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 Wege aus der Gefahr  

  Wege aus der Gefahr (1981) von Erhard Eppler 

 

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Lassen wir die Moral zunächst weiterhin aus dem Spiele. (Sie wird später noch zur Sprache kommen.) Beschränken wir uns also auf das sachliche Problem: die Frage, wie sicher wir uns in einem durch einen beiderseitigen Rüstungswettlauf charakterisierten Zustand des Nicht-Krieges (einer "permanenten Vorfeindschaft", wie es in einer Verlautbarung des Pentagons einmal treffend hieß) fühlen dürfen. 

Die Antwort ist einfach: nicht mehr oder weniger sicher oder unsicher, sondern mit uneingeschränkter Eindeutigkeit absolut unsicher. Das ist leicht zu begründen. 

Die Beurteilung ergibt sich aus der Relation zwischen der Größe der Gefahr und der Wahrschein­lichkeit ihres Eintretens, aus der "Risikokalkulation", wie jede Versicherungs­gesell­schaft sie ihrer Prämien­berechnung und wie wir alle sie mit ausreichender intuitiver Präzision unseren alltäglichen Handlungen zugrunde legen. Zwar verkürzen wir — statistisch betrachtet — unsere Lebenserwartung jedesmal um mehrere Minuten, wenn wir eine verkehrsreiche Straße überqueren. Wir "wissen" intuitiv auch, daß wir dabei "etwas riskieren". 

Wir nehmen das Risiko jedoch auf uns, weil ein Unfall bei ausreichender Vorsicht äußerst unwahrscheinlich ist und weil er selbst dann, wenn es dazu kommen sollte, nicht gleich von der schlimmsten Art zu sein braucht. Je größer die möglichen Folgen aber sein können, um so eher sind schon minimale Wahrschein­lichkeiten geeignet, uns zu irritieren. Und wenn es sich gar um existentielle Gefahren handelt, halten wir schon ein noch so kleines "Restrisiko" aus guten Gründen für untolerierbar.

Das alles ist höchst trivial und aus den jahrelangen Diskussionen um die "Sicherheit" von Kernkraftwerken hinreichend bekannt. Zwar sitzt den Kraftwerks­betreibern das Hemd näher als der Rock, weshalb sie gegen die immer höher geschraubten Sicherheits­auflagen hinhaltenden Widerstand leisten.  

Aber wenn ein GAU — ein "Größter Angenommener Unfall" — mit einer noch so geringen Wahrscheinlichkeit dazu führen kann, einige hundert Quadrat­kilometer eines dichtbesiedelten Industrielandes auf Jahrzehnte hinaus unbewohnbar zu machen, dann zweifelt grundsätzlich niemand an der Notwendigkeit, den Schutz gegen dieses "Restrisiko" so stark auszubauen, wie es technisch überhaupt machbar ist. Dann muß sogar das Argument ernstlich in Erwägung gezogen werden, ob man, da es absoluten Schutz nicht geben kann, auf das Projekt nicht vernünftigerweise von vornherein verzichten sollte.

Ich wüßte nun gern, woran es eigentlich liegt, daß man von dieser Argumentation im Zusammenhang mit der "Friedenssicherung durch Abschreckung" so selten etwas hört. Denn der GAU, der hier in Rechnung zu stellen wäre, besteht in nichts Geringerem als dem Ende der Bewohnbarkeit der ganzen Erde. Und daß "Abschreckung" den Ausbruch einer nuklearen Auseinandersetzung mit absoluter Sicherheit verhindern könne, das glauben nicht einmal ihre glühendsten Verfechter.94 Und nur ein Zyniker könnte behaupten, daß das unvermeidlich verbleibende "Restrisiko" durch die inzwischen erfolgte Abkehr vom reinen Abschreckungs­prinzip etwa verringert würde.

Das Ende durch einen nuklearen Holocaust ist daher, so, wie die Dinge bisher liegen, einzig und allein eine Frage der Zeit.

