Schlussbemerkung   Kapitel-5   Start    Anmerk

Das Ende der Geschichte

 

"Die Moral" 

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Wir werden also sterben, so hatten wir aus all dem gefolgert, was in diesem Buch bis dahin zusammen­getragen wurde. Und daran hatten wir die Frage geknüpft, was darüber hinaus denn noch zu sagen sei. Versuchen wir abschließend, sie zu beantworten.

Da wäre als erstes daran zu erinnern, daß die Nachricht von unserem bevorstehenden Ende ungeachtet ihrer unleugbaren Bedeutung letztlich von unüber­bietbarer Trivialität ist. 

Denn die Auskunft, daß wir nicht "ewig" leben werden, entbehrt nun wirklich jeglicher Originalität. Schon im Augenblick unserer Geburt steht fest, daß wir sterben werden. (Es ist das einzige, was in diesem Augenblick mit Gewißheit über unser Schicksal vorausgesagt werden kann.) Und daß dieser Umstand den Menschen nun zu einem Leben in Angst und Verzweiflung verdamme, kann niemand behaupten.

Angesichts der Gewißheit unseres fortwährend näherkommenden Todes erleben wir bekanntlich nicht nur Angst und Verzweiflung, sondern auch Lebens­freude und vielerlei Genuß. Das erklärt sich nicht einfach aus dem psychologischen Phänomen der Verdrängung allein. Obwohl einzuräumen ist, daß das Ausmaß des Erschreckens, des ungläubigen Staunens, mit dem wir auf die konkrete Begegnung mit dem Tode bezeichnenderweise zu reagieren pflegen, die Wirksamkeit dieses Mechanismus deutlich genug verrät.

Aber nicht nur Verdrängung läßt uns in aller Regel nicht zur Besinnung auf unseren Tod kommen. Auch unsere vormenschliche, animalische Natur steht uns da abermals im Wege.

Denn niemand von uns lebt, aus biologischer Perspektive, sein Leben etwa um seiner selbst willen. Wir alle sind auf der Ebene unserer biologischen Natur immer noch auch in die Lebensinteressen der Art eingespannt, deren Mitglieder wir sind. Beträchtliche Anteile unseres Verhaltens und "unserer" Interessen dienen objektiv daher keineswegs etwa uns selbst als Individuen. Mit ihnen unterwerfen wir uns vielmehr gefügig den Zwecken unserer Spezies. Es ist eine ahnungslose Gefügigkeit. Denn auch hier wieder geht eine objektiv maximale Unfreiheit subjektiv ohne den geringsten Widerspruch Hand in Hand mit dem Erlebnis uneingeschränkter, bejahender Zustimmung.

Am leichtesten ist das im Falle unserer geschlechtlichen Natur zu durchschauen. Sie ist zugleich das wichtigste Beispiel, denn man braucht Sigmund Freud nicht gelesen zu haben, um einsehen zu können, daß unter all den von der Evolution uns angezüchteten Veranlagungen keine andere uns in dem gleichen Ausmaß beherrscht. Nicht nur unsere Moral ist tief von ihr geprägt, sondern bis in ihre feinsten Verästelungen auch die Struktur unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Nicht nur die Mode, sondern — in zunehmenden Graden der "Sublimierung" — alles erotische Verhalten, weite Bereiche der Kunst und sogar manche Formen religiöser Praxis ("Marienkult").

Dabei lassen sich diese und andere Beispiele einer kulturellen Verfeinerung der Ausdrucksformen unserer Geschlechtlichkeit immerhin noch als ein auch dem einzelnen Individuum der Gattung Mensch zufallender Gewinn ansehen. Dies aber gilt ganz gewiß nicht für die ihren konkreten Vollzug herbeiführenden und sicherstellenden Triebregungen. So positiv der Mensch diese erlebt — trotz aller Beunruhigung stets auch als beglückend empfundene Steigerung der Intensität seines Lebensgefühls —, objektiv betrachtet wird jeder einzelne von uns in dieser Situation von der Evolution an der Nase herumgeführt.

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Denn das Individuum wird für sein sexuelles Engagement in der windigsten aller denkbaren Währungen abgespeist: mit dem bloßen Gefühl flüchtig vorüber­gehender Lust. Den konkreten Gewinn aber streicht die Population ein, deren Fortdauer und evolutive Weiterentwicklung das Individuum durch seinen Einsatz gewährleistet.

Wir "vergessen" den Tod — neben anderen die "Eigentlichkeit" unserer Existenz ausmachenden Bedingungen — folglich auch deshalb, weil wir auch den Lebensgesetzen unserer Art noch unterliegen und weil er als individuelles Ereignis für diese bedeutungslos ist. Wir vergessen ihn daher um so leichter, je gründlicher die Art uns ihren Interessen jeweils zu unterwerfen vermag. Dieser Zusammenhang, liefert, wie mir scheint, eine rehabilitierende Erklärung für den mit der alten Redensart "Junge Hure, alte Betschwester" kritisch aufgespießten Sachverhalt.

