alter mit fetten Beraterverträgen rechnen. Für etwa siebzig Prozent der Einkäufe und Dienstleistungen der New Yorker UN-Zentrale liegen keinerlei Belege vor, aus denen hervorgeht, ob die Gelder ordnungs­gemäß ausgegeben worden sind.

Brigitte Erler zitiert einen hohen UN-Beamten, der erklärt, daß von den UNICEF-Geldern nicht mehr als ein Fünftel in den Entwicklungsländern ankommt.196 Ein gigantischer Apparat von Berufsentwicklungs­diplomaten aus dem Norden und dem Süden erstickt alles, was mit gutem Gewissen Entwicklung genannt werden dürfte. Ob ein einzelner Kontrolleur, den die Bundesrepublik nach New York abgestellt hat, den Moloch zügeln kann, sei bezweifelt. Bisherige Kontrolleure streckten jedenfalls samt und sonders nach kurzer Zeit die Waffen.

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Der ehemalige US-amerikanische Unterstaatssekretär John Bolton, unter Präsident George Bush zuständig für die Beziehungen der USA zu den Vereinten Nationen, nennt einen wesentlichen Grund dafür: Die westlichen Staaten seien dagegen, Mißmanagement und Korruption zu sehr in Augenschein zu nehmen, weil dann die Regierungen von Dritte-Welt-Ländern glaubten, daß sie für korrupt gehalten würden. Das hätte zur Folge, daß man schlechter mit ihnen, die ja die UN-Mehrheit stellen, zurechtkommen würde.197

Während die wenigen Damen und vielen Herren des UN-Jetsets in wohltemperierten Konferenzsälen die immer gleichen Themen erörtern, um sich danach in ihren vollklimatisierten Luxusabsteigen in Genf, Paris, New York oder Wien von den Verhandlungs­strapazen zu erholen, verrecken Millionen. Einfach, weil sie nicht genug zu essen haben.

Die Entwicklungseliten des Nordens und des Südens sind nicht allein geographisch vom Elend weit entfernt. Das Pathos der ungezählten Dokumente der Vereinten Nationen, der Berichte und Resolutionen, trieft durch die Medienkanäle, und alles bleibt, wie es war, außer daß die UNO nun Krieg rühren oder dazu ermächtigen darf. Diesen Entwicklungshilfe-Industrie-Komplex zu zerschlagen wäre eine zentrale Aufgabe von Entwicklungspolitik, die ihren Namen verdiente. Aber im »Weltdorf« haben die Revierfürsten ihre Claims genau abgesteckt. Und so werden die Potentaten und die millimeterdünne Schicht der Superreichen in der Dritten Welt weiter Hilfsgelder kassieren, damit das Nord-Süd-Geschäft läuft wie geschmiert.

80.000 Experten arbeiten im Rahmen staatlicher Entwicklungsprogramme in Afrika südlich der Sahara. Mehr als fünfzig Prozent der rund acht Milliarden Entwicklungshilfegelder, die für dieses Gebiet pro Jahr ausgegeben werden, gehen für Gehaltszahlungen drauf. Auch das viele Geld für Entwicklungshilfegutachten geht an die Fachleute im Norden.198 Bezahlt werden aus diesem Topf ebenfalls die Presseleute der Ministerien und Organisationen, deren Aufgabe es ist, die Öffentlichkeit mit Erfolgsmeldungen zu erfreuen oder mit Katastrophenberichten zu erschüttern. Auf daß dann die Hilfsorganisationen medienwirksam zum Ort des Geschehens eilen, um nicht leer auszugehen angesichts der durch die Kraft der schrecklichen Bilder ausgelösten Spenden­bereitschaft vieler Menschen.

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   Feindbild Völkerwanderung  

 

Das klassische Feindbild als Motiv für Entwicklungspolitik und Katastrophenhilfe hat sich vor aller Augen aufgelöst, neue Feindbilder sind an seine Stelle getreten. Es scheint so, als wären menschliche Organisationen und Gesellschaften zu großen Anstrengungen nur fähig, wenn sich ihrer Aggressivität ein Gegenstand anbietet. Statt der Bedrohung durch sowjetische Raketen erscheint nun die neue Völkerwanderung auf Platz eins der Gefahrenliste. Schon jetzt ist der Zustrom aus dem zusammen­gebrochenen Ostblock aufgrund des eklatanten Wohlstandsgefälles ausreichend groß, um bei einigen gesellschaftlichen Kräften heftige Abgrenzungs­bemühungen auszulösen. Fünfzehn Millionen Menschen sind zwischen 1980 und 1992 nach Westeuropa gezogen, aber mehr als hundert Millionen waren weltweit unterwegs.  

Laut »Neuntem Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung« sind »derzeit« fünfzehn bis zwanzig Millionen Menschen auf der Flucht. Menschen werden getrieben durch Armut, Hunger, Naturkatastrophen und Krieg. Ihre Wanderung gefährde die Stabilität der »Fluchtursprungs- und Aufnahmeländer, Fluchtursachen und Fluchtfolgen entwickeln sich zu Risikofaktoren für Stabilität und Frieden in der Welt«, erklärt das Bundes­ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit.199 Nach einem Weltbevölkerungsbericht der UNO könnte diese Wanderung zur »Menschheitskrise unserer Zeit« werden.200 Besonders die südeuropäischen Staaten haben sich bisher gegen die nordafrikanischen Handelskonkurrenten abgeschottet, und dort ist auch die Furcht vor einem Flüchtlingsstrom am größten, denn von Afrika nach Europa ist es über Gibraltar und Südspanien nur ein Katzensprung.

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Die Sicherung des Wohlstands im Norden verlangt nach Meinung fast aller Entwicklungspolitiker die Abschottung gegen den Zuwanderungsdruck. Entwicklungshilfe soll nun helfen, die Ursachen von Flucht zu beseitigen. Das ist zwar eine löbliche Absicht, aber auch dieses Motiv ist von den Interessen des Nordens bestimmt. Jetzt soll nicht mehr Bedürftigkeit allein der Maßstab sein, sondern Fluchtbereitschaft und Fluchtmöglichkeit als Kriterium dazu kommen. Haben Arme, die fliehen können und wollen, also mehr Anrechte als Arme, die ihr Land nicht verlassen wollen oder dürfen? Sind Hilfsbedürftige nahe an Europas Grenzen unterstützungswürdiger als leidende Menschen, die das Pech haben, in fernab von uns gelegenen Winkeln der Erde zu leben? In den »Grundlinien der Entwicklungspolitik der Bundesregierung« heißt es: »Wir leisten Entwicklungshilfe aus moralischer Verantwortung wie aus politischer und wirtschaftlicher Weitsicht.«201 Vor allem das letztere, sofern wir »Weitsicht« mit »Wahrung der eigenen Wachstums­interessen« übersetzen.