Vierzig Jahre Frieden in Europa unter dem atomaren Schirm? Sehr schön! Vielleicht werden auch noch sechzig Jahre daraus oder sogar hundert. Aber was nützte das der Menschheit, was nützte es uns oder unseren Kindern oder Enkeln, wenn am Ende dieser Frist, wie lange sie immer dauern mag, das Ende von allem steht, was "unsere Welt" ausmacht?

Wenn am Ende dieser Frist nicht nur die weitere Geschichte, also die Zukunft, sondern auch die ganze Vergangenheit, alles, was Menschen bisher geleistet und hervor­gebracht haben, annulliert würde, als ob es das nie gegeben hätte? 

So leben wir denn in der Situation von Delinquenten, über die das Todesurteil schon gesprochen ist und die jetzt nur noch auf die Festlegung des Exekutions­termins warten. 

Das ist das wahre Gesicht der "Gnadenfrist", von der die deutschen Bischöfe gesprochen haben.86

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Es sei denn, wir rafften uns auf und änderten die Voraussetzungen. Es sei denn, wir zögen endlich — irgendwann wird es dazu zu spät sein — die Konsequenzen aus der Einsicht, daß wir auf dem bisherigen Wege "einer alles vernichtenden atomaren Katastrophe zusteuern", wie die <Generale für Frieden und Abrüstung> unmißverständlich erklären. (66/4, S. 9) 

Daran, daß es grundsätzlich ohne weiteres möglich wäre, das sicherheitspolitische Ruder herumzuwerfen und einen anderen, weniger lebens­gefährlichen Kurs zu steuern, muß daher noch mit einigen Hinweisen erinnert werden.

Zwar ist es im Rahmen dieses Buches natürlich nicht möglich, hier jetzt hieb- und stichfest ausgearbeitete sicherheitspolitische Alternativen vorzutragen (womit ich mich ohne fachlich kompetenten Beistand zweifellos auch übernehmen würde). Notwendig ist aber die Anführung von Belegen dafür, daß es überhaupt Alternativen gibt, über die nachzudenken uns helfen könnte. 

Denn zu den Eigentümlichkeiten, die der offiziellen Sicherheitsdebatte einen so bedenklich irrationalen, zwangsneurotischen Charakter verleihen, gehört auch die beharrliche Tendenz, den bisherigen Kurs ungeachtet aller unübersehbaren Nachteile und Risiken als den einzigen überhaupt möglichen auszugeben und alle abweichenden Vorschläge als unrealistisch und friedensgefährdend beiseite zu schieben.

Die Erfahrung zeigt, daß dabei in aller Regel auch noch unfair argumentiert wird. Die häufigste Methode: Dem Kontrahenten wird eine extreme Version der von ihm vertretenen Alternative untergeschoben. 

Wenn Oskar Lafontaine — um ein typisches Beispiel zu nennen — etwa die allmähliche Herauslösung der europäischen Staaten aus den beiden Blocksystemen und die Schaffung eines atomwaffen­freien Mitteleuropa als politisch erstrebenswertes Ziel bezeichnet, weil sich dadurch möglicherweise die unmittelbare Konfrontation der beiden Supermächte in einer der spannungsträchtigsten und höchstgerüsteten Regionen der Erde beseitigen ließe, dann wird das im Handumdrehen zu dem Vorwurf verkürzt, er und mit ihm Teile der SPD stellten das westliche Bündnis in Frage. (66/1, S. 65)

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Wenn ein Vertreter der Friedensbewegung mit einem Befürworter der "Nach"-Rüstung diskutiert, wird ihm wie selbstverständlich unterstellt, er propagiere eine "einseitige Abrüstung des Westens".97 Auch in der für uns alle so folgenreichen Bundes­tagsdebatte im November 1983 erwähnten ausnahmslos alle Redner der Koalitions­parteien jegliche Alt­er­nativen zu dem von ihnen selbst vertretenen Kurs, wenn überhaupt, dann nur in Formulierungen, in denen von "einseitigem Verzicht", "mangelhaftem nationalen Behauptungswillen", "antiamerikanischen Ressentiments" und ähnlich negativ besetzten Begriffen die Rede war.

