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Teil 1   Die Apokalyptischen Reiter

 Feuer    Explosion    Zeitlupe 

1. Der Krieg  

20-44

   E = m c

Am Montag, dem 6. August 1945, morgens um 9.15 Uhr, befand sich der amerikanische Bomber, dem sein Kommandant, Oberst Paul Tibbets, den Namen seiner Mutter <Enola Gay> gegeben hatte, in 5500 Meter Höhe exakt über dem Stadt­zentrum von Hiroshima. Der Bombenschütze, Major Thomas Ferebee, öffnete den Schacht und warf die einzige Bombe ab, welche die Maschine mit sich führte, ein vier Tonnen wiegendes tropfenförmiges Stahl-Ungetüm. 

detopia:

Oberst Tibetts auf Enola Gay vor dem Start am 6.8.1945

Anmerk-1 

wikipedia  Paul Tibbets  1915-2007

en.wikipedia  Thomas Ferebee  1918-2000

A.Einstein auf detopia    

Es verging einige Zeit, bis die Bombe auf jene Höhe von 600 Metern über dem Boden gefallen war, auf die man ihren automatischen Zünder eingestellt hatte. Als sie den Punkt erreichte, gab es einen Lichtblitz von so großer Helligkeit, daß jeder erblindete, der zufällig in seine Richtung geblickt hatte. In den anschließenden Minuten starben 70.000 Menschen (und mindestens die doppelte Anzahl folgte ihnen in den Wochen, Monaten und Jahren darauf auf qualvolle Weise). Die Stadt Hiroshima hatte — mit Ausnahme einiger Außenbezirke — aufgehört zu existieren.

Die Ursache der Katastrophe - die herbeizuführen außerordentliche Intelligenz erfordert hatte - bestand in dem Verschwinden von nicht ganz einem Gramm Materie. 

Im Inneren der Bombe hatten seine Erbauer eine aus­ge­klügelte technische Installation untergebracht, die im Augenblick der Zündung ein Zehntausendstel der Uran­menge von zehn Kilogramm verschwinden ließ, welche die "kritische Masse" der neuartigen Waffe bildeten.

Man könnte — durchaus zutreffend, wenn auch zynisch — sagen, daß der Abwurf ein physikalisches Experiment darstellte, mit dem, für jedermann unüber­sehbar, eine Entdeck­ung Albert Einsteins bewiesen wurde, die anschaulich zu verstehen keinem Menschen möglich ist: die Ent­deck­ung der grund­sätzlichen Identität von Materie und Energie. 

Materie sei, so behauptete der geniale Physik­er als erster Mensch, genaugenommen nichts anderes als eine besondere Zustandsform von Energie. (Von "geronnener" Energie haben manche Physiker später gesprochen.) Geglaubt hat ihm das anfangs außer seinen engsten Fachkollegen verständlicher­weise niemand. Aber seit Hiroshima sind auch die letzten Zweifel verstummt.

Was Energie "ist", weiß eigentümlicherweise niemand so recht. 

Auch von den Physikern bekommt man keine wirklich befriedigende Auskunft. Der berühmte englische Astrophysiker Sir Arthur Eddington hat seinerzeit gesagt, daß er und seine Kollegen bei der Verwendung des Begriffs Energie von "etwas" sprächen, ohne im geringsten zu wissen, worum es sich dabei handele. Nun liegt das fast ein halbes Jahrhundert zurück. Die Aussagen zeitgenössischer Wissenschaftler aber sind auch nicht sehr viel erhellender. Der an der Technischen Universität München lehrende Experimentalphysiker Edgar Lüscher definierte Energie (in einem für Laien geschriebenen Physikbuch!) kürzlich zum Beispiel folgendermaßen: "Der Physiker versteht unter Energie ganz allgemein eine abstrakte Größe eines Systems, die sich nie verändert, was immer in dem System geschieht."(8)

Abgesehen davon, daß der Verweis auf eine "abstrakte Größe" inhaltlich nichts aussagt, ist diese Definition gerade in unserem Zusammenhang insofern auch noch irreführend, als sie die Möglichkeit auszuschließen scheint, um die es uns im Augenblick geht: die der Verwandlung von Materie in Energie und umgekehrt. Wir alle haben gelernt — und wir alle haben keine allzu großen Schwierigkeiten zu verstehen —, daß die "Fähigkeit, Arbeit zu leisten" (eine weitere Definition des so eigentümlich schwer faßbaren Energie­begriffs), in sehr verschiedenen Formen auftreten kann und daß sie die Formen ihres Auftretens wechselt:  

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Aus potentieller Energie wird kinetische und dann Wärme-Energie, wenn ein zu Boden fallender Gegenstand sich beim Aufprall verformt, aus kinetischer potentielle Energie, wenn Wind einen Baum sich biegen läßt und so weiter. Unsere Technik besteht bekanntlich zu wesentlichen Teilen aus der planmäßigen Anwendung dieser Umwandlungs­möglich­keiten: etwa dann, wenn wir Kohle oder Öl verfeuern, um elektrischen Strom zu erzeugen, der dann seinerseits wieder in Wärme oder Licht oder in die kinetische Energie eines Staubsaugers umgewandelt wird, und ebenso in zahllosen anderen Fällen.

Alles, was wir dem noch hinzuzufügen haben, ist die allerdings sehr viel schwerer verständliche, wenn auch außer jedem Zweifel feststehende Möglichkeit, daß Energie auch "in der Form von Materie" auftreten kann, ja, daß alle Materie, die es gibt, einschließlich derer, aus der wir selbst bestehen, eine spezielle Form von Energie darstellt.

Es ist ganz sicher kein Zufall, daß wir angesichts dieser speziellen Umwandlungs­möglichkeiten Probleme mit unserer Vorstellungs­kraft haben. Unsere Anschauung ist schließlich während einer langen Stammes­geschichte in Anpassung an die alltäglich erfahrbaren Veränderungen und Abläufe in unserer Umwelt entstanden. Aber die Umwandlung von Energie in Materie oder — vice versa — von Materie in Energie gehört nicht zu diesen Alltagserfahrungen. Dies gilt, obwohl das Resultat eines solchen Umwandlungs­prozesses die primäre Energie­form darstellt, von der alle irdischen Lebensprozesse, Wind und Wetter und alle anderen energie­verbrauchenden Abläufe auf der Oberfläche unseres Planeten "angetrieben" werden. Gemeint ist die von der Sonne ausgehende Strahlung, genauer: der relativ winzige Teil dieser Strahlung, der auf die 150 Millionen Kilometer entfernte Erde entfällt.

Diese Strahlung entsteht, wie wohl jeder schon einmal gelesen hat, im Zentrum der Sonne durch die Verschmelzung von Wasserstoff­kernen zu Helium. Zwar handelt es sich hier nicht, wie bei der Hiroshima-Bombe, um eine Kernspaltung ("Fission"), sondern um den Prozeß einer Kernverschmelzung ("Fusion"). 

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Das Entstehen von Energie ist aber auch in diesem Falle die Folge des Verschwindens von Materie. Das kommt daher, daß die vier Wasserstoffatome, die jeweils (über mehrere komplizierte Zwischenschritte) mit­ein­ander zu einem Heliumkern verschmelzen, zusammen um einen winzigen Betrag schwerer sind als das Verschmelzungs­produkt. Der neue Heliumkern weist folglich im Vergleich zu dem Ausgangsmaterial, aus dem er entstand, einen "Massendefekt" auf.