In der Beunruhigung im Norden angesichts des Völkerwanderungen verursachenden Elends mögen die nach dem Ost-West-Konflikt mit wenigen Ausnahmen in die strategische Bedeutungslosigkeit versunkenen Dritte-Welt-Staaten, die Habenichtse der Weltpolitik, eine Chance erkennen. Nämlich die, den eigenen Zustand als Drohpotential einzusetzen, als »eine destruktive Chaosmacht in einem verwundbaren System« der weltweiten Abhängigkeiten.202

 

    Feindbild Umweltzerstörung   

 

Feindbild Nummer 2 nach der Zuwanderung ist die weltweite Umweltzerstörung. Vor allem sofern sie uns betrifft. Hier steht an erster Stelle der Klimaschutz. Zunehmend soll Entwicklungshilfe abhängig gemacht werden von ökologischem Wohlverhalten. Seit sich auch in der Politik der USA und Westeuropas herum­gesprochen hat, welche ungeheuer wichtige Aufgabe die Regenwälder Mittel- und Südamerikas für das weltweite Klima haben, geraten die dortigen Regierungen unter Druck.

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Allerdings: 

Während in den Metropolen des Nordens erwogen wird, die Überschuldung stärker als ökolog­isches Druckmittel einzusetzen, finanziert die Weltbank ungerührt Waldrodungsprojekte in Brasilien. Der Norden hat viele Interessen, und manche widersprechen sich, so die der Fleischberg­produzenten und die der Klimaschützer. Manche klimaschutzwilligen Politiker und Finanziers, aber auch Umweltschutz­organisationen bemühen sich, Schuldenanteile gegen Umweltschutzzusagen von Regierungen aus der Regenwaldregion zu tauschen. Aber noch so originelle Ideen werden wenig bewirken, solange der Wachstumswahn Entwicklungs­länder ihr Heil darin suchen läßt, die Nahrungsgewohnheiten des Nordens zu befriedigen. Die Alternative dazu ist für die Staaten Mittel- und Südamerikas der Bankrott, es sei denn, die sozialen und politischen Strukturen dort würden zu Lasten der Großgrundbesitzer geändert.

Was den Klimaschutz betrifft, so sind die Anregungen und ist der politische Druck, der aus dem Norden auf Entwicklungsländer ausgeübt wird, nur mit der Vokabel »Heuchelei« halbwegs angemessen charakterisiert. Der Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid betrug 1987 weltweit 2,5 Milliarden Tonnen. Die USA waren mit 530 Millionen und Westeuropa mit 520 Millionen Tonnen beteiligt. Mittel- und Lateinamerika brachten es auf 100 Millionen Tonnen, Afrika auf 75 Millionen. Insgesamt stammen vier Fünftel des CO2-Ausstoßes von den Industriestaaten, in denen zwanzig Prozent der Weltbevölkerung leben. Lateinamerikas oder Afrikas Anteile liegen jeweils unter dem der alten Bundesrepublik.203 

Angesichts dieser Zahlen und besonders angesichts der heute bereits registrierten Klimaschädigung nimmt sich die Zusicherung der Bonner Regierung, die CO2-Emission zu stabilisieren und um 25 bis 30 Prozent zurück­zuführen, als Ökokosmetik aus. Und sie ist wenig glaubwürdig. Nach Berechnungen des Umwelt­bundes­amtes wird der Kohlendioxidausstoß durch den Autoverkehr bis zum Jahr 2005 im Vergleich zum Jahr 1987 um fünfzig Prozent zunehmen. Das zeigt, daß die Diskussion um das Soundsoviel-Liter-Auto eine rhetorische Ersatzhandlung ist.

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Am Trend nämlich ändern sparsame Autos nichts, wenn ihre Zahl und ihr Gebrauch zunehmen. Vor allem: Während sich die Experten und Politiker bei uns über den Beitrag des Autos zu den Ozonlöchern streiten, greifen die großen Automobilkonzerne nach neuen Märkten in China und Indien, um ihre Absätze zu steigern. Wenn der weltweite Individual­verkehr in den kommenden dreißig Jahren so weiter wächst, wie es sich heute darstellt, wird sich die CO2-Emission aus dieser Quelle verdoppeln auf 7,6 Milliarden Tonnen pro Jahr.204

Wenn eine Region Entwicklungshilfe in Sachen Umweltschutz benötigt, so sind das die Industrieländer, in denen der Strom aus der Steckdose kommt, wohingegen Regenwälder TV-dekorativ brennen. Zwar ist die großflächige Vernichtung von Regenwald ein ökologisches Verbrechen, auch wegen der enormen Artenvielfalt in diesen Gebieten, aber die Hauptverursacher der Klimakatastrophe leben in den Industriestaaten. Nur dort läßt sich, wenn überhaupt noch, das Ruder herumreißen. Solange allerdings über Petitessen wie Tempolimit diskutiert werden muß, sind die Aussichten düster.

Wer sich auch nur eine kurze Zeit in den Bewohner eines Dritte-Welt-Landes versetzen kann, wird die Ungeheuerlichkeit der Zumutung erkennen, sich in Selbstbeschränkung zu üben. Mit welchem Recht könnten wir einem Ecuadorianer, Tansanier oder Chinesen den Wohlstand bestreiten, den wir mit aller Selbst­ver­ständ­lichkeit genießen und, jeder Tarifkampf zeigt es, Zehntelprozent um Zehntelprozent mit Zähnen und Klauen verteidigen? Und doch präsentieren sich die Industriestaaten als Vorbilder der Entwicklung, als Inseln der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenrechte, und die Satellitenschüsseln überall in der Welt fangen die tödliche Botschaft ein, auf daß alle Menschen wissen, was menschenwürdiges Leben heißt.

Hier und da dämmert es auch Wirtschaftsführern und Politikern, daß es so wie bei uns für die anderen nicht geht. Wir verbrauchen die Wachstumsreserven der ganzen Welt, das Konto ist längst überzogen. Bevor dieser Planet weiteres Wachstum verträgt und dann, dort, wo Armut herrscht, müssen wir unsere Wirtschaft zurück­schrumpfen.

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Angesichts der globalen Ausgangslage wäre es ein gewaltiger Fortschritt, wenn wir den Zustand eines weltwirt­schaftlichen Nullsummenspiels erreichten. Es gibt nichts mehr zu verteilen, außer wir geben etwas ab, und zwar nicht vom Zuwachs, sondern von einer sich verringernden Substanz. Wir trauen uns nicht, dem Rest der Welt, der in Wahrheit eine erdrückende Mehrheit ist, klarzumachen, daß er sich bescheiden muß. Darauf aber läuft unser wirtschaftliches Handeln hinaus.

