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Angeborene Barrieren  

 

312-325

Dietrich Dörner, Psychologe an der Universität Bamberg, hat ein Land erfunden, das es gar nicht gibt und das dennoch »funktioniert«. Er hat es <Tana-Land> getauft. Obwohl man es auf dem Globus vergeblich sucht, werden auch in diesem Land Menschen geboren, während andere an Hunger und Krankheiten sterben, werden auch hier Rinder gezüchtet und geschlachtet, Äcker bestellt und Waren umgeschlagen. Die heutigen Computer machen es möglich: Tana-Land existiert auf dem Magnetband eines elektronischen Rechners.

Das ist aber auch, so ist man versucht zu sagen, der einzige Unterschied zwischen dieser »Kopfgeburt« eines Wissenschaftlers und einem realen Gemein­wesen. »Wie im richtigen Leben« unterliegt auch das nur in der Gestalt elektronischer Impulse existierende Tana-Land mitsamt seinen Bewohnern, seinem Vieh und seiner Landwirtschaft einer fortlaufenden Entwicklung. Wie bei einem »wirklichen« Land ist diese die Folge des Zusammenwirkens der unübersehbar verzweigten und miteinander »vernetzten« Einflüsse, die von der Kopfzahl und den Konsumgewohnheiten seiner Bewohner, der Fruchtbarkeit seiner Äcker, von Marktpreisen, Arbeitsbedingungen, dem Auftreten von Schädlingen und Raubtieren und einer Fülle weiterer Faktoren ausgehen. Zur Veranschaulichung der Detailtreue: Selbst die Zahl der zur Bestäubung der Pflanzen verfügbaren Insekten wurde dem Computer eingegeben.

Alle diese Bedingungen wurden bewußt so gewählt, daß sie etwa denen in einem von westlichen Einflüssen weitgehend noch unberührten »Entwicklungsland« entsprechen. Genau 665 Ackerbau betreibende »Tupis« wohnen in einem kleinen Dorf, das den Namen »Lamu« erhielt, gelegen am Ufer des »Mukwa-Sees«. Sie haben den nur 104 Köpfe zählenden Stamm der »Moros« in ein nahegelegenes Waldgebirge abgedrängt, wo diese ihre 780 Schafe und 377 Rinder hüten. Die Moros ergänzen ihren Nahrungsbedarf durch das Jagen von Pelztieren, vor allem von Leoparden, die reichlich vorkommen und deren wertvolle Felle für den Stamm eine wichtige Geldquelle bilden.

Das alles wurde, bis zu den klimaabhängig schwankenden Ackererträgen und den Ernteverlusten durch Schädlingsbefall, so ausgewogen, daß alle Bewohner von Tana-Land ihr Auskommen haben. Dies allerdings am Rande des Existenzminimums, bei hoher Kindersterblichkeit und allgemein geringer Lebenserwartung, auf niedrigem Lebensstandard und immer an der Grenze des Hungers.

Diese »Welt« übergaben die Wissenschaftler nun — und das war der eigentliche Zweck der komplizierten Veranstaltung — Studenten und Entwicklungs­helfern mit der Aufforderung, den Versuch zu machen, das Schicksal der Bewohner von Tana-Land zu verbessern. Die Helfer konnten dazu nach eigenem Gutdünken in die Geschicke des fiktiven Landes eingreifen, wobei ihre Maßnahmen selbstverständlich auf den Rahmen des unter den obwaltenden Bedingungen realistisch Möglichen beschränkt waren. Sie konnten also zum Beispiel beschließen, die Leopardenjagd zu intensivieren, um mit dem Erlös der Felle vermehrt Kunstdünger zur Ertragsteigerung einzukaufen. 

Sie konnten auch die medizinische Versorgung verbessern, indem sie eine von der nächstgelegenen Stadt aus bediente Ambulanz einführten (deren Dienste selbstverständlich bezahlt werden mußten). Sie konnten den Versuch machen, die »Tupis« und »Moros« zu weitgehendem Verzicht auf den Genuß von Fleisch zu überreden, um mit dessen Verkauf die Anschaffung von landwirtschaftlichen Maschinen zu finanzieren. Es lag in ihrer Hand, die Schädlings­bekämpfung zu forcieren. Bewässerungsprojekte durchzuführen, elektrische Aggregate zu installieren und die Organisation der Arbeitsläufe in »Lamu« zu reformieren, und sie konnten dies alles, im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten, sogar gleichzeitig tun.