Nun kann Materie nicht spurlos verschwinden. Das ist ein Naturgesetz, an dessen Gültigkeit nicht zu rütteln ist ("Erhaltungs­satz"). Für den Teil, der als Materie zu existieren aufgehört hat, taucht vielmehr gleichzeitig ein ihm präzise entsprechender Energie­betrag auf, das sogenannte Energie-Äquivalent. Dieser Prozeß ist die Quelle der Sonnenstrahlung. Die Sonne verströmt sich also als Energiespender konkret physisch. Die Astrophysiker haben berechnet, daß sie in jeder Sekunde 4,5 Millionen Tonnen ihrer Materie durch "Massendefekt" verliert. Das ist ein gewaltiger Betrag. Dennoch hat die Sonne in ihrer ganzen bisherigen Lebensgeschichte (vier bis fünf Milliarden Jahre) dadurch erst weniger als ein Zehntausendstel ihrer Masse eingebüßt. Sie ist so unvorstellbar groß, daß man sie nur halb auszuhöhlen brauchte, wollte man den Mond in ihr in seinem natürlichen Abstand von 380.000 Kilometern um die Erde kreisen lassen.

So alltäglich die Erfahrung von Sonnenlicht auch immer ist, der Fusionsprozeß, dem es seine Entstehung verdankt, gehört gewiß nicht zu unserer Erfahrungs­welt. Die Wissenschaftler haben ihn vielmehr unter großen intellektuellen Anstrengungen, mit Hilfe der unsere Alltagssprache an Reichweite weit übertreffenden Formelsprache der Mathematik und auf höchst indirektem Wege — der Prozeß ist ja tief im Inneren der Sonne verborgen — erst rekonstruieren und beweisen müssen. Der Versuch wäre aussichtslos gewesen, wenn man nicht bereits gewußt hätte, daß die Umwandlung von Materie in Energie grundsätzlich möglich ist. Die Astrophysiker wußten sogar noch mehr: Sie kannten das genaue Energie-Äquivalent, sie wußten präzise, wie groß der Energie­betrag sein würde, der auftreten mußte, wenn eine bestimmte Materiemenge verschwand. 

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Sie wußten, daß er ungeheuer groß sein würde. Daß auch er menschliches Vorstellungs­vermögen übersteigt. Sie konnten ihn nämlich mit Einsteins berühmter Formel E = m c2 genau berechnen.

Mit dieser Formel hatte der große Physiker schon 1905 aufgrund komplizierter Rechnungen anhand der experimentellen Resultate sehr vieler seiner Physiker­kollegen den Energiebetrag beschrieben, der in jedem Stückchen Materie "drinstecken" mußte. 

Es ist eine Formel von unüberbietbarer Einfachheit. Eine Formel, die in ihrer formalen Schlichtheit einen Widerschein bildet der Eleganz und Schönheit, welche aus uns unbekannten Gründen die fundamentalen Strukturen der Natur auszeichnen. 

Eine Formel aber auch, die einen Sachverhalt ausdrückt, der inzwischen begonnen hat, unser Überleben in Frage zu stellen.

Die Formel ist so einfach, daß es möglich ist, sie in gewöhnliche Alltagssprache zu übersetzen. E = mc² bedeutet, daß das Energie-Äquivalent einer bestimmten Materiemenge — also das Ausmaß der "Fähigkeit, Arbeit zu leisten", das herauskommt, wenn ich ein bestimmtes Stückchen Materie in Energie "umtausche" — (in der Einheit "Wattsekunde" ausgedrückt) dem Betrag entspricht, der herauskommt, wenn ich die Masse des betreffenden Materiestücks (ausgedrückt in Kilogramm) mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit (ausgedrückt in Metern pro Sekunde) multipliziere. Auch ein Laie sieht sofort, daß dieser Betrag ungeheuer groß sein muß. Denn die von den Physikern abgekürzt "c" genannte Lichtgeschwindigkeit ist die größte naturgesetzlich mögliche Geschwindigkeit überhaupt, und hier soll sie ja sogar noch "im Quadrat", also mit sich selbst multipliziert (c2!), eingesetzt werden.

Das Licht legt im Vakuum in jeder Sekunde etwa 300.000 Kilometer zurück. Das sind 300 Millionen Meter pro Sekunde. Diese sind "hoch zwei" zu rechnen, was 90 Trillionen Meter zum Quadrat pro Sekunde zum Quadrat ergibt. Nehmen wir einmal an, die Materiemenge, deren Energie-Äquivalent uns interessiert, wöge genau ein tausendstel Kilogramm, das heißt also ein Gramm. 

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Dann wären also 90 Billionen Wattsekunden der in dieser Materie steckende Energiebetrag. Umgerechnet auf die gewohntere Einheit der Kilowattstunde besagt Einsteins Formel, daß in jedem Gramm einer beliebigen Materiemenge der gewaltige Energiebetrag von rund 25 Millionen Kilowattstunden steckt.

Versuchen wir, diese Proportion zwischen Energie und ihrem "geronnenen Zustand" als Materie an einigen konkreten Beispielen anschaulich werden zu lassen. Die Aussage E = mc2 bedeutet, daß etwa 0,3 Gramm Wasser dann, wenn es gelänge, sie restlos in Energie "umzutauschen", ausreichen würden, um mehr als 10.000 Tonnen Wasser in Dampf zu verwandeln (und mit diesem dann zum Beispiel Kraftwerke zu betreiben). Zehn Kilogramm Materie würden genügen, um den Bedarf der USA an elektrischem Strom für ein ganzes Jahr zu decken. Die in diesem Buch enthaltene Materie würde genug Energie liefern, um einen großen Ozeandampfer ein ganzes Jahrhundert lang antreiben zu können.

Das alles ist allerdings bloße Theorie. Denn die restlose Umwandlung von Materie ist bisher gänzlich unmöglich. Der Nutzeffekt ist sehr viel geringer. Er beträgt sowohl bei der Kernspaltung als auch bei der Kernfusion kaum mehr als ein Zehntel Prozent. Das klingt nach nicht sehr viel. Die Fähigkeit, "etwas anzurichten", ist aber selbst bei diesem Bruchteil des theoretisch Möglichen noch immer so ungeheuerlich, daß wir uns vor den Folgen mit Recht fürchten.

Ehe wir auf diese Folgen näher eingehen, müssen wir das physikalische Prinzip kurz erläutern, das es dem Menschen möglich gemacht hat, sie auszulösen.

  

    Der Zugang zum atomaren Feuer    

 

Glücklicherweise ist diese Welt so beschaffen, daß die Materie, aus der sie besteht, unter normalen Umständen nicht explodiert. Sie neigt dazu in so geringem Grade, daß die Entdeckung, sie sei dazu überhaupt in der Lage, sensationell und zunächst ganz unglaublich wirkte. 

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Im Zentrum der Sonne geschieht das zwar seit vielen Jahrmilliarden, aber die dort herrschenden Bedingungen — 15 Millionen Grad Hitze und ein Druck von mehr als 200 Milliarden Atmosphären — sind gewiß nicht normal zu nennen, jedenfalls dann nicht, wenn man irdische Verhältnisse als Vergleichsmaßstab heranzieht. Auf der Erde kommen diese eine Kernfusion auslösenden Bedingungen unter natürlichen Umständen niemals vor.

Glücklicherweise, ist man versucht zu sagen. Aber das ist genaugenommen natürlich höchst unlogisch. Denn wenn es anders wäre, wenn also irdische Materie von Zeit zu Zeit spontaner atomarer Explosionen fähig wäre, gäbe es uns nicht, und wir hätten daher auch keine Möglichkeit, uns Sorgen zu machen. 