Als zu Beginn dieses Jahrhunderts nichts mehr zu verteilen war auf der Erde, löste die zu spät gekommene Macht — Deutschland — den Ersten Weltkrieg aus. Ihre Regierung empfand dies als angemessen, da ihr vorenthalten bleiben sollte, was andere Staaten jahrhundertelang für ihr gutes Recht gehalten hatten. Da war ein junges Deutsches Reich von großer ökonomischer Stärke, militärischer Macht und mit dem Anspruch auf Weltgeltung. Aber es war in eine Welt hineingewachsen, die ihm den »Platz an der Sonne« verwehrte. Seine Konkurrenten waren nicht bereit, freiwillig auf Kolonien und Einflußgebiete zu verzichten.

Was wird geschehen, wenn endlich auch in China die Parteidiktatur fällt und die Marktwirtschaft ihren sich jetzt schon anbahnenden Siegeszug vollenden wird? In Hongkong und in den Sonderwirtschaftszonen der Volksrepublik, in denen bereits pur kapitalistisch gewirtschaftet wird, sehen wir die ungeheure Produktivität von intelligenten, lernwilligen und fleißigen chinesischen Unternehmern, Wissenschaftlern, Ingenieuren und Arbeitern. Auf jeden der gut eine Milliarde Chinesen entfällt heute ein CO2-Ausstoß von einer Vierteltonne pro Jahr. Ein US-Amerikaner bringt es auf das Achtfache. Sollte China dem gepriesenen und bestaunten American way of life erliegen, würde es die gigantische Menge von mehr als zwei Milliarden Tonnen Kohlendioxid ausstoßen, fast soviel wie heute die Welt insgesamt.205

Experten sind überzeugt davon, daß der Treibhauseffekt längst wirkt. Würde unser Wachstum auch von anderen Länder erreicht — nicht nur von China, sondern etwa auch von Indien oder Indonesien —, würde die Erde in eine Wärmehölle verwandelt.

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Und doch will das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Entwicklungsländern helfen »beim Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft und gesellschaftlicher Vielfalt als Voraussetzung für eine Entwicklung aus eigener Kraft«206. Ob es nicht sinnvoller wäre, die dafür vorgesehenen Milliarden in die Forschung nach gesellschaftspolitischen Alternativen zu stecken? Statt dessen werden dem Entwicklungs­land, das abkommt vom Pfad der marktwirtschaftlichen Tugenden, die Instrumente gezeigt.*

 

     Feindbild Drogenhandel    

 

Ein weiteres neues Feindbild der letzten Jahre ist der internationale Drogenhandel. Er ist in der Tat eine Bedrohung angesichts von fünfzig Millionen Drogen­abhängigen auf der Welt. Hier wollen die Entwicklungs­politiker den Anbauern von Koka und Mohn, den Ausgangsstoffen der meisten Rauschgifte, Alternativen bieten, indem sie ihre Lebensbedingungen verbessern. Obwohl der Drogenkonsum auch in den Erzeuger­ländern wächst, ist Entwicklungshilfe auf diesem Feld praktisch Innenpolitik, weil die auswärtigen Bedingungen inländischer Rauschgiftabhängigkeit geändert werden sollen.

Zu bedauern sind nicht zuletzt die Bauern, denen es das Schicksal verwehrt, Kokasträucher oder Mohnblumen anzupflanzen, sonst hätten sie und ihre Kinder unverhofft die Chance, sich Lebensverhältnissen wenigstens anzunähern, die als menschenwürdig erachtet werden können. Zumindest zeitweise, bis die deutsche Entwicklungspolitik das Rauschgift nicht mehr fürchtet oder neue Gefahren dazu veranlassen, die Mittel neu zu verteilen. Hundert Millionen Mark gibt der deutsche Entwicklungshilfeminister jedes Jahr aus, um Kokabauern und Mohnanpflanzer in Landwirte umzufunktionieren.207

Eine Droge aber ist gefährlicher als alle natürlichen und synthetischen Rauschgifte: die Entwicklungshilfe. Vier Jahrzehnte Entwicklungs­politik waren für viele Dritte-Welt-Länder ein Desaster. Kein Staat, der wirtschaftlich gewachsen ist, hat dies der Entwicklungshilfe zu verdanken. Und kein Staat verdankt dies dem Freihandel, der unserer auf Export zielenden Wirtschaft auf den Leib geschnitten ist, aber andernorts die Wirtschaft erstickt. Brigitte Erler spricht von einem »Vernichtungs­feldzug« in der Landwirtschaft der Dritten Welt.208 

* (d-2008:)  "Zeigen der Instrumente"  - aus <Das Leben des Galileo Galilei> von Bertold Brecht

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Vor allem die auf die Märkte des Nordens orientierte Integration Afrikas und großer Teile Mittel- und Lateinamerikas in die Weltwirtschaft hat die Selbst­versorg­ungs­landwirtschaft massiv geschädigt, an manchen Orten restlos zerstört. Im brasilianischen »Neu-Kalifornien«, dem Sao-Francisco-Tal, werden unter zunächst geleugneter deutscher Beteiligung und massiver Mitwirkung der Weltbank gigantische Bewässerungsprojekte durchgeführt, um 7,5 Millionen Hektar Land zu bewässern. Um die Großagrarwirtschaft mit Energie zu versorgen, baut Brasilien neue Kraftwerke. Siedler werden vertrieben. »So ziemlich jede Frucht kann hier wachsen, wenn es einen Markt dafür gibt«, erklärte ein Weltbankberater. Er meint Exportfrüchte, damit Brasilien Devisen verdient, auch Deutsche Mark. In Supermärkten zwischen Flensburg und Passau findet der verwöhnte Konsument nun Spargel mit dem Aufkleber »Vale do Rio Sao Francisco«. Wie schön, daß Deutschland ganzjährig mit Spargel versorgt wird, während die meisten Brasilianer hungern.209)

Ist das Zerstörungswerk fortgeschritten, gibt es kein Halten mehr. Keine Kraft der Erde kann die Coca-Cola-Kultur zerschlagen. Es gibt kein Zurück in Autarkie und Naturalhandel.

Wie andere Drogen macht Entwicklungshilfe abhängig. Schone können viele Staaten ohne sie gar nicht mehr leben. Guinea Bissau etwa, wo die Entwicklungshilfe neunzig Prozent des Bruttosozialprodukts ausmacht210 und die Nahrungs­mittelimport-Abhängigkeit 27 Prozent beträgt. 93 Prozent der Exporterlöse mußte das westafrikanische Land 1992 in den Schuldendienst stecken.211 So landet Entwicklungshilfe als Tilgung und Zinszahlung schließlich auf den Konten der Kreditgeber.

Ein verhängnisvoller Kreislauf hat viele Länder erfaßt, besonders in Afrika. Oft sind die Einnahmen aus den Exporten niedriger als die Finanzhilfe, und spätestens dann hängen Staaten am Tropf der internationalen Entwicklungspolitik.