In der Praxis spielte sich das so ab, daß die Versuchspersonen sich mehrere Stunden mit dem Versuchsleiter zusammensetzten, der ihnen alle gewünschten Daten zur Verfügung stellte und sie als »ortskundiger Experte von Tana-Land« beriet. Am Ende der Sitzung wurden die beschlossenen Maßnahmen in einer Liste zusammen­gefaßt und in den Computer eingegeben.

* (d-2015:)   wikipedia  Dietrich_Dörner  *1938 in Berlin

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Eine Woche später erfuhren die Versuchspersonen, welche Wirkungen ihre Eingriffe in den anschließenden Monaten und Jahren (der Computer macht es möglich!) in Tana-Land gezeitigt hatten. Anhand dieses Zwischenergebnisses wurde dann der nächste Maßnahmenkatalog verabschiedet.

Das Resultat des Versuchs war bei allen Wiederholungen und allen — weit überdurchschnittlich intelligenten — Versuchspersonen regelmäßig deprimierend. Ohne Ausnahme richtete jede von ihnen Tana-Land zugrunde. Dies um so rascher und gründlicher, je energischer sie sich um die Verbesserung der bestehenden Zustände bemühte. Zwar gelang es in den meisten Fällen, für einige Jahre eine augenfällige Verbesserung in bestimmten Teilbereichen zu erzielen. So wurden die landwirtschaftlichen Erträge durch vermehrte Düngung, künstliche Bewässerung und Mechanisierung fast immer auf das Zwei- bis Dreifache gesteigert. Das ging aber regelmäßig zu Lasten der Tierpopulationen. Insbesondere wurden in dieser Phase die Leoparden, deren Felle die benötigten Geldmittel zu liefern hatten, in einem Maße dezimiert, die diese Quelle innerhalb weniger Jahre endgültig versiegen ließ. Die Population erholte sich von dem Aderlaß nicht mehr.

Auch die Nahrungssituation besserte sich zunächst in allen Versuchsreihen. Auch dabei handelte es sich jedoch um eine vorübergehende Scheinblüte. Zusammen mit der Verbesserung der medizinischen Betreuung bewirkte diese Veränderung nämlich ein rapides Ansteigen der Bevölkerungszahl. Die von einigen der Versuchspersonen eingeleiteten Maßnahmen zur Familien­planung — überwacht durch die von ihnen eingerichtete medizinische Ambulanz — kamen regelmäßig zu spät. Eine der Folgen waren rasch entstehende Engpässe in der Futtermittelversorgung, da der menschliche Verbrauch an landwirtschaftlichen Produkten entsprechend zunahm. Das wiederum führte zu einem raschen Rückgang der Viehbestände, was seinerseits, um aus der akuten Klemme herauszukommen, eine Intensivierung der Jagd erzwang, womit die für die Leoparden schon erwähnten Konsequenzen auch bei anderen Tierarten eintraten.

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So ging es nach anfänglichen Erfolgen trotz der nicht ausbleibenden Versuche, die Entwicklung durch gezielte Gegenmaßnahmen zum Besseren zu wenden, schließ­lich in allen Versuchsreihen mit Tana-Land bergab. Spätestens nach sechs »Sitzungen« war die Katastrophe komplett: Tupis und Moros verhungerten in großer Zahl, die Äcker von Tana-Land lagen weitgehend brach, und die Zahl der dort lebenden Tiere war auf einen Bruchteil des Ausgangswertes geschrumpft.