Anlaß unserer Besorgnis ist der Umstand, daß der Fall gewissermaßen andersherum liegt: Unter normalen Umständen, solange es keine Menschen gab, war die irdische Materie — abgesehen einmal von dem langsamen Zerfall der schwersten, der sogenannten radioaktiven Elemente — stabil. Die extremen Bedingungen, die diese Stabilität aufheben, gab es nicht. Daß sie heute auch auf der Erde realisiert werden können, ist allein der Hartnäckigkeit und Intelligenz des Menschen zuzuschreiben.

Noch vor fünfzig Jahren schien die Möglichkeit, die in der Materie steckende atomare Energie jemals freisetzen oder gar nutzen zu können, so unerreichbar, daß der berühmte Physiker Ernest Rutherford, den man als den Vater der modernen Kernphysik anzusehen hat, das Urteil abgab: "Wer von der Möglichkeit einer technischen Anwendung der in der Materie steckenden atomaren Energie redet, ist ein Schwätzer." ("... is talking moonshine") Auch Einstein hat an diese Möglichkeit noch kurz vor dem letzten Krieg nicht geglaubt.

Was war der Grund für diese Skepsis? 

Die Situation, wie sie sich in den Köpfen der Experten damals spiegelte, sah etwa folgender­maßen aus: Sinnvolle Überlegungen, wie an die in aller Materie steckende Kernenergie heranzukommen wäre, ließen sich nur im Hinblick auf die beiden Enden der — nach ihren Atomgewichten geordneten — Reihe der 92 existierenden Elemente anstellen.

 

* (d-2006:)  Das ultimative Zusatzzitat zu: "Das Radio hat keine Zukunft !", welches in der abwiegelnden Literatur immer wieder als Beweis dafür auftaucht, daß immer alles anders kommt, als "man" denkt. 
  wikipedia  Ernest_Rutherford  1871-1937

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Nur Wasserstoff, das leichteste von allen, und die schwersten Elemente kamen in Frage — etwa das Uran oder auch Plutonium, ein künstliches Element mit der Nummer 94, das beim Betreiben eines Uranreaktors als Nebenprodukt entsteht.

Im Falle des Wasserstoffs würde sich die Energie durch Fusion zu Helium freisetzen lassen — theoretisch jeden­falls. Dies Prinzip der "Wasserstoffbombe" war den Theoretikern damals durchaus schon bekannt. Sie wußten auch, daß es nicht nur in der Theorie funktionierte, denn daß die Sonne aus eben diesem Prozeß ihre unerschöpflich scheinende Energie gewinnt, galt schon in den dreißiger Jahren als ziemlich gesichert. 

Sämtliche Beteiligten waren jedoch unisono davon überzeugt, daß es sich dabei unter technischem Aspekt um eine für alle Zukunft rein hypothetisch bleibende Möglichkeit handelte. Denn wenn die im Kern der Sonne herr­sch­enden Bedingungen damals auch nur näherungsweise abgeschätzt werden konnten, so stand doch über allem Zweifel fest, daß sie extrem waren und daß ihre Herbeiführung daher außerhalb des irdisch Machbaren lag. Hundert oder mehr Milliarden Atmosphären Druck und die "Sterntemperatur" von mehr als zehn Millionen Grad ließen sich, darin war man sich einig, auf der Erde grundsätzlich und für alle Zeiten auf keine Weise erzeugen.

Und je weiter man die Reihe der Elemente9 vom Wasserstoff (mit der Ordnungszahl 1) über Helium (Ordnungszahl 2) nach oben verfolgte, um so extremer wurden die Bedingungen für die Realisierung einer "Fusion". Die schon im Falle des Wasserstoffs wahrhaft astronomischen Bedingungen nahmen mit jedem schwereren Element weiter zu.

Dies liegt an den mit steigender Kernladung (Ordnungszahl) immer mehr zunehmenden elektrostatischen Abstoßungskräften innerhalb des Atomkerns (der sogenannten Coulomb-Barriere), deren Überwindung dementsprechend immer höhere Temperaturen und Drücke erfordert. Eben diese elektrostatischen Abstoßungskräfte führen dann aber bei den schwersten Kernen (mit den höchsten Kernladungs­zahlen) zu einer ganz neuen Situation. 

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Die auf das Blei folgenden Elemente Polonium (Ordnungszahl 84), Radium (88) bis zum Uran mit der Kernladungszahl 92 — und das gilt ebenso für die dazwischen liegenden weniger bekannten Elemente Asiatin, Radon, Francium und so weiter, die hier außer acht bleiben können — sind "radioaktiv". Sie zerfallen über mehrere Zwischenschritte ganz langsam, indem sie zum Beispiel Protonen und Neutronen aus ihren Kernen spontan abstrahlen. Dadurch wandeln sie alle sich langsam, aber sicher in leichtere Elemente (mit entsprechend niedrigeren Kern­ladungs­zahlen) um. Das setzt sich jeweils fort, bis sie zu Blei geworden sind. Auf dieser niedrigeren Stufe erst erweist sich ihr Kern als stabil. Blei ist, vom oberen Ende der Reihe aus gesehen, das erste stabile Element.

Was ist von dieser Sachlage zu halten? 

Wieder war es Ernest Rutherford, der als erster auf die richtige Deutung kam. Allem Anschein nach waren die Kerne der jenseits des Bleis gelegenen Elemente so schwer und damit so kompliziert zusammengesetzt, daß ihre Lebensfähigkeit darunter litt. Der Atomkern des gewöhnlichen Urans etwa ist aus 92 elektrisch positiv geladenen Protonen (daher: Kernladungszahl 92) und zusätzlich nicht weniger als 146 elektrisch neutralen Neutronen zusammengesetzt. Insgesamt gibt das dem Kern das "Atomgewicht" (die Physiker sprechen hier von der "Massenzahl") 238. (Die extrem leichten Elektronen, die dieses höchst komplizierte Gebilde eines Atomkerns umkreisen, können bei der Charakterisierung eines Atoms durch sein Gewicht außer Betracht bleiben.) 92 (negativ geladene) Elektronen sind es, die den Urankern umkreisen. Wie bei allen intakten Atomen also genauso viele, wie der Kern jeweils Protonen enthält. Ein nicht "ionisiertes", also eines Teils seiner Elektronen beraubtes, Atom ist daher nach außen hin elektrisch neutral.

Selbst wenn man versuchte, sich anhand dieser Angaben ein einzelnes Uranatom wie aus kleinen Billard­kugeln zusammengesetzt vorzustellen (was die Situation in grob verfälschender Weise vereinfachen würde), kann einem schwindlig werden. Die Realität innerhalb des wirklichen Atoms ist noch viel komplizierter. 

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Das Zusammenspiel der Kernbindungskräfte, welche die — sich gegenseitig wegen ihrer gleichsinnigen elektrischen Ladung mit großer Kraft abstoßenden — Protonen zusammenhalten, und die Kraftfelder, welche die Beziehung zwischen diesem Kern und den ihn auf verschiedenen "Schalen" umlaufenden 92 Elektronen herstellen, lassen sich bis heute nicht einmal mathematisch in allen Details erfassen.

Verständlich also, daß das Uranatom nicht sehr haltbar ist, daß es langsam, aber sicher spontan zerfällt. Verständlich auch, daß es jenseits des Urans keine natürlichen Elemente mehr gibt. Genauer muß man sagen: daß es auf der Erde heute keine "Trans-Urane" mehr gibt. Denn bei den in allen Sternen ablaufenden Fusionsprozessen werden außer allen anderen Elementen auch heute noch immer aufs neue große Mengen von ihnen erzeugt. Auch die Urerde enthielt sie daher in nicht geringer Zahl. Ihre Unstabilität ist aber eben so groß, daß sie innerhalb meist sehr kurzer Fristen durch Zerfall wieder verschwinden oder besser: als Blei enden.