Wen die Götter vernichten wollen, den schlagen sie zuvor mit Blindheit.  

Es ist schwer, dem Gedanken zu widerstehen, daß hier ein tiefsitzender Todestrieb am Werke ist, der die Verantwortlichen blind auf einem Wege beharren läßt, an dessen Ende es für uns alle nur ein totales Ende, das Ende aller menschlichen Geschichte geben kann.

Der Vorwurf der Blindheit schließt die Überzeugung ein, daß es in Wirklichkeit sehr wohl Alternativen gibt, Auswege, nach denen zu suchen und die wenigstens zu diskutieren in unserem Interesse läge. 

Wie können wir den Berg an Vernichtungsmitteln, dies die entscheidende Frage, wieder abbauen, mit dem wir uns, wenn uns das nicht rechtzeitig gelingen sollte, früher oder später unfehlbar in die Luft sprengen werden - und zwar ohne bei dem Prozeß die Kriegsgefahr zu erhöhen oder unsere Freiheit aufs Spiel zu setzen?

Die Polarisierung des Streits zwischen Friedensbewegung und offizieller Politik zwingt dazu, die Schilderung der nächstliegenden Möglichkeiten mit dem Hinweis auf eine Binsenwahrheit zu beginnen: Jeder Versuch, unsere Sicherheit auf eine andere Grundlage umzubetten, die tragfähiger ist als das Wahnsinnsgerüst der fortlaufenden Perfektionierung einer "Option" zum globalen Massen­selbstmord, muß in Stufen erfolgen. In sorgfältig geplanten und vorbereiteten einzelnen Schritten, von denen der jeweils nächste immer erst erfolgen darf, wenn der vorangegangene abgeschlossen und gesichert ist.

Eine an Banalität kaum zu übertreffende Binsenweisheit, ohne Frage. Aber wenn man sie nicht unterstreicht, hat man sich erfahrungsgemäß schon im nächsten Augenblick mit dem lästigen Standardeinwand auseinander­zusetzen, man rede einer einseitigen Abrüstung des Westens das Wort. 

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Daß in "der" Friedensbewegung auch Träumer mitschwimmen, die das allen Ernstes tun und die von den Möglichkeiten einer "zivilen Verteidigung" phantasieren, gibt dem Einwand scheinbar einen Anflug von Berechtigung. Aber "Spinner" gibt es ja in beiden Lagern.95 Der katholische Friedens­forscher Bernhard Sutor hat es in einem sehr lesenswerten Aufsatz über <Chancen politischer Innovation durch die kirchliche Friedenslehre> sogar für angebracht gehalten, das Prinzip des schrittweise erfolgenden Vorgehens bei allen Versuchen zum Abbau konfliktträchtiger Spannungen durch einen speziellen Terminus besonders hervorzuheben: Sutor spricht von dem "Konzept eines politischen Gradualismus", ohne allerdings auf konkrete Beispiele einzugehen.66/6 Nein, eine einseitige Abrüstung wäre in der entstandenen Situation als erster Schritt kein hilfreiches Mittel.

Ein sinnvoller erster alternativer Schritt wäre dagegen das "Einfrieren" der Rüstung auf dem gegenwärtigen Stand. Der Vorschlag wurde unter dem Kennwort "Freeze" bekanntlich schon vor Jahren in die Diskussion eingebracht und unter anderem in der Abschlußerklärung des Mainzer Kongresses <Naturwissenschaftler gegen Atomrüstung> 1983 mit eingehender Begründung wiederholt.66/8  Seine Logik ergibt sich aus dem Rückblick auf die Geschichte. 