Das Ergebnis dieser ebenso originellen wie aufschlußreichen Untersuchungsreihe ist nicht nur deprimierend, es mutet auf eine unheimliche Weise auch bekannt an. Und in der Tat: Wir alle wohnen in Tana-Land! Was Dietrich Dörner mit seinen Mitarbeitern untersucht und demonstriert hat, ist nicht nur das Schicksal eines fiktiven, lediglich als elektronisches Phantom existierenden Phantasiegebildes, sondern ein Modell der Risiken, denen wir alle uns ausgesetzt sehen. Als Psychologe hat er sich nicht mit der Darstellung des katastrophalen Szenarios begnügt, sondern vor allem seine Ursachen analysiert.146

Woran liegt es eigentlich, daß alle Versuchsteilnehmer mit ihren Bemühungen, den Tupis und Moros zu helfen, so gründlich gescheitert sind, daß man wünschen würde, sie hätten die Finger von deren Schicksal gelassen? Dörner stieß bei der Untersuchung dieser Frage auf einige regelmäßig wiederkehrende Fehler. Alle Versuchspersonen hatten ihren Entscheidungen »lineare Maßstäbe« zugrunde gelegt. Sie dachten in linearen Ursachenketten (vom Typ: Aus A folgt B, aus B folgt C; wenn C vorliegt, resultiert daraus D und so weiter), anstatt die vielfältig verzweigten Ursachenketten zu berücksichtigen, die das »System Tana-Land« zu einem Netzwerk rückgekoppelter funktionaler Zusammenhänge machen.

Und sie alle gingen bei der Planung ihrer Eingriffe von ebenfalls »linearen« Prognosen aus. Sie »extrapolierten« also zum Beispiel ein lineares Wachstum der menschlichen Bevölkerung und ebenso eine lineare Abnahme der Leopardenzahl, sie »rechneten« mit linearen Veränderungen des Nahrungs­angebots und so weiter. Damit aber verschätzten sie sich in allen diesen Fällen gröblich, weil Wachstums- (und Schrumpfungs-) Prozesse in vergleichbaren Systemen in aller Regel eben nicht linear (»arithmetisch«), sondern exponentiell (»geometrisch«) erfolgen.147

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Damit aber hat der Bamberger Wissenschaftler empirisch bestätigt, was die Vertreter der evolutionären Erkenntnistheorie schon immer behauptet haben: Auch der exponentielle Charakter aller natürlich vorkommenden Wachstumsvorgänge liegt außerhalb des von den uns angeborenen Denkstrukturen definierten Horizonts. Nicht die wenigsten der uns heute bedrohenden Gefahren finden durch diese Tatsache ihre Erklärung.

Wir sind mit dem kognitiven Rüstzeug, mit unserem stammesgeschichtlich erworbenen Erkenntnis­vermögen, unter natürlichen Bedingungen unleugbar schlecht und recht über die Runden gekommen. Alle durchaus denkbaren Mängelrügen ändern nichts an der Tatsache, daß die menschliche Ahnenreihe nicht abgerissen ist. Das ist, vergleicht man unser Los mit der Gesamtheit aller von der Evolution im Laufe der Zeit hervorgebrachten Arten, als unbestreitbarer Erfolg zu werten. Mehr wird im großen Überlebensspiel der Natur nicht verlangt. Über diese Fähigkeit hinausgehende Talente entstehen, wie gesagt, schon deshalb in aller Regel nicht, weil sie keinen zusätzlichen Gewinn bringen. Der Erfolg des Überlebens ist, aus dem Blickwinkel der Evolution, nicht mehr zu übertreffen.

Aber die Bedingungen sind heute eben nicht mehr uneingeschränkt »natürlich«. Solange sie es waren, machte es nichts aus, daß wir angeboren-unbelehrbar dazu neigen, auch in Fällen rein zufälliger zeitlicher Aufeinanderfolge einen ursächlichen Zusammenhang anzunehmen. Daß wir uns Zusammenhänge immer nur linear-unverzweigt vorzustellen pflegen. Daß wir Entwicklungen nicht exponentiell vorauszuschätzen imstande sind oder wir bei allen Abläufen von deren grundsätzlicher Kontinuität ausgehen. Auch die Bewohner von Tana-Land haben ihre elektronische Existenz ja schlecht und recht fristen können, solange man sie ihren weitgehend noch natürlichen Verhältnissen ungestört überließ.