In den Zeitungen tauchen in Abständen immer wieder Meldungen auf, in denen es heißt, daß es diesem oder jenem Forscherteam mit Hilfe eines der riesigen Teilchenbeschleuniger gelungen sei, ein neues, künstliches Element herzustellen. Es handelt sich dabei stets um Trans-Urane, also Elemente mit einem "Atomgewicht" (einer Massenzahl) von mehr als 238. (Zwischen dem Wasserstoff und dem Uran ist für neue Elemente sozusagen kein Platz mehr, weil die Reihe lückenlos alle in diesem Bereich überhaupt möglichen Kerngewichte und -zusammensetzungen in der Gestalt schon bekannter Elemente enthält.) Die Menge der neuartigen Materie beschränkt sich dabei in aller Regel auf eine kleine Zahl einzelner Atome, deren Lebensdauer allenfalls Sekunden­bruchteile, mitunter nur Bruchteile von Millionstelsekunden beträgt. Stabilität ist eben jenseits des Urans nicht mehr möglich.

Eine bedeutsame Ausnahme bildet das Plutonium mit der Ordnungszahl 94. Zwar ist auch sein Kern nicht mehr stabil. Die Lebensdauer aber der in unserem Zusammenhang wichtigsten Plutonium-Art, die des sogenannten Plutonium-239, ist doch mit einer "Halbwertszeit"10 von 24.360 Jahren noch so groß, daß dieses Trans-Uran technisch — leider, wie man hinzufügen möchte — nutzbar ist.

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Die Bedingungen für eine Kernfusion, die schon im Falle des Wasserstoffs unerfüllbar schienen, wurden also mit jedem schwereren Element immer utopischer. Aber wenn es daher nicht möglich war, leichte Elemente zu "fusionieren", vielleicht ließ sich dann am anderen Ende der Reihe, beim Uran, etwas ausrichten? Wenn sein Kern und der des Plutonium-239 schon aufgrund ihrer inneren Struktur (der in ihnen wirkenden Coulomb-Abstoßungskräfte) so unstabil waren, daß sie, wenn auch sehr langsam, von selbst zerfielen, vielleicht konnte man dann hier mit dem umgekehrten Prozeß, dem einer Kernspaltung ("Fission"), an die legendäre Atomenergie herankommen? 

Man wußte, daß es auch dabei zu einem "Massendefekt" kommen würde. Es ließ sich berechnen, daß in diesem Falle — dem der schwersten Elemente am oberen Ende des "periodischen Systems" — die Summe der Gewichte der Spaltprodukte um einen winzigen Bruchteil kleiner sein würde als die des ungespalteten Kerns. Auch dieser Materiebruchteil konnte nicht "spurlos" verschwinden. Auch für ihn mußte daher das entsprechende Energie-Äquivalent auftauchen. Zwar würde der Massendefekt bei einer Kernspaltung etwa achtmal kleiner sein als bei der Fusion von Wasserstoff. Trotzdem würde die Energieausbeute immer noch geradezu phantastisch ausfallen. 

Aber so einleuchtend der Zugang theoretisch auch erschien, die Experten blieben pessimistisch, was die Realität betraf. Die Mehrzahl von ihnen kam zu dem Schluß, daß das "atomare Feuer" dem Menschen auch angesichts dieser Möglichkeit vorenthalten bleiben würde (worüber die meisten von ihnen gleichzeitig allerdings erleichtert gewesen sein dürften). Nicht einmal die 1938 aus Berlin kommende Nachricht von der Spaltung des Urankerns durch Otto Hahn vermochte ihre Skepsis zu erschüttern. Albert Einstein hat den Grund seiner Ungläubigkeit damals mit einem anschaulichen Vergleich erläutert: "Wir sind", so sagte er, "in der Situation von miserablen Schützen, die in tiefer Dunkelheit in einem Gebiet auf Vögel schießen, in dem es nur sehr wenige Vögel gibt."

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Was meinte er damit? 

Um einen Atomkern, und sei er schon von Natur aus so zerbrechlich wie der des Urans, aufzuspalten, mußte man ihn mit Neutronen beschießen. Nur mit diesen Elementarteilchen als Geschossen war der Versuch sinnvoll. Neutronen haben die gleiche Masse wie die im Kern steckenden Protonen, im Gegensatz zu diesen sind sie jedoch elektrisch neutral (daher ihr Name). Das heißt, daß sie einerseits genug Energie übertragen können, um den Zusammenhalt der Kernbauteile erschüttern zu können, und daß sie andererseits auf ihrem Wege dorthin nicht von der elektrischen Ladung des Kerns abgebremst oder abgelenkt werden können — als neutrale Teilchen spüren sie diese Ladung überhaupt nicht.

Bis dahin war alles klar und eindeutig. Für den nächsten Schritt aber lag der Knüppel sozusagen neben dem Hund. Die Frage war: Woher die Neutronen nehmen? Die benötigten Geschosse ließen sich nur mit gewaltigem Energieaufwand — mit Hilfe der größten damals existierenden Teilchenbeschleuniger — in geringen Mengen erzeugen. Wenn man elektrisch geladene atomare Teilchen durch die elektrische Spannung in einem Zyklotron beschleunigte und zum Beispiel auf Beryllium losließ, dann trafen einige der Milliarden Geschosse auch einmal den Kern eines Beryllium-Atoms und sprengten dabei einige Neutronen aus ihm heraus. Mehr war nicht möglich. Es war wirklich so, als feuerten Millionen Jäger auf gut Glück ihre Gewehre in den dunklen Nachthimmel ab mit der kleinen Chance, vielleicht rein zufällig den einen oder anderen Vogel herunterzuholen. Es war genau die Situation, die Einstein beschrieben hatte.

Wenige Monate später aber schickte Einstein den berühmten Brief an Franklin D. Roosevelt, in dem er den amerikanischen Präsidenten auf die entsetzliche Möglichkeit hinwies, daß Hitler "Atomwaffen" in die Hände bekommen könnte. Immerhin waren Experten wie Otto Hahn, Werner Heisenberg oder auch Max Planck in Deutschland geblieben. Sie alle haben allerdings zu wiederholten Malen versichert, daß sie sich niemals dazu hergegeben hätten, Hitler die Mittel zu verschaffen, die es ihm erlaubt hätten, sein unmenschliches System in ganz Europa, womöglich in der ganzen Welt zu etablieren.

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Wir haben auch nicht den geringsten Grund, an dem Wort dieser Männer zu zweifeln. Aber es gab ja nicht nur sie. Alle entscheidenden Ergebnisse waren veröffentlicht. Und es gab damals in Deutschland genug Physiker, die in der Lage waren, aus diesen Ergebnissen ihre Schlüsse zu ziehen, und an deren charakterlicher Festigkeit berechtigte Zweifel bestanden. Man braucht nur an den Physiker und Nobelpreisträger (!) Philipp Lenard zu denken, der sich als ein so fanatischer Nationalsozialist entpuppt hatte, daß er Einsteins Hinauswurf aus der Preußischen Akademie der Wissenschaften mit der Bemerkung begrüßte, dieser Mann habe eine "jüdische Physik betrieben". In einer Gesellschaft, deren Geistesverfassung es zuläßt, daß derartiger Irrsinn als Argument ernstgenommen wird, muß man mit allen Möglichkeiten rechnen. Einsteins Befürchtungen waren nur allzu begründet.

