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4.   Ökologische Überlebensbedingungen

  Rezept 

 

  Die Antwort der Ökonomen  

226-247

So viel dürfte klargeworden sein: Auch dann, wenn wir es fertigbringen sollten, uns die atomare Selbst­ver­nicht­ung zu ersparen, sind wir noch keineswegs aus aller Gefahr heraus. Selbst dann, wenn das Unwahr­schein­liche geschähe und die menschliche Gesellschaft den radikalen Übergang zu einer wirklichen Friedens­politik zustande brächte, könnten wir noch immer nicht aufatmen. 

Denn tödlich ist auch jene stillere, darum aber nicht weniger endgültige Drohung, die wir unter dem Begriff eines <Zusammen­bruchs der Biosphäre> erörtert haben. Daß sie in all ihrer Geräuschlosigkeit so unerbittlich ist wie jede andere Todesursache auch - ungeachtet ihres für unsere Sinne unmerklich langsamen Fortschreitens -, braucht nicht nochmals begründet zu werden. 

Erinnert sei jedoch daran, daß es sich bei ihr nicht um etwas handelt, das noch bevorstünde. Um eine erst in der Zukunft auf uns lauernde Gefahr, die, wenn wir uns nur richtig verhalten, gar nicht einzutreten braucht. 

Die gewohnten sprachlichen Wendungen, mit denen wir von ihr reden — über den drohenden Verlust der Wälder, die drohende Verseuchung unserer Atemluft, die bedrohte Existenz immer weiterer Tierarten —, suggerieren beschwichtigend, daß uns noch ein wenig Zeit bleibt, bis es tatsächlich soweit ist. Wir belügen uns selbst, wenn wir uns damit beruhigen. 

Noch einmal: Es ist längst soweit. Der Zusammen­bruch der Biosphäre steht nicht bevor. Er hat bereits eingesetzt. Der Vorgang des Aussterbens so vieler Arten, der auch uns bedroht, ist in vollem Gange. Geräuschvoller findet Aussterben nicht statt.

Wenn wir noch einmal davonkommen wollen, müßten wir uns daher in diesem Augenblick wehren. Jetzt und heute. Wenn es uns nicht gelingt, unser gesell­schaft­liches Verhalten radikal zu ändern, gibt es niemanden, der uns retten könnte. 

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Die expansive, aggressive, Spezies-egoistische Art unseres Umgangs mit der uns ausgelieferten übrigen lebenden Natur ist für den Erfolg in unserer ganzen bisherigen Geschichte ausschlaggebend gewesen. Nur als Jäger, als Ausbeuter der in seiner Umwelt aufzu­findenden natürlichen Ressourcen und später dann als aggressiver Verteidiger seines Besitzes und der Grenzen des von ihm eroberten Reviers hatte unser prähistorischer und frühmenschlicher Ahn eine Chance. 

Niemand bestreitet das.

Die unsere Lernfähigkeit auf das äußerste strapazierende Lektion, die wir zu absolvieren haben, besteht nun aber in der Einsicht, daß genau das, was einige hundert­tausend Jahre lang unbestreitbar Voraussetzung unseres Überlebenserfolges gewesen ist, von Stund an als Ursache drohenden Aussterbens zu gelten hat. Unser Erfolg war so groß, unser »Sieg« über die restliche Natur so unvorhergesehen total, daß wir uns umbringen würden, wenn wir an den bisherigen Rezepten weiterhin festhielten. 

Diese wahrhaft radikale Wende unserer Situation, nach einer (sagen wir:) halben Jahrmillion stetigen Erfolgskurses, innerhalb der atemberaubend kurzen Frist von einer, höchstens zwei Generationen — eine bereits optimistische Abschätzung unserer ökologischen Gnadenfrist — zu begreifen, das ist die schwindel­erregende Aufgabe, die wir bewältigen müßten, wenn die menschliche Geschichte auf diesem Planeten eine Fortsetzung haben soll.

Wo bieten sich Auswege zur Rettung? 

Der Weg zurück in die Höhlen der Steinzeit gehört ganz gewiß nicht dazu. Die Empfehlung »Zurück zur Natur« kommt um wenigstens einige Jahrhunderte zu spät. Wir haben ganz im Gegenteil allen Anlaß, die Möglichkeit zu fürchten, daß wir uns in absehbarer Zeit gänzlich unfreiwillig in diesen Höhlen wiederfinden könnten. Dann nämlich, wenn wir die Dinge weiter treiben ließen. Wenn wir uns der »Selbsthilfe der Natur« anvertrauen würden, mit der sich mancher beruhigt.

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Zwar würde es sich auch dabei um eine Lösung des Problems handeln. Sie bestünde konkret darin, daß einige Menschen­milliarden verhungern, an Seuchen verrecken oder in den unvermeidlichen finalen Verteilungskriegen — um die letzten Trinkwasser­reserven oder die letzten landwirtschaftlich noch nutzbaren Böden — umkommen müßten. 

Freilich, auch das wäre, aus unmenschlich objektiver Perspektive, als eine Lösung des Problems der Überlastung unseres Planeten anzusehen. Die Natur, die Biosphäre, würde sich rasch regenerieren und hätte sich so in der Tat wirksam »selbst geholfen«. Die Frage ist nur, ob einer von uns bereit wäre, den Kaufpreis zu zahlen. Dieser wird von all denen in seltsamer Blindheit verdrängt, die, auf den Ernst der Lage aufmerksam geworden, ihre Verantwortung eben mit dem Satz abzuschieben trachten: »Die Natur wird sich schon zu helfen wissen.« Ohne Zweifel, das wird sie ganz gewiß. Wir sollten jedoch alles daran setzen, uns selbst zu helfen, bevor es dazu kommt und die Natur die Lösung mit der ihr eigenen Fühllosigkeit in die Hand nimmt. Viel Zeit bleibt uns nicht.

Wo also wäre ein Ausweg, der diesen Namen auch aus unserer, der Sicht des Menschen verdient?

Es mag im ersten Augenblick eigentümlich klingen, ist bei näherer Betrachtung aber eigentlich nicht verwunderlich, daß die konkretesten Rezepte, die bisher vorgelegt worden sind, von Ökonomen stammen, von Wirtschafts­wissen­schaftlern.101  Schließlich sind es Industrialisierung und technologischer Fortschritt, die unseren Einfluß auf die Erde ins Maßlose haben wachsen lassen. Beider Quelle ist der wissen­schaftliche Erkenntnis­fortschritt. Gesteuert aber wird die aus deren Zusammenwirken resultierende Macht von der »unsichtbaren Hand« des — relativ — freien Spiels wirtschaftlicher Kräfte.