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Es entsteht ein »Schulden-Hilfe-Abhängigkeits-Syndrom«, und dagegen gibt es keine Entziehungskur. Entwicklungshilfe führt zu Schulden, Schulden verursachen Abhängigkeit und diese neue Schulden. 1990 hatten Afrikas Verbindlichkeiten 279 Milliarden US-Dollar erreicht, mehr als das Dreifache der Exporteinnahmen und fast schon soviel wie das kontinentale Bruttoinlandsprodukt von 300 Milliarden Dollar. 1970 hatte Afrika erst 5,8 Milliarden Schulden. 1989 flossen unter dem Strich 52 Milliarden US-Dollar an die Gläubiger im Norden, wohlgemerkt netto: Längst gibt es einen Süd-Nord-Transfer, längst zahlt Afrika mehr für Schulden, als es neue Kredite erhält, und daran wird sich in der überschaubaren Zukunft trotz aller Schuldenerlasse und Umschuldungsaktionen nichts Grundlegendes ändern.212 Die Schweiz verdient aus der Dritten Welt schon das Zehnfache des Betrags, den sie für Entwicklungshilfe ausgibt.213

Stärkung der Privatwirtschaft und Steigerung der Exporterlöse sind die Forderungen, die der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und die Entwicklungs­politiker der Geberländer verkünden. Sie durchzuführen bewirkt, daß die traditionellen Landwirtschaftsstrukturen zerschlagen werden zugunsten der Exportwirtschaft. Kaffee, Kakao, Bananen und Gewürze aus Großplantagen für Europa und Nordamerika, damit die Schulden bedient werden können, die gemacht wurden, um die »rückständige« Selbstversorgung zu zerstören.

Zu Recht beklagen viele, daß auch das letzte »Naturvolk« in die Zivilisation gezerrt wird, damit seine Angehörigen, zu missionierten Almosenempfängern degradiert, unter Wellblechdächern und zwischen Coca-Cola-Dosen vor sich hin vegetieren. Es wird meistens übersehen, daß diese Zivilisierung seit Jahrzehnten als Großexperiment ganze Kontinente heimsucht. Wir können es offenkundig nicht ertragen, daß andere anders leben.

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   Feindbild Überbevölkerung  

 

Ein weiteres Feindbild des Nordens ist die Überbevölkerung. Die Zahlen sind dramatisch, aus heute 5,7 Milliarden könnten im Jahr 2025 schon 8,5 Milliarden Menschen geworden sein. Wobei in der Regel übersehen wird, daß eine solche Bevölkerungs­vermehrung sich um den Preis des millionenfachen Hunger- und Krankheitstods vollzieht. Die Massengräber in den Elendsgebieten der Dritten Welt sind die Denkmäler des exponentiellen Wachstums der Menschheit. In Bangladesh, einem der ärmsten Länder, wird sich die Bevölkerungs­zahl zwischen 1990 und 2025 vermutlich verdoppeln. Wie viele Kinder müssen unter jämmerlichsten Bedingungen geboren werden, um diese Steigerungsquote zu erreichen? Und wie viele werden ihren ersten Geburtstag nicht erleben?

Der massenhafte Einsatz von Verhütungsmitteln und -praktiken hat im Zusammenwirken mit sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen die Vermehrung gebremst, aber ein Durchbruch auf diesem überlebens­wichtigen Feld ist bisher nicht erzielt worden. Womöglich auch, weil in der vom Norden dominierten Diskussion falsche Argumente vorgebracht werden. Die Bevölkerungsvermehrung soll nach Meinung vieler Experten und Politiker die größte ökologische Bedrohung sein. Das ist wahr und falsch zugleich. Richtig ist, daß das Wachstum der eigenen Art eine der großen Geißeln der Menschheit ist, weil bald die Ernährung der Milliarden die Ressourcen und die Belastbarkeit des Planeten überstrapazieren wird.

Heute ist Hunger in erster Linie zurückzuführen auf die Zerstörung der Selbstversorgungswirtschaft und auf in vielen Regionen nur als grotesk zu bezeichnende soziale und wirtschaftliche Strukturen. Noch werden auf der Erde genug Nahrungsmittel angebaut — wenn auch vielerorts unter ökologisch schädlichen Bedingungen —, um mengenmäßig jeden Erdenbürger satt zu machen. Aber in vielen Regionen sind die Grenzen des Wachstums in der Landwirtschaft erreicht, gehen die Nahrungs­mittel­erträge zurück, weil nutzbare Böden ausgelaugt sind und die Versteppung voranschreitet.

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Das Feindbild Überbevölkerung aber ist verzerrt. Die ökologischen Schäden der Menschheits­vermehrung machen einen Bruchteil der Umweltzerstörung aus, die mit Wohlstand und Wachstum im Norden einher­gehen. In jeder Hinsicht sind die Industriestaaten mit weitem Abstand die Umweltzerstörer Nummer 1.

Es läge an diesem Fünftel der Menschheit, seine überproportionale Vergeudung von Ressourcen und seine überproportionale Umweltzerstörung drastisch zu verringern. Die schönste Tropenholzdebatte ändert nichts an der Hauptverantwortung der Industriestaaten. Auch nicht an ihrer Hauptverantwortung für die Vernichtung des tropischen Regenwalds, der jede Sekunde fußballfeldgroß dezimiert wird. Unwiderruflich.

Solange die Industrienationen ihre Verschwendungs- und Zerstörungskultur nicht drastisch beschneiden, ist die Glaubwürdigkeit der von dort stammenden Argumente begrenzt. Nur wenn wir im Norden unsere Paradigmen selbstkritisch prüfen und, wo erforderlich, rasch ändern, werden wir uns die moralische Berechtigung verschaffen, andere zu tadeln. Aber wir tun ungebrochen so, als wäre unser Lebensstil der einzig wahre und Wachstum die Arznei gegen alle Krankheiten, die wir uns letztlich selbst einbrocken.

 

   Die Revolution der steigenden Erwartungen   

 

Auch in den Kreisen der Entwicklungspolitiker lassen sich alle Zweifel nicht länger unterdrücken. Wohin soll sich die Dritte Welt entwickeln, wenn wir im eigenen Überlebensinteresse nicht mehr den Maßstab darstellen dürfen.

Im Herbst 1983 setzte die UNO eine Sonderkommission für Umwelt und Entwicklung ein. Zu ihrer Präsidentin wurde die spätere norwegische Minister­präsidentin Gro Harlem Brundtland ernannt. Vier Jahre später legte die Kommission unter dem Titel »Unsere gemeinsame Zukunft« einen bemerkenswerten Bericht vor.

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Das hatte es in den Vereinten Nationen noch nicht gegeben, daß nicht nur auf Weltmodelle und Prognosen verzichtet, sondern auch klargemacht wurde, daß Ökologie und Entwicklung eng miteinander verflochten sind. Aber die Kommission mochte auf Wachstum nicht verzichten, vor allem nicht für die Dritte Welt. Das Wachstum sollte nun »dauerhaft tragfähig« beziehungsweise »nachhaltig« sein. Die Weltbank hat dieses Konzept offiziell übernommen und sogar Selbstkritik an den eigenen Modernisierungs­ideen geübt, die sie für die Krise Afrikas mitverantwortlich macht. Aber handelt es sich hier um eine Selbstbekehrung, um die Wende in der Entwicklungspolitik des Finanzgiganten? Kaum, wie seine Politik in weiten Teilen der Welt zeigt.