Umgebracht hat sie erst der — in allerbester Absicht erfolgte — planende Eingriff von außen. Dieser aber wirkte eben deshalb so verheerend, weil er in einer total illusionären Verkennung seiner Voraussetzungen vorgenommen wurde.

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Seine Urheber ließen es an der gebotenen selbstkritischen Bescheidung fehlen. Sie hielten es für selbstverständlich, daß die ihnen für ihre Planung zur Verfügung stehende Urteilskraft den Problemen angemessen entsprach, die zu lösen sie sich anschickten. Sie waren blind gewesen für die Tatsache, daß die gleichsam überindividuelle Intelligenz, die sich in — im Falle von Tana-Land geschickt simulierten — natürlich gewachsenen Gleichgewichtszuständen verkörpert, den Horizont unserer evolutionär erworbenen individuellen Intelligenz hoffnungslos übersteigt. Die Versuchspersonen, die Tana-Land ruinierten, weil sie es zur Blüte bringen wollten, haben sich, kurzum, genauso verhalten, wie wir alle es unserer wirklichen Umwelt gegenüber tun. Die Folgen sind nicht mehr zu übersehen.

Aber auch damit ist das Ausmaß unserer genetischen Erblast noch immer nicht vollständig beschrieben. Denn nicht nur unsere kognitiven Fähigkeiten unterliegen den von der evolutionären Erkenntnistheorie heraus­gearbeiteten, aus den Bedingungen ihrer Entstehung verständlich abzuleitenden Einschränkungen. Auch unser soziales Verhalten, unser Umgang mit den »Mit-Menschen«, ist von genetischen Vorentscheidungen geprägt. Der Freiburger Biologe und Wissenschaftstheoretiker Hans Mohr legt den Finger auf die Wunde, wenn er daran erinnert, daß die uns angeborenen Verhaltenstendenzen und emotionalen Reaktionsweisen ihre bis heute im wesentlichen unverändert gebliebene Ausprägung im späten Pleistozän erhalten haben.151

Damals, längstens vor etwa 100.000 Jahren und wenigstens vor 50.000 Jahren, war Homo sapiens, der moderne Mensch, in seiner heutigen Form aus archaischeren Frühmenschentypen hervorgegangen. In dieser Epoche muß der erste Mensch auf der Erde gelebt haben, der sich genetisch nicht mehr von uns unterschied. Die erbliche Ausstattung, über die er zum Zeitpunkt »Null« menschlicher Zivilisation und Kultur verfügte, ist bis heute die gleiche geblieben. Auch wir haben mit ihr auszukommen. Diese Ausstattung aber entspricht natür­lich einer Anpassung an die Bedingungen, unter denen sie entstand.

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Sie stellt, versteht sich, nicht etwa das »Abbild« der heutigen zivilisatorischen und kulturellen Umwelt des Menschen dar. Ihr prägendes Vorbild, an das die Stammes­entwicklung sie so eng wie möglich anzupassen sich bemühte, ist die Umwelt unserer pleistozänen Ahnen.

Wir sind folglich genötigt, uns in der heutigen Welt mit einer Konstitution zu behaupten, deren angeborene (ererbte) Anteile in aller Nüchternheit als fossil angesehen werden müssen. Das Faktum ist von Biologen und biologisch orientierten Anthropologen in den letzten Jahrzehnten wiederholt hervorgehoben worden. »In der Hand die Atombombe und im Herzen die Instinkte der steinzeitlichen Ahnen«, so hat Konrad Lorenz diese Besonderheit der Conditio humana in seiner bildkräftigen Sprache prägnant formuliert.

Widersprochen, und dies bisweilen sehr heftig, wurde dieser Auffassung von den Vertretern der sogenannten behavioristischen Psychologie, die, mit dem Schwerpunkt in den USA148, die Lehre verficht, daß psychische Merkmale (im Unterschied zu körperlichen Eigenschaften) nicht vererbt, sondern daß alle Begabungen und Anlagen, charakterlichen Besonderheiten und Verhaltenstendenzen ausschließlich erlernt beziehungsweise von der jeweiligen sozialen Umgebung »andressiert« würden. 

Diese extreme Position beherrschte etwa seit den zwanziger Jahren die Sozialwissenschaften und die wissenschaftliche Lehre vom Menschen, verlor in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten dann allerdings rasch wieder an Boden. Daß der Mensch erblichen Dispositionen unterworfen ist, und zwar unter Einschluß auch seiner psychischen Eigenschaften und Fähigkeiten, wird heute von keinem naturwissenschaftlich informierten Autor mehr ernstlich in Frage gestellt.149

Der Gedanke erscheint somit nicht abwegig, daß es letztlich die genetische Beschränktheit unseres kognitiven Horizonts ist, die unaufhebbare Unzuläng­lichkeit unseres »die Welt abbildenden Erkenntnis­apparats«, die unserem hoffnungslosen, unbelehrbaren Versagen gegenüber allen ökologischen Erfordernissen als zentrale Ursache zugrunde liegt. Das mag, in dieser abgekürzten Formulierung, eine starke Vereinfachung darstellen. Gänzlich falsch ist es aber sicher nicht, wenn man hier einen Zusammenhang sieht.

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Eine ähnliche Beziehung dürfte nun auch zwischen den uns angeborenen Verhaltens­dispositionen und unserer Unfähigkeit bestehen, bestimmte, prinzipiell mit aller Deutlichkeit von uns erkannte gesellschaftliche Probleme zu lösen.

Der wichtigste aktuelle Fall ist unsere wie es scheint unkurierbare Friedensunfähigkeit. Ich meine damit nicht in erster Linie die innerhalb des eigenen persönlichen Umfeldes alltäglich spürbar werdende Unfriedfertigkeit. Die Rede ist vielmehr von der wohl doch einer anderen Kategorie zuzurechnenden Aggressivität, zu der ein vom Erlebnis der Zusammengehörigkeit seiner Mitglieder zusammengehaltenes menschliches Kollektiv (Stamm, Nation, Bündnissystem) nach »außen«, in der Berührung mit anderen, »fremden« Kollektiven derselben Art neigt.

Die Ansicht, daß wir es auch hier wieder mit einer genetischen Erblast zu tun haben, ist in den letzten Jahren wiederholt geäußert worden. Am knappsten und sinnfälligsten hat den Zusammenhang wohl C.F. v. Weiz­säcker mit seiner bekanntgewordenen Formulierung ausgedrückt, daß wir »die Erben von Siegern« seien.150  

Ähnlich sieht es Hans Mohr, der daran erinnert, daß Kain, der Ackerbauer, seinen Bruder Abel, den Viehzüchter, erschlug, und hinzufügt: »Die Ackerbauern und Viehzüchter wurden in Verteidigung ihres Territ­oriums und ihres Besitzes vermutlich um einiges aggressiver als die Jäger- und Sammlerhorden des Paläo­lithikums, bei denen territoriale Aggression keine so lebensentscheidende Rolle spielte.« (S. Anm. 144, S. 10)

Unter den Umweltbedingungen des späten Pleistozäns konnte der Mensch sich diese gruppenspezifische Aggressionsneigung gleichwohl noch leisten. Sie brachte überwiegend Vorteile mit sich (und wurde eben deshalb unvermeidlich auch genetisch akquiriert): Sie trug zur Solidarisierung der in dieser frühgeschichtlichen Epoche allmählich seßhaft werdenden Menschengruppen bei, stabilisierte ihre Ortstreue und gewährleistete eine gleichmäßige räumliche Verteilung der entstehenden Ansiedlungen.

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In dieser Situation dürfte — und darauf spielen die Äußerungen von Weizsäcker und Mohr an — die intraspezifische Aggressions­bereitschaft (Mensch gegen Mensch) genetisch beträchtlich an Boden gewonnen haben, in des Wortes doppelter Bedeutung. Je aggressiver eine schon ortsfeste Menschengruppe auf das Auftauchen noch nomadisierender, ein eigenes Revier suchender fremder Gruppen reagierte, um so größer waren ihre Chancen, das einmal erworbene Territorium behalten und darin überleben zu können. Es wird dabei ganz sicher auch zu Fällen von Mord und Totschlag zwischen den Mitgliedern konkurrierender Gruppen gekommen sein. Vermutlich blieb das jedoch auf Einzelfälle beschränkt. (Kriegerisches Massenmorden kam erst sehr viel später auf.)