Es trifft ja zu, daß man sich in jüngeren Jahren über die eigene Sterblichkeit nicht viel den Kopf zu zerbrechen pflegt. Und umgekehrt stimmt es auch, daß die Neigung, sich mit diesem unabwendbaren Ereignis ernsthaft zu beschäftigen, im höheren Alter zunimmt. Das gleiche gilt für die Bereitschaft, zur Bewältigung der Erkenntnis vom bevorstehenden Lebensende auch die von der religiösen Überlieferung angebotenen Deutungen in Erwägung zu ziehen. Das alles ist unbestreitbar. 

Für ein kurzschlüssiges Mißverständnis halte ich nun aber die von vielen für selbstverständlich angesehene Schlußfolgerung, daß es offensichtlich also allein die sich in dieser späten Lebensphase meldende Angst vor dem Tode sei, welche die weitere Verdrängung des unerfreulichen Ereignisses erschwere und zur Flucht in eine Wunschwelt religiöser Tröstungen motiviere.

Ich halte diese Interpretation für oberflächlich. Sie läßt die soeben am Beispiel der Sexualität skizzierte Beziehung zwischen dem Individuum und der Art, der es angehört, außer Betracht. Mir erscheint die Annahme sehr viel einleuchtender, daß unser Verhalten, solange wir jung sind, den Zwecken des biologischen Kollektivs weitgehend untergeordnet bleibt.

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Die Rolle, die wir in dieser frühen Lebensphase im Interesse der übergeordneten Einheit, unserer Art, zu erfüllen haben, ist für diese so entscheidend, daß sie uns — wofür die evolutive Anpassung, der die Population wichtiger ist als das Individuum, nach Kräften vorgesorgt hat — gar nicht die Zeit läßt, uns auf die für uns als Individuen wesentlichen Aspekte unserer Existenz zu besinnen. Erst wenn wir älter werden und wenn wir damit für unsere biologische Art allmählich an Bedeutung zu verlieren beginnen, werden wir von ihr gleichsam aus der Pflicht entlassen. Erst dann erleben wir uns nicht mehr nur subjektiv als frei. 

Dann fällt uns zu guter Letzt endlich auch objektiv ein Stückchen Freiheit zu, das groß genug ist, um uns auch unsere höchsteigenen Interessen, unsere reale Situation als Individuum bedenken zu lassen.189

Dann endlich erleben wir unmittelbar, was uns bis dahin nur auf dem Umweg philosophischer Anstrengung zugänglich war: die Realität unserer eigentlichen Existenz. Das aber heißt: Wir stehen vor der Tatsache unserer Sterblichkeit. Jetzt endlich begegnen wir dem Tod als unserer realen Zukunft. Niemand hat je behauptet, daß diese Begegnung leicht sei und daß sie sich ohne Erschütterung bestehen lasse. Aber wie früheren Generationen die Religion, so hat uns die Existenzphilosophie die Augen dafür geöffnet, wie weit wir den Sinn unseres Lebens ohne diese Konfrontation verfehlen würden. Angst bleibt niemandem erspart. Zur Verzweiflung jedoch gibt es keinen Grund. Sie wäre nur angebracht, wenn das absolute Nichts auf uns wartete. Das aber ist nicht der Fall.

Was ändert sich dann aber eigentlich für uns, wenn wir erfahren, daß unsere Art auszusterben im Begriff ist? Welcher Grund wäre denkbar, aus dem wir das Ende der Art mehr zu fürchten hätten als den eigenen Tod? Dürfen wir nicht vielmehr darauf hoffen, daß die heraufdämmernde Ahnung von der Sterblichkeit auch der Art selbst, der wir angehören, uns zu einer ähnlich befreienden existentiellen Erfahrung verhelfen könnte, wie die bewußte Zumutung der Angst vor unserem individuellen Tod sie uns bescherte?

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Kann die so lange von uns ebenfalls verdrängte Einsicht in die Sterblichkeit "der Menschheit" uns nicht etwa auch den Blick freimachen für die "Eigentlichkeit" von deren historischer Existenz? Für die allein wesentlichen Maßstäbe, mit Hilfe derer es möglich ist, dieser Existenz einen Sinn abzugewinnen? Und erweisen sich die Probleme, deren Auftauchen uns heute mit der "Sterblichkeit" der Menschheit insgesamt als einer höchst konkreten Möglichkeit konfrontiert, im Rückblick etwa nicht als die Folgen der Verdrängung dieser existentiellen Bedingungen unseres Artendaseins? Geschlagen mit kollektiver Blindheit für diese Bedingungen hatten wir uns zuletzt alles zugetraut (und völlig übersehen, was dieses "alles" an Möglichkeiten einschloß).

 

"So können wir mit stolzer Freude an dem Aufbau des Zeitalters der Natur­wissen­schaften weiterarbeiten, in der sicheren Zuversicht, daß es die Menschheit moralischen und materiellen Zuständen zuführen werde, die besser sind als sie es je waren und heute noch sind." So klang es vor nur hundert Jahren anläßlich einer Zusammenkunft der angesehensten deutschen Wissen­schaftler­versammlung. 