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Dieses »freie Spiel« der untereinander zu einem für uns undurchschaubaren Netz vielfältig rückgekoppelten Wirtschaftsfaktoren verkörpert eine »Intelligenz« — oder ist zumindest intelligenter Leistungen fähig —, die den Horizont individueller Intelligenz in mancher Hinsicht weit übertrifft. Liberale Wirtschafts­wissen­schaftler, die sich die theoretische Untermauerung der »freien Marktwirtschaft« zur Aufgabe gemacht haben, begründen diese Auffassung mit überzeugenden Argumenten (zum Beispiel F. A. von Hayek, s. Anm. 102).

Der Erfolg dieser überindividuellen System-Intelligenz auf ihrem ureigensten Gebiet, dem der Optimierung von Produktions­steuerung und Konsum­befriedigung im weitesten Sinne, ist konkurrenzlos. Selbst marxistische Ökonomen räumen das längst ein. Das Verschwinden von Hungersnöten und Massenelend, vor kaum mehr als hundert Jahren auch in unserem Kulturkreis noch schicksalhaft hingenommene »Menschheitsgeißeln«, ist der vielleicht wichtigste, von vielen schon vergessene Erfolg, den wir diesem Wirtschaftsprinzip verdanken.

Es folgte eine schier unaufhaltsam scheinende Erhöhung des Lebens­standards, die im Verlauf der letzten beiden Generationen auch die bis dahin noch als arm anzusehende »Masse« der Bevölkerung der Industrie­staaten einzubeziehen begann. Jedoch — der gleiche »blinde« Markt­mechanismus führte auch zu unvorher­gesehenen und bis auf den heutigen Tag schwer zu analysierenden Rückschlägen. Am gravierendsten waren unregelmäßig auftretende »Zyklen«, in deren Verlauf es zu ökonomischen Schwäche­perioden kam (»Weltwirt­schaftskrisen«), die längst überwunden geglaubte Formen der Verelendung aufs neue deprimierende Wirklichkeit werden ließen.

Bezeichnenderweise erwies es sich als äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich, diese »Krisen« durch gezielte Eingriffe zu überwinden. Vereinfacht gesprochen: Man mußte auf die »Selbstheilungskräfte des Marktes« vertrauen und ihre heilsame Wirkung abwarten. Aber die in dem »System der freien Wirtschaft« steckende unpersönliche Intelligenz zeigte sich nicht nur in dieser Hinsicht gelegentlich überraschend unzuverlässig. Sie führte, neben allen begeistert begrüßten Erfolgen, in mancher Hinsicht auch zu durchaus unerwünschten Resultaten.

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Ihr »freies Spiel«, dem man sich anfangs vertrauensvoll überlassen zu können glaubte, mußte daher zum Schutz der Menschen, denen es dienen sollte, im Laufe der Jahre und Jahrzehnte mit immer neuen Regeln und Gesetz­en (Kartellgesetze, Wettbewerbsregeln, Werbungs­beschränkungen u.a.) quasi domestiziert werden. »Blind« ließ sich den automatisch produzierten Lösungen nun doch nicht vertrauen, so viel steht inzwischen fest.

Seit einigen Jahren wurde man nun überdies der Tatsache gewahr, daß die freie Entfaltung dieser »markt­wirt­schaftlichen Intelligenz« mit der Zunahme ihres Einflußbereichs zunehmend auch verheerende Konsequenzen für ökologische Zusammenhänge mit sich bringt. Unübersehbar geworden sind diese für die Öffentlichkeit, seit sie katastrophale Ausmaße angenommen haben: Emissions­schäden im Wald und an Gebäuden, Grade der Luftverschmutzung, die inzwischen auch bei uns schon in mehreren Großstädten zur Auslösung von »Smogalarm« und gesundheitlicher Gefährdung der Bewohner führten, Schadstoff­belastungen des Trinkwassers und chemische Rückstände in Nahrungsmitteln. Von alldem war schon eingehend die Rede.

Die tiefere Problematik aber wird erst sichtbar, wenn man der Frage nachgeht, ob derartige nachteilige Folgen »system­immanent« sind. Ob sie als notwendige Folgen einer freien Wirtschaft anzusehen und womöglich gar (etwa als »Kaufpreis für unseren Wohlstand«) hinzu­nehmen sind. Weit jenseits vordergründiger Schuldzuweisungen und bequemer (und meist selbstgerechter) Feindbild-Projektionen — der gängigen und in der üblichen Verallgemeinerung ebenso ungerechten wie schädlichen Polemik gegen »die« Industrie und ihr »Profitstreben« — werden dann wichtige und interessante Zusammenhänge sichtbar.

Gerhard Scherhorn faßt den Kern der Angelegenheit zusammen, indem er sagt, die Natur sei innerhalb des markt­wirtschaftlichen Gesell­schafts­systems gleichsam rechtlos: Sie brauche nicht entlohnt zu werden wie Arbeiter oder Geldgeber, sie könne nicht einmal den Anspruch erheben, den wir toten Objekten wie Werkzeugen und Maschinen ganz selbstverständlich zubilligen, den Anspruch nämlich auf pflegliche Behandlung. Unsere marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaft betrachte die Natur gewissermaßen als »vogelfrei«.

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Die Folge dieser Einstellung aber ist ganz unvermeidlich die Tendenz, der Natur zum eigenen Vorteil soweit irgend möglich mehr zu entnehmen, als ihr zurückgegeben wird. Zur Veranschaulichung noch einmal das Beispiel von Hubert Markl: Wer bei uns Möbel oder eine Zimmerdecke aus tropischen Edelhölzern erwirbt, hat in aller Regel nur den Ramschpreis zu zahlen, der aufgrund der Beschaffungs­kosten in einem Niedriglohn-Land kalkuliert wurde. Es war schon davon die Rede (s. Anm. 48), daß das ein Pseudopreis ist. 

Die realen Kosten ließen sich nur durch einen Preis begleichen, der auch die Pflege und eine die laufende Entnahme kompensierende Wiederaufforstung des Herkunftswaldes für seinen Besitzer rentabel macht. Aber da eben liegt der Haken: Der tropische Urwald hat keinen (individuellen) Besitzer. Damit aber steht er außerhalb der von unserer Gesellschaft respektierten Schutzansprüche.