In der Zeit des Pleistozäns blieb dem unterlegenen Konkurrenten noch Platz in Hülle und Fülle, auf den er ausweichen konnte. In jedem Augenblick des Konflikts stand es ihm somit frei, die Auseinandersetzung durch seinen Rückzug zu beenden. Diese Möglichkeit erlaubte es, die aggressive Reaktion auf eine Gruppe »fremder« Menschen als genetisch fixierte Verhaltenstendenz herauszuzüchten, welche die Populations­dichte innerhalb des zur Verfügung stehenden Raums in zweckmäßiger Weise regulierte und für einen gebührenden Abstand zwischen den verschiedenen Siedlungsgebieten sorgte, der nicht zuletzt auch ökologisch von Bedeutung war.

Gemeinschaften dagegen, bei deren Mitgliedern diese intraspezifische, von der Begegnung mit »fremden« Mitgliedern der eigenen Art ausgelöste Aggressions­neigung nur gering oder gar nicht entwickelt war, konnten dem Druck von außen, der die Behauptung des eigenen Reviers in Frage stellte, nicht hinreichend widerstehen. Sie gehörten nicht zu den Siegern. Wenn es unter pleistozänen Bedingungen aus den schon angedeuteten Gründen auch nicht zum »Kampf auf Leben und Tod« zu kommen brauchte, so war ihr »Vermehrungserfolg« doch durch ein ungewisses, mühseliges Schicksal belastet. Sie mußten ihre Existenz ohne die Gewißheit fristen, die Früchte auch selbst ernten zu können, deren Keime sie Monate zuvor auf einem bestimmten Areal gepflanzt hatten. Die Beschwernisse ihrer ungesicherten Existenz führten ganz von selbst dazu, daß ihre Kinderzahl hinter der ihrer unverträglicheren Konkurrenten zurückzubleiben begann.

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Diese Differenz zwischen den »Vermehrungserfolgen« verschiedener Varianten derselben Art ist es aber bekanntlich, die aus auf der Hand liegenden Gründen den Kurs der Evolution steuert. Der damalige Erfolg der durch ihre erhöhte Reizbarkeit, ihre zunehmende Unduldsamkeit allem »Fremden« gegenüber und ihre zunehmende Fähigkeit zum intraspezifischen Totschlag charakterisierten Menschenvariante hat sie, und nicht ihre sanfteren, verträglicheren, zur Friedfertigkeit eher begabten Brüder, die es — vorübergehend! — ebenfalls gegeben haben mag, zu unseren direkten Vorfahren werden lassen. 

Und wieder gilt, zu unserem Nachteil, daß immer dann aus Sinn Unsinn wird, wenn unter bestimmten Umständen von der Evolution herausgezüchtete Eigenschaften auch unter veränderten Umständen beibehalten werden, auf die sie nicht gemünzt sind. Wenn sie ihre Wirksamkeit entfalten in einer Welt, die von den charakteristischen Besonderheiten der Anpassung, die sie darstellen, sozusagen gar nicht »gemeint« ist.151

In diesem konkreten Fall handelt es sich um tödlichen Unsinn. Es bedarf keiner sonderlichen Phantasie, um sich auszumalen, welche Gefahren unvermeidlich heraufbeschworen werden, wenn eine auf alle als »fremd« anzusehenden menschlichen Gemein­schaften mit angeborenem Mißtrauen, instinktiv sich regender Bedrohungsangst und reflexartig wach werdender Aggressions­bereitschaft reagierende menschliche »Natur« in eine Welt verpflanzt wird, die von den Nachfahren des pleistozänen Menschen tausendmal dichter besetzt ist, als es zu der Zeit der Fall war, in der diese »Natur« sich herausbildete. 