"Es liegt ... kein Grund vor, an der Fortdauer des progressiven Aufschwunges der naturwissenschaftlich-technischen Entwickelung zu zweifeln", versicherte der Festredner damals einem gläubig lauschenden Auditorium, das er am Schluß ermahnte, sich nicht irre machen zu lassen in dem gemeinsamen Glauben daran, "daß unsere Forschungs- und Erfindungsthätigkeit die Menschheit höheren Kulturstufen zuführt, sie veredelt und idealen Bestrebungen zugänglicher macht, daß das hereinbrechende naturwissenschaftliche Zeitalter ihre Lebensnoth, ihr Siechthum mindern, ihren Lebensgenuß erhöhen, sie besser, glücklicher und mit ihrem Geschick zufriedener machen wird." [190]

Wir wissen heute, nur drei Generationen später, was dabei herausgekommen ist. Uns beginnt aufzugehen, daß wir heute auch deshalb mit einer ökologischen Katastrophe konfrontiert sind, weil wir der Versuchung nicht haben widerstehen können, die Erde mit diesseitigen Paradies-Erwartungen zu überfordern. Hellsichtige Geister ahnten das sehr viel früher.

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"Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte", hatte Hölderlin schon seinen Hyperion sagen lassen.191  Aber seine Stimme wurde (wie die vereinzelter anderer Mahner) übertönt vom Jubel der Bataillone des Fortschritts.

Es bedurfte drastischerer Signale, um uns aus dem selbstzufriedenen Traum von der allen anderen Instanzen überlegenen Kraft unserer technisch-wissen­schaft­lichen Intelligenz aufschrecken zu lassen. (Der wir andererseits nun aber nicht — unserer unheilvollen Vorliebe für Entweder-Oder-Entscheidungen folgend — gleich wieder abschwören dürfen, wie es uns so mancher Übereifrige heute voreilig empfiehlt.)

Vielleicht genügen die Symptome des anhebenden biosphärischen Zusammenbruchs, um uns zur Besinnung zu bringen. Vielleicht ist selbst die Hoffnung nicht gänzlich illusionär, daß der Effekt noch "in letzter Minute" eintreten könnte. Also vielleicht doch noch, bevor es endgültig zu spät ist. Wer könnte diese Möglichkeit, so unwahrscheinlich sie ist, rundheraus bestreiten?  

Jedenfalls präsentiert sich die Katastrophe, vor der wir stehen, auch aus diesem Blickwinkel eher als ein heilsames, ein "erweckendes" Geschehen. Einen Grund zur Verzweiflung stellt sie mithin gerade für den nicht dar, der sie wahrhaft ernst nimmt. 

Dies ist — am Rande vermerkt — auch der Kernpunkt meiner Antwort an jene, die mir vorwerfen werden, ich nähme den Menschen durch den Hinweis auf die Ausweg­losigkeit unserer Lage alle Hoffnung.

Wir können uns heute nicht länger blind stellen für die seelische Verwüstung, für die von Überdruß und Lebens­zweifeln charakterisierte geistige Brache, die wir mit dem hartnäckig durchgehaltenen Versuch angerichtet haben, den Sinn der Welt und unseres Lebens allein im Licht unserer Intelligenz und beschränkt auf den Rahmen diesseitiger Gesetzlichkeit ausfindig zu machen. 

So erscheint denn der Gedanke nicht als absurd, daß der Schock, den wir uns auf diesem Wege zugefügt haben, einen Heilungs­prozeß in Gang setzen könnte.

Selbst dann, wenn der Punkt schon erreicht wäre, an dem nichts mehr unseren Artentod aufhalten kann — und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß wir ihn längst überschritten haben —, bliebe uns noch immer die Chance und bliebe uns auch immer noch die Zeit, die einzige Aufgabe zu bewältigen, vor die unsere Existenz uns letztlich stellt: die eigentliche Bedeutung der Rolle zu erkennen, die uns in der von Geburt und Tod begrenzten Zeitspanne zugewiesen ist.

Wie immer man es dreht und wendet: 

Unsere Not wäre vielfach größer, in vollem Ernst könnten wir überhaupt erst dann von Not sprechen, wenn wir weiterhin unsere Augen verschlössen vor dem bevorstehenden Ende. Wer gelernt hat, daß erst sein Anblick uns die Einsicht erschließt in die Wahrheit und den Sinn unserer Existenz, der versteht, warum Luther beten konnte: "Komm, lieber Jüngster Tag." — Und wer begriffen hat, daß dieses Ende nicht das Nichts bedeutet, der kann teilhaben an der Zuversicht, die derselbe Martin Luther in die Worte faßte: "Und wenn ich wüßte, daß morgen die Welt unterginge, so würde ich doch heute mein Apfel­bäumchen pflanzen."

      So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. Es ist soweit.

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Ende 

 

 

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