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    Biologische Pyrrhussiege  

Ditfurth-1985

 Fliegenfänger 

129-150

"Parasiten" nennt man Lebewesen, die ihr Dasein auf Kosten anderer Arten fristen. Wenn wir diese Definition zu­grunde legen, haben wir uns selbst als die rücksichts­losesten und erfolgreichsten Repräsentanten dieser speziellen Anpassungsform zu betrachten. Als globale Parasiten sind wir dank der unserer Art in den letzten Jahr­zehntausenden zugewachsenen Intelligenz zu so übermächtigen Konkurrenten geworden, daß wir begonnen haben, die Erde mit aller übrigen lebenden Kreatur monopolistisch unserem eigenen Nutzen zu unter­werfen.

"Für die Tier- und Pflanzenwelt ist der Mensch das schlechthin satanische Wesen: mit überlegenen, unheim­lichen Mächten ausgestattet, geht er in allem seiner Willkür nach. Er pflanzt die Gewächse an, wo und wie er mag, und er vernichtet sie wieder nach seinem Gefallen. Er verändert sie nach seinem kurzsichtigen Gutdünken ... und sie folgen ihm willig und still."(49, Oehlkers 1957 Rede)

Unser Erfolg im Wettkampf der Arten ist unvergleichlich. Erstmals in der Weltgeschichte ist eine einzelne Art im Begriff, die Konkurrenz zu ihren Gunsten zu entscheiden. Wir werden die Sieger sein, endgültig und unwiderruflich. Die Freude darüber wird uns jedoch schal schmecken. Denn schon jetzt beginnen wir zu spüren, daß es ein Pyrrhussieg ist, dem wir entgegeneilen.

"Die Zerstörungen aber, die der Mensch in seiner Verwaltung des ihm anvertrauten Planeten anrichtet, sind so furchtbar und zugleich so unwider­ruflich, daß er sich selbst auf die Dauer damit zerstören muß."(49, Oehlkers)

  wikipedia  Pyrrhussieg  "Noch so ein Sieg, und wir sind verloren."  -  wikipedia  Friedrich_Oehlkers  1890-1971

Unsere absolutistisch zu nennende, keine Berufungsinstanz gelten lassende Gewaltherrschaft über die irdische Natur hat sich längst auch, ganz unbewußt, wenngleich mit einfühlsamer Treffsicherheit, sprachlichen Ausdruck verschafft: Kaum mehr als dreißig, höchstens vierzig Tier- und Pflanzenarten greifen wir unter dem egozentrischen Aspekt ihres Gebrauchswertes für uns als "Nutztiere" oder "Nutzpflanzen" aus der riesigen Fülle der insgesamt zehn oder gar fünfzehn Millionen irdischer Arten heraus. Alle übrigen erklären wir zu Schädlingen, Ungeziefer, Parasiten, Unkraut oder wie sonst wir irdische Lebewesen verbal abtun, die unseren Interessen biologisch im Wege stehen. Wenn sie Glück haben, sind sie uns gleichgültig. Ungeziefer aber, Unkraut und was sonst uns direkt ins Gehege kommt, das bekämpfen wir mit allen Mitteln, die unsere wissen­schaftlich-technische Zivilisation zur Verfügung stellt. Und gegen diese Mittel gibt es keine Verteidigung.

"Warum eigentlich nicht?" so möchte mancher hier wohl fragen. "Welche Gründe könnten uns denn davon abhalten, von der Macht, die uns im Verlauf der Artkonkurrenz nun einmal zugefallen ist, im Interesse unserer eigenen Spezies den umfassendsten Gebrauch zu machen?" Die Zahl der Menschen, die solche Fragen für berechtigt oder gar für rein rhetorisch halten, ist immer noch bedenklich groß.

Nur ökologische Ahnungslosigkeit aber kann angesichts des bevorstehenden totalen Sieges unserer eigenen Spezies über den Rest der Natur vor Angst bewahren. Denn dieser Sieg wäre unter biologischem Aspekt zu verstehen als Errichtung einer planetaren, die ganze Erde umspannenden Monokultur, bestehend aus den Mitgliedern einer einzigen Art: unserer eigenen. 

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Monokulturen aber sind, wie jeder heute wissen müßte, nur in begrenztem Umfang und nur dann lebensfähig, wenn sie in eine natürliche Umgebung eingebettet sind. Selbst dann gilt das in einem höchst eingeschränkten Sinn. Denn derartige Kunst-Gesellschaften bedürfen zu ihrem Überleben auch noch ständiger pflegerischer Eingriffe von außen.

Die Anfälligkeit unserer Wälder — nicht erst in der jetzt zu konstatierenden katastrophalen Endphase der Entwicklung, sondern auch davor schon gegen Borkenkäfer, Nonnenraupe und andere Schädlinge — ist ja auch eine Folge davon, daß es sich bei ihnen in Wirklichkeit längst nicht mehr um Wälder im natürlichen Wortsinne handelt, sondern um planmäßig zur Holzgewinnung angepflanzte Bestände aus Bäumen jeweils derselben Art. 

In einem naturbelassenen Mischwald, einem "Ur-Wald", hat kein Schädling eine reale Ausbreitungschance. Denn auch Pilze, Insekten oder Viren haben sich an bestimmte Wirtsarten angepaßt, die sie bevorzugt, wenn nicht ausschließlich befallen. Deshalb ist auch noch niemals ein Urwald unter natürlichen Umständen zugrunde gegangen. Denn wenn in einem Mischwald ein kranker Baum gestorben ist, haben die Mikroorganismen oder Insekten, denen er zum Opfer fiel, praktisch keine Chance, einen Vertreter derselben Art zu erreichen auf dem sie überleben und ihr Zerstörungswerk fortsetzen könnten. Wenn aber die Nonnenraupe erst einmal einen einzigen Baum eines reinen Fichtenwaldes für sich entdeckt hat, dann ist sofort der ganze Bestand in Gefahr.

Auch die moderne Landwirtschaft demonstriert jedem, der Augen im Kopf hat, wie lebensuntüchtig und daher gefährdet eine typische Monokultur ist. Keines unserer Getreide- oder Gemüsefelder würde ohne ständige Aufsicht und Pflege unter Einsatz der von einer immer raffinierter vorgehenden Agrarwissenschaft gelieferten Hilfsmittel auch nur wenige Wochen heil überleben können.

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Unser Versuch, uns in einem biologischen Verdrängungswettbewerb ohnegleichen als planetare Monokultur zu etablieren, die alle anderen Lebensformen nur noch in marginalen Reservaten duldet, ist daher - von seiner moralischen Fragwürdigkeit ganz abgesehen - unter ökologischen Aspekten als selbstmörderisch einzustufen. Trotzdem sieht es so aus, als setzten wir alles daran, ihn auf Biegen und Brechen zu Ende zu führen. Der "Erfolg" ist bereits in Sicht.