Man braucht nicht bis an den Amazonas zu gehen, um auf diesen ruinösen Zusammenhang zu stoßen. Wir müssen hier etwas näher betrachten, was auf Seite 102 schon kurz zur Sprache kam: jene »Betriebsloyalität«, die es für legitim, ja für pflichtgemäß erachtet, der anonymen »Allgemeinheit« Nachteile zuzuschieben, wenn es dadurch gelingt, dem eigenen Unternehmen Kosten zu ersparen. Zu ihren Gründen gehört, wie Scherhorn feststellt, der Umstand, daß ökonomisches Denken nicht etwa darauf ausgerichtet ist, Aufwand und Ertrag möglichst objektiv zu vergleichen (was die Berücksichtigung auch all der Neben- und Folgekosten erfordern würde, die man selbst nicht zu tragen hat), sondern allein darauf, zwischen diesen beiden Größen ein möglichst günstiges Verhältnis herzustellen.

Im Endeffekt führt das unweigerlich zu der allen wirtschaftlichen Entscheidungen immanenten Tendenz, »interne Kosten zu externalisieren«, wie die Ökonomen das nennen. Es führt, auf deutsch gesagt, dazu, Kosten nur in dem Umfang in die Rechnung einzubeziehen, in dem sie sich nicht abwälzen lassen. 

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Abgewälzt wird (hier einige Beispiele Scherhorns)

Zugespitzt könne man sagen, so Scherhorn, »daß das ökologische Denken das Tragen von Kosten begünstigt, während das derzeit herrschende ökonomische Denken eine Versuchung zum Nichtberücksichtigen und Abwälzen von Kosten enthält«. Leidtragender dieser Strategie ist, so braucht man dem nur hinzuzufügen, in aller Regel die durch keinerlei Besitzrechte geschützte und daher als vogelfrei geltende »Natur«.

Dieses Rezept ist den wirtschaftlichen Entscheidungsträgern längst in Fleisch und Blut übergegangen. Daher wird es von ihnen auch frohgemut und ohne Spur eines schlechten Gewissens tagtäglich praktiziert. Es enthält jedoch einen inneren Widerspruch. Wer sich seiner bedient, ist in eine »Rationalitätenfalle« gestolpert, wie Gerhard Prosi das nennt. Hinter der ein wenig aufwendigen Wortbildung des Kieler Wirtschafts­wissenschaftlers steckt ein im Grunde ganz einfacher Sachverhalt. Wer Kosten »externalisiert«, sie also von sich abwälzt und — im Rahmen des gesetzlich Erlaubten — anderen aufbürdet, trifft eine Entscheidung, die als »rational« oder vernünftig gelten kann, solange man nur die unmittelbaren akuten Folgen für den Handelnden selbst ins Auge faßt. 

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Da dieser selbst aber auch ein Mitglied der zwar anonymen, keineswegs aber abstrakten Allgemeinheit ist, der er die Nachteile seiner Entscheidung aufbürdet, treffen diese auch ihn früher oder später in unkontrollier­barer Weise: Auch er muß das Wasser trinken, zu dessen Verschmutzung er beigetragen hat. Auch er muß die Luft atmen, die er mit seinen Emissionen befrachtete. Und auch er wird von der Steuererhöhung mit betroffen, die durch vermehrte staatliche Inanspruchnahme aufgrund der sich summierenden individuellen »Abwälzungshandlungen« unausbleiblich wird. So gesehen ist seine Entscheidung durchaus irrational und unvernünftig.

Diese Einsicht von ihm zu verlangen ist erfahrungsgemäß jedoch müßig. Denn die Bereitschaft der Menschen, zur Vermeidung zukünftiger Nachteile auf aktuelle Vorteile zu verzichten, ist in fataler Weise unterentwickelt. Sie wird zudem durch den Fortschritts­optimismus untergraben, der mit dem bisherigen Siegeszug unseres Wirtschaftssystems einherging. Die meisten wirtschaftlichen Entscheidungsträger beruhigen ihr Gewissen nämlich mit der Hoffnung, daß wissenschaftlich-technischer Fortschritt für die von ihnen in die Zukunft hinausgeschobenen Folgen ihrer aktuellen Entscheidungen schon noch Lösungen finden werde, bevor die Gefahr akut wird. »Diese Hoffnung ist so wenig begründet, daß sie irrational erscheint.«103

Angesichts einer so klaren, überzeugenden Diagnose sind therapeutische Gegenmaßnahmen nicht schwer auszudenken. An entsprechenden Vorschlägen herrscht denn auch kein Mangel. Ihr Angelpunkt besteht in allen Fällen in dem Versuch, einen Weg zu finden, der dem jeweiligen Entscheidungsträger die Lust daran verleidet, nennenswerte Anteile der ihm entstehenden Kosten auf andere abzuwälzen (zu »externalisieren«). Dieses Heilungsrezept wird inzwischen unter dem Stichwort »Verursacherprinzip« bekanntlich auch im politischen Raum diskutiert. Über dieses Stadium sind die Überlegungen allerdings nicht hinausgelangt. Realität sind — bestenfalls — noch immer durch Gesetze und Erlasse festgelegte »Höchstgrenzen« für bestimmte Schadstoffe. Aus der Perspektive der Diskussion über Externalisierungs­tendenzen und Rationalitäten­fallen sind diese nicht nur unzureichend, sondern schon im Ansatz falsch.

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Gerhard Prosi spricht ebenso drastisch wie treffend aus, was von der Festlegung derartiger »Höchstwerte« bei Lichte betrachtet zu halten ist: Sie stellen nichts anderes dar als kostenlose Lizenzen zur Umweltbelastung. »Den betroffenen Umwelt­nutzern wird das Recht eingeräumt, die Umwelt bis zu den durch die Auflage vorgegebenen Grenzen kostenlos zu verschmutzen.« Das mag besser sein, als wenn gar nichts geschähe. Ein Ausweg aus der Misere öffnet sich damit aber noch nicht. Was also wäre wirksam und daher notwendig?

Es hilft alles nichts. Wir müssen uns, um die Antwort auf diese Frage formulieren zu können, abermals einem Begriff nähern, der in den Kreisen, in denen die Antwort Gehör finden soll, ein Reizwort darstellt. Die Logik läßt jedoch keinen Ausweg, der an der Aussage vorbeiführte, daß die ökologisch verheerende Tendenz zur »Externalisierung«, zur Abwälzung eines möglichst großen Teils der selbst verursachten Kosten, kennzeichnender Bestandteil der Spielregeln ist, die unser Wirtschaftssystem charakterisieren. 