 

Die beiden renommierten Entwicklungsexperten Dieter Nohlen und Franz Nuscheler sprechen vor dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen mit Weltbankerklärungen vom »Selbstschutz« vor einer »Revolution der steigenden Erwartungen« in der Dritten Welt.214 Wurde nicht Zehntausenden von auserwählten Afrikanern, Amerikanern und Asiaten auf nordamerikanischen und europäischen Universitäten eingebleut, welcher der einzig wahre, einzig moderne Lebensstil sei? Sie haben die Abschätzigkeit übernommen, mit der aufgeklärte Professoren althergebrachte Produktionsmethoden auf den Müllhaufen diskutiert haben. Sie haben schließlich auch die Nase gerümpft, wenn sie an Dörfer ohne feste Häuser, Fernsehen und Badezimmer dachten.

Und dann konnten sie, die Abonnenten des »Wall Street Journal« oder der »Financial Times«, es selbst kaum glauben, daß es immer noch Leute gab, die nicht lesen konnten und dies nicht einmal als Mangel empfanden. Wenn sie zurückkamen in ihre Heimat, brachten sie ihre neuen Ideale mit, viele wurden Fremde im eigenen Land. Die Experten aus dem Norden waren ihre natürlichen Verbündeten, wohingegen sie in ihren Landsleuten Objekte der Modernisierung sahen. Ihre Loyalität gehörte nun der Ideologie des Wachstums, auch des eigenen Kontos. Ganz wie bei uns.

Und jetzt sagen manche der einstigen Wachstumsfetischisten im Norden, daß der Süden sich zurückhalten soll, weil die Umwelt bedroht sei. Das akzeptieren die modernen Eliten der Dritten Welt nicht, und schon gar nicht, wenn derlei Forderungen erhoben werden von jenen, die fast allein die Zerstörungen hervorgerufen haben, die sie heute als Gründe für ihre Thesen anführen. Und nicht zu vergessen: die noch immer jedes halbe Prozent Wachstum des eigenen Bruttosozialprodukts feiern.

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Geben wir es zu: Nachdem alle Rezepte, denen wir mit einem wahren Wunderglauben anhingen, versagt haben, haben wir kein Heilmittel mehr. Das muß kein Nachteil sein, sondern ist Aufforderung, neu zu denken. Das zwanzigste Jahrhundert ist die Zeit, in der die Endvisionen begraben wurden und nur noch als ideologische Vampire durch wenige verwirrte Hirne geistern. Ganz zu Beginn, schon vor dem ersten Versuch, die Geschichte zu steuern, zog der russische Berufsrevolutionär Wladimir Iljitsch Lenin in einer fulminanten Schrift unter dem Titel »Was tun?« die Konsequenzen aus der Tatsache, daß die Werktätigen nicht aus eigenem Antrieb dem großen sozialistischen Ziel entgegenstrebten. Sie seien lediglich dazu imstande, ein gewerkschaftliches Bewußtsein zu bilden, um im Rahmen der kapitalistischen Produktions­verhältnisse ihre soziale Lage zu verbessern. Das revolutionäre Bewußtsein aber müsse eine Vorhut in die Massen hineintragen. 

Das war die Fundierung dessen, was man später Leninismus genannt hat. Die leninistische Partei kennt den Weg und das Ziel, sie allein kann die Massen aus dem Elend zur Überwindung der Ausbeutung führen. Es hat fast das gesamte Jahrhundert gedauert, bis die Wirklichkeit diese Idee besiegte, und dies erst, nachdem sich Führung (Lenin) angesichts uneinsichtiger Massen in Gewalt (Stalin) verwandelt hatte, um danach noch einige Zeit als Bevormundung (Gorbatschow) ums Überleben zu kämpfen.

Mausetot ist Lenin aber noch nicht. Er lebt in ganz anderem Gewand weiter. Auch die westliche Entwicklungs­politik glaubt nämlich trotz aller Niederlagen daran, die Einsicht in den Gang der Geschichte zu besitzen. Voller Optimismus hat sie überkommene und vermeintlich überholte Strukturen in der Dritten Welt zerschlagen, weil deren Zukunft nur so sein kann wie unsere Gegenwart. Etwas anderes, als sich selbst zum Modell zu machen, ist der Entwicklungspolitik und ihrer Theorie nicht eingefallen.

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Nun stehen sie da vor dem Trümmerhaufen ihres Narzißmus und wollen keinen Augenblick aufhören, zu helfen, zu entwickeln. Nur nicht sich selbst.

Wo Not ist, muß geholfen werden. Dort suchen die Experten die Ursachen. Wo nichts mehr wächst, wird gedüngt. Wo kein Wasser mehr fließt, wird tiefer gebohrt. Wir haben die Technik und die Wissenschaft und beantworten alle Fragen. Dieses auf einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zurückgestutzte mechanistische Weltbild beherrscht unser Denken, obwohl nicht zuletzt die Naturwissenschaften gezeigt haben, daß dieses Bild der Welt unserer Welt kaum entspricht. Mechanistisch war der Sowjetkomm­unismus, der nur mit Gewalt eine historisch kurze Zeit zum Leben zu zwingen war. Mechanistisch ist unsere Entwicklungspolitik, die sich gar nicht vorstellen kann, daß unsere Paradigmen falsch sind.

Vielleicht sollten wir mit der Entwicklung bei uns anfangen und die Experimente mit beschränkter Haftung anderswo einstellen?

Aber wenn wir schon uns selbst als Modell sehen wollen — wer kann dieser Verlockung angesichts einer wohlfahrtgefederten Lebenswirklichkeit widerstehen? —, dann von Anfang an. Die Industriestaaten sind nicht von außen entwickelt worden, sondern verdanken dies inneren Kräften und einem gewaltigen historischen Vorlauf. Gesellschaften sind zu kompliziert, als daß sie mit einigen Kunstgriffen und viel Geld von außen verändert werden könnten. Sie wandeln sich vielmehr durch innere Kräfte, und sie tun dies durch das spontane Zusammenwirken vieler unabhängiger Einzelwillen.

Der Leninismus in der Entwicklungspolitik übersieht diese fundamentale Wahrheit und legt seine Kriterien an fremde Objekte an. Wie viele Lebenskeime von Gesellschaften mögen durch diese Gleichmacherei schon eingeebnet worden sein? Vielleicht hätte es ja für fremde Völker ein Leben ohne Eisschrank, Fernsehgerät, Auto und Coca-Cola geben können? Warum müssen wir bis heute anderen Völkern auf anderen Kontinenten Ziele aufzwingen, die unserer Mentalität und unseren Erfolgskriterien entsprechen?