Der Aachener Politologe Winfried Böttcher rechnet vor, daß es zwischen den Jahren 650 v.Chr. und 1975 n.Chr. 1856 Versuche gegeben habe, den Frieden durch Hochrüstung zu sichern. Davon hätten 1600 Versuche zum Ausbruch eines Krieges geführt und weitere 16 zum wirtschaftlichen Ruin der Beteiligten.96 Der Vorschlag, durch ein Anhalten der Rüstungsspirale den Versuch zu machen, diese Folgen zu verhindern, nimmt sich vor diesem historischen Hintergrund vernünftig aus. Warum ist er von offizieller Seite trotzdem niemals ernstlich diskutiert worden, warum wird er vielmehr bis auf den heutigen Tag schweigend übergangen? 97

Mir scheint, daß das an gewissen mit ihm verbundenen Worten und Begriffen liegen könnte, die auf die Bereitschaft eines Berufspolitikers, über den Fall weiter nachzudenken, in der Art eines bedingten Reflexes wirken. 

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Das "Freeze"-Konzept ließe sich so, wie die Dinge heute liegen, im ersten Schritt einzig und allein in Gestalt einer "einseitigen westlichen Vorleistung" realisieren. Das aber ist eine Wortverbindung, welche die Fähigkeit eines Sicherheitsprofis zum weiteren Hinhören und Mitdenken mit der gleichen Abruptheit und Zuverlässigkeit beendet, wie ein Pawlowsches Klingelsignal den Appetit einer entsprechend konditionierten Ratte.

Das ist sehr bedauerlich, denn das Weiterdenken lohnt sich in diesem Falle durchaus. Zwar ist das "Freeze"-Konzept in der Tat nur in der Form eines einseitigen Schrittes der Vorleistung realisierbar. Das Schicksal nahezu aller Rüstungs­begrenzungs-Verhandlungen der letzten Jahrzehnte belegt das zur Genüge (eine der wenigen Ausnahmen: das Teststopp-Abkommen des Jahres 1963). Wer aber über seinen sicherheitspolitischen Schatten springt und sich von dieser Voraussetzung nicht am Weiterdenken hindern läßt, der kann auf den überraschenden Gedanken kommen, daß die Einseitigkeit seines Verzichts gar nicht ihn selbst, sondern den potentiellen Gegner empfindlich treffen könnte: mit der (hoffentlich) eintretenden Folge, daß sie diesen dazu animiert, dem "vorgeleisteten" Beispiel zu folgen.

Um damit anzufangen: 

Ein einziges Poseidon-U-Boot kann heute 160 Sprengköpfe — jeder einzelne von ihnen mit der zwanzigfachen Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe — in voneinander getrennte Ziele steuern und damit zum Beispiel alle russischen Städte mit mehr als 200.000 Einwohnern auslöschen.  

In der Praxis heißt das, daß ein einziges U-Boot Rußland zerstören könnte. 

Man muß seinen Kopf jahrelang exklusiv der Wahnsinnslogik des offiziellen Sicherheitsdenkens ausgesetzt haben, um unter diesen Umständen auf den Gedanken verfallen zu können, daß es eine Minderung der eigenen Sicherheit bedeuten würde, wenn man — und sei es einseitig — darauf "verzichtete", dieses irrwitzige Vernichtungspotential unter Einsatz aller verfügbaren wirtschaft­lichen Reserven noch weiter zu vermehren.98

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Die Fortsetzung des Wettrüstens, davon waren wir ausgegangen, würde früher oder später unweigerlich zum atomaren Holocaust führen. Eine — notgedrungen einseitige — Weigerung, sich an der Fortsetzung des Irrsinns unter diesen Umständen weiter zu beteiligen, würde unserer Sicherheit andererseits auf Jahre hinaus keinen Abbruch tun.99  

Was ergibt sich daraus? Was wären die wahrscheinlichen Folgen, wenn das westliche Verteidigungs­bündnis eines Tages feierlich deklarierte, daß seine Mitglieder von Stund an nuklear nicht weiter aufrüsten würden. Und wenn es sich, das natürlich auch vorausgesetzt, an diese Deklaration dann ohne Wenn und Aber strikt hielte, ohne sich unter anderem von dem gewiß nicht ausbleibenden Widerstand aus den Kreisen der eigenen Rüstungsindustrie irre machen zu lassen? 