Aber warum eigentlich diese radikale Kehrtwendung angesichts des zugrundeliegenden physikalischen Problems? Warum erschien Einstein und seinen Kollegen jetzt auf einmal als eine die Sicherheit der ganzen Welt bedrohende Möglichkeit, was sie noch kurz zuvor als entlegene Utopie von sich gewiesen hatten? 

Ganz einfach: Die genauere Auswertung des Spaltungsversuchs von Otto Hahn und einiger anderer Experimente hatte in der Zwischenzeit gezeigt, daß von einem Neutronenmangel im Falle der Uranspaltung überhaupt nicht die Rede sein konnte. Das Gegenteil traf zu. Es würde Neutronen im Überfluß geben. Der gespaltene Atomkern lieferte sie selbst.

Man hatte entdeckt, daß bei der Aufspaltung eines einzelnen Uranatoms jedesmal mindestens zwei, mitunter sogar drei Neutronen frei werden. Diese würden, die Schlußfolgerung lag auf der Hand, weitere, benachbarte Urankerne aufspalten können und in diesem Falle abermals zwei- bis dreimal mehr Neutronen freisetzen, als ihrer eigenen Zahl entsprach. Diese Neutronen der "dritten Generation" würden das gleiche bewirken und so fort. Theoretisch mußte grundsätzlich also ein einziges Neutron genügen, um auf dem Wege einer solchen "Kettenreaktion" eine bestimmte Menge Uran atomar explodieren zu lassen. Die dazu erforderlichen Neutronen-Geschosse würde der Spaltungsprozeß selbst laufend im Überschuß produzieren.

Theoretisch war der Zugang zum atomaren Feuer mit dieser Entdeckung plötzlich frei geworden. Technisch, hinsichtlich der praktischen Anwendung des Prinzips, gab es allerdings noch einige gravierende Probleme. Sie hingen mit dem Phänomen des "durchschnittlichen freien Neutronenwegs" zusammen und der Tatsache, daß das auf der Erde natürlich vorkommende Uran ja keineswegs spontan explodiert.

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      Kernwaffen: Wie man Materie zur Explosion bringt     

 

Die uns so undurchdringlich und fest erscheinende Materie besteht in Wirklichkeit zum größten Teil aus leerem Raum. Die Größe eines Atomkerns und sein Abstand von der ihn umgebenden Elektronenhülle sind maßstäblich dem Abstand vergleichbar, den ein großer Flugzeugträger von der englischen beziehungs­weise der amerikanischen Küste hat, wenn er sich gerade in der Mitte des Atlantiks befindet. Dazwischen ist nichts. 

Wenn man die Materie unseres Körpers so zusammenpressen würde, daß ihre Atomkerne wirklich "dicht an dicht" gepackt wären, dann schrumpften wir zu einer Materiekugel unterhalb der Sichtbarkeits­grenze zusammen, die auch dann allerdings immer noch so schwer wäre, wie es dem Gewicht unseres Körpers in seinem ursprünglichen Zustand entsprach. Daß das keine bloße Phantasterei ist, haben die Astronomen in den letzten Jahrzehnten herausgefunden.

Es gibt Sterne, deren Materie tatsächlich auf eine solch abnorme Dichte "zusammen­gebrochen" ist, die sogenannten Neutronen­sterne. Bei ihnen handelt es sich um ehemalige Sonnen, die nach dem Erlöschen des atomaren Feuers in ihrem Zentrum, das bis dahin den Kollaps verhinderte, unter ihrem eigenen Gewicht auf Kugeln mit einem Durchmesser von nur noch zehn oder zwanzig Kilometern geschrumpft sind. 

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Ein Stück ihrer abnorm verdichteten Materie von der Größe einer Streichholzschachtel würde auf der Erde mehrere Millionen Tonnen wiegen und sofort durch die feste Erdkruste und den ganzen Erdmantel hindurchfallen, um erst im Erdmittelpunkt zur Ruhe zu kommen.

Normale Materie also besteht zu mehr als 99 Prozent gewissermaßen aus "nichts". Daß sie uns dennoch fest und undurchdringlich vorkommt, liegt einfach nur daran, daß wir ihre Festigkeit mit unseren Händen, mit Werkzeugen oder anderen Objekten zu beurteilen pflegen, die ja ebenfalls aus Materie bestehen. Der Fall liegt etwa so wie der von zwei Gewitterwolken, die, von einem heftigen Sturm getrieben, aufeinanderstoßen und sich dabei verformen, sich so gegenseitig ihre "undurchdringliche Festigkeit" beweisend. Was von dem "Beweis" in Wirklichkeit zu halten ist, wird sofort ersichtlich, wenn ein Vogel durch eine der beiden Wolken hindurchfliegt, ohne irgendeinen Widerstand zu spüren. Die Rolle dieses Vogels können im Falle der Materie zum Beispiel Röntgenstrahlen spielen oder die Teilchen der kosmischen Höhenstrahlung oder eben auch freie Neutronen in einem Stückchen Uran.

Wie groß ist deren Chance, dabei auf einen der winzigen Kerne der Atome zu treffen, aus denen das Materiestück besteht?

Ganz offensichtlich hängt das von der Länge des Weges ab, den sie zurückzulegen haben, bis sie den Uranbrocken durch seine Oberfläche hindurch verlassen. Wenn sie bis zu diesem Augenblick keinen Kern getroffen haben, ist das Spiel für sie zu Ende. Ihre Chance aber, vorher einen Treffer zu erzielen, ist verständlicherweise um so größer, je länger der Weg innerhalb des Urans ist, anders gesagt, je größer das Stück Uran ist, in dem sie freigesetzt wurden.

Wenn man weiß, wie groß ein Atomkern ist — einhundert Milliarden von ihnen ergeben nebeneinander­gelegt eine Strecke von etwa einem Millimeter — und wie viele Atome sich in einem bestimmten Volumen befinden, dann kann man die "mittlere freie Wegstrecke" eines Neutrons berechnen, die Strecke also, die es etwa in einem Stück Uran im Durchschnitt zurücklegen muß, bis es einen Atomkern so voll trifft, daß es ihn ausein­anderbrechen läßt.

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Die Größe, die das Uranstück mindestens haben muß, damit die Wege (und damit die Trefferchancen) für die in seinem Inneren umherschwirrenden Neutronen lang genug sind, um eine anwachsende Neutronenzahl entstehen zu lassen, nennen die Physiker seine "kritische" Größe oder Masse. Immer dann also, wenn diese "kritische" Größe überschritten wird, kommt im Uran die beschriebene Kettenreaktion in Gang, mit anderen Worten: Es kommt zur "Atomexplosion".

Aber da gab es noch weitere Schwierigkeiten. Es läßt sich leicht erklären, warum das auf der Erde natürlich vorkommende Uran nicht atomar explodiert. Es ist in der Erdkruste so dünn verteilt, daß nirgendwo auch nur annähernd seine kritische Masse erreicht wird. Die granithaltigen Schichten der Erdkruste, in denen es vorkommt, weisen nicht mehr als höchstens einige Gramm in jeder Tonne Gestein auf. Hinzu kommt, daß das "normale" Uran mit der Massenzahl 238, kurz U-238 genannt, aus bestimmten physikalischen Gründen für den Spaltungsprozeß so gut wie unbrauchbar ist.11

In Frage kommt nur eine weitaus seltenere Variante desselben Elements, das "Isotop" U-235, das, wie seine Massenzahl verrät, drei Neutronen weniger im Kern hat, sonst aber mit U-238 identisch ist. Natürliches Uran enthält nun aber nur 0,7 Prozent U-235, der ganze Rest von 99,3 Prozent entfällt auf das für Bombenbauer uninteressante U-238.