Mehr noch: 

Diese Tendenz ist bei Lichte betrachtet eine der wesentlichen Ursachen für den außerordentlichen Erfolg dieses Systems. Eines Erfolges, für den wir, wie begründet, den Kaufpreis einer immer rapideren Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen zu zahlen haben. Mit vollem Recht formuliert daher Scherhorn: »Der Wohlstand, den wir genießen, ist überhöht um den Gegenwert unseres Raubbaus an der Natur.« Solange die Spielregeln unseres Wirtschaftssystems unverändert bleiben, so lange hat unsere Gesellschaft auch diesen heute immer deutlicher in Erscheinung tretenden Nachteil in Kauf zu nehmen.

Wer das nun im politischen Raum ausspricht, ohne den theoretischen Prolog, mit dem wir diese Aussage hier vorbereitet haben, sieht sich im Handumdrehen dem Vorwurf der Industrie­feindlichkeit, wenn nicht gar der »Systemgegnerschaft« ausgesetzt. Das wäre schließlich, wenn es auch nicht angenehm ist, noch zu ertragen. Das Gravierendste an diesem psychischen Reflex ist jedoch der Umstand, daß dieses Reizwort nicht nur psychologische Widerstände hervorruft, sondern zu allem Übel auch die Über­zeugung, über einen Vorschlag so provozierenden Charakters brauche man gar nicht weiter nachzudenken. 

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Zur Vermeidung von Mißver­ständnissen muß hier gleich mit einem verbreiteten Vorurteil aufgeräumt werden. Es handelt sich um die Ansicht, daß die Tendenz zur Kosten­abwälzung und damit zum Raubbau an der Umwelt ein unaufhebbares Übel speziell der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sei. Das wird immer wieder behauptet. Zunächst klingt es ja auch ganz einleuchtend. Gleichwohl ist die Ansicht falsch. Es wird sogleich anhand konkreter Vorschläge davon die Rede sein, daß sich ökologischem Raubbau gerade im Rahmen kapitalistischer Marktgesetze sogar besonders wirksam steuern läßt. 

Die Unhaltbarkeit dieser Variante der »Kapitalismuskritik« ist aber darüber hinaus auch für den Nichtfachmann sofort erkennbar. Man braucht nur die täglichen Zeitungsmeldungen zu verfolgen, in denen zu lesen ist, in welchem Ausmaße sich auch die Gesellschaften des real existierenden Sozialismus mit den Auswirkungen zunehmender Umwelt­schäden herumzuschlagen haben. Man hatte sich dort in der Tat jahrelang der ideologisch genährten Wunschvorstellung hingegeben, Umweltkrisen könne es nur im kapitalistischen Lager geben. Seit dem drohenden Zusammenbruch des Ökosystems Baikalsee und der großräumigen Waldvernichtung im Grenzgebiet von DDR und Tschechoslowakei — um nur zwei Beispiele zu nennen — ist man auch dort eines Besseren belehrt.104

Es ist daher weder Industriefeindschaft noch Ausdruck dubioser »Systemveränderung«, wenn man heute zu dem Schluß kommt, daß die bisherigen Spielregeln unserer Wirtschaftsordnung in den einschlägigen Punkten offenbar revidiert werden müssen. »Umwelt ist ein knappes Gut, und wir können die Verhaltensweise wirtschaftlicher Entscheidungsträger, Umwelt als freies Gut zu behandeln, nicht mehr zulassen«, schreibt der über jeglichen Verdacht der Linkslastigkeit oder gar Industriefeindschaft gewiß erhabene Wirtschafts­wissen­schaftler Gerhard Prosi. Er sieht in den unumgänglichen Korrekturen unserer gesellschaftlichen Spielregeln denn auch alles andere als einen sozialistisch-planwirtschaftlichen Eingriff, durch den die Freiheit unseres Systems in irgendeiner Weise berührt würde. Es handelt sich für ihn vielmehr um die Korrekturen, die auf lange Sicht im Interesse dieses Systems selbst notwendig sind, weil allein sie seine Überlebensfähigkeit auf die Dauer gewährleisten können.

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»In einer freiheitlichen Gesellschaft«, so Prosi, »ist es Aufgabe des Staates, externe Kosten wirtschaftlichen Handelns den Verursachern aufzubürden, das heißt, externe Kosten in interne Kosten umzuwandeln, damit sie in den freiwilligen einzel­wirtschaftlichen Entscheidungen berücksichtigt werden müssen. Entscheidungsfreiheit ohne Verantwortung für die Folgen, wie es bisher im Umweltbereich üblich war, führt zu verantwortungs­losem Verhalten und letztlich in die ökonomische (!) Katastrophe.« Dem ist nichts hinzuzufügen.

Der Kieler Ökonom macht auch konkrete Vorschläge. Ein Beispiel, das den Kern des »Verursacher­prinzips« ohne jede Industriefeindschaft veranschaulicht: Man könnte die Kraftfahrzeugsteuer, anstatt, wie bisher, nach dem Hubraum, entsprechend den vom Technischen Überwachungsverein ermittelten Lärm- und Abgaswerten staffeln. Damit würden nicht nur die bisher unberücksichtigten (vom Fahrzeugbesitzer »externalisierten«) Kosten erfaßt, welche die private Nutzung von Pkws durch eine entsprechende Wertminderung der Umwelt­qualität verursacht, womit dem Wesen des »Verursacherprinzips« Genüge geleistet wäre. Es würden zugleich — und dies ist ein ebenfalls typischer, erwünschter Folgeeffekt dieses Prinzips — höchst wirksame Anreize für die industrielle Forschung ausgelöst. Diese sähe sich jetzt motiviert, die Marktchancen der von ihr entwickelten Autos durch eine Reduzierung von Lärm- und Abgaswerten zu vergrößern, die das technisch Mach­bare bis zum letzten ausschöpft. Eine an ökologischen Gesichtspunkten orientierte industrielle Produkt­ion würde mit einem Male möglich, da sie sich bei der angedeuteten gesetzlichen Regelung als rentabel erwiese.

Auf einen Generalnenner gebracht heißt das: 

»In jedem Wirtschaftssystem müssen diejenigen, die mit naturgegebenen Produktions­mitteln wirtschaften, dazu angehalten werden, auf die Endlichkeit der Naturgüter Rücksicht zu nehmen — also darauf ... daß naturgegebene Rohstoffe erschöpfbar sind, daß Wasser, Luft und Boden nicht beliebig belastbar sind, weil ihre Selbstreinigungskraft Grenzen hat, daß insbesondere die Vergiftung des Bodens Jahrzehnte andauert und daß die Natur Jahrhunderte braucht, um Humusböden zu regenerieren, die einmal durch Erosion zerstört wurden.« 

Dies sei nur zu erreichen, wenn die Notwendigkeit der Einführung und die Bereitschaft zur Einhaltung der entsprechenden Kontrollen »im wirtschaftlichen Denken selbst verankert werden« (Gerhard Scherhorn).