Erste voraussehbare Folge: Niemand würde es glauben. Insbesondere die Russen würden fest davon überzeugt sein, es lediglich mit einem weiteren, neuartigen sicherheits­politischen Bluff zu tun zu haben. (Man könnte es ihnen nicht einmal verargen.) Während der Westen seinen "einseitigen Verzicht" auf eine weitere Teilnahme am Rüstungswettlauf realisierte, würde die andere Seite daher zunächst wie bisher nach Leibeskräften weiterrüsten.

Dabei aber bliebe es über die Jahre hinweg nicht. Die Gesamtsituation würde sich verändern. Unmerklich zunächst, dann aber immer deutlicher. Nach Überwindung der unvermeidlichen Umstellungsprobleme in der Rüstungsindustrie — deren "konventionelle" Zweige von der Entwicklung andererseits gar nicht betroffen wären — würde der amerikanische Staatshaushalt sich allmählich wieder normalisieren. Die astronomischen Defizite würden auf ein vernünftiges Maß reduziert werden können, die Zinsen ebenfalls, mit den entsprech­enden heilsamen Konsequenzen für die gesamte westliche Wirtschaft. Für die Behebung innerer, vor allem sozialer und bildungspolitischer Probleme würden beträchtliche Summen freigesetzt, desgleichen für eine wirk­same Unterstützung von Entwicklungsländern, die sich mit eigener Kraft nicht aus ihrem Elend erheben können.

Die Vereinigten Staaten — und mit ihnen die von ihnen abhängigen, zum westlichen Lager gehörenden Länder — würden sich zu erholen beginnen. Wirtschaftlich, aber nicht zuletzt auch seelisch. 

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Mit dem Ausstieg aus dem Wahnsinn eines bis zu irrationalen Dimensionen gediehenen Rüstungswettlaufs entfalteten sich auch psychisch heilsame Wirkungen. "Wir haben aufgehört, unser Ausrottungsarsenal wie besessen immer noch weiter zu vergrößern — und siehe da, nichts passiert!" Das wäre die Erfahrung, die in das allgemeine Bewußtsein Einlaß fände. Ein erster Schritt auf dem Wege, sich von Verfolgungswahn und von der phobischen Weltsicht zu befreien, welche die Gemüter bis dahin verdunkelt hatten.

Das Erscheinungsbild Amerikas würde sich vor den Augen der Welt eindrucksvoll ändern. Amerika brauchte sich nicht mehr angestrengt darauf zu konzentrieren, als die Macht respektiert zu werden, deren Ausrottungspotential man mehr zu fürchten hat als das jedes anderen Staates dieser Erde. Die Vereinigten Staaten sähen sich in die Lage versetzt, ihre Überlegenheit auf anderen Gebieten zur Geltung zu bringen. Sie könnten beispielsweise den Ehrgeiz entwickeln, die Rolle eines allseits anerkannten Aushängeschildes der freiheitlichen demokratischen Gesellschaftsordnung zu spielen. Wäre nicht auch das eine Methode, dem weiteren Vordringen der sowjetisch-marxistischen Ideologie Grenzen zu setzen — wirksamer als die primitive Reaktion physischer Gewalt und mit einem weitaus geringeren Risiko behaftet?

Die voraussichtlichen oder zumindest denkbaren Folgen aber würden auch auf das östliche Lager übergreifen. Früher oder später würde man sich dort angesichts der immer deutlicher hervortretenden Entwicklung im gegnerischen Lager die Frage vorlegen, ob man eigentlich gut beraten ist, wenn man seinerseits fortfährt, die verfügbaren Mittel fast ausschließlich in die weitere Aufrüstung zu investieren. Ist es sehr wahrscheinlich, daß man im Osten an diesem Kurs unbelehrbar festhielte und daß sich bei keinem der Verantwortlichen der Gedanke regen würde, was man mit den sinnlos verpulverten Riesensummen in dem Entwicklungsland Sowjet­union sonst bewirken könnte: vom Straßen- und Wohnungsbau bis zur geregelten Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungs­mitteln und Konsumartikeln? 