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Der Kolonialismus hat in den Köpfen überlebt, auch in denen von Eliten in Entwicklungsländern. Vor allem in Afrika orientierten sich in Westeuropa ausgebildete Führungsschichten an den Gesellschaftsmodellen der Industriestaaten. Aber sie und ihre ausländischen Berater stellten die Geschichte auf den Kopf. Erst eine steigende Produktivität der Landwirtschaft konnte das Mehrprodukt abwerfen, das die Industrialisierung ermöglicht hat. In Afrika dagegen verfuhren die Verantwortlichen weitgehend nach dem Motto »Wachstum ohne Entwicklung«. Statt die Landwirtschaft behutsam zu verbessern und Traditionen des Kontinents zu bewahren, förderten die neuen Herrscher die Städte, also sich und den Teil der Bevölkerung, der ihnen potentiell gefährlich werden konnte. Ihr Ziel bestand weniger darin, die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu verbessern, sondern darin, die einmal errungene Macht zu sichern.215 Viele verstehen bis heute unter Entwicklung, die sie in internationalen Gremien einfordern, nur einen wünschenswerten Zustand ihrer Schweizer Bankkonten.

Die verderblichen Folgen der Beglückung von außen sehen in wachen Minuten auch deren Urheber, wobei sie Schwierigkeiten haben, ihre Einsichten öffentlich kundzutun. Ein Staatssekretär im schwedischen Außen­ministerium hatte in einer Fernsehsendung standhaft das traditionelle Entwicklungs­hilfe­konzept verteidigt. Als aber die Kameras ausgeschaltet waren, gestand er, daß alle Programme zur ländlichen Wasser­versorgung in Kenia und Tansania gescheitert seien. Nachdem man fünfzehn Jahre Geld in Wassergewinnungs­anlagen gesteckt habe, seien nur noch zehn Prozent der Pumpen und sonstigen Geräte verwendbar. Darüber hinaus sei die Landwirtschaft Afrikas geschädigt worden durch den von der EU betriebenen Anbau anfälliger hochgezüchteter Getreidesorten, die neben Wasser Dünger und Pestizide erfordern.216

Aber trotz solcher schlaglichtartigen Einsichten zielt Entwicklungshilfe weiter darauf ab, Afrikas Agrarwirt­schaft auszurichten an den Bedürfnissen der Kunstdüngerkonzerne und Saatgutproduzenten in den Industriestaaten, statt die traditionellen Produktionsmethoden zu pflegen, die gut angepaßt sind an die Natur und sich in Jahrhunderten bewährt haben.

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Auch deshalb hoffen inzwischen Vertreter des Südens auf ein Ende der Entwicklungshilfe. Der ehemalige Sprecher der Bewegung der Blockfreien, der Inder Rajan Malaviya, erklärte, daß es der Dritten Welt schlimm ergangen sei, als sie angeblich im Mittelpunkt des Interesses gestanden habe. »Da kann man nur hoffen, daß sie jetzt auf dem Abstellgleis ist und daß die westliche Welt jetzt erst einmal die Osteuropäer entdeckt.« Denn die Dritte Welt sei seit dem Ende der Kolonialzeit so entwickelt worden, »daß sie dem Norden Dividenden zahlen kann«. Die Europäer sollten die Idee begraben, man könne die Dritte Welt vom alten Kontinent aus entwickeln, und sich besser fragen, was der Westen zu unterlassen habe, statt Brot für die Welt zu propagieren und die Wurst zu Hause zu lassen. 

»Wir sagen in Indien, daß die Würde der Armen erst dann genommen wird, wenn man ihnen Brot gibt in der Art und Weise, daß sie dadurch das letzte, ihre Würde, verlieren. Und dann sind wir auf dem besten Wege mit der Gefühlsduselei, die wir politische Solidarität nennen.« 217)  

Die Bitterkeit, die aus solchen Worten spricht, kann sich auf traurige Tatsachen stützen.

Die Entwicklungsbemühungen des Nordens haben das Nord-Süd-Gefälle vertieft, und kräftig dazu beigetragen hat der Rüstungswahn in der Dritten Welt, der die europäischen und amerikanischen Waffenproduzenten vor Freude strahlen läßt. Im Jahr 1992 erreichten die Entwicklungsländer bei den weltweit sinkenden Rüstungsausgaben einen Anteil von zwanzig Prozent. Vor allem einige asiatische Staaten wie die Volksrepublik China, die Philippinen oder Indonesien taten sich auf diesem jede Entwicklung unterminierenden Gebiet hervor. Hätte man die Rüstungsausgaben in der Dritten Welt 1990 eingefroren, wären hundert Milliarden US-Dollar weniger für Waffen ausgegeben worden.218) Und hätten die Industriestaaten 1989 angefangen, jährlich fünf Prozent ihrer Verteidigungsaufwendungen einzusparen, so wären nach einem Jahrzehnt mehr als zwei Billionen Dollar verfügbar gewesen.

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Allerdings: So unzweifelhaft Rüstungsausgaben die schlechtesten Investitionen sind, so zweifelhaft ist es, daß eine Verwendung der durch Abrüstung freiwerdenden Mittel im Sinne der klassischen Entwicklungs­politik sinnvoll gewesen wäre.

Betrachtet man die Einkommen, so wird der Anachronismus der Aufrüstung in vielen Entwicklungsländern überdeutlich. So hat sich das Verhältnis der Pro-Kopf-Einkommen zwischen den OECD-Staaten und 125 Entwicklungsländern verschlechtert von 15:1 Mitte der sechziger Jahre auf 20:1 Ende der achtziger Jahre. Drei Viertel der Menschheit müssen sich mit einem Fünftel des Weltsozialprodukts begnügen. Der Anteil der Entwicklungsländer an der Welt-Industrieproduktion betrug Ende der achtziger Jahre 11 Prozent, wozu vor allem einige wenige Schwellenländer beigetragen haben. Die 42 ärmsten Staaten waren in diesem Zeitraum mit 0,8 Prozent am Weltexport von Industrieprodukten beteiligt und am Welthandel mit 0,4 Prozent. Seit 1950 hat sich die Kluft zwischen reichen und armen Staaten vergrößert, und seit 1980, dem Beginn des goldenen Jahrzehnts der Industriestaaten, werden die Armen in den armen Ländern immer ärmer. Franz Nuscheler, dem ich diese Zahlen verdanke, spricht angesichts der dahinterliegenden sozialen Strukturen von »globaler Apartheid«.219

Das ist die richtige Antwort auf den Zweckoptimismus der Entwicklungspolitiker, von denen manche noch ganz tief im Jammertal Gründe entdecken dafür, »daß die verbleibenden Entwicklungsaufgaben in den neunziger Jahren wohl zu bewältigen sind, wenn man die Prioritäten richtig setzt«. So im Jahr 1989 der Sonderberater für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, Mahbub ul-Hak.220 Für manche Menschen aus dem Norden und dem Süden hat sich Entwicklungspolitik tatsächlich ausgezahlt, indem sie sie mit wohldotierten Jobs in angenehmer Atmosphäre versorgt hat.