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Individuelle Einsicht allein genügt jedenfalls nicht. Scherhorn erläutert das am Beispiel der sogenannten »Einwegflasche« (im Gegensatz zur wieder­verwendbaren Pfandflasche). In den siebziger Jahren sprach sich in den USA eine große Mehrheit der Verbraucher für ein Verbot der Einwegflasche aus. Gleichzeitig nahm deren Verwendung jedoch immer mehr zu.

Aus solchen Beispielen wird oft ein Widerspruch zwischen der Einsichtsfähigkeit und der Bereitschaft zu entsprechenden Konsequenzen beim Durchschnittsbürger abgeleitet. Scherhorn hält das für ungerecht. Denn der Widerspruch, auf den man hier stoße, bestehe nicht zwischen theoretischer Einsicht und praktischem Handeln, sondern wiederum allein zwischen ökologischem und ökonomischem Denken. Solange der einzelne nicht daran glauben könne, daß sein Verhalten dazu beitrage, die Entscheidung einer Mehrheit zu beeinflussen, überwiege bei seinen individuellen Handlungen verständlicher­weise das Motiv der persönlichen Bequemlichkeit.

Wieder allgemein gesprochen:

Das ökologisch Zweckmäßige — Sparsamkeit im Umgang mit Rohstoffen, Entlastung der Abfallmenge und so weiter — kann nur als Folge des gleichgerichteten Handelns vieler — in unserem Beispiel durch deren Entscheidung für die Pfandflasche — zustande kommen. »Es hat den Charakter eines öffentlichen Gutes. Öffentliche Güter unterscheiden sich von privaten dadurch, daß der einzelne von dem Nutzen oder Schaden, den sie verursachen, nicht ausgeschlossen werden kann. Ist er Mitglied einer sehr großen Gruppe, so kann er sich sagen, daß seine Entscheidungen keinen Einfluß darauf haben, ob das öffentliche Gut produziert wird oder nicht, und daß es ihm (umgekehrt) auch dann zugute kommt, wenn er sich nicht an seiner Produktion beteiligt« (Gerhard Scherhorn). 

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Dies ist die sehr einfache Erklärung dafür, daß der einzelne in einem solchen Falle seinem persönlichen Vorteil den Vorzug gibt, ungeachtet seiner prinzipiellen Einsicht in das im größeren Zusammenhang Zweckmäßige und Wünschbare.

Es müssen daher Voraussetzungen geschaffen werden, die gewährleisten, daß die Entscheidungen einer überwiegenden Mehrheit — im Idealfall die Entscheidungen aller — in der Richtung auf ein ökologisch orientiertes Verhalten koordiniert werden. Wenn das gewährleistet ist, dann brauchte sich der einzelne nicht mehr als »der Dumme« zu fühlen, wenn er aus ökologischen Motiven persönliche Nachteile oder Mühen auf sich nimmt — die Einhaltung einer Geschwindigkeitsbegrenzung, die Sortierung seines häuslichen Abfalls oder die Investitionen für die Wiederverwendbarkeit von Brauchwasser in Garten und WC. Derartige Aufwendungen und Unbequemlichkeiten werden für ihn in dem Augenblick unbezweifelbar sinnvoll, in dem er sicher sein kann, daß »alle mitmachen«.

Es liegt auf der Hand, daß eine solche Synchronisierung des sozialen Verhaltens allein durch den Gesetzgeber herbeigeführt werden kann. Gerhard Prosi schließt seinen Aufsatz denn auch mit der Forderung, daß es höchste Zeit sei, eine Rechtsordnung zu schaffen, die diese Einsichten und Erkenntnisse berücksichtige und, »um es drastisch zu sagen«, dafür sorge, daß »Umweltschutz aus Eigennutz« betrieben werde.

So weit, so gut. Das alles ist vollkommen richtig. An der Schlüssigkeit dieser Analysen und Vorschläge dürfte kaum zu zweifeln sein. In der Theorie geht das alles ganz prächtig. Die Praxis sieht, erfahrungsgemäß, leider anders aus. Zur Realisierung all dieser Vorschläge bedürfte es zunächst einmal parlamentarischer Mehrheiten. Und wie stehen die Chancen?

Man braucht nur an die Mentalität zu denken, in der Politiker heute immer noch über ökologische Themen debattieren, um den kleinen Hoffnungs­schimmer sogleich wieder verblassen zu sehen, der sich bei der Lektüre der ökonomischen Empfehlungen gezeigt haben mag.

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In einer Gesellschaft, in der Vorschläge zur Begrenzung der Raserei auf unseren Autobahnen in erster Linie als Eingriffe in den Bereich individueller Freiheit aufgefaßt werden, ist das Gefühl für ökologische Verantwortung noch immer hoffnungslos unterentwickelt.

Solange, ein anderes Beispiel, die für eine wirksame Entschwefelung aller bestehenden Kraftwerke notwend­igen Investitionen unter Hinweis auf Konkurrenzfähigkeit und Arbeitsplätze als »unzumutbare zusätzliche Belastungen« weiterhin hinausgeschoben werden können, haben alle diese noch so fundierten Empfehlungen ökologisch aufgewachter Wirtschaftswissenschaftler in unserer Gesellschaft nicht die geringste Chance.

Das bis zum Überdruß wiederholte »Argument« der Kraftwerksbetreiber — bereitwillig übernommen von den verantwortlichen Regierungsvertretern — zeigt, daß seine Urheber die Lage noch immer gründlich verkennen. Da wird nach wie vor so argumentiert, als habe die Diskussion über den Konflikt zwischen »internen« und »externen« Kosten nie stattgefunden. Denn bei den ökologisch unumgänglich notwendigen Aufwendungen zur Herabsetzung oder Beseitigung des Schadstoffausstoßes handelt es sich eben nicht — wie alle Welt glaubt oder zu glauben vorgibt — um »zusätzliche« Belastungen, über deren Berechtigung und Zumutbarkeit gestritten werden könnte. 

Der gegenwärtige Strompreis — der sich bei konsequenten Maßnahmen um einige Pfennige erhöhen dürfte — ist in Wirklichkeit aufgrund einer realitätsfernen Kalkulation zu niedrig. Er ist unrealistisch, weil bei seiner Berechnung alle der Allgemeinheit aufgebürdeten Kosten durch Waldvernichtung, Gebäudeschäden und gesundheitliche Risiken schlicht unterschlagen werden. Diese Kostenanteile der Stromerzeugung werden konsequent »externalisiert«. Nicht um zusätzliche Belastungen für die Produzenten und Verbraucher von elektrischem Strom geht es folglich bei dem Streit, sondern lediglich um die Forderung nach einer realistischen Kalkulation eines alle Kostenfaktoren berücksichtigenden »echten« Preises.