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Ließe sich aus der im Westen allgemein akzeptierten Tatsache, daß "die Sowjetunion ein Wettrüsten herkömmlicher Art nicht mehr sehr lange durchhalten kann, aus Gründ­en, die in der Unflexibilität und mangelndem wirtschaftlichem Erfolg des eigenen Systems liegen" (Bundes­verteidigungs­minister Manfred Wörner; s. Anm. 66/1, S. 139) nicht auch diese Schlußfolgerung ziehen? Und wäre sie etwa nicht leichter in Einklang zu bringen mit der unserem System eigenen Friedensliebe, die wir uns ein wenig selbstgerecht fortwährend attestieren, während man in den Regierungs­kreisen unserer Schutzmacht mit der Möglichkeit, die Russen "wirtschaftlich totzurüsten", noch immer liebäugelt? Schließlich und nicht zuletzt: Läge diese "alternative" Schlußfolgerung angesichts der Wahrscheinlichkeit, daß eine bis an die Zähne aufgerüstete Sowjetunion im Fall der Fälle nicht "mit einem Winseln" abtreten würde, nicht auch in unserem ureigenen Interesse?

Der Druck des Verfolgungswahns, den wir auch auf östlicher Seite voraussetzen dürfen und der alle polit­ischen Überlegungen auch dort mehr oder weniger auf militärische Kategorien verkürzt, ließe sich ebenfalls durch einen derartigen "Verzicht" verringern. Zwar sind die Aussichten auf eine psychische Gesundung auf dieser Seite geringer als im Westen, da die spezifischen Besonderheiten der russischen Geschichte die Phobie seit Jahrhunderten fest etabliert haben. Jedoch kann niemand bestreiten, daß der Vorteil wiederum auf unserer Seite läge, wenn wir durch einen "einseitigen Rüstungsstopp" Bedrohungs­ängste verringerten, die auf die Dauer geeignet sind, die Reaktionen eines Staatswesens unberechenbar werden zu lassen, dem wir selbst fortwährend einen "weit übersteigerten Sicherheitskomplex" bescheinigen.

Dies sind einige der denkbaren, wenn nicht gar wahrscheinlichen Konsequenzen eines Schrittes, der seiner voraussehbaren Wirksamkeit wegen mit dem Wort "Verzicht" zweifellos unglücklich und irreführend bezeichnet ist. Daß die durch ihn im Ablauf der Jahre bewirkte Verbesserung der heute durch eine unaufhebbar erscheinende Verflechtung wechselseitiger Bedrohungssignale und dadurch ausgelöster "Nach"-Rüstungsaktionen heillos vergifteten Atmosphäre dann als zweiten oder dritten Schritt auch Aussichten auf erfolgreiche Abrüstungsverhandlungen eröffnen könnte, läßt sich ebenfalls erwarten.

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Zwar werden nicht wenige diesen Versuch, die möglichen Folgen eines einseitigen Rüstungsstopps in groben Strichen zu skizzieren, als "unrealistisch" oder zu optimistisch beiseite schieben wollen. Ihnen möchte ich jedoch entgegenhalten, daß mir das unbeirrte Festhalten an einer weiteren Aufrüstung als Konzept der Kriegsverhinderung noch sehr viel unrealistischer zu sein scheint. Denn selbst seine Befürworter müssen einräumen, daß sich das Risiko einer nuklearen Selbstauslöschung der Menschheit auf diese Weise nicht gänzlich aufheben, und das heißt nichts anderes als: nicht für beliebig lange Zeiträume hinausschieben läßt.

Dies ist nur ein einziges von mehreren denkbaren Beispielen für "alternative" Möglichkeiten einer Friedens­sicherung im nuklearen Zeitalter. 

Angeführt nur, um anschaulich werden zu lassen, wie borniert die letztlich suizidal zu nennende Festlegung auf Wettrüsten und "Abschreckung" als ausschließ­liche Rezepte der Friedenserhaltung ist.