Unserer Art sind, so kann man es kurz zusammenfassen, während unserer Vorgeschichte Eigenschaften angezüchtet worden, die uns in der Welt, mit der wir uns heute auseinanderzusetzen haben, nichts mehr helfen können, die uns heute im Gegenteil in Lebensgefahr zu bringen drohen. Wir sind aus der Kleiderkammer der Evolution gewissermaßen mit der falschen Ausrüstung in die moderne Gegenwart entlassen worden.152

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Von dieser Vorgeschichte aber, die unsere augenblickliche Lage erklärt, haben nun jene in aller Regel noch nie etwas gehört, denen wir die Aufgabe übertragen haben, uns vor ihren Konsequenzen zu schützen. Die entmutigende, nahezu unbegreiflich scheinende Fruchtlosigkeit aller offiziellen Bemühungen zur Kriegsvermeidung findet ihre Erklärung nicht zuletzt auch in dem besorgniserregenden Umstand, daß keiner der zahlreichen Sicherheitsstrategen und Rüstungskontroll-Experten das Übel wirklich kennt, mit dem er es zu tun hat. 

Das klingt nicht nur grotesk, das ist es auch. 

Solange sich daran aber nichts ändert, werden die Bemühungen auch der gutwilligsten Friedenspolitiker, von ihren Urhebern unbemerkt, ebenfalls von den archaischen, irrationalen Ängsten vergiftet, die wir als Erbe unserer steinzeitlichen Vorfahren mit uns herumschleppen.

Wir haben mit all dem, so besorgniserregend es sich immer ausnimmt, ganz gewiß nur »die Spitze des Eisberges« erfaßt. Der Versuch, einen Blick über die eigene Schulter zu werfen, krankt stets an unvermeidlichen Beschränkungen des Gesichtsfeldes. Daher ist das Ausmaß und sind die Verkleidungen, in denen der »angeborene Unsinn« uns beherrscht — während wir uns immer noch der schmeichelhaften Illusion hingeben, wir seien »rationale Wesen« —, ohne jeden Zweifel noch keineswegs vollständig oder auch nur angemessen beschrieben. Der Teil des angeborenen Übels aber, der klar erkennbar geworden ist, genügt für sich allein vollauf, die Misere unserer Lage zu erklären.

Die seit dem Pleistozän zu verzeichnende Veränderung der Welt geht auf unser eigenes Konto.

Müßig die Frage, ob es anders hätte kommen können. Müßig auch die Frage, ob wir damit allein schon gegen unser Verhältnis zur übrigen Natur so sehr verstoßen haben, daß sich der Schaden im weiteren Verlauf nicht mehr heilen ließ. Die mythische Überlieferung geht bekanntlich von dieser Annahme aus.

Ihr zufolge ist es die von dem Streben nach höherer (»gottähnlicher«) Erkenntnis über die Welt bewirkte Vertreibung aus einer — rückblickend als »paradiesisch« bewerteten — noch durch keinerlei Reflexion gebrochenen wahrhaft »natürlichen« Existenzweise gewesen, die uns dem Elend und den Schrecken unserer spezifisch menschlichen Historie ausgeliefert hat.

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Wer wäre imstande, die Vermutung zu widerlegen? Die These, daß unsere Existenz seit diesem Augenblick unheilbar beschädigt ist, hat ganz im Gegenteil während dieser ganzen Geschichte immer wieder Zustimmung auch im Lager der Philosophen gefunden.

Am ergreifendsten beschrieb Arthur Schopenhauer das angeborene Verhängnis unserer Existenz mit der von ihm immer erneut wiederholten und begründeten Formel, daß »als Zweck unseres Daseins ... nichts anderes anzugeben [sei] als die Erkenntnis, daß wir besser nicht da wären«.(153)

Er wird damit zum wichtigsten Kronzeugen der bis zur erschütternden äußersten Konsequenz zu Ende gedachten Geschichtsphilosophie, die der Münsteraner Philosoph Ulrich Horstmann von dieser Position ausgehend entwickelt und kürzlich vorgelegt hat.(154)

Horstmann interpretiert die ganze menschliche Historie »anthropofugal«, als eine einzige Kette ständig sich wiederholender Versuche des Menschen­geschlechts, die eigene Existenz wieder zurückzunehmen. Das diese Geschichte fast von Anfang an bestimmende, nur von kurzen Erschöpfungs­pausen unterbrochene kriegerische Massenmorden sei allein zu verstehen als Ausdruck der tiefen menschlichen Sehnsucht nach Selbst­auslöschung. 