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Man braucht nur an das Elend des Agrarmarktes innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu denken, um zu erkennen, wie illusorisch die Hoffnungen auf eine gesetzgeberische Realisierung der Vorschläge von Scherhorn oder Prosi sind: an den in Jahrzehnten nicht auszurottenden Aberwitz, mit dem von diesem Markt Jahr für Jahr Butterberge und Milchseen produziert werden, für deren Konservierung achtstellige Beträge ausgegeben werden müssen, weil sie nicht absetzbar sind.

Niemand bringt es fertig, die »Rationalitäten­falle« zu beseitigen, in die eine staatliche Subventionspolitik Butter- und Milchproduzenten lockt, denen sie gleichzeitig die »Externalisierung« der durch diese Subventions­politik verursachten Kosten verbindlich zusagt. Solange europäische Parlamente und Gremien diesen offenkundigen, von niemandem geleugneten Mißstand ohnmächtig oder jedenfalls untätig hinnehmen, ist nicht zu sehen, woher sie die Kraft schöpfen sollten, die Wirtschaftsordnung unserer Gesellschaft unter ökologischen Gesichtspunkten neu zu gestalten.

Diese politische Ohnmacht ist aber keineswegs der einzige Grund, der die Empfehlungen der Ökonomen auf das Format von frommen Wünschen reduziert. So bündig und schlüssig sie sich in der Theorie auch ausnehmen, in der harten Realität stoßen sie noch auf andere Hindernisse. Denn wirksam sind sie selbstverständlich nur unter den von ihren Autoren stillschweigend vorausgesetzten Ausgangsbedingungen. Daß diese aber, aus globaler Perspektive, überall dort gegeben seien, wo Abhilfe dringend notwendig wäre, kann auch der größte Optimist nicht ernstlich behaupten.

   

 

     Rezept und Realität       

 

Vor einigen Jahren besuchte ich in den Bergen von Luzon, der nördlichen Hauptinsel der Philippinen, ein Gebiet, in dem mit westdeutschen Entwicklungs­geldern großflächige Wiederaufforstungen zur Erosions­bekämpfung durchgeführt werden. Die mit der Kampagne verbundenen Mühen und die von allen Beteiligten aufgebrachte Geduld machten auf mich einen großen Eindruck.

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In einer speziellen Baumschule werden zunächst winzige Stecklinge einer Pinienart einzeln in kleine Töpfe gepflanzt. Nach einjähriger Pflege setzt man sie in größere Töpfe um. Das wird vier Jahre lang wiederholt, bis die dann etwa achtzig Zentimeter großen Jungbäume stark genug sind, um ohne Pflege in der Freiheit überleben zu können. Wenn es soweit ist, werden sie von Arbeiterkolonnen verpflanzt, die in der ausgewählten Region für jeden einzelnen Jungbaum ein Loch graben, das mit gedüngter Erde zugeschüttet und zuletzt mit mühsam herangeschlepptem Wasser angegossen wird. Zehntausende kleiner Bäumchen sind so in den vergangenen Jahren geduldig aufgezogen und schließlich in die freie Natur verpflanzt worden in der Hoffnung, daß auf kahlgeschlagenen Hängen, deren ungeschützter Boden während der Regenzeit jedesmal abgeschwemmt zu werden droht, im Ablauf der Jahre wieder ein »Wald« entsteht.

An jedem Abend bot sich uns auf der Rückfahrt ins Hotel aber auch der immer wieder gleiche Anblick von mindestens einem halben Dutzend Rauchfahnen, die aus bislang noch intakten Stellen des Bergwaldes links und rechts von der Straße aufstiegen. Es waren Waldbrände, absichtlich gelegt, regelmäßig kurz vor Eintritt der Dunkelheit, da die hereinbrechende Nacht die Ergreifung der Täter — denen schwerste Strafen drohten — unmöglich machte. Wer die Brandstifter waren, wußte jeder. Es waren bitterarme »Squatter«, landlose Bauern, die sich irgendwo im »Niemandsland« des Bergwaldes ein kleines Feld freigerodet hatten und die jetzt an willkürlichen Stellen Wald abbrannten, damit ihre Ziege oder ihre Kuh später das an dieser Stelle nachwachsende kümmerliche Gras fressen konnte. Es war nicht zu übersehen, daß die Brandstifter mit ihrer Arbeit rascher vorankamen als die Mitarbeiter der Baumschule.

Eines Tages nahmen wir Kontakt mit einer solchen Squatterfamilie auf. Ein kleines Geldgeschenk und Schokolade für die Kinder halfen, anfängliches Mißtrauen abzubauen. Wir konnten ihren Tageslauf aus der Nähe unauffällig verfolgen. 

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Eine kümmerliche, mit rostigem Wellblech gedeckte Hütte. Ein einziger Raum für Eltern und drei Kinder. Vor der Behausung ein penibel gepflegter kleiner Gemüsegarten. Auf der Rückseite ein karges Feld, auf dem die Familienmitglieder sich wahrhaft »im Schweiße ihres Angesichtes« abplagten. Geräte gab es außer Spaten oder Hacke nicht. Gegen Abend schickte der Vater die halbflüggen Kinder in den Wald, um Holz zu holen. Es sollte eine (fleischlose) Gemüsesuppe geben.

Wir folgten den Kindern unauffällig. In der näheren Umgebung gab es längst kein Holz mehr, das sie hätten sammeln können. Aber sie wußten sich zu helfen. Nach einer halben Stunde kamen sie an eine Schonung, welche die Wiederaufforstungskolonne vor vielleicht zehn Jahren angelegt hatte. Hier gelang es ihnen, mit dem für sie eigentlich noch zu schweren Hackmesser Äste abzuschlagen und schließlich zwei kleine Bündel Feuerholz zu ernten, die von den Eltern mit sichtlicher Befriedigung in Empfang genommen wurden.

Was hätte ich dem Familienvater sagen sollen? Wenn wir uns miteinander hätten verständigen können, wäre es vielleicht sogar möglich gewesen, ihm klarzumachen, daß diese Art der Waldnutzung auf lange Sicht auch seine eigene Existenz und die seiner Schicksalsgenossen gefährdete. Fortschreitende Erosion macht auch eine noch so kümmerliche Landwirtschaft unmöglich. Aber selbst wenn er begriffen hätte, daß er in eine »Rationalitätenfalle« gestolpert war, würde das kaum genügt haben, ihn dazu zu bewegen, auf die »Externalisierung« der von seiner Familie verursachten Schäden zu verzichten. Denn für ihn und die Seinen, die auf dem ungeeigneten Waldboden bis zur Erschöpfung schufteten, war die nur auf diese Weise erhältliche einzige warme Mahlzeit am Tag eine unverzichtbare Überlebensbedingung.