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Auch an solche banalen Tatsachen sollten wir denken, wenn wir das Rätsel ergründen wollen, warum angesichts des Desasters der Entwicklungspolitik nicht längst eine Kehrtwende eingeleitet worden ist. Es würde ein paar zehntausend Leute, die praktisch das öffentliche Definitionsmonopol in Sachen Entwicklung haben, Amt und Würden kosten. Optimistische Deklarationen internationaler Gremien hat es schon früher gegeben, aber die Konfrontation mit den Fakten scheint eine Tendenz zur Selbstbefragung nach wie vor nicht zu begründen.

Im Jahr 1974 hatten die Teilnehmer einer Welternährungskonferenz feierlich erklärt, daß »innerhalb eines Jahrzehnts kein Kind mehr hungrig zu Bett gehen wird«.221 Nach wie vor haben Millionen von Kindern weder ein Bett noch genug zu essen. 1979 schreibt Willy Brandt in seiner Einleitung zum Bericht für die von ihm geleitete Nord-Süd-Kommission: »Es ist eine Frage der Humanität, Hunger und Elend auf dem Weg ins nächste Jahrhundert zu besiegen und damit jene Futurologen zu widerlegen, die uns sagen, auch beim Übergang ins 21. Jahrhundert hätten wir uns mit der Not Hunderter von Millionen Menschen abzufinden, die zu verhungern drohen oder an vermeidbaren Krankheiten leiden.«222 Das ist fünfzehn Jahre her — die Zukunftsforscher kennen die Politik offenkundig besser als die Politiker. Entwicklungspolitik sei ein »Paradebeispiel für symbolische Politik«, die so tue, als würden ihre Ziele in einem rationalen Verhältnis zu den eingesetzten Mitteln stehen. Klarer kann man es nicht sagen als Rainer Tetzlaff.223

 

   Doppelte Standards   

 

Wo könnten Ansatzpunkte für eine Entwicklungspolitik liegen, die diesen Namen wirklich verdiente? Dazu sind bereits viele gutklingende Ideen ausgesprochen worden. Um die Menschenrechte zu fördern, sollen etwa Finanzspritzen nur verabreicht werden, wenn demokratische Mindeststandards eingehalten werden. Außerdem soll die Entwicklungshilfe verbunden werden mit der Forderung, daß die vielen hochbewaffneten Entwicklungsländer ihre Ausgaben für Rüstung verringern. Das ist vernünftig, oder?

Ja und nein. Wer Entwicklungshilfevergabe mit der Einhaltung von Menschenrechten verknüpft, muß dies in allen Fällen tun.

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Wer statt dessen Diktatoren hofiert, weil ihre Länder Zukunftsmärkte darstellen, der zerstört mit einem Mal seine Glaubwürdigkeit. So geschieht es im Zusammenhang mit der Volksrepublik China, Indonesien und anderen menschenrechtsverachtenden Regimes. Der Wettlauf der Industriestaaten um Marktvorteile im roten Riesenreich ist nicht nur obszön, er verwandelt auch alle moral­imprägnierten Erklärungen der Entwicklungspolitiker in Müll. Der amerikanische Präsident Bill Clinton, der im Wahlkampf seinen Amtsvorgänger George Bush wegen dessen Chinapolitik angegriffen hatte, ist im Sommer 1994 unter dem Druck der einheimischen Wirtschaft umgefallen und erklärt seitdem, die Menschenrechte in China durch Wirtschafts- und Politkontakte voranbringen zu wollen. Die Antwort der Pekinger Altgarde kam postwendend nach Aufhebung des Boykotts: Sie ließ gleich mehrere Bürgerrechtler verhaften. Selbstredend hat dies keine neuerliche Wende der US-amerikanischen Außenpolitik bewirkt. Dann hätte nämlich die Gefahr bestanden, daß die Japaner und die Deutschen sich zu große Stücke der Chinatorte einverleibt hätten. So geht der moralische Impetus baden im Meer der Wirtschaftsinteressen.

Doppelte Standards praktiziert auch die Bonner Regierung. Die ethischen Skrupel, die sie im Angesicht der siegreichen Sandinisten Nicaraguas überkamen, sind verflogen, wenn es um China und andere Diktaturen geht. Die Hilfsleistungen für Peking stiegen von 178 Millionen Mark 1991 auf 301 Millionen im darauf­folgenden Jahr. Dafür kamen dann milliardenschwere Aufträge für deutsche Großunternehmen ins Land. Der Iran der Ayatollahs, ein Folterstaat sondergleichen, erhielt 1992 109 Millionen Mark und Indonesiens Diktatoren 182 Millionen.224

Alle drei Staaten sind hochgerüstet bis zu den Zähnen: China unterhält eine Armee von fast drei Millionen Mann, dazu sind zwölf Millionen in paramilit­ärischen Einheiten zu rechnen, von Raketen oder Atombomben gar nicht zu reden. Der Iran verfügt über 705.000 Soldaten und 3,5 Millionen in militärähnlichen Einheiten. Indonesien hat knapp 300.000 Mann unter Waffen plus 415.000 in Milizeinheiten und besitzt eine mit deutscher Hilfe aufgerüstete Marine.225 Indonesiens Soldaten führen einen grausamen Krieg in der Provinz Osttimor.

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Die Bundesregierung erklärt in ihren entwicklungspolitischen Grundlinien, die Verwirklichung der Menschenrechte sei eines ihrer wesentlichen Ziele. »Staatliche Willkür und die Bedrohung einzelner oder bestimmter Bevölkerungsgruppen erschweren staatliche Entwicklungshilfe oder machen sie unmöglich.«226) Das mag manchmal stimmen, manchmal aber auch nicht. Sicher ist nur, daß mit den Exportchancen der Industrie die Menschenrechte an Bedeutung verlieren in der deutschen Politik.227

Es waren deutsche Bürger, die Li Peng, einem der Hauptschlächter vom Platz des Himmlischen Friedens, in Weimar und München verdeutlicht haben, daß die Bevölkerung den diplomatischen Freundlichkeiten ihrer Regierung keineswegs ungeteilt zustimmt. Leider hat sich der deutsche Außenminister Klaus Kinkel damit abgefunden, bei der Übergabe der obligatorischen Liste mit Namen von Opfern der Diktatur von seinem chinesischen Gast angeraunzt zu werden.