Die "Umrüstung" auf Defensivwaffen, die Sicherheit verschaffen, ohne zugleich Bedrohungsängste auf der anderen Seite zu mobilisieren, stellt eine weitere von verschiedenen Experten und Gremien vorgeschlagene und begründete sicherheits­politische Alternative dar. (66/3; 66/4; 66/8) Der Einwand, sie sei finanziell nicht zu realisieren, gilt nur dann, wenn man sie als zusätzliche. Möglichkeit der bisherigen Aufrüstung noch hinzuaddieren will, was das Konzept eines Aufrüstungsstopps aber gerade ausschließt.

Wenn die Einsicht, daß der bisherige Weg nur noch ein kurzes Stück gangbar ist, akzeptiert wird, bedarf es keiner Begründung mehr, daß die Suche nach alternativen, besseren Wegen zur vordringlichen Aufgabe wird. Davon ist in der offiziellen Sicherheits­politik jedoch kein Hauch zu spüren. Ganz im Gegenteil: Alternative Konzepte und Vorschläge werden dort nach wie vor mit scheinbar griffigen Standardantworten abgewiesen ("Ein einseitiger Verzicht würde ... die Gefahr eines Krieges erhöhen"), die kritisch unter die Lupe zu nehmen alle Welt offenbar für überflüssig hält. 

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Oder sie werden einfach totgeschwiegen, indem man das "Wettrüstungs-" und "Abschreckungs-Konzept" - ebenfalls ohne weitere Begründung - schlicht zum einzigen denkbaren Konzept erklärt. 

Originalton Helmut Kohl: "Es ist eine unerträgliche Arroganz, wenn Leute behaupten, einen anderen Weg zum Frieden zu kennen."100 

So vernünftig und im Interesse der Selbsterhaltung dringend es auch wäre, alle intellektuellen Fähigkeiten auf die Suche nach Auswegen anzusetzen, so wahrscheinlich ist es daher, daß nichts dergleichen geschehen wird. So wahrscheinlich ist es, daß wir wie die Lemminge auf dem einmal eingeschlagenen Kurs weitermarschieren werden, unbeirrt von den Rufen derer, die uns darüber aufzuklären versuchen, daß wir einem Abgrund zusteuern.

Daß es in der offenbar von phobischen Ängsten durchtränkten Atmosphäre der amerikanischen Sicherheits­politik so gut wie aussichtslos ist, der Stimme der Vernunft noch Gehör zu verschaffen, muß heute leider schon als ausgemacht gelten. Ein Psychiater könnte sich veranlaßt sehen, von verminderter Zurechnungs­fähigkeit zu sprechen, einem Übel, das nicht nur Individuen befällt, sondern, wie die Geschichte — und nicht zuletzt unsere eigene Geschichte — lehrt, ganze Völker heimsuchen kann.

Aber wäre es dann nicht Ausdruck wahrer, wohlverstandener Bündnispflicht, wenn wir uns um einen klaren Kopf bemühten und darum, unserer Schutzmacht die kritischen Einwände und Gefahrensignale wieder und wieder vor Augen zu führen und in Erinnerung zu rufen, die in einer von übermächtigen Bedrohungs­ängsten beherrschten, einseitigen Weltsicht unterzugehen drohen?

Es ist müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. 

Solange unserer Regierung ein Kanzler vorsteht, der eine notfalls durch bedingungslose Akklamation erkaufte "völlige Übereinstimmung" mit besagter Schutzmacht für den Inbegriff einer erfolgreichen Politik hält, solange wird jeder Vorschlag in dieser Richtung unfehlbar als Manifestation "antiamerik­anischer Ressentiments" angesehen werden. 

Solange ist eine "Folie à deux" von Amerikanern und Westdeutschen den Russen gegenüber, das gemeinsame Versinken der Bundesgenossen in dem emotionalen Nebel eines von beiden geteilten Bedrohungswahns, wahrscheinlicher als ein rationaler westdeutscher Beitrag zu einer Friedenspolitik, die diesen Namen auch verdiente. 

In der Tat, unsere Chancen sind nicht sehr groß.

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