Zunächst einmal galt es daher, die Gramm-Portionen Uran aus den Gesteinsmassen zu gewinnen, in denen sie vorkamen. Anschließend mußten dann aus dem möglichst gereinigten Gemisch der beiden Uransorten die 0,7 Prozent der für den angestrebten Zweck allein geeigneten Variante herausgeholt werden. 

Das sagt sich so einfach. Da U-238 und U-235 sich jedoch, wie das für Isotope ganz allgemein gilt, chemisch in keiner Weise voneinander unterscheiden, ließ ihre Trennung sich nicht mit einer der üblichen und bekannten Methoden bewerkstelligen. Hier tauchten völlig neue Probleme auf, für die ganz neue Lösungen überhaupt erst gefunden werden mußten.

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Der überwiegende Anteil des in der Geschichte der Technik seit dem Bau der Pyramiden beispiellosen Aufwands, mit dem die Amerikaner während des letzten Krieges das legendäre "Manhattan-Projekt" durchpeitschten, galt denn auch der Trennung dieser beiden Uran-Isotope.

Als man dann schließlich genug gereinigtes U-235 zur Verfügung hatte, um eine "kritische Masse" bilden zu können, stand man vor dem letzten entscheid­enden Problem. 

Die kritische Masse von U-235 liegt bei 22,8 Kilogramm. (Sie läßt sich durch bestimmte technische Tricks, die gleich noch zur Sprache kommen, drastisch reduzieren.) Wenn man aus U-235 eine kleine Kugel von der Größe eines Tischtennisballs herstellt, passiert daher noch nicht viel. Zwar würde die Zahl der Spaltungsvorgänge auch im Inneren dieser kleinen Kugel bereits nachweisbar zunehmen. Die dabei frei werdenden Neutronen verlören sich jedoch durch die Oberfläche hindurch so rasch im Freien, daß eine Kettenreaktion mit dem typischen Sturzbach sich ständig multiplizierender Neutronen­generationen nicht zustande käme. Spürbarer wären die Folgen schon, wenn wir als nächstes eine Kugel im Format einer Kokosnuß formten. Auch jetzt ist die kritische Größe noch immer nicht erreicht. Die Zahl der Spaltungsvorgänge wäre jetzt aber doch schon so groß, daß die Kugel sich spürbar aufheizen würde.

Wenn wir das Ganze darauf mit einer Kugel von etwa Fußballgröße wiederholen würden, wären wir endlich bei der "kritischen Masse" angekommen. Da Uran schwerer ist als Blei, das schwerste aller natürlichen Elemente überhaupt, fällt die dafür benötigte Kugel kleiner aus als erwartet. Jetzt also kommt die Kettenreaktion definitiv in Gang. Das heißt nichts anderes, als daß die durch Spaltungsprozesse laufend neu erzeugten Neutronen rascher zunehmen als die Zahl derer, die durch die Oberfläche der Kugel entweichen und für die Fortsetzung des Prozesses damit ausfallen. 

Die "Kern-Explosion" setzt also ein — aber nur, um nach Bruchteilen von Millionstelsekunden sofort wieder zu erlöschen. Denn sobald die Hitzegrade erreicht sind, die der einer ganz gewöhnlich explodierenden Granate entsprechen, fliegt ja auch die Urankugel explosionsartig auseinander. 

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Damit aber wird die kritische Masse, eben erst entstanden, sofort wieder unterschritten. Die Explosion hat sich selbst ausgelöscht, bevor sie überhaupt richtig zu funktionieren begann. Das war nicht das, was die Erbauer der Atombombe im Sinn hatten. Hartnäckigkeit und Intelligenz aber ließen sie, wie heute jeder weiß, auch mit diesem letzten Problem erfolgreich fertig werden.

Die Aufgabe war klar: 

Es kam darauf an, die kritische Masse erst in dem Augenblick entstehen zu lassen, in dem die Explosion erfolgen sollte. Um sie dann aber mit der erwünschten Gewalt wirksam werden zu lassen, war es notwendig, diese Masse so lange wie irgend möglich dicht komprimiert zusammen­zuhalten. Nur dann blieb dem Neutronenfluß die Zeit, zu nennenswerter Intensität anzuschwellen. Nur ein Neutronenfluß möglichst großer Dichte konnte eine Zahl von Kernspaltungen auslösen, die einen spürbaren Massendefekt zur Folge hatte. Dieser Massendefekt aber, die eigentliche Quelle der atomaren Explosion, sollte natürlich so groß wie nur irgend möglich ausfallen.

Es gelang, die Aufgabe mit altbewährten, durchaus "konventionellen" Methoden befriedigend zu lösen. 

Alles, was man benutzte, waren gewöhnliches Schießpulver und ein wenig artilleristische Erfahrung. Man stellte zwei Halbkugeln aus U-235 her, die zusammen etwas mehr als die kritische Masse bildeten. Diese wurden jede für sich in die beiden einander gegenüberliegenden Enden eines Stahlrohrs gesteckt und im Augenblick der Zündung mit gewöhnlichem Dynamit "zusammengeschossen". Der Druck der Pulverexplosion verlängerte den Zusammenhalt der entstehenden Urankugel um entscheidende Millionstelsekunden. Außerdem verdichtete er das Uran für einen kurzen Augenblick so stark, daß der Wert der kritischen Masse stark absank.

Schließlich hatte man die ganze Apparatur noch in einen tonnenschweren Stahlmantel gesteckt. Dieser übte zwei Funktionen aus. Zunächst einmal trug auch er dazu bei, die kritische Masse möglichst lange zusammen­zuhalten. Außerdem aber hatte man ihn innen mit Beryllium überzogen, das wie ein Reflektor den Neutronenfluß verstärkte: 

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Es ließ für jedes eintreffende Neutron, das es einfing, bei einer durch den Einfang ausgelösten Kernreaktion zwei neue Neutronen entstehen. Vereinfacht gesprochen flog eines davon nach außen fort, das andere aber "nach innen", in die Urankugel zurück, so daß in dieser alles in allem die Neutronenzahl fast erhalten blieb.

Endlich war man soweit. Jetzt konnte die Probe aufs Exempel stattfinden. 

 

Eine Versuchsexplosion wurde vorbereitet und am 16. Juli 1945 in der Wüste von New Mexico gezündet. William L. Laurence, dem als einzigem Journalisten von der amerikanischen Regierung die Genehmigung erteilt worden war, an der Entwicklung des Manhattan-Projekts von Anbeginn als Augenzeuge teilzunehmen — um nach dem Kriege über das gewaltige Unternehmen aus erster Hand berichten zu können —, schildert die ungeheure Spannung, die alle beteiligten Wissenschaftler, Techniker und Militärs ergriff, als der Augenblick der Versuchs­zündung näher rückte.

"Die meisten Anwesenden beteten inbrünstiger, als sie es je getan hatten... Dr. Oppenheimer, auf dem eine schwere Bürde gelastet hatte, geriet in eine immer größere Spannung, als die letzten Sekunden abliefen. Er atmete kaum noch. Er suchte Halt an einem der Pfeiler. Während der letzten Sekunden blickte er starr vor sich hin."12

Und dann die Reaktion der Anwesenden auf den Erfolg des Experiments: 

"Die Spannung im Raum war gewichen, und alle begannen, einander Glück zu wünschen ... Dr. Kistiakowsky warf seine Arme um Dr. Oppen­heimer und umarmte ihn unter Freudenrufen. Andere waren ebenso begeistert ... denn alle schienen sofort zu spüren, daß die Explosion bei weitem selbst die optimistischsten Erwartungen und die kühnsten Hoffnungen der Wissenschaftler übertroffen hatte."