Alle bisherigen Kriege hätten dem — infolge unzulänglicher Mittel bisher vergeblich geblichenen — Versuch gegolten, diesen Wunsch endlich in Erfüllung gehen zu lassen. Wir Heutigen erst genössen das Privileg, das wahre Ziel aller Geschichte endlich konkret vor Augen haben zu können: die Aufhebung der eigenen Existenz.

»Umgeben von den wohlgefüllten, wohlgewarteten Arsenalen der Endlösung, im begründeten Vertrauen auf die angesparten Overkill-Kapazitäten und die schon in Greifweite liegenden Technologien zur Pasteurisierung der gesamten Biosphäre, ausgestattet mit den Erfahrungen des Ersten und Zweiten Vorbereitungs­krieges«, sollten wir uns als Bevorzugte betrachten und frei von Hochmut frühere Denker nachsichtig kritisieren, die, wie Arthur Schopenhauer, bei aller Brillanz die Aufgabe lediglich hätten definieren können, ohne über die geeigneten Mittel zu ihrer Bewältigung schon zu verfügen.

Wir Heutigen jedoch »haben zu guter Letzt erkannt, daß wir selbst der auserwählten Generation angehören, die die apokalyptischen Visionen des Mythos in die Wirklichkeit übersetzen wird und damit die uralte Sehnsucht der Gattung, nicht mehr sein zu müssen, in Erfüllung gehen läßt« (s. Anm. 154, S. 57).

Die Horstmannsche Geschichtsauslegung schließt mit dem Satz:

»Denn nicht bevor sich die Sichel des Trabanten hinieden in tausend Kraterseen spiegelt, nicht bevor Vor- und Nachbild, Mond und Welt, ununterscheidbar geworden sind und Quarzkristalle über den Abgrund einander zublinzeln im Sternenlicht, nicht bevor die letzte Oase verödet, der letzte Seufzer verklungen, der letzte Keim verdorrt ist, wird wieder Eden sein auf Erden.«155

Der Autor stellt mit seiner »anthropofugalen« Geschichtsmetaphysik alle geläufigen Bewertungsmaßstäbe konsequent auf den Kopf. Angesichts des Ziels, der »Selbstaufhebung der eigenen Existenz«, kann als Fortschritt allein die Perfektionierung der Mittel zu deren Auslöschung gelten. 

»Wenn das Untier [gemeint ist Homo sapiens] auch nur den geringsten Grund zum Stolz hätte, dann knüpfte er sich nicht an die Aufbau­leistungen von Zivilisationen, sondern an den sprühenden Erfindungsreichtum bei der Entwicklung von Mitteln und Wegen zu ihrer nachhaltigen Beseitigung.«

Aus diesem Blickwinkel wird, mit unwiderleglicher Logik, Friedensforschung zu »Sabotage«, da sie den Einzug in das »Neue Jerusalem der Nichtexistenz« hinaus­zuschieben trachtet. 

Das Furchtbarste an diesem - nur bei oberflächlicher Lektüre mißdeutbaren - Verzweiflungs­ausbruch ist die Tatsache, daß eine derart konsequente Umkehrung aller moralischen Vorzeichen vor der Realität unserer Geschichte beklemmend Sinn macht. Gnadenloser ist diese Geschichte - als die von »Entarteten der Evolution« - noch nicht verflucht worden.156

Man braucht sich den Bewertungsmaßstab Horstmanns nicht zu eigen zu machen, um seiner zentralen Feststellung beipflichten zu können. Die aber lautet: Wir Heutigen sind die Generation, die den Untergang der Art erleben und herbeiführen wird. Als schuldig-schuldlose Täter und Opfer zugleich werden wir umkommen von eigener Hand. 

Wir werden also sterben. Was ist dazu weiter noch zu sagen?

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