Solange man so satt ist, wie wir es (noch) sind, kann Konsumverzicht als rationale Empfehlung gelten. Da läßt sich von Produzenten und Konsumenten mit uneingeschränktem Recht verlangen, sie hätten gefälligst alle durch ihr Verhalten entstehenden Kosten selbst zu tragen. 

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Für einen philippinischen Squatter aber gelten Überlebensbedingungen, die dieselbe Forderung zum blanken Zynismus werden lassen. Es mag ja sein, daß er, wie wir auch, dabei ist, mit seinem Verhalten »seine Enkel zu ermorden«. Im Unterschied zu uns könnte er diesen Vorhalt aber mit dem unwiderlegbaren Einwand parieren, daß er sich und seine Familie schon heute zum Tode verurteilen würde, wenn er darauf Rücksicht nähme.

Der Vorschlag, den Umweltschutz durch den Zwang zur Übernahme aller selbst verursachten Folgekosten marktwirtschaftlich gleichsam zu »automatisieren«, wirkt im ersten Augenblick wie das legendäre »Ei des Kolumbus«. Unter einer globalen Perspektive kommt er angesichts des heutigen Zustandes der Welt aber bereits zu spät. Weite Regionen der Erde, vor allem die sogenannten Entwicklungsländer, sind längst in eine Situation geraten, in der eine solche Aufforderung wie reinster Hohn wirken würde. Das ändert nichts daran, daß es dringend angebracht wäre, das »Verursacherprinzip« überall dort, wo das noch sinnvoll ist, so schnell wie möglich gesetzlich zu etablieren. Je länger unsere Industriegesellschaft zögert, je länger sie sich unter dem Druck von Gruppeninteressen davon abhalten läßt, das zu tun, um so größer ist ihr Versagen vor einer der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit.

Vor der Situation des Squatters aber versagt die Zauberformel. Unwirksam ist sie auch angesichts der nordindischen Bauern­familie, die den kümmerlichen Wald am Fuße des Himalaya ruiniert, indem sie nicht nur Brennholz, sondern — durch das »Schneiteln« aller frischen Asttriebe — mangels anderer Quellen auch Viehfutter aus ihm bezieht. Kann der Hinweis auf die galoppierende Erosion in diesem Gebiet und die nachfolgenden Flutkatastrophen in den südlichen Landesteilen als überzeugendes Argument gelten für Menschen, die andernfalls mit anzusehen hätten, wie ihre Angehörigen verhungern? 

Auch den afrikanischen Wilderer, der am Rande des von den satten weißen Männern entgegen­kommender­weise angelegten Naturparks sein Dasein fristet, wird die zwingende Logik des »Verursacher­prinzips« nur wenig beeindrucken. Solange jedenfalls nicht, wie der Verzicht auf das Erlegen der ihm so verlockend vor die Nase gesetzten Beute die Zahl der Hungertoten in seinem Stamm unweigerlich in die Höhe schnellen ließe. Sie alle verschone man folglich mit Forderungen á la Prosi oder Scherhorn.

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Wie sehr diese Einsicht das Verursacherprinzip im weltweiten Rahmen relativiert, läßt sich ermessen, wenn man berücksichtigt, daß wir damit weit über die Hälfte aller heute lebenden Menschen von seiner Anwendung ausgenommen haben: Nur etwas mehr als eine Milliarde Menschen lebt heute als Bürger eines entwickelten Industrielandes mehr oder weniger angenehm, drei Milliarden aber — von denen freilich nicht alle chronisch hungern, wie beschwichtigend hinzugefügt sei — in einem der sogenannten Entwicklungs­länder. Ihr Anteil wird überdies rasch zunehmen: Im Jahre 2000 wird ihre Zahl nach den Voraussagen der Demoskopen schon auf rund fünf Milliarden angestiegen sein, gegenüber nur 1,2 Milliarden Einwohnern der Industrieländer. So überzeugend sich das Verursacherprinzip auch immer begründen läßt, dieser Realität gegenüber verliert es seine Kraft.

Aber ist das wirklich schon das Ende der Argumentationskette? Soweit es um die praktischen Aspekte geht, um die konkreten Realisierungs­möglichkeiten, wird man die Frage bejahen müssen. Eine konsequente Durchsetzung des Verursacherprinzips in den Ländern der sogenannten »Dritten Welt« liefe in der Realität auf Völkermord hinaus.

Trotzdem dürfen wir uns nicht damit zufriedengeben, an diesem Punkt das Weiterdenken erleichtert einzustellen — etwa in dem Gefühl, wir könnten angesichts eines offenbar unlösbaren Problems unsere Hände in Unschuld waschen. Denn unsere Ausgangs­frage ist zu eng gefaßt. Wir dürfen sie nicht allein auf den philippinischen Squatter, den indischen Bergbauern und den afrikanischen Wilderer beziehen. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir die Wurzel des Übels in den ökologisch verheerenden Methoden sehen, mit denen sie und Milliarden ihrer Schicksalsgenossen versuchen, den ihnen drohenden Tod auf die nächste oder übernächste Generation »abzuwälzen«. Es muß die Frage gestellt werden, welche Umstände es eigentlich sind, die sie zuallererst in diese Situation gebracht haben. 

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Eine Lage, in der eine rücksichtslose »Kostenexternalisierung« zum schlichten Akt der Notwehr geworden ist. Wir brauchen die Ursachenkette nur um ein einziges Glied weiter nach rückwärts zu verfolgen, um auf die Frage zu stoßen, ob es nicht vielleicht einen »Verursacher« gibt, der für ihre Situation verantwortlich ist und der daher, dem ausführlich erläuterten Prinzip entsprechend, in die Pflicht zu nehmen wäre.

Es ist - man muß das in aller Deutlichkeit aussprechen - ohne den geringsten Zweifel eine unzulässige Verkürzung, wenn man das Elend der Dritten Welt einfach zur Folge einer »nachkolonialen Ausbeutung durch westlichen Wirtschafts­imperialismus« erklärt. Wer so redet, macht es denen, an die der Vorwurf sich richtet, allzu leicht, einfach wegzuhören. Ärgerlich ist an dieser in bestimmten Kreisen gängigen Formulierung allein schon die von der Wortwahl implizierte Unterstellung einer ausschließlichen Verantwortung der kapitalistischen Gesellschaft.