Nachträglich ist es leicht, diesen Männern Zynismus vorzuwerfen. Man muß ihnen fairerweise den ungeheuren Druck zugute halten, unter dem sie viele Jahre lang gestanden hatten. Sie hatten die amerikanische Regierung dazu bewogen, mitten im Krieg die gewaltigste technisch-industrielle Anstrengung aller Zeiten zu unternehmen — auf ihr bloßes Wort hin, in blindem Vertrauen auf die Zuverlässigkeit ihrer Formeln, im Hinblick auf ein theoretisch errechnetes Ergebnis, das bis zum Beweis seiner Realisierbarkeit als Utopie angesehen werden mußte. 

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Für sie war der Versuch in der Wüste zuallererst der Augenblick der Wahrheit. Die über Jahre hinweg mit Ungeduld, aber auch mit Angst erwartete Entscheidung darüber, ob sie recht gehabt hatten oder ob sie einem Phantom nachgejagt waren.

Vor diesem Hintergrund ist ihre Erleichterung, ja Begeisterung verständlich. Sogar die Tatsache, daß die meisten von ihnen für das Gelingen beteten

Zyniker darf man sie gerechterweise nicht nennen. Makaber bleibt die Szene nichtsdestoweniger. Denn die Intelligenz all dieser klugen Männer hätte auch dazu ausgereicht, sie erkennen zu lassen, daß ein "Mißerfolg" alles in allem bei weitem vorzuziehen gewesen wäre. 

Dieser kleine in der Wüste versammelte Kreis von Eingeweihten wäre mehr als irgend jemand sonst befähigt gewesen einzusehen, welche Ängste und Bedrohungen der Menschheit erspart bleiben würden, wenn ihr Versuch, das atomare Feuer in die Hand zu bekommen, fehlschlug. Einzusehen, daß Erleichterung und Begeisterung in Wahrheit eigentlich nur dann angebracht wären, wenn ihre unvergleichliche Kraftanstrengung nichts bewirkt und damit bewiesen hätte, daß den Menschen die tödliche Versuchung erspart bleiben würde, der die amerikanische Kriegführung schon wenige Wochen später im Falle von Hiroshima prompt erlag.

Die Intelligenz hätte ausgereicht. Aber der Mensch besteht eben nicht aus Intelligenz allein. 

Und daher gewannen in dem entscheidenden Augenblick Erleichterung und Begeisterung darüber die Oberhand, daß einem eine gewaltige Blamage erspart blieb, daß man nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnte für die mehrjährige "sinnlose" Verschleuderung von kriegswichtigem Material, Arbeitskraft und mehreren Milliarden Dollar. Und nicht zuletzt die Erleichterung darüber, daß man als Wissenschaftler sein "Gesicht" gewahrt hatte, daß man davor sicher sein konnte, außer mit Vorwürfen auch noch mit Hohn und Spott überschüttet zu werden. 

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Es gehört zu den unbestreitbar gemeingefährlichen Seiten unserer Veranlagung, daß in einem solchen Augen­blick unser Selbstgefühl höher rangiert als jede erdenkliche zukünft­ige Konsequenz — und handele es sich bei ihr um das Überleben der Menschheit. 

Es mag erschreckend sein, sich darüber klarzuwerden. Aber so ist es nun einmal. Niemand von uns hätte in gleicher Lage anders reagiert.

Nachträglich freilich kamen dann sofort auch die Skrupel und Bedenken. Aber da war der Teufel schon aus der Flasche. Bekanntlich versuchten Oppenheimer und seine Kollegen den Abwurf der ersten Bombe auf eine japanische Großstadt durch den Vorschlag zu verhindern, gegnerische Parlamentäre als Beobachter zu einer erneuten Testexplosion einzuladen. Sie waren überzeugt, daß die Demonstration genügen würde. Den eigenen Militärs aber genügte sie nicht. Sie setzten sich ohne Mühe durch und schickten den Commander Tibbets mit etwas mehr als zehn Kilogramm Uran-235 nach Hiroshima.

  

    Eine Atomexplosion in Zeitlupe    

 

Durch die Verdichtung des Urans infolge der zündenden Dynamitexplosion sowie mit Hilfe des Tricks der Neutronenreflexion an der inneren Bombenhülle war es gelungen, die kritische Masse der Hiroshima-Bombe auf etwa zehn Kilogramm herunter­zudrücken. Die exakten Daten werden zwar immer noch geheimgehalten. Die Abschätzungen aufgrund allgemeiner kernphysikalischer Gesetzlichkeiten kommen ihrer Größenordnung aber ohne Frage sehr nahe.13 

Der Druck der Pulverexplosion und die Festigkeit der tonnenschweren Hülle hielten die kritische Masse so lange zusammen, daß ein ganzes Kilogramm U-235 gespalten wurde, bevor die Bombe auseinanderflog. 99,9 Prozent davon überlebten weiterhin als Materie — in der Gestalt von Heliumkernen, Neutronen und anderen Spaltprodukten. 0,1 Prozent des gespaltenen Urans aber verschwand in der Gestalt des "Massendefekts". 

Insgesamt war es etwa ein Gramm. An seiner Stelle tauchte in dem Himmel über der Stadt ein Energie-Äquivalent von 25 Millionen Kilowatt­stunden auf.

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Daraus, daß diese Freisetzung innerhalb der extrem kurzen Zeitspanne von etwa zehn Millionstelsekunden er­folgte, errechnet sich eine Leistung von nicht weniger als neun Billionen Megawatt (1 Megawatt = 1000 Kilo­watt) in dem kleinen Volumen der Bombe, das bis zu diesem Augenblick erhalten blieb. Die Folge war die Ent­stehung einer Temperatur im Explosionszentrum, welche die des Sonneninneren um ein Mehrfaches überstieg.

Wenige Zehntelsekunden nach Explosionsbeginn hatte sich anstelle der verdampften Bombe ein Feuerball mit einem Durchmesser von mehreren hundert Metern gebildet, an dessen Oberfläche eine Temperatur von 6000 Grad herrschte — die Temperatur der Sonnenoberfläche. Während der nur eine halbe Millionstel­sekunde anhaltenden Uranspaltung kam es zu einem intensiven Ausbruch von Neutronen- und Gammastrahlung. Im Anschluß an Hitzeblitz und Kernstrahlung traten Druckwellen auf, die sich mit Überschall­geschwindigkeit ausbreiteten. Diese Druckwellen wirbelten große Mengen an Staub und Trümmern, die von den Spaltprodukten der Bombe radioaktiv verseucht waren, hoch in die Atmosphäre, von wo aus sie in den anschließenden Stunden und Tagen langsam wieder auf die Erde zurücksanken.

Kernstrahlung, Hitzeblitz, Druckwellen und "Fallout" also sind es, die einem Kernsprengsatz in den Augen eines Militärs den Charakter einer "Waffe" verleihen, mit welcher der Gegner sich so wirkungsvoll bekämpfen läßt wie nie zuvor in der kriegerischen Geschichte der Menschheit. 

Um eine Anschauung von dieser Wirkung zu gewinnen, müssen wir versuchen, uns in einem gedanklichen Szenario die Folgen auszumalen, die eine Kernwaffenexplosion in einer uns bekannten Stadt anrichten würde. 

Das ist aus eben diesem Grunde schon wiederholt gemacht worden,14 so daß ich mich kurz fassen kann. 