Ein Beleg ist das seit etwa hundert Jahren zu verzeichnende exponentielle Ansteigen der sogenannten "Aussterberate".50 Sie betrug nach Auskunft der Experten unter natürlichen Umständen etwa eine Art pro Jahrhundert. Keine Art lebt ewig, sowenig wie ein einzelnes Individuum. Laufend wurden in der Erdvergangenheit aussterbende Arten durch die evolutive Entstehung neuer Arten ersetzt, wobei die Neubildung das Ausscheiden durch Aussterben sogar ein wenig überkompensierte, denn die Zahl der gleichzeitig existierenden Arten hat während der längsten Zeit der Erdgeschichte eher zugenommen. Das Tempo dieses "Fließprozesses" also betrug, wie die Schätzungen der Paläontologen ergeben, ursprünglich etwa eine Art pro Jahrhundert. In jedem Jahrhundert starb - im statistischen Durchschnitt - eine Tier- oder Pflanzenart aus, und in demselben Zeitraum gelang es der Evolution jeweils auch, (mindestens) eine neue Art hervorzubringen. So war es während aller zurückliegenden Epochen der Erdgeschichte.

Seit etwa hundert Jahren aber ist diese Aussterberate nun drastisch angestiegen, und zwar mit zunehmender Geschwindigkeit. Um 1900 betrug sie bereits eine Art pro Jahr. Heute ist sie auf das ungeheure Tempo von einer Art pro Tag angewachsen. Und wenn die Beschleunigung im gleichen Tempo anhält, wird sie im Jahre 2000 die aberwitzige Höhe von einer Art pro Stunde erreicht haben. In jeder einzelnen Stunde, 24mal an jedem Tag, den Gott werden läßt, wird sich dann eine Tier oder Pflanzenart von der Erdoberfläche verabschieden, endgültig und auf Nimmerwiedersehen.

Einen verdreckten Fluß könnte man, wenn man es will, wieder reinigen. Auch verschmutzte Luft läßt sich, theoretisch jedenfalls, von schädlichen Beimengungen wieder befreien. Die einmalige, individuelle Form lebendiger Anpassung jedoch, als die wir eine biologische Art anzusehen haben, ist mit ihrem Aussterben unwiederbringlich dahin und mit ihr auch das spezifische genetische Programm, in dem ihre besondere Konstitution niedergelegt war. 

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Die Schätzungen besagen, daß die Erde in den kommenden beiden Jahrzehnten, in der erdgeschichtlich lächerlich kurzen Frist von nur zwanzig Jahren, zwanzig Prozent der heute noch auf ihrer Oberfläche existierenden Arten einbüßen wird, ein Fünftel also aller Tier- und Pflanzenarten, die es heute noch gibt.

Ein Massenaussterben, einen "Faunenschnitt" dieser Größenordnung hat es in der ganzen bisherigen Erdgeschichte nicht gegeben. Daß wir selbst, daß unsere langsam, aber offenbar unaufhaltsam die ganze Erdoberfläche überziehende technische Zivilisation seine Ursache ist, wird von niemandem bestritten. "Die Stadt der Menschen, einstmals eine Enklave in der nichtmenschlichen Welt, breitet sich über das Ganze der irdischen Natur aus und usurpiert ihren Platz", stellt Hans Jonas lakonisch fest.51

Wir stehen kurz vor dem Endsieg im größten Verdrängungswettbewerb der Erdgeschichte. 

Das Unternehmen, die ganze Erde zur Plantage des Menschen "umzubauen" (Ernst Bloch), nähert sich seiner Vollendung. Unsere Entschlossenheit, diesen Weg bis zu seinem Ende zurückzulegen, ist vorerst noch immer ungebrochen. 

Dabei läßt sich jedem, der Ohren hat zu hören, klarmachen, daß wir nur die Alternative haben, mit den übrigen Lebewesen dieser Erde zusammen weiterzuexistieren oder gemeinsam mit der Mehrheit von ihnen, erfaßt von dem schon anhebenden Strudel des Faunenschnitts, zugrunde zu gehen.

Biologische Vielfalt ist, auf mancherlei Weise, eine der elementaren Voraussetzungen von Lebenstüchtig­keit. Die Geschichte ist voller Beispiele, welche die Tatsache beleben. In den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts brach in Irland eine Kartoffelseuche aus. Die Folge waren mehr als zwei Millionen Hungertote auf der damals noch vergleichsweise dünn besiedelten Insel. Warum ein solches Ausmaß der Katastrophe? Die Iren hatten sich damals auf eine einzige Kartoffelsorte spezialisiert. 

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Sie hatten das fraglos für höchst vernünftig gehalten: Die Sorte war kälteunempfindlich, lagerbeständig und ertragreich. Welche Gründe also hätten sich dafür anführen lassen, daneben noch andere Sorten anzubauen, die in jedem dieser Punkte unterlegen waren? Dann aber trat, quasi über Nacht, ein neues "pathogenes Agens" auf — wahrscheinlich ein mutiertes Virus —, für das sich eben diese von den Insel­bewohnern bevorzugte Kartoffelart als idealer Nähr- und Vermehrungsboden erwies. Ausweich­möglichkeiten gab es nicht. Genetische Varianten, die dem Virus gegenüber hätten resistent sein können, waren nicht angebaut worden oder auch nur vorrätig. Man hatte als Ernährungsgrundlage auf eine einziges Spezies gesetzt. Bei einer so hochgradigen Spezialisierung aber ist das Eintreten einer Katastrophe lediglich eine Frage der Zeit.

Hat man das erst einmal erkannt, dann kann einem unbehaglich zumute werden, wenn man bedenkt, daß wir heute im Begriff sind, uns in weltweitem Rahmen schnurstracks in eine vergleichbare Abhängigkeit zu begeben. Vier Fünftel der gesamten Weltnahrungsproduktion stammen heute schon von weniger als zwei Dutzend Tier- und Pflanzenarten. Sie gehören zu den bereits erwähnten "Nutztieren" und "Nutzpflanzen", auf die wir uns spezialisiert haben, weil sie nach generationenlanger Züchtung Eigenschaften aufweisen, die sie als Nahrungslieferanten für den Menschen allen anderen Arten überlegen gemacht haben. Ist das etwa keine vernünftige Entscheidung?

Solange alles beim alten bleibt, haben wir nichts zu befürchten. Einem phantasiebegabten Menschen könnte sich allerdings die Frage aufdrängen, was wir eigentlich anfangen wollen, wenn diesen zwei Handvoll Arten in Zukunft jemals etwas zustoßen sollte. Wenn neue Schädlinge auftreten sollten. Wenn eines der unzähligen Viren durch einen stets möglichen mutativen Zufall sich unversehens in einen Spezialisten verwandeln sollte, der ausgerechnet auf einer unserer Brotgetreidesorten ideal gedeiht. In einer solchen, grundsätzlich jederzeit denkbaren Situation würden wir aller Wahrscheinlichkeit nach erschrocken feststellen, daß der Vorrat an "Ausweichsorten", auf die wir im Augenblick der Gefahr zurückgreifen könnten, minimal geworden ist. Daß wir ihn allzulange gedankenlos verschleudert haben.

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Wir haben "vergessen", daß alle Nutztiere und Nutzpflanzen von Wildformen abstammen. Woher sonst sollen sie gekommen sein? Ihre heutigen Eigenschaften haben sie erst während einer über Jahrhunderte hinweg fort­gesetzten Auslese, Züchtung und Kultivierung durch die Hand des Menschen erworben. Vernünftig wäre es, wenn wir dafür Sorge trügen, daß sich dieser Prozeß im Falle zukünftiger Notwendigkeit grundsätzlich wieder­holen ließe. Wir sollten, anders gesagt, darauf bedacht sein, eine möglichst große Zahl der verschied­ensten genetischen Programme, verkörpert durch eine möglichst große Artenfülle, als unersetzliches Nachschub­reser­voir zu konservieren. Was wir tatsächlich tun, ist genau das Gegenteil: Wir werfen die auf der Erde heute noch existierenden Arten — und mit ihnen das genetische Reservoir, das sie verkörpern — längst weit schneller über Bord, als es unseren Wissenschaftlern möglich ist, sie näher zu untersuchen oder auch nur zu identifizieren.

Eine amerikanische Biologin hat diese Einstellung treffend charakterisiert: "Unkraut", so sagte sie sinngemäß, "nennen wir Pflanzen, deren mögliche zukünftige Bedeutung für uns wir noch nicht erkannt haben." Wenn wir in den kommenden zwei Jahrzehnten also, wie von den Global-2000-Autoren geschätzt, weitere zwei Millionen Arten blindlings und gedankenlos opfern, verhalten wir uns wie ein Fluggast, der während des Fluges in das Cockpit eindringt und dort anfängt, alle Instrumente herauszureißen, deren Funktion er nicht begriffen hat.

Wahrhaftig, der von Ernst Bloch noch 1959 utopisch herbeigehoffte "Umbau des Sterns Erde"52 hat in der Zwischenzeit eindrucksvolle Fort­schritte gemacht. Es mag auch sein, daß eine "neue Übernaturierung gegebener Natur" kraft menschlich-technischer Ingeniosität "fällig" ist. Nur fällt es uns neuerdings schwer, derlei Resultate herbeizusehnen. Unter uns beginnt sich vielmehr die Hoffnung zu regen, daß der liebe Gott uns die Erfüllung dieses Wunsches versagen möge.

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Der "Umbau" nämlich ist inzwischen recht weit gediehen und hat dabei Züge angenommen, die beginnen, uns zu erschrecken. Der Konstanzer Biologe Hubert Markl50 gibt an, daß 85 Prozent des bundes­republik­anischen Bodens heute land- oder forst­wirtschaftlich genutzt werden. Auf diesem Areal werden die Interessen der Spezies Mensch somit in der Gestalt von Monokulturen durchgesetzt. Zu deren Pflege und Erhalt ist neben dem Einsatz von Kunstdünger auch die Anwendung giftiger Chemikalien notwendig. Mit ihnen müssen die von Hause aus anfälligen künstlichen Anpflanzungen vor konkurrierenden Arten ("Unkräutern" und "Schädlingen") geschützt werden. Weitere zehn Prozent unseres Bodens sind von Städten, Industrie­ansiedlungen und Verkehrs­wegen zugedeckt.

Insgesamt ergibt sich, daß wir den mit Abstand größten Teil des uns zur Verfügung stehenden Bodens für die höchstens zwei Dutzend Arten reserviert haben, die wir in der Bundesrepublik als "nützlich" ansehen. Alle übrigen 50.000 bis 100.000 Arten aber, die es bei uns sonst noch gibt, sind auf die zwei bis höchstens drei Prozent Bodenanteile zurückgedrängt, die sich noch im Naturzustand befinden. Und diese "naturbelassenen" Areale bilden dabei keineswegs etwa eine zusammenhängende Fläche. Sie sind in Abertausende kleiner Fetzchen zerrissen, die weit voneinander getrennt sind.

Da hilft dann freilich kein noch so aufopferndes Bewachen der Gelege seltener Vögel mehr. Da nimmt die bunte Vielfalt der Schmetterlinge auch dann unwiderruflich weiter ab, wenn der eine oder andere Garten­freund trotz nachbarlicher Proteste eine Brennesselecke unbehelligt stehen läßt, um auch dem Pfauenauge noch eine Chance zu geben. Eine so radikale Beschneidung des Lebensraums hält keine biologische Population auf die Dauer aus. Kein Zweifel, wir sind an dem gegenwärtig sich abspielenden Faunenschnitt (der von einem nicht minder gewaltigen "Florenschnitt" begleitet wird) selbst nach Kräften aktiv beteiligt.

Noch immer beschränkt sich die Reaktion der Menschen, die bisher überhaupt auf diese Entwicklung aufmerk­sam geworden sind, in der Regel auf einen Appell an unser Mitleid.  

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Wir sollten doch Erbarmen mit der Natur haben, bekommen wir zu hören. Wir verstießen gegen die moralischen Ansprüche selbst einer verweltlichten Gesellschaft, wenn wir unser Existenzrecht so weitherzig auslegten, daß es den Untergang von Hekatomben anderer Lebensformen nach sich zöge oder zumindest in Kauf nähme. Das alles ist uneingeschränkt richtig. Aus der Sicht aller übrigen irdischen Kreatur sind wir unbestreitbar "das schlechthin satanische Wesen". Hier aber soll von moralischen Kategorien noch nicht die Rede sein. Sie kommen in einem späteren Abschnitt zur Sprache. Hier, im ersten Drittel unserer Schilderung, geht es vorerst allein noch um den objektiven, naturwissenschaftlichen Aspekt unserer Lage.

Deren nähere Betrachtung aber muß uns auch dann betroffen machen, wenn wir die moralische Frage gänzlich ausklammern. Denn das spurlose Dahin­schwinden von Millionen von Arten in der abenteuerlich kurzen Zeitspanne weniger Jahrzehnte, im Bruchteil einer erdgeschichtlichen Sekunde, stellt sich objektiv als eine Katastrophe dar, deren Ausmaß alles in den Schatten stellt, was sich auf diesem Planeten jemals abspielte. Daß es, wie die alltägliche Erfahrung lehrt, dennoch einer bewußten intellektuellen Anstrengung bedarf, um ihrer überhaupt ansichtig zu werden, liegt allein daran, daß sie für unsere Sinne unmerklich abläuft. Unserer biologischen Ausstattung fehlen für diese, von der natürlichen Entwicklung in keiner Weise vorhersehbare Art von Katastrophen einfach die Sensoren. An die Existenz aber einer weltweiten Katastrophe zu glauben, die sich lautlos vollzieht, ohne Blitz und ohne Donner und ohne Gestank, das haben wir nicht gelernt.

Mitleid mit der Natur werde von uns verlangt? Schon recht, als moralische Forderung duldet die Maxime keine Abstriche. Als Formel für die sich aus unserer Lage objektiv ergebenden Konsequenzen jedoch bleibt sie hinter der Realität auf eine tragikomische Weise zurück. Es ist richtig, daß allein schon moralische Gesichtspunkte uns davon abhalten sollten, von der uns zugefallenen Übermacht weiterhin einen so blindwütig-egoistischen Gebrauch zu machen wie bisher.

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Aber die hinter dieser Mahnung steckende Besorgnis, daß allein eine solche moralisch — und damit nicht notwendig objektiv — zu begründende Zurückhaltung die Natur davor bewahren könnte, von uns endgültig zerstört zu werden, stellt die tollste anthropozentrische Hybris dar, seit eine Handvoll Gelehrter uns vor einigen Jahrhunderten von der Wahnvorstellung befreite, wir bildeten den Mittelpunkt des Kosmos.

Und sei unsere Macht auch noch so groß und unser Wesen noch so satanisch, der Gedanke an die Möglich­keit, wir könnten die irdische Natur auslöschen, ist lächerlich. Wir gehörten, soviel steht ja schon fest, nicht zu den ersten Lebensformen, die dem seit ein oder zwei Jahrhunderten ausgebrochenen planetaren Massen-Aussterben zum Opfer gefallen sind. Ganz gewiß aber werden wir auch nicht die letzten sein. Sobald jedoch wir selbst an der Reihe waren — was früher oder später mit Naturnotwendigkeit der Fall sein wird, wenn niemand dem Prozeß Einhalt gebietet —, wird wieder Frieden herrschen auf Erden.

Dann wird sich die Natur mit der schöpferischen Kraft, die sie in Jahrmilliarden kosmischer Geschichte an den Tag legte, aufs neue aus dem Trümmerfeld erheben, das wir hinterlassen haben. Die wenigen Jahrzehntausende der Anwesenheit von "Homo sapiens" auf der Erdoberfläche würden auf den Rang einer bloßen Episode herabsinken. Einer Episode ohne Bedeutung und letzten Endes auch ohne Folgen. Denn es würde keine Spur von uns bleiben.

Wir können der Natur, wie wir zur Genüge bewiesen haben, entsetzliche Verwundungen zufügen. Aber um sie zu zerstören, dazu sind wir, als ein Teil von ihr, denn gottlob doch zu klein. Was bei unserer Fortschritts- und Wachstumsraserei in Gefahr gerät, ist nur vordergründig "die Natur". In Wahrheit — wann endlich wird die Einsicht sich verbreiten? — haben wir angefangen, uns selbst in Frage zu stellen dadurch, daß wir nach Kräften an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen: an der Stabilität der irdischen Biosphäre nämlich, die sich unter unserem Ansturm sehr wohl auf ein anderes Gleichgewicht einpendeln könnte. 

Dies aber wäre dann nicht mehr jenes besondere, unverwechselbare biologische "Milieu", an das unsere Art sich in einer langen Stammesgeschichte angepaßt hat.

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Die Perfektion dieser Anpassung erleben wir — quasi "von innen" — als die "Schönheit" der Natur. Als die selbstverständlich hingenommene Entsprechung zwischen Wachen und Schlafen und dem Wechsel von Tag und Nacht. Als die wie Ebbe und Flut wechselnden Schwankungen unserer Stimmungen im Einklang mit den Schwankungen des Wetters und dem Wechsel der Jahreszeiten. Als die attraktive Verlockung, die für uns von einer reifen Frucht ausgeht, als die "Annehmlichkeit" der bei uns vorherrschenden Temperaturen und auf unnennbar viele andere Weisen, die uns nicht auffallen, weil wir sie für selbstverständlich halten.

Eine so vollkommene, in Äonen erworbene biologische Anpassung ist jedoch alles andere als selbst­ver­ständlich. Die wie eine glückliche Fügung anmutende außerordentliche "Lebensfreundlichkeit", die unsere irdische Umwelt — im Unterschied etwa zu anderen planetarischen Umwelten — in unseren Augen auszeichnet (und die in Wahrheit nichts anderes ist als der Widerschein der Vollkommenheit unserer Anpassung an sie), ist ein höchst verletzliches Produkt langer stammesgeschichtlicher Optimierung. Der Vollkommenheit unserer Geborgenheit in der real existierenden ökologischen Situation entspricht die Totalität unseres Angewiesenseins auf sie. Als biologische Wesen sind wir von ihr als unserer Lebensgrundlage abhängig, auf Gedeih und Verderb. Entweder diese Welt — oder keine.

Man muß auf die Trivialität dieser Aussage im Falle des Menschen ausdrücklich hinweisen, so sehr pflegen wir die Tatsache zu verdrängen, daß auch wir immer noch (auch) biologische Wesen sind und damit den in der lebenden Natur geltenden Gesetzen unterworfen. Die Erdgeschichte aber ist übersät mit den fossilen Überresten von Arten, die ihrer spezifischen, ihnen gemäßen Umwelt verlustig gingen. Ihre Zahl ist nach den Rückrechnungen der Paläontologen zehntausendfach größer als die Zahl aller heute lebenden Arten zusammen­genommen.53 

Die Todesursache bestand ausnahmslos in allen Fällen in einer Veränderung der Umweltbedingungen und der Unfähigkeit der jeweils betroffenen Art, diesem Wechsel durch eine korrespondierende Umstellung ihrer biologischen Anpassung zu folgen.

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Insofern wäre der Fall also als ganz alltäglich anzusehen. In der Tat, wenn die Menschheit infolge des Zusammenbruchs der Biosphäre demnächst aussterben sollte, so wäre das, aus erdgeschichtlicher Perspektive, kein sonderlich herausragendes Ereignis. Es würde uns lediglich zustoßen, was in den zurückliegenden Jahrmilliarden schon unzählig vielen anderen Arten widerfahren ist. Man muß sich nur hüten, diesen Ausgang der Geschichte deshalb für unmöglich zu halten, weil er uns unvorstellbar vorkommt. Auch unser individueller Tod erscheint ja jedem einzelnen von uns trotz allen Grübelns letztlich unvorstellbar, wie man spätestens dann festzustellen Gelegenheit hat, wenn man ihm konkret begegnet.

Nichts besonderes also, kein Grund zur Aufregung — sieht man einmal von der allerdings einschneidenden Tatsache ab, daß diesmal wir selbst es sind, die an die Reihe kämen? Nicht ganz. Denn da gibt es einen Umstand, der unseren Fall von allen Aussterbe-Toden der Vergangenheit unterscheiden würde: Zum allererstenmal in der Erdgeschichte wäre es die betroffene Art selbst, die jene Umweltveränderung herbeigeführt hätte, der sie zum Opfer fiel.

    

  Das ökologische "Fliegenfänger-Syndrom"   

 

Fliegen und anderer geflügelter Plagegeister pflegen wir uns heute mit Gift zu erwehren. Der — an Bequem­lich­keit nicht zu überbietende — Druck auf den Knopf einer Spraydose hat frühere, schlicht mechanische Tötungs­methoden der Vergessenheit anheimfallen lassen. Eine Ausnahme bildet die klassische Fliegenklatsche, die deshalb zeitlos sein dürfte, weil ihre Anwendung den Zusammenhang zwischen der eigenen Aktion und dem drastischen Ende des irritierenden Insekts mit einer Befriedigung erleben läßt, deren Unmittelbarkeit unüber­troffen ist.

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So gut wie vergessen ist dagegen ein anderer in Großvaters Tagen verbreiteter Fliegentöter. Er bestand in einem gut meterlangen, honigfarbenen Klebeband, das zusammen­gerollt in einem kleinen grünen Pappröhrchen steckte, aus dem man es nach der Entfernung des Deckels im Zeitlupentempo — sonst riß es — herauszuziehen hatte, um es danach wie eine Girlande unter einer Lampe aufzuhängen.

Die Vorbereitungen mochten umständlich erscheinen. Jedoch: Die Wirksamkeit der simplen Vorrichtung war an Effizienz wie an Grausamkeit kaum zu übertreffen. Jeder von uns Älteren hat sie als Kind mit einer Mischung aus Faszination und heimlichem Entsetzen studiert. Zunächst brauchte es Geduld. In der Anfangs­phase der heimtückischen Aktion war es eine Frage reinen Zufalls, ob und wann die erste der mit erstaunlicher Ausdauer die Lampe umkreisenden Fliegen sich auf dem mit einer sirupähnlichen Klebmasse dick bestrichenen Band niederließ. 

Dem ersten Beispiel folgten dann aber immer rascher die Nachfolger — geleitet von einem sich in diesem Falle selbstmörderisch auswirkenden Instinkt zur Geselligkeit, den die moderne Verhaltens­forschung inzwischen wissenschaftlich einwandfrei nachgewiesen hat und von dem man damals noch gar nichts wußte, was nicht hinderte, sich seiner aufgrund schlichter, aus Beobachtung gewonnener Erfahrung zum Verderben der Insekten zu bedienen.

Das Entsetzen rührte sich, sobald man der Versuchung nachgab, das individuelle Schicksal einer einzelnen Fliege nach der Landung auf der tückischen Oberfläche zu verfolgen. Der erste Kontakt zwischen Fliegenbein und klebriger Landefläche löste noch keinen Alarm aus. Augenblicke später aber, nach dem ersten Versuch, auch nur einen einzigen weiteren Schritt zu tun, geriet jede Fliege unübersehbar in Panik. Und anschließend kam es dann mit unbarmherziger Regelmäßigkeit zu jener Ablauffolge von Befreiungs­versuchen und eben durch sie bewirkter immer hoffnungsloserer Verklebung, an deren Ende das unglückliche Insekt unweigerlich als unbeweglicher schwarzer Fleck im Inneren der sirupartigen Masse endete. Jede Aktion, mit der die Fliege diesem Schicksal zu entgehen versuchte, führte es nur um so schneller herbei.

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Diese Kindheitserinnerung wird hier nicht deshalb beschworen, weil zu erwarten ist, daß die archaische Methode angesichts bestimmter gravierender Pferdefüße der Knopfdruck-Bequemlichkeit eine Renaissance erleben wird.54 Die Lage der Fliege auf dem tödlichen Band erscheint vielmehr wie ein Symbol unserer eigen­en heutigen Situation: Was auch immer sie zu ihrer Rettung unternimmt, es verstrickt sie nur tiefer in die Gefahr.

Sind wir etwa nicht in einer vergleichbaren Lage?

Da rät man uns, die Anbauflächen zu vergrößern und den Boden durch ein Mehr an Dünger zu größerer Fruchtbarkeit "zu ermuntern", wie etwa Ernst Bloch es empfahl. Kein Zweifel, auf diesem Wege kann man versuchen, das Brot für immer mehr Münder zu vermehren. Jedoch: Inzwischen haben wir gelernt, daß die Auswirkungen derartiger Maßnahmen sich in aller Regel nicht auf das von uns erstrebte Ziel beschränken lassen. Wir haben lernen müssen, daß die rapide Beseitigung der Restbestände an tropischem Urwald — vor allem in Asien und Südamerika zur Gewinnung neuen Ackerlands — identisch ist mit der Beseitigung des wichtigsten biologischen Kohlenstoffspeichers auf dem Festland.

Wir verstehen zuwenig von dem Gleichgewicht in der Biosphäre, dessen Stabilität eine der Voraussetzungen unseres Überlebens ist. Deshalb können wir die Folgen nicht sicher vorhersehen. Daß Vorsicht geboten ist bei weiteren Eingriffen, das immerhin beginnt uns aufzugehen.

Es ist schlechthin unerklärt, wie es eigentlich zugeht, daß der Sauerstoffgehalt in unserer Atmosphäre — und damit unserer Atemluft — ebenso wie deren Gehalt an Kohlendioxid seit Menschengedenken konstant geblieben sind: Pflanzen binden Kohlenstoff und setzen dabei Sauerstoff frei, der von Mensch und Tier durch "Atmung verbraucht", genauer: nach der "Verbrennung" von Nahrung in unserem Stoffwechsel gebunden an Kohlen­stoff, als Kohlendioxid, wieder "ausgeatmet" wird, womit der Kreislauf sich schließt. So viel lernt heute jedes Schulkind.55

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Was es nicht lernt, was niemand es lehren kann, weil niemand es weiß, das ist die Antwort auf die Frage, welche Rückkopplungsprozesse eigentlich dafür sorgen, daß dieser erdumspannende Kreislauf zwischen dem Reich der Pflanzen und dem der Tiere zu einem Resultat führt, das praktisch konstant bleibt: 20,93 Prozent Sauerstoff enthält unsere Atemluft und 0,03 Prozent Kohlendioxid — nicht mehr und nicht weniger (der Rest entfällt auf Stickstoff und Spuren von Edelgasen). 

Wenn wir sie wieder ausatmen, enthält dieselbe Luft nur noch 16 Prozent Sauerstoff, dafür aber vier Prozent Kohlendioxid. Jeder sieht ein, daß wir bald ersticken müßten, stellten die Pflanzen den Ausgangszustand nicht regelmäßig wieder her. Aber auch die Pflanzen sind, umgekehrt, von uns in der gleichen Weise abhängig: Sie würden in dem von ihnen als dem Abfallprodukt ihres typisch pflanzlichen Stoffwechsels (der Photosynthese) produzierten Sauerstoff ersticken, wenn wir — und die Tiere — seinen Überschuß nicht fortwährend durch unsere Atmung "beseitigten".

Das alles ist großartig und als Ergebnis einer langen Anpassungsgeschichte auch wunderbar. Aber es ist, im Prinzip jedenfalls, von der Wissenschaft verstanden. Wie Pflanzen und Tiere es jedoch fertigbringen, ihre Kooperation so einzurichten, daß die Zusammensetzung der Atmosphäre im großen ganzen konstant bleibt, das ist bisher ein Rätsel. Denn die Zahl der Tiere und der Menschen ist ja nicht unverändert geblieben. Und im letzten Jahrhundert haben wir nun überdies angefangen, dieses geheimnisvolle und lebensnotwendige Gleichgewicht durch die Verbrennung riesiger Mengen von Kohle und Öl, also durch eine zusätzliche, künstliche Produktion von gewaltigen Mengen an Kohlendioxid, bedenkenlos zu belasten.

Ganz spurlos ist dieser unwissentlich von uns durchgeführte Belastungstest andererseits an unserer Atmosphäre auch wieder nicht vorübergegangen. Seit etwa dreißig Jahren werden Messungen des Kohlendioxidgehalts durchgeführt, bei denen nicht nur die ersten beiden, sondern bis zu sechs weitere Stellen hinter dem Komma erfaßt werden. Ein Vergleich der Meßdaten von Jahr zu Jahr (und, mit der entsprechenden Vorsicht, mit Werten zurück bis Mitte des vorigen Jahrhunderts) ergibt einen ganz allmählichen, aber anhaltenden Anstieg. In den letzten hundert Jahren dürften es alles in allem etwa zehn Prozent gewesen sein, um die der CO2-Gehalt unserer Atmosphäre zunahm.

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Der Ausfall der Wälder wird die Entwicklung unvermeidlich beschleunigen. Sie vor allem sind es, die den durch Atmung und andere Verbrennungs­prozesse freigesetzten Kohlenstoff bisher langfristig gebunden haben. Die Schätzungen der Experten besagen, daß die jährliche Schrumpfung der Wälder infolge des Wegfalls der entsprech­enden Speicherkapazität zum Anstieg des atmosphärischen Kohlenstoffgehalts heute schon mindestens soviel beiträgt, wie alle sich auf der Erde abspielenden Verbrennungs­prozesse zusammen­genom­men, wahrscheinlich aber sehr viel mehr. Bei Einbeziehung der mit dem Rodungsprozeß in aller Regel einhergehenden Humus­vernichtung kommt man auf Schätzwerte, die das Zwei- bis Dreifache betragen. 

Wir können also freilich die Anbauflächen zur Nahrungsproduktion durch Fortsetzung der globalen Rodung weiter zu vergrößern trachten. Tatsächlich geschieht das ja auch nach wie vor in weltweitem Maßstab. Jedoch setzt sich langsam die Einsicht durch, daß dieser Beitrag zum Versuch einer Lösung des Nahrungsproblems uns ganz unvermeidlich neue, gravierende Probleme in einem ganz anderen Lebensbereich verschaffen wird. Die als seine unbeabsichtigte und nicht vorhergesehene Nebenwirkung auftretende CO2-Anreicherung der Atmosphäre muß früher oder später infolge des als "Treibhauseffekts" bekannt gewordenen Mechanismus zu einschneidenden Veränderungen des globalen Klimas führen. Darüber herrscht Einigkeit unter den Experten. Meinungs­unterschiede gibt es lediglich hinsichtlich der Fragen, wie weit der CO2-Anstieg sich fortsetzen wird und wann der für das Klima kritische Punkt erreicht ist.

Die bei der Überschreitung dieser kritischen Grenze zu erwartende allgemeine Erwärmung aber hätte nicht nur — durch das Abschmelzen der Polkappen — einen Anstieg des Meerwasserspiegels um mehrere Meter zur Folge. (Zur Veranschaulichung der Konsequenzen: Küstenstädte wie New York oder Rio de Janeiro, aber auch küstennahe Städte wie Hamburg oder Bremen müßten geräumt werden.) 

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Ganz unweigerlich käme es auch zu einer großräumigen Verschiebung der Klimazonen der Erde, ein Effekt, der jegliche Aussicht auf eine Vergrößerung der Ernten illusorisch werden ließe, der, im Gegenteil, die Nahrungs­mittelproduktion in weiten Gebieten der Erde völlig zusammenbrechen lassen würde.

Der scheinbar so einleuchtende und naheliegende Gedanke, die Nahrungsversorgung durch eine grundsätzlich beliebige Erweiterung der Anbauflächen steigern zu können, würde, wenn wir ihm in großem Maßstab folgten, also eine Katastrophe auslösen.56 Der Fall bildet ein eindrucksvolles Beispiel für ein Rezept, das die Katastrophe, zu deren Behebung es beitragen soll, definitiv herbeiführt.

Nicht besser steht es um den zweiten Vorschlag: den Boden zu größerer Fruchtbarkeit zu ermuntern. "Künstliche Düngemittel, künstliche Bestrahlung sind unterwegs ... die den Boden zu tausendfältiger Frucht ermuntern, in einer Hybris und ›Anti-Demeter-Bewegung‹ ohnegleichen, mit dem synthetischen Grenzbegriff eines Kornfelds, wachsend auf der flachen Hand", so pries Ernst Bloch diesen Aspekt des von ihm entworfenen <Prinzips Hoffnung> noch vor wenigen Jahrzehnten. 

Die Aussichten auf zunehmende Boden­versalzung, Erosion, Nitrat- und Phosphatbelastungen der Gewässer, nicht zuletzt aber auch auf den bei derartigen Gewaltmaßnahmen exponentiell steigenden Energiebedarf haben diesem Prinzip inzwischen jedoch längst auch den letzten Schimmer von Hoffnung genommen. 

Die "Entfesselung unserer technologischen Potenzen" würde uns auch in diesem Punkt ganz gewiß nicht voranbringen, wie uns Hans Jonas in seiner Antithese vom "Prinzip Verantwortung" zu Recht ermahnt.57 Denn es geht, wie der Autor begründet, schon längst nicht mehr darum, wieviel der Mensch noch zu tun imstande sein werde. (In dieser Hinsicht, heißt es ironisch, sei aller "Optimismus" wohl angebracht.). Entscheidend sei heute allein die Frage, wieviel die Natur noch zu ertragen fähig sei. 

* (d-2015:)  E.Bloch bei detopia 

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Daß es in dieser Hinsicht Grenzen gebe, werde von niemandem mehr bestritten. Die Frage angesichts jeglicher Empfehlung oder utopischen Vision sei daher allein die, ob sich der jeweilige Entwurf noch innerhalb dieser Grenzen unterbringen lasse oder nicht.

Was die durch künstliche Steigerung der Fruchtbarkeit zu bewirkende "Ermunterung des Bodens" betrifft, so sind diese Grenzen heute ganz offensichtlich aber schon erreicht, wenn nicht in einigen Regionen schon überschritten. Alle Anstrengungen, die wir jetzt oder in Zukunft unternähmen, um auf diesem Wege aus den gegenwärtigen Engpässen herauszukommen, würden unsere Probleme daher mit Gewißheit nur weiter verschärfen. Sie wären den Fluchtaktionen der Fliege gleichzusetzen, die zu ihrem Verderben versucht, durch vermehrtes Strampeln doch noch vom Klebeband freizukommen.

Aber auch auf allen anderen Auswegen, auf die wir bisher verfallen sind, würden wir früher oder später von den alle Hoffnungen zunichte machenden, gleichwohl aber ganz unvermeidlich auftretenden Nebenfolgen unserer Aktionen überholt werden. Das läßt sich summarisch und ohne detaillierte Begründung für den Einzelfall feststellen, weil jede denkbare Aktion letzten Endes mit einer Steigerung des Energieverbrauchs einhergeht.

Energie aber wird nicht nur für die Erzeugung von Kunstdünger benötigt (und für seine anschließende Verteilung). Nicht nur für die längst unverzichtbar gewordene Technisierung der landwirtschaftlichen Anbaumethoden. (Mit der Folge, unter anderem, daß die Produktion einer Scheibe Brot heute schon einen Energiebetrag verbraucht, welcher der in zwei Brotscheiben steckenden Energiemenge äquivalent ist.) Nicht nur für die "Steigerung des Lebensstandards", die wir angesichts jener unterhalb eines noch als menschen­würdig zu bezeichnenden Niveaus dahinvegetierenden Menschheitsmilliarde nicht als entbehrlichen Anspruch, sondern als moralische Pflicht anzusehen haben. Der rasch steigende Energiebedarf würde darüber hinaus früher oder später ganz unvermeidlich auch dem Rohstoffhunger unserer technischen Zivilisation eine unüberwindbare Grenze setzen.

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Es mag ja sein, daß die Vorräte sehr viel größer sind, als es im ersten Erschrecken über die Entdeckung der Begrenztheit unserer Welt der Fall zu sein schien. Vielleicht sind sie grundsätzlich sogar unerschöpflich. In dem Maße jedoch, in dem die spürbar werdende Verknappung an leicht zugänglichen Ressourcen uns zwingt, zu immer "heroischeren" Ausbeutungsmethoden unsere Zuflucht zu nehmen — zur Gewinnung von Öl aus Schiefergestein, von Metallen aus dem Meeresboden oder schließlich gar aus der Mondoberfläche —, in dem gleichen Maße wird sich der notwendige Energiebedarf erhöhen. Sein alsbald exponentiell verlaufendes Wachstum wird noch so asketisch reduzierten Bedürfnissen schließlich, wenn nicht aus finanziellen, dann letztlich aus absoluten, nämlich naturgesetzlichen Gründen einen Riegel vorschieben. Jegliche Energie­anwendung erzeugt Wärme. Diese aber läßt sich in der irdischen Biosphäre nicht in beliebigen Mengen unterbringen.

Kurzfristiges, auf aktuelle Tagesprobleme eingeengtes Denken mag es sich leicht machen, indem es dieses "ultimative Thermalproblem" (Hans Jonas) als eine Sorge abtut, die einer ferneren Zukunft überlassen bleiben könne. Wir sollten aber nicht vergessen, daß eben unsere Neigung, Probleme dadurch "zu lösen", daß wir ihre Bewältigung kommenden Generationen "anvertrauen", eine der wichtigsten Ursachen bildet für die Lage, in der wir uns heute befinden. 

Und überdies ist es mehr als fraglich, ob diese "Nach-uns-die-Sintflut"-Mentalität hier nicht schon deshalb gänzlich fehl am Platze ist, weil die Sintflut bei weitem nicht so lange auf sich warten lassen wird, wie unsere Vorstellung es uns beschwichtigend weismacht. 

Gerade exponentielle Verläufe überrumpeln die prognostischen Fähigkeiten unserer Phantasie regelmäßig in immer von neuem verblüffendem Ausmaß. (Darüber noch einiges Konkrete im anschließenden Kapitel.)

Argumentieren wir - um anschaulich zu machen, was mit der Metapher vom "ökologischen Fliegenfänger-Syndrom" gemeint ist - einmal andersherum. 

Wie verzwickt, wie seltsam ausweglos unsere Lage sich ausnimmt, kann man sich auf keine andere Weise deutlicher vor Augen führen als durch den Versuch, sich auszumalen, was geschähe, wenn eine der fundamentalen Grenzen, die unserem zukünftigen Wohlergehen ein Ende zu bereiten drohen, wie durch einen Zauberschlag verschwände. 

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Seiner zentralen Bedeutung wegen ist speziell der exponentiell anwachsende Energiebedarf, den die komfortable Existenz einer auf sechs oder mehr Milliarden angewachsenen zukünftigen Menschheit zur Voraussetzung hätte, ein gutes Beispiel.

Nehmen wir also einmal den utopischen Fall an, alle mit dieser Voraussetzung verknüpften Probleme seien wie durch ein Wunder ideal gelöst: Energie stände auf gefahrlose und "umweltfreundliche" Weise und sogar kosten­los in beliebiger Menge zur Verfügung. 

Stellen wir uns einfach vor, es käme ein Engel vom Himmel geschwebt, der uns eine "Energiepille" anböte, die uns Energie in jeder beliebigen Form, in unbeschränkten Mengen und ohne alle nachteiligen Begleit­erscheinungen (Emissionsprobleme, CO2-Anstieg und so weiter) bescherte. 

Was wären die Folgen?

Wenn die vermutlich von den meisten unter uns stillschweigend für selbstverständlich gehaltene Vorbedingung für individuelles Glück und gesellschaftliches Wohlergehen gälte, würde ein solches Himmelsgeschenk auf der Erde alsbald das Paradies ausbrechen lassen. Denn diese unausgesprochen angenommene Vorbedingung ließe sich, auf die kürzeste Formel gebracht, wohl in die Worte kleiden, daß jedes legitime menschliche Bedürfnis Anspruch auf Befriedigung habe und daß eine Gesellschaft, die diese Bedürfnisbefriedigung nicht vollständig und nicht für alle ihre Mitglieder zu leisten imstande sei, als noch unvollkommen entwickelt angesehen werden müsse.

Die utopische Energiepille unseres Gedankenexperiments aber würde der Erfüllung dieser vermeintlichen Vorbedingung selbstverständlich freie Bahn schaffen: Energie kostenlos und in beliebiger Menge, das bedeutete nicht nur das Ende des Hungers auf der ganzen Erde. Es bedeutete die Erfüllbarkeit jeden Konsum­wunsches für jeden Erdenbürger, also Wohnungen, Kleidung und Waren für den persönlichen Gebrauch soviel das Herz nur begehrt — vom Radiogerät bis zum Privatflugzeug. Ein Schlaraffenland?

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Schon der zweite Blick auf das Szenario belehrt uns eines Besseren. 

Nicht der Himmel wäre es, sondern eine Hölle, welche die Realisierung des Traums von der Energiepille auf der Erde entstehen ließe. Nach einer kurzfristigen, rauschhaften Phase explosionsartigen Wachstums würden die — prinzipiell ja unbegrenzt gedachten — individuellen Wunsch- oder Bedürfnis­befriedigungen in ihrer Summe den Zusammenbruch des ganzen Systems notwendig herbeiführen. Salopp konkretisiert: Vor lauter Privatflugzeugen wäre bald der Himmel nicht mehr zu sehen. Die Addition aller Konsumwünsche würde die Rohstoff­vorräte definitiv überfordern. Die in weltweitem Luxus vereinte Menschheit würde durch ihre bloße Präsenz alle andere Kreatur auf diesem Planeten verdrängen und damit aufgrund der bereits erläuterten biologischen Gesetz­lichkeiten ihren eigenen Untergang heraufbeschwören.

Wer da glaubt, daß sich derart extreme Entwicklungen auf irgendeine Weise vermeiden lassen müßten, der sei daran erinnert, daß unser utopisches Modell das "ultimative Thermalproblem" zwangsläufig akut werden ließe. Diese Konsequenz der "schlaraffischen Situation" allein aber würde den Untergang aus naturgesetzlicher Ursache, also mit Notwendigkeit, bewirken.

Das ist schon eine eigenartige Struktur, auf die wir hier stoßen: eine Lage, deren aktuelle Probleme sich durch die konsequente Anwendung der scheinbar nächstliegenden und daher auch allgemein diskutierten Rezepte auf lange Sicht nicht nur nicht lösen, sondern in allen genannten Beispielen nur multiplizieren ließen. Stets müssen wir darauf gefaßt sein, daß uns ein mit einleuchtenden Argumenten zur Rettung empfohlener Vorschlag — die wissenschaftliche Perfektionierung landwirtschaftlicher Produktivität, die Vermehrung der Weltnahrung durch Erweiterung der genutzten Bodenfläche, die Suche nach einer umweltfreundlichen Methode zur Gewinnung zusätzlicher, möglichst unbegrenzter Energiebeträge — auf einem unvorhergesehenen Felde mehr neue Sorgen beschert, als er uns vom Halse schafft. 

Erinnert das etwa nicht an die Situation der Fliege, die sich durch vermehrtes Zappeln freizukämpfen versucht und eben dadurch ihren Untergang nur beschleunigt?

Auf der Ebene des politischen Alltagsgeschäfts manifestiert sich ein ähnliches Problem in Form der oft beschworenen "Sachzwänge". Man wird ihre Realität fairerweise zugeben müssen, auch wenn der Begriff oft genug als Entschuldigung für bloße Untätigkeit herhalten muß und obwohl auch die Fälle nicht gerade selten sind, in denen gewiegte politische Taktiker "Sachzwänge" bewußt herbeiführen oder entstehen lassen, um eine ihnen wünschenswert erscheinende Entscheidung als unumgänglich hinstellen zu können.

Aber: Kollidieren die Maßnahmen, mit denen der Wald sich (vielleicht) noch retten ließe, etwa nicht mit den Strategien, die zur Sicherung und Vermehrung der Arbeitsplätze für notwendig gehalten werden? Ist, grund­sätzlich und ganz allgemein gesprochen, der Konflikt zwischen "Ökonomie und Ökologie" etwa nicht real? Gewiß, wer über das notwendige biologische und allgemein-naturwissenschaftliche Grundlagenwissen, verfügt, wird sich in allen Zweifelsfällen entschieden für den Primat der ökologischen Argumente aussprechen. Denn was hilft uns eine stetig wachsende Wirtschaft, wenn zugleich die elementaren Lebensgrundlagen in die Brüche gehen? Wem kann eine befriedigende Vollbeschäftigung noch nutzen, dem die biologischen Über­lebens­bedingungen entzogen werden? 

Dessen ungeachtet wäre es unrealistisch, zu leugnen, daß der Konflikt besteht.

Wie konnten wir in eine so perfekt konstruierte Sackgasse hineingeraten? Wo liegt der Fehler? Im Falle der Fliege ist die Antwort leicht: Sie hat den einen entscheidenden Fehler gemacht, sich eine für sie lebens­gefährliche Oberfläche zur Landung auszusuchen. 

Gibt es zur Erklärung unserer, der menschlichen, Situation vielleicht eine ähnlich eindeutige Antwort?

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