Wer den Vorwurf als Marxist bewußt erhebt, muß sich pharisäerhafte Selbst­gerechtigkeit vorwerfen lassen. Denn daß es den vom sogenannten »sozialistischen« Block wirtschaftlich abhängigen Entwicklungs­ländern wesentlich besser ginge, läßt sich ja beim besten Willen nicht behaupten. Denkt man an die Lage im Südjemen, in Äthiopien, Mozambique oder Angola, ja selbst an das von östlicher Unterstützung längst total abhängige Kuba, dann scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Die Meinung, daß östliche Entwicklungshilfe der westlichen moralisch überlegen sei, kann ohnehin nur einem ideologisch benebelten Kopf entsprießen. Denn es ist unbestritten, daß sich die östliche »Hilfe« vor allem in der Versuchung zum Einkauf moderner Waffensysteme manifestiert.

Keine noch so demagogische Propaganda aber kann uns als Alibi dienen. So unsinnig und durchsichtig diese ideologisch motivierten Versuche einer einseitigen Schuldzuweisung sein mögen, sie entheben uns nicht der Verpflichtung, die Frage nach der Verantwortung zu stellen, die wir wirklich tragen mögen. Trifft der »Raubbau an der Natur«, um dessen Gegenwert unser Wohlstand »überhöht« ist, etwa nicht auch die Entwicklungsländer? 

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Trifft er sie nicht noch einschneidender, als es bei uns selbst der Fall ist? Gewiß, die Vorstellung, daß sich da einige skrupellose Wirtschaftsimperialisten die Köpfe darüber zergrübelten, wie sich die armen Menschen in der farbigen Welt am gründlichsten ausbeuten ließen, ist kindlich. (Wobei andererseits in Rechnung zu stellen ist, daß es Haifische dieser Kategorie ganz sicher gibt.)

Was tatsächlich geschieht, in viel größerem Umfange, generell und mit ganz unpersönlich permanenter Präzision, ist, was die Folgen angeht, viel schlimmer. Ohne daß — von Ausnahmen abgesehen — konkrete Individuen anzuklagen wären, ja ohne daß überhaupt eine moralisch anrüchige individuelle Entscheidung ins Spiel zu kommen brauchte, wirkt sich hier eine Automatik aus, für die wir die Verantwortung zu tragen haben. Das Prinzip der »Kostenexternalisierung«, Erfolgsrezept unserer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, führt gleichsam selbsttätig zur Ausplünderung der Entwicklungsländer. Indem wir auch ihren Boden, ihre Rohstoffe und ihre Wälder für vogelfrei erklären, können diese zu den für uns vorteilhaftesten Preisen unseren Wohlstand mehren. Die externalisierten Kosten dieses ganz legalen »Tauschgeschäfts« werden den Entwicklungsländern aufgehalst. Ihre Ressourcen jedoch und die auf ihren Ackern auf unseren Wunsch gepflanzten Produkte — Ananas und Bananen oder Erdnüsse und Mais zur Mästung unserer Schweine und Rinder — fallen uns zu.

»Ich war hungrig, und ihr habt meine Nahrungsmittel eurem Vieh gefüttert. Ich war hungrig, und eure Konzerne pflanzten auf meinen besten Böden eure Wintertomaten. Ich war hungrig, und ihr wolltet nicht auf das Steak aus Südamerika verzichten. Ich war hungrig, aber wo Reis für meine tägliche Mahlzeit wachsen könnte, wird Tee für euch angebaut. Ich war hungrig, aber auf meinem Land werden exotische Früchte für eure Schlemmer gezüchtet.« Unser Wohlstand beruht nach der unwiderlegten — und unwidersprochenen — Ansicht aller Sachkenner nicht unwesentlich auf dem Elend der Menschen in der sogenannten »Dritten Welt«.105

Das ist keine Verleumdung und keine Beschimpfung. Es ist eine nüchterne Beschreibung der Art der Wirtschaftsbeziehungen, wie sie sich unter dem Einfluß der Spielregeln unseres markt­wirt­schaftlichen Systems zwischen den Drittwelt-Ländern und unserem Teil der Welt selbsttätig und ganz unvermeidlich herausgebildet haben. Dies ist die Form, in der sich »Kosten­externalisierung« im globalen Rahmen zwischen Gesellschaften unterschiedlicher Wirtschaftskraft konkret abspielt.

Angesichts dieser Tatsachen muß sich unsere Gesellschaft in absehbarer Zeit entscheiden, ob sie ihren Anspruch auf ein christliches Selbstverständnis aufgeben oder ob sie ihre Wirtschaftsordnung in einer Weise reformieren will, die derartige Konsequenzen ausschließt. Es ist unfrommer Selbstbetrug oder reine Heuchelei, weiterhin so zu tun, als ob sich beides unter einen Hut bringen ließe. »Christentum und kapitalistische Ordnungsstruktur sind miteinander nicht nur unvereinbar, sondern einander entgegengesetzt«, stellt der namhafte katholische Theologe Rupert Lay SJ unverblümt fest.106

Solange die gegenwärtige Regelung weiterbesteht, können jedenfalls weder noch so zahlreiche Spenden für »Misereor«, »Brot für die Welt« oder eine der anderen zahlreichen Hilfsorganisationen noch staatliche Entwicklungsprojekte auch nur ein Quentchen der Mitschuld abtragen, die wir angesichts der Verelendung der farbigen Welt auf uns laden. Solange werden insbesondere unsere Spenden vor allem nur die eine Wirkung haben: die Zahl der künftigen Hungertoten von bisher vierzig Millionen Menschen in jedem Jahr auf ein Vielfaches dieser Größenordnung anschwellen zu lassen. Denn für jedes einzelne der Kinder, die wir heute vor dem Hungertod bewahren, wird es in der nächsten Generation vier oder fünf oder sechs Kinder geben. 

Dazu aber, auch diese dann wieder vor dem Verhungern zu bewahren, wird die vereinte Kraft aller Hilfs­organi­sationen dieser Erde nicht mehr ausreichen. Es sei denn, die wirtschaftliche und politische Organisation der Welt hätte sich bis dahin von Grund auf gewandelt. Dazu aber müßten die Weichen heute schon gestellt werden, und zwar von uns. Solange wir uns dazu nicht aufraffen, dienen unsere Spenden letztlich daher nicht den von Hunger und Dürrekatastrophen heimgesuchten Ländern der Dritten Welt, sondern in Wirklichkeit einzig und allein der Beruhigung unseres eigenen Gewissens. 

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