Derselbe Minister hat wenige Wochen später bekräftigt, an welcher Position sich die Menschenrechte wiederfinden auf seiner und der Regierung Prioritäten­liste. Er setzte die Karlsruher Stadtverwaltung unter massiven Druck — Augenzeugen berichten von Wutausbrüchen —, damit diese eine zuvor genehmigte Demonstration gegen Grausamkeiten der indonesischen Regierung in der widerrechtlich okkupierten einstigen portugiesischen Kolonie Osttimor verbot. Mit einer Mahnwache auf den Stufen der evangelischen Stadtkirche wollten Bürger den anläßlich einer Konferenz von ASEAN- und EU-Staaten in Karlsruhe weilenden indonesischen Außenminister Ali Alatas auffordern, die Menschenrechte zu achten. Laut amnesty international lassen die indonesischen Machthaber Menschen mißhandeln und foltern. In Schauprozessen werden Oppositionelle abgeurteilt, wenn sie nicht gleich »verschwinden«. Kinkel erklärte, er werde nie wieder mit einer derartigen Veranstaltung in die badische Metropole kommen, wenn die Manifestation stattfinde. Sie wurde kurzerhand per Anordnung durch die Polizei untersagt.

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Was für die deutsche Außenpolitik wichtig ist, mußte auch der Dalai Lama erfahren, das religiöse Oberhaupt des chinesisch besetzten Tibet. Außenminister Kinkel weigerte sich, ihn zu einem Gespräch zu empfangen, um die Machthaber in Peking nicht zu verärgern. Asien ist der Wachstumsmarkt der Zukunft.228 Daß das die Moralisten nicht begreifen wollen!

Es steht auch wegen der doppelten Moral der Industriestaaten schlecht um die Menschenrechte. Laut amnesty international wurden sie 1992 in 161 Staaten verletzt. In 62 Staaten saßen 300.000 Menschen als politische Gefangene hinter Gittern. In 110 Staaten wurden Menschen durch Staatsfunktionäre mißhandelt und gefoltert. 950 Menschen »verschwanden«, 1708 wurden hingerichtet.229 Grausige Zahlen, die allerdings kaum freundlicher aussehen dürften, wenn das Geld aus dem Norden ausbliebe.

 

Noch schwieriger werden Antworten, wenn wir registrieren, daß es in verschiedenen Teilen der Welt verschiedene Auffassungen von Menschenrechten gibt. Viele Dritte-Welt-Staaten zum Beispiel beharren auf einem Menschenrecht auf Entwicklung. Andere betonen soziale Kriterien, Arbeit und Bildung etwa. Und die Politiker in islamischen Staaten haben Schwierigkeiten, die Gleichberechtigung der Frau anzuerkennen, die in anderen Ländern als fundamentales Recht verankert ist (wobei es mit der Realisierung weltweit hapert).

Und was ist mit den Lebensrechten von Millionen von Kindern, denen, sofern sie nicht an Hunger und Krankheiten sterben, eine Lebensperspektive vorenthalten wird. Dies übrigens auch unter Mitwirkung des Internationalen Währungsfonds, dessen Auflagen zum Zwecke der Schuldenrückzahlung die Schwächsten am stärksten treffen. Diese Menschenrechte, die in unserem Kulturkreis fälschlicherweise geringer geschätzt werden als politische Kriterien, sind für Millionen von Menschen überlebenswichtig. Es ist auch im Zusammenhang mit Menschenrechten die Egomanie des Nordens, die die Bewertung leitet.

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Noch einmal Kuba: 

Das ist eine Diktatur, die Menschenrechte mißachtet und verletzt. Aber dort sind jahrzehntelang die Kinder satt geworden und zur Schule gegangen. Wie viele Staaten in der Dritten Welt bieten ihren Kindern diese Lebenschance? Und wie viele Staaten gelten unseren Entwicklungspolitikern als Horte der Menschenrechte, obwohl dort viele Menschen keine Chance zum Leben haben?

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat inzwischen auf die Kritik an doppelten Standards bei den Menschenrechten und anderen politischen Kriterien reagiert. Nun gelten sie lediglich als Positivindikationen, soll also die Hilfe verstärkt werden, wenn ein Entwicklungsland sich um Menschenrechte, Rechtssicherheit und Demokratie bemüht. Neben dieser Einschränkung, die den ganzen Katalog unter dem Druck von strategischen und wirtschaftlichen Interessen entwertet, bleibt festzuhalten, daß er ohnehin nur für das Ministerium gilt, nicht aber für die Süd-Politik des Restes der Bundesregierung. Rüstungs­lieferungen oder Hermes-Bürgschaften zur Exportförderung beispielsweise bleiben ausgenommen.230

Die Lage wird noch komplizierter, wenn wir uns die engmaschige Verflechtung der Wirklichkeit vergegenwärtigen. Agrarexperten versichern, mit technischen und wissenschaftlichen Hilfsmitteln lasse sich die Nahrungsmittelsproduktion weiter erhöhen. Klimaexperten versichern, daß ökologische Gefahren gebannt werden können, wenn die Menschen nur Zurückhaltung übten. Bevölkerungs­wissenschaftler erkennen in modernen Verhütungsmitteln und Sexualaufklärung wirksame Methoden gegen das Bevölkerungs­wachstum. Politiker sehen gute Chancen, die Zahl der Kriege zu vermindern und die Menschenrechte besser zu schützen durch »humanitäre Interventionen«.

Wer setzt hier die Maßstäbe?  

Die Fortsetzung einer extensiven und intensiven Landwirtschaft mag die Produktion vielerorts zeitweilig ansteigen lassen, aber doch auf Kosten der Natur, weil mehr Dünger und mehr Pflanzenschutzmittel verwendet werden müßten. Die Steigerung der Nahrungsmittelhilfe würde die Reste der Selbstversorgungswirtschaft und die traditionellen Märkte zerstören und dadurch Hunger und Elend vervielfachen.

Folgen wir den Ratschlägen der Klimaexperten, dann wäre oberstes Gebot der Schutz des Tropenwalds, dessen Brandrodung aber vielen dramatisch verschuldeten Staaten die devisenträchtige großflächige Rinder­wirtschaft ermöglicht und dessen Verwandlung in Ackerland immer mehr armen Menschen für einige Zeit das Überleben rettet.

 

Die Welt ist komplizierter als unsere Beschreibungen. Was wir fein säuberlich in Begriffe ordnen, geht in der Wirklichkeit kunterbunt durcheinander.231 Die Arbeitsteilung, die so ungeheure Produktivitäts­steigerungen hervorgebracht hat, zwingt der Realität ein Raster auf, das allein durch unser Denken und durch unsere Interessen geformt ist. Erforderlich wären eine umwelt­verträgliche Entwicklung und ein sozialverträglicher Umweltschutz. Das läßt sich gut schreiben, aber paßt es zusammen, wo sich doch so vieles widerspricht?

Ich mißtraue jedem Experten, der nicht von Anfang darauf verweist, daß der Wert seiner Aussagen von beschränkter Gültigkeit ist. Beschränkt nicht allein durch die Grenzen menschlicher Erkenntnis, sondern auch durch die beschränkt gültigen Aussagen anderer. Was ist überhaupt unzweifelhaft im Verhältnis zwischen dem Süden und dem Norden? Vielleicht die Forderung, dort und dann zu helfen, wo und wenn Hunger und Not am größten sind?

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 Von Christian von Ditfurth 1995