Auslassen dürfen wir das schauerliche Gedanken­experiment jedoch nicht.

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Die Sprengkraft der Bombe, von der Hiroshima ausgelöscht wurde, entsprach der von 20.000 Tonnen TNT (Trinitrotoluol), einem modernen konventionellen (chemischen) Sprengstoff. Die Experten sprechen von 20 Kilotonnen TNT oder, noch kürzer, einfach von "20 kt". In den Augen der heutigen Nuklear­strategen ist das ein sehr kleiner Sprengsatz. Die Gefechtsköpfe der "eurostrategischen" SS-20-Raketen entfalten eine Wirkung von 150 kt. Ganz zu schweigen von den interkontinentalen ballistischen Raketen mit Wirkungen von mehreren Megatonnen (1 Megatonne oder "Mt" = 1 Million Tonnen TNT).

Auf zwei Megatonnen wird die Summe der Sprengkraft aller während des letzten Krieges insgesamt auf Deutschland abgeworfenen konventionellen Bomben geschätzt. Die gleiche Vernichtungskraft läßt sich heute also in einer einzigen strategischen Rakete unterbringen. Und sogar noch sehr viel mehr. 

Den Rekord in dieser Hinsicht halten die vom Gigantischen auf seltsame Weise immer wieder faszinierten Russen mit einer Versuchsexplosion in der Atmosphäre von nicht weniger als 58 Megatonnen. Damals, im Oktober 1961, wurde von ihnen also eine Atomexplosion ausgelöst, die der Wirkung von fast 3000 (dreitausend!) Hiroshima-Bomben entsprach.

Es gibt in dieser Hinsicht nach oben prinzipiell keine Grenze mehr, seit es möglich geworden ist, den zur Freisetzung der Kernenergie erforderlichen Massen­defekt auch durch die Fusion von Wasserstoff zu erzeugen ("Wasserstoffbombe"). Denn die einst utopisch scheinenden Bedingungen — die gleichzeitige Erzeugung von Drucken und Temperaturen, die denen im Zentrum der Sonne gleichkommen — waren inzwischen ja sozusagen beiläufig auch auf der Erde realisierbar. Sie entstanden bei der Explosion jeder Uran-Spaltbombe. Man brauchte daher nur eine kleine Uranbombe als Zünder zu benützen, um den Fusionsprozeß in Gang zu setzen. 

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Dennoch ist sicher, daß ein Sprengsatz von 58 oder gar noch mehr Megatonnen niemals zum Einsatz kommen würde. Nicht etwa aus Sorge vor den Folgen der Anwendung einer Bombe, deren Sprengkraft die gesamte auf Deutschland während des letzten Krieges nieder­gegangene Bombenlast dreißigmal oder noch mehr übertreffen würde. Sondern deswegen, weil es aus der Sicht eines Atom­strategen einfach unrationell wäre, diese Vernichtungs­kraft auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren, anstatt sie planmäßig zu verteilen.

 

Wir wollen daher auch bei unserem Gedankenversuch von einer realistischeren Annahme ausgehen. Nehmen wir daher an, eine SS-20-Rakete mit der typischen Sprengkraft von 150 kt explodierte in 1600 Meter Höhe über dem Frankfurter Hauptbahnhof.15 Was würde sich in der Stadt in den der Zündung folgenden Sekunden und Minuten abspielen?

 

Etwa ein Drittel der gesamten Explosionsenergie wird innerhalb weniger Sekunden als Wärmestrahlung frei­gesetzt. Dieser "Hitzeblitz" würde die Frankfurter Innenstadt mit allem toten und lebenden Inventar in Sekund­en­schnelle verdampfen lassen. Der blitzartige Hitzetod würde den sich in diesem Bereich aufhaltenden Men­schen ein langsames, qualvolles Sterben ersparen, zu dem sie sonst infolge der im Augenblick der Explo­sion auftretenden Gamma-Strahlung verdammt wären. Diese Wirkungen gelten in einem Umkreis von etwa ein­em Kilometer vom "Null-Punkt", dem senkrecht unter dem Explosions­zentrum liegenden Punkt am Erdboden.

Selbst in vier Kilometern Entfernung, also zum Beispiel im Günthersburg-Park, würde der Hitzeblitz unbedeckte Haut kurz aufkochen lassen und dadurch Verbrennungen dritten Grades erzeugen (Verkohlung). Bäume, Gras und Holzbauten gingen noch hier in Flammen auf, auch Kleidung aus Baumwolle oder Kunststoffen würde zu brennen anfangen. 

Danach erst würde, neun Sekunden nach dem Licht- und Hitzeblitz, der Donner der Explosion zusammen mit der Druckwelle eintreffen. Diese würde Bäume entwurzeln, alle Gebäude mit Mauerdicken bis zu dreißig Zentimeter Beton zerstören, Menschen wie Spielbälle durch die Luft wirbeln und einen dichten Hagel von Glasscherben und Steinsplittern mit der Geschwindigkeit von Flintenkugeln durch die Luft fliegen lassen, der nicht nur im Freien, sondern auch bei den sich hinter den Fenstern ihrer Wohnungen aufhaltenden Menschen fürchterliche Fleischverletzungen verursachte. In einem Kreis von zehn Kilometern Durchmesser könnte diese akuten Explosionsfolgen nur überleben, wer sich zufällig gerade in einem Keller oder einem U-Bahn-Schacht aufhielte.

Mit diesen akuten Folgen aber wäre der Schrecken nicht etwa schon ausgestanden. Strahlungsblitz und Druckwelle würden radioaktiv gewordenes Erdreich zerstäuben. Der thermische Auftrieb der typischen pilzförmigen Explosionswolke ließe diesen Staub mehrere Kilometer hoch in die Atmosphäre steigen. Von dort würden die tödlichen Schwaden in den folgenden Stunden, Tagen und Wochen als "Fallout" langsam wieder nach unten sinken. 

Bei einer Explosionshöhe von 1600 Metern über dem Erdboden wären diese Nachwirkungen noch vergleichs­weise gering. Eine Explosion von 150 kt dicht über dem Erdboden aber würde einen Fallout erzeugen, der, je nach der gerade herrschenden Windstärke, in einem Gebiet von 2000 bis 3000 Quadrat­kilometern alle Menschen strahlenkrank machen und innerhalb von Wochen qualvoll sterben lassen würde. Mindestens ein Jahr würde es dauern, bis die Strahlung auf die 5 rem pro Jahr gefallen wäre, die nach den heutigen Strahlen­schutz­bestimmungen für mit radioaktivem Material umgehendes Personal eben noch zulässig sind, und nicht weniger als zehn Jahre, bis die 0,03 rem pro Jahr erreicht wären, die offiziell als Obergrenze für die Strahlentoleranz der Bevölkerung insgesamt angesehen werden.

Noch katastrophaler wären die Spätfolgen dann, wenn durch die Explosion ein Kernkraftwerk oder ein Zwischenlager für Kernbrennstoffe zerstört würden. Mit dem weiteren Ausbau der Kernenergie nimmt die Wahr­scheinlichkeit eines solchen Treffers für den Fall eines atomaren Angriffs auf der kleinen Fläche der Bundesrepublik natürlich von Jahr zu Jahr weiter zu. Byers und Kneser (s. Anm. 15) rechnen in einem solchen Falle damit, daß noch nach zehn Jahren ein Gebiet von mehreren 10.000 Quadrat­kilometern unbewohnbar sein würde.

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(deto-2014:)  Das Bundesland Sachsen ist 18.000 qkm groß.

 

Paul Tibbets vor dem Start am 6.8.45

 

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