Kapitel 2      Start   Weiter 

Die Wurzel allen Übels

  Zwischenbilanz  

 

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Die zentrale Wurzel unserer ökologischen Misere ist in der Tat mit Händen zu greifen. Wer sie erst einmal entdeckt hat, ist von ihrer Evidenz überrascht. Aber auch von ihrer Trivialität. Denn sie ist längst ein so integrierter Bestandteil unserer alltäglichen Welterfahrung, vom ganz privaten Bereich mitmenschlichen Umgangs bis zum globalen Panorama, so, wie es sich in den täglichen Nachrichten spiegelt, daß Gewohnheit sie quasi unsichtbar hat werden lassen. (Wer könnte schon auf Anhieb die Zahl der Fenster des Gebäudes angeben, das er täglich zur Arbeit betritt?) 

Um die spezifische Tarnung zu umgehen, mit der Gewohnheit den Fall vor unserer Wahrnehmung versteckt hat, müssen wir uns ihm auf einem Umweg nähern.

Ich beginne seine Beschreibung deshalb mit der Schilderung des Schicksals eines Urlaubers, der es in einem fernen Lande an der gebotenen hygienischen Vorsicht hat fehlen lassen mit der Folge, daß er sich mit Choleraerregern infiziert. Wenn der Mann Pech hat, bringen die Mikroorganismen ihn innerhalb von 48 Stunden um, schneller, als es den einheimischen Ärzten gelingt, auch nur die zutreffende Diagnose zu stellen. Dergleichen kommt auch heute gelegentlich vor — wenn glücklicherweise auch nur selten —, und wir betrachten das dann mit Recht als menschliche Tragödie und gedenken des Toten und seiner Angehörigen voller Mitgefühl.

So verzeihlich und sogar legitim unsere Reaktion aber auch immer sein mag, sie ist, objektiv gesehen, durchaus einseitig, nämlich gefärbt von unserer Parteilichkeit als Mitmenschen. Sie verführt uns in einem derartigen Fall zu der Ansicht, hier habe "die Krankheit gesiegt". Das ist in Wirklichkeit grundfalsch. Niemand hat hier gesiegt. Alle Beteiligten haben verloren. Denn mit dem Patienten sind zwangsläufig auch die Choleraerreger zugrunde gegangen, die ihn besiedelt hatten.

So selbstverständlich es auch ist, daß wir deren Dahinscheiden nicht ebenfalls bedauern, so sollten wir uns dennoch einmal klarmachen, daß der Katastrophe in unserem Beispiel nicht nur der Mensch zum Opfer fällt.

Dies nicht um irgendeiner an den Haaren herbeigezogenen Pointe willen. Sondern zur lehrreichen Vergegen­wärtigung des objektiven Tatbestandes. 

In den Augen eines Biologen stellt der geschilderte Krankheitsverlauf das Schulbeispiel einer evolutionären Auseinandersetzung dar. So etwas wie eine Examensszene im permanenten Überlebensspiel der Natur, bei der beide Prüflinge schmählich versagt haben: der Mensch, indem er die ihm zu Gebote stehende Intelligenz unzureichend einsetzte (er beachtete bestimmte hygienische Vorsichtsmaßnahmen nicht), und die Krankheits­erreger, indem sie ihre Vermehrung über jene kritische Zahl hinaus fortsetzten, die mit der Weiterexistenz des menschlichen Organismus, den sie als ihre "Welt" mit Beschlag belegt hatten, noch vereinbar gewesen wäre. Mit durchgefallenen Examens­kandidaten aber macht die Evolution kurzen Prozeß.

Daß es sich bei dem ungesteuerten Wachstum der Infektionserreger auch objektiv, also aus unparteiisch-biologischer Perspektive, um ein Negativum, um eine Abnormität, nämlich einen Fall mißlungener Anpassung handelt, ergibt sich übrigens zweifelsfrei aus seinem Ausnahmecharakter. Weit mehr als 99 Prozent aller Bakterien und anderen Mikroorganismen, die es gibt, sind für uns Menschen harmlos. Die erstaunlich große Mehrzahl, die uns zu ihrer "Welt" erkoren hat, ist fast ausnahmslos zweckmäßig, sozusagen "vernünftig" angepaßt. Sie sitzen zwischen unseren Hautschuppen, in unseren Haarwurzeln, auf unseren Schleimhäuten in Nase, Mund oder Darm, auf unseren Bindehäuten und an unglaublich vielen anderen Körperstellen vermöge der unüberbietbar einfallsreichen Phantasie biologischer Anpassung, die auch die Vielzahl unterschiedlicher Makroorganismen in der äußeren Welt eine ihnen gemäße ökologische Überlebensnische hat finden lassen. 

Es sind harmlose Parasiten, die sich niemals über ein bescheidenes Maß hinaus vermehren, von denen wir in der Regel gar nichts bemerken und die erst wissenschaftliche Neugier nach und nach entdeckte. Einige nennen wir sogar "Symbionten", womit ausgedrückt werden soll, daß wir aus ihrer Anwesenheit auch unseren Nutzen ziehen. Dies gilt zum Beispiel für bestimmte Darmbakterien, die lebensnotwendige Vitamine für uns freisetzen, die unser Körper selbst nicht produzieren kann.

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Wenn wir mit Choleraerregern reden könnten, dann würden wir daher sicher den Versuch machen, sie darüber aufzuklären, daß sie nicht nur uns gefährden, sondern daß es auch in ihrem eigenen Interesse läge, ihre Vermehrung, das Wachstum ihrer Population, beizeiten einzustellen. Aller Wahrscheinlichkeit nach aber würden sie unseren Rat in den Wind schlagen und dies sogar mit höchst einleuchtenden Argumenten. Denn wenn es an der Zeit wäre, den Ratschlag zum Vermehrungsstopp zu beherzigen, dann hätten sie in dem von ihnen besetzten Lebensraum schon etwa hundert Generationen hinter sich gebracht: alle zwanzig Minuten eine — so schnell verläuft bei Bakterien die Vermehrung durch Zellteilung. In jeder einzelnen Stunde drei Generationen. Das macht rund hundert Generationen innerhalb von nur 33 Stunden, und das ist genau die Zeitspanne, innerhalb deren es für einen Cholerapatienten, der einen virulenten Stamm erwischt hat, gefährlich zu werden beginnt.

Hundert Generationen, das ist, in subjektive Lebenszeit übersetzt, ein außerordentlich großer Zeitraum. Wenn wir in unserer eigenen Geschichte hundert Generationen zurückdenken, geraten wir schon in die Lebenszeit von Moses. Vermutlich würden die Choleraerreger unsere Empfehlung daher mit dem Argument zurückweisen, daß man nun schon seit 99 Generationen, also seit "unausdenkbar langer Zeit", konsequent auf Vermehrung gesetzt habe und daß man prächtig dabei gefahren sei. Unser Rat, einmal die Möglichkeit zu bedenken, daß eine Beibehaltung des bislang erfolgreichen Vermehrungsrezepts von einem bestimmten Punkt an lebensbedrohliche Konsequenzen heraufbeschwören könnte, würde von ihnen vor diesem konkreten Erfahrungs­hintergrund höchstwahrscheinlich als intellektuell unzumutbar verworfen werden. Die Katastrophe nähme folglich auch dann ihren Lauf.

Das liegt natürlich daran, daß Choleraerreger gänzlich außerstande sind, sich die Konsequenzen einer geometrischen Progression auszumalen. Man kann es ihnen nicht zum Vorwurf machen, denn sie haben ja nicht einmal ein Gehirn. Man darf es ihnen um so weniger vorwerfen, als selbst wir Menschen, Besitzer eines Großhirns, Schwierigkeiten damit haben. 

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Ein nicht unwesentlicher Teil der Probleme, mit denen wir es heute weltweit zu tun haben, hängt, wie mir scheint, in der Tat damit zusammen, daß unser Gehirn zwar mit arithmetischen Vermehrungsreihen nach Art der Zahlenreihe 2...4...6...8...10...12 und so weiter (also mit der Aufeinanderfolge identischer Vermehrungs­schritte) ganz gut zurechtkommt, daß es aber total versagt, wenn es sich um "geometrische" Vermehrungs­schritte handelt, bei denen jeder einzelne Schritt ein bestimmtes Vielfaches des vorangegangenen beträgt, der Verlauf also zum Beispiel der Zahlenreihe 2...4...8...16...32 und so weiter entspricht, bei der jeweils "Verdopp­elungs­schritte" aufeinanderfolgen.

Daß auch bei uns Hirnbesitzern das Vorstellungsvermögen angesichts derartiger "geometrischer Progressionen" sofort in Schwierigkeiten gerät, zeigt die folgende altbekannte Scherzfrage: Nehmen wir an, auf einem See wüchsen Seerosen, deren Zahl sich mit jedem neuen Tag verdoppelt. Nehmen wir weiter an, daß diese Seerosen nach 99 Tagen die Seeoberfläche zur Hälfte zugewuchert hätten. Die Frage lautet dann: Wie viele Tage müßten wir danach noch warten, bis der See ganz von den Pflanzen bedeckt ist? Die Antwort liegt auf der Hand: einen einzigen weiteren Tag natürlich nur. Aber wer die Frage zum erstenmal hört, stellt in der Regel fest, daß er doch einige Augenblicke braucht, um sie zu durchschauen. Kein Wunder also, daß Choleraerreger Schwierigkeiten haben zu begreifen, daß nach 99 erfolgreich absolvierten Teilungsschritten ein einziger weiterer Schritt eine Katastrophe auslösen kann.

Andere Fälle stellen auch die menschliche Anschauung vor definitiv unlösbare Probleme. Ein einziges von vielen: Man stelle sich vor, man hätte ein gewöhnliches Blatt Zeitungspapier mit einer Dicke von rund 0,1 Millimeter vor sich und begänne, es zusammenzufalten. Nach dem ersten Mal hat das Resultat dann eine Dicke von 0,2 Millimetern, nach dem nächsten Faltungsvorgang 0,4 Millimeter, nach nochmaligem Falten 0,8 Millimeter und so weiter: 1,6 Millimeter, 3,2, danach 6,4 Millimeter Dicke und so fort. Jetzt die entscheidende Frage: Wie dick (oder hoch) fiele der Papierberg aus, wenn man den Faltungsvorgang fünfzigmal wiederholte?

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Durch bloßes Vorstellen oder "Abschätzen" wird niemand das richtige Ergebnis auch nur annähernd treffen: Nach fünfzigmaligem Falten der Zeitungsseite hätte der resultierende Papierberg eine Höhe von mehr als hundert Millionen Kilometern erreicht, das heißt, er würde von der Erde aus über die Marsbahn hinaus bis in den Asteroiden-Gürtel ragen. Von dieser unvorstellbaren Art sind die Konsequenzen aufeinanderfolgender Verdoppelungsschritte.

Mit diesen Informationen gewappnet, können wir uns jetzt sinnvoll einem anderen Beispiel von Wachstum zuwenden, nämlich dem Wachstum der Erdbevölkerung.

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Zur Zeit von Christi Geburt gab es auf unserem Planeten schätzungsweise 250 Millionen Menschen. Zur ersten Verdoppelung dieser Zahl brauchte es mehr als eineinhalb Jahrtausende: Um 1650, nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, betrug die Mitgliederzahl der Erdbevölkerung rund 500 Millionen. Die nächste Verdoppelung dauerte schon nur noch zwei Jahrhunderte: Um 1850 war die erste Milliarde erreicht. Von da ab beschleunigte sich das Wachstum immer mehr: Nach nur achtzig weiteren Jahren, bis 1930, stieg die Zahl auf zwei Milliarden an. Fünfzig Jahre später (1980) betrug sie vier, heute sind es schon 4,7 Milliarden.

Und wie jeder weiß, werden es in nur 15 weiteren Jahren, im Jahre 2000, nach neuesten Schätzungen unwiderruflich mehr als sechs Milliarden Menschen sein, die auf dem noch immer selben alten Planeten Erde leben, und das heißt nicht nur satt werden, sondern auch wohnen, arbeiten und konsumieren wollen — um nur die wichtigsten Minimalerfordernisse einer Existenz anzusprechen, die noch "menschenwürdig" genannt zu werden verdient.

Das heißt unter anderem, daß wir bis zum Jahre 2000, innerhalb der nächsten 15 Jahre also — und jetzt sind wir gezwungen, an dieser Stelle ein resignierendes "eigentlich" hinzuzusetzen —, im weltweiten Durchschnitt eigentlich 800 Millionen zusätzliche Wohnungen bauen müßten, wenn wir die beiden Menschen­milliarden, die es dann unwiderruflich mehr geben wird, menschen­würdig unterbringen wollen. 

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Daß wir — beide Schätzungen beruhen auf offiziellen Zahlen der UNO — weltweit fast eine Milliarde zusätzliche Arbeitsplätze schaffen müßten, wenn wir verhindern wollen, daß die beiden Menschenmilliarden einfach ohne jede Hoffnung bloß existieren.

Wir, und damit eines der reichsten Länder dieser Erde, sind seit etlichen Jahren nur noch mit größten Anstrengungen in der Lage, auch nur 200.000 Jugendliche jährlich auf zusätzlichen Arbeitsplätzen unterzubringen. Wer sich darauf zum Vergleich besinnt, dem geht ein Begriff auf von der Hoffnungs­losigkeit des Unterfangens, einer Menschenmenge, die mindestens 4000mal (!) so groß ist und deren größter Teil in den ärmsten Gebieten der Erde lebt, die gleichen Chancen zu verschaffen. Wobei noch daran zu erinnern wäre, daß ein Arbeitsplatz nicht nur aus Tisch und Stuhl besteht, sondern auch bei bescheidenster Auslegung die Verarbeitung irgendeines Rohstoffs bedeutet. Bei dieser aber wird — und sei der Betrag noch so gering — Energie verbraucht, und dabei entsteht irgendein Produkt, das sich zu irgendeinem Gebrauch eignet, im Verlaufe dessen es sich früher oder später unweigerlich in ebenfalls zusätzlichen Abfall verwandelt.

Damit wäre der Problemberg wenigstens andeutungsweise skizziert, mit dem wir es in den kommenden 15 Jahren auf diesem Sektor zu tun haben werden. Man sieht, mit der Lösung des Ernährungsproblems allein ist es nicht getan.

Wer angesichts dieser Perspektiven frohgemut verkündet, daß die Erde nicht nur vier oder sechs; sondern ohne weiteres auch acht oder zehn Milliarden Menschen tragen könnte, muß sich, wenn er sich nicht auf mangelhafte Intelligenz berufen kann, den Verdacht gefallen lassen, er habe sein Denkvermögen durch ideologische Blockaden fahrlässig beschränkt.59  

Zugegeben, das gegenwärtige Weltwirt­schafts­system ist beschämend ungerecht. Und wer behauptet, wirtschaftliche Ausbeutung existiere lediglich als propagandistisches Produkt in der Phantasie des Moskauer Zentralkomitees, verrät nur, daß auch er ideologische Scheuklappen trägt. (Das Tragen dieses Kopfschmucks ist ja kein ausschließlich marxistisches Privileg.) 

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Auch an unserer moralischen Verpflichtung, auf die aus den krassen weltökonomischen Ungerechtigkeiten uns erwachsenden Vorteile zu verzichten, gibt es nichts zu rütteln, jedenfalls dann nicht, wenn unser Selbstverständnis als eine an christlichen Maximen orientierte Gesellschaft nicht zur Heuchelei verkommen soll. Das alles ändert aber nichts an der schlichten Tatsache, daß die Erde ganz offensichtlich heute schon übervölkert ist.

Wohin immer man blickt, die Symptome sind unübersehbar. Schon 1978 sah Lester R. Brown, der Präsident des von der UNO unterstützen Worldwatch-Instituts, den Anlaß gekommen, daran zu erinnern, daß es nur vier natürlich vorkommende biologische Systeme gebe, die nicht nur unsere gesamte Nahrung, sondern — mit Ausnahme der aus Erdöl gewonnenen Kunststoffe und der mineralischen Rohstoffe — auch alle von unserer Industrie benötigten Rohstoffe liefern: die Ozeane und Binnengewässer unserer Erde (Fische), unsere Wälder (Holz), das Weideland (Vieh) und die landwirtschaftlich nutzbaren Anbauflächen (Getreide, Gemüse, Obst und so weiter).

Es sind dies die sogenannten "regenerierbaren Ressourcen", welche uns jene lebensnotwendigen Grundstoffe liefern, die, wie es so beruhigend heißt, "in der Natur von selbst immer wieder nachwachsen". Wie prekär unsere Lage in Wirklichkeit geworden ist, geht nicht zuletzt daraus hervor, daß der Begriff der "beliebigen Regenerierbarkeit" seit mehr als einem Jahrzehnt relativiert werden muß.60

Wir leben als Erdenbürger seit dem Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre nicht mehr von den Zinsen, sondern bereits vom Kapital. In allen Fällen hat der menschliche Verbrauch die natürliche Regenerationsfähigkeit überschritten. Unter diesem Aspekt haben wir das weltweite Dahinschwinden der großen Waldgebiete zu sehen. 

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Und auch der immer von neuem ausbrechende "Fischereikrieg" zwischen Deutschen und Kanadiern oder Norwegern oder zwischen Engländern und Isländern ist nicht der Ausdruck kleinlicher Seerechthaberei, als der er von der Presse jedesmal verharmlosend mißdeutet wird: Er ist aufzufassen als unübersehbare Folge der erschreckenden Tatsache, daß der noch vor kurzem für unerschöpflich gehaltene Fischreichtum der Welt­meere neuerdings nicht mehr ausreicht, um alle hungrigen Münder zu stopfen. Er ist nichts anderes als das erste Wetterleuchten eines Verteilungskampfes, eines gruppen­egoistischen Streits um die versiegenden Nachschubquellen, der in den vor uns liegenden Jahren und Jahrzehnten rasch beängstigende Formen annehmen könnte.

Wir haben bei unserer Geburt deshalb eine bewohnbare Erde vorgefunden, weil alle Generationen vor uns mit den "Zinsen" ausgekommen sind, die das Kapital der lebenden Natur laufend abwirft. Wir sind die erste Generation in der gesamten Geschichte, die sich daran nicht mehr hält. Unsere schiere Zahl macht es uns unmöglich, uns mit der laufenden natürlichen Regenerations­rate zu begnügen. Wir haben begonnen, das Kapital selbst anzugreifen. Niemand scheint sehen zu wollen, daß wir damit die Quellen zukünftiger Produktion zerstören. Daß wir den kommenden Generationen ihre Überlebenschancen auf fundamentale Weise beschneiden. Daß wir, wie ein französischer Biologe es vor einigen Jahren ebenso drastisch wie treffend formulierte, "dabei sind, unsere Enkel zu ermorden".

Das alles ist - man kann es nicht oft genug wiederholen - eine Folge davon, daß wir der Erde eine Zahl an Menschen zugemutet haben, die größer ist, als sie tragen kann. Von allen Formen des Wachstums, die uns heute an Grenzen stoßen lassen, jenseits deren unsere Überlebenschancen zunehmend bedroht werden, ist das Wachstum unserer eigenen Art die gefährlichste. Das kann man schon daraus ablesen, daß sich nicht ein einziges konkretes Beispiel der Umweltgefährdung anführen läßt, das nicht auf diese eine zentrale Ursache zurückginge.

Von der Verschmutzung unserer Luft bis zur Schadstoffbelastung unseres Trinkwassers, von der Über­fischung der Weltmeere bis zu den Engpässen in der Rohstoff- und Energie­versorgung, von der Klima­gefährdung durch einen stetigen CO2-Anstieg in der Atmosphäre bis zur großräumigen Wald­vernichtung zur Gewinnung immer neuer Anbauflächen — nicht eines, nicht ein einziges dieser und aller anderen noch existierenden Symptome des beginnenden Zusammenbruchs unserer Biosphäre, das letztlich nicht auf eine zu große Zahl der Mitglieder unserer eigenen Spezies zurückzuführen wäre. Sie ist die Wurzel allen Übels.

Sie ist damit auch die Erklärung für das eigentümliche Phänomen, von dem wir ausgegangen waren: für die Tatsache, daß wir uns, an welcher Stelle auch immer wir dazu ansetzen, einen konkreten Engpaß zu überwinden, alsbald in einem Netz von Nachfolge­schäden verstrickt finden, deren Nachteile die der Ausgangs­situation noch übertreffen.61  Der Versuch, an einzelnen Symptomen zu kurieren, kann die Krankheit nicht heilen, solange die Grundursache weiterbesteht.

In der Tat, die selbstmörderischen Konsequenzen unseres tollkühnen Versuchs, uns als planetare Monokultur zu etablieren, drohen nicht etwa. Sie schlagen bereits auf uns zurück. Wir stehen nicht vor der Gefahr, daß die für unser Überleben unverzicht­bare Biosphäre Schaden leiden könnte. Ihr Zusammenbruch hat bereits eingesetzt. 

Es geht nicht mehr darum, ob wir der Bedrohung noch ausweichen können. Es kommt alles darauf an, ob wir es noch fertigbringen werden, uns gegen ein Ende zur Wehr zu setzen, das schon begonnen hat. 

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   Zwischenbilanz und Überleitung   

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Damit wäre die Schilderung der Gefahren abgeschlossen, die uns unmittelbar bedrohen. Krieg und Zusammen­bruch der irdischen Biosphäre, das sind die apoka­lyp­tischen Reiter, mit denen wir es heute zu tun haben.

Die Beschreibung der Schrecken, die sie verbreiten, mußte in einiger Ausführlichkeit erfolgen. Der Vorwurf der "Panik­mache", der "Angstauslösung" und der "Beunruhigung der Öffentlichkeit" war dabei in Kauf zu nehmen. Eine "ruhige Öffentlichkeit" wäre mit Gewißheit nicht mehr zu retten.

"In einer solchen Lage - die uns die heutige zu sein scheint - wird Fürchten selber zur ersten präliminaren Pflicht einer Ethik geschichtlicher Verantwortung werden. Wen diese Quelle dafür, <Furcht und Zittern> — nie natürlich die einzige, aber manchmal angemessen die dominante —, nicht vornehm genug für den Status des Menschen dünkt, dem ist unser Schicksal nicht anzuvertrauen", schreibt Hans Jonas.62

(Von der Kompetenz und Vertrauens­würdigkeit derer, die uns von der Unnötigkeit unserer Angst zu überzeugen versuchen und uns unermüdlich versichern, sie hätten alle Probleme "fest im Griff", wird noch kritisch zu reden sein.) 

Oder, mit den Worten von Walter Jens:

Angstmacherei, heißt es, sei das? Beförderung von Panik? Im Gegenteil, was uns bevorstehen könnte... kann nicht klar und plastisch genug dargestellt werden. Das Verenden, Verdampfen, Versaften von Menschen will vorgeführt und nicht beschönigt sein. So undankbar das Kassandra-Geschäft der Warnung in letzter Stunde auch ist: Angst, im Sinne eines Bedenkens drohenden Unheils, kann Erkenntnis- und Hilfsmittel sein; Hybris — "So schlimm wird es schon nicht kommen!" — dagegen nie.63

Deutlichkeit also war unerläßlich, erst recht in einer Gesellschaft, die noch immer nicht wahrhaben will, wie groß die Gefahr ist, in der sie schwebt. In welcher die denkfaule, bequeme Neigung grassiert, den Lauf der Dinge "den dafür Zuständigen" zu überlassen, denen "da oben", die schon wüßten, was zu tun sei.

Das Erschrecken wird groß sein, wenn den Leuten aufgeht, wie gering das Wissen ist, wie unterentwickelt die Sensibilität und wie groß die Ratlosigkeit derer, von denen sie sich "verantwortlich geführt" glauben. Darauf muß jetzt die Sprache kommen. 

Es wird dabei nicht um Schuldzuweisungen gehen. Auch dann nicht, wenn unvermeidlich Versagen zutage tritt.

Aber der radikalen Besorgtheit, die sich nach der Beschreibung der Lage (hoffentlich!) rührte, kann die Sicht auf rettende Auswege nur auf eine einzige Weise freigelegt werden: indem man ihr zeigt, daß die apokalyptischen Reiter - deren Näherkommen uns zu Recht Angst einflößt - kein dämonisches Gesicht tragen, sondern ein durchaus vertrautes: unser eigenes. 

Was da scheinbar mit der Unaufhaltsamkeit eines unvermeidbaren Schicksals drohend auf uns zukommt, ist nicht Fatum, sondern Folge unseres eigenen Versagens.

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