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3.  Strukturen oder Werte bewahren?

I     II    III    IV  V   VI     VII  

 

   I  

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Daß der Glaube an einen geschichtsnotwendigen - oder gar automatischen - Fortschritt die Zäsur der frühen siebziger Jahre nicht überleben kann, bedarf keiner ausführlichen Begründung mehr. Wer nicht verhindern kann, daß an vielen Stellen immer wieder die Hölle auf Erden durchbricht, wird nicht dazu neigen, über den Himmel auf Erden nachzudenken.

Wer sich tagtäglich den Kopf an Grenzen und Mauern wundstößt, wird nicht vom grenzen­losen Fortschritt träumen.  Daß sich Menschen in kritischer Zeit an das klammern, was sie haben, ist nur natürlich. Dies gilt besonders für die Generation, die das Errungene nicht für selbstverständlich halten kann, weil sie Diktatur, Krieg und Hunger noch im Gedächtnis hat.

Es gibt in unserer Gesellschaft vieles, was einer Anstrengung des Bewahrens wert ist. Die Frage ist nur: Was kann und soll bewahrt werden, und wie kann dies geschehen?

Schon auf die Frage, was zu konservieren sei, erhalten wir zwei sehr verschiedene Antworten, die beide mit demselben Begriff als konservativ bezeichnet werden. Die eine zielt auf Strukturen: Zu bewahren sei unter allen Umständen und ohne Abstriche das ökonomische System mit seinen Machtstrukturen, zu erhalten seien die Einkommenshierarchien, auch wo sie auf skurrile Weise verzerrt sind, die Eigentumsordnung, auch wo sie dem Gemeinwohl im Wege steht, zu bewahren seien Normen des Strafrechts, auch wo sie ihren Zweck verfehlen, Formen des Welthandels, auch wo sie das nackte Leben ganzer Völker gefährden, nationale Ansprüche, auch wo die Geschichte längst darüber hinweggegangen ist, institutionelle Autorität, auch wo sie sich längst selbst verschlissen hat.

Hier geht es offenkundig um die Konservierung von Machtpositionen, von Privilegien, von Herrschaft. Im Folgenden wird daher von Strukturkonservatismus die Rede sein.

Meist besteht der geistige Fundus dieser Strukturkonservativen aus dem letzten Aufguß des Liberalismus der Jahrhundertwende. Sie geben sich optimistisch, setzen nach wie vor Wachstum mit Fortschritt gleich, glauben an die menschliche Erfindungskraft, die schließlich — technokratisch — alles wieder ins Lot bringe, verwechseln Erfolg mit Leistung, sie huldigen einem extremen Individualismus, der oft in krassen Sozialdarwinismus ausartet, sie sagen Freiheit und meinen Privilegien, sie halten Gerechtigkeit für eine romantische Vokabel und sich selbst für Pragmatiker, weil sie es als Zeitverschwendung ansehen, über ihre eigenen Werturteile zu reflektieren.

Dieser Strukturkonservatismus ist Ideologie im strengen Sinne der Marxschen Definition: Überbau zum Schutz und zur Rechtfertigung von Herrschaft. Da die Machtstrukturen von heute am besten mit den progressiven Ideologien von vorgestern abgesichert werden können, sind sogar die letzten Reste eines naiven Fortschrittsglaubens ins Lager der Strukturkonservativen ausgewandert: Keine Angst, es wird sich alles wieder einspielen, man muß uns nur machen lassen. Wie dieser strukturkonservative Wachstums- und Fortschrittsglaube in unverhohlenen Zynismus umschlägt, sobald er mit der Realität in Konflikt kommt, zeigt Hermann Kahn mit seiner Bemerkung, auch der Hungertod von fünf Millionen Menschen »ändert die Kurven nicht«.15)

Dieser Strukturkonservatismus ist fast in allen Stücken dem entgegengesetzt, was die europäische Geschichte an christlich-konservativer Tradition hervor­gebracht hat und was heute auch in Bereiche hinein ausstrahlt, die sich nicht auf diese Tradition berufen. Der Strukturkonservatismus gerät in Konflikt mit einem Konservatismus, dem es weniger um Strukturen als um Werte geht, der beharrt auf dem unaufhebbaren Wert des einzelnen Menschen, was immer er leiste, der Freiheit versteht als Chance und Aufruf zu solidarischer Verantwortung, der nach Gerechtigkeit sucht, wohl wissend, daß sie nie zu erreichen ist, der Frieden riskiert, auch wo er Opfer kostet. In dieser Tradition haben Werte wie Dienst oder Treue, Tugenden wie Sparsamkeit oder die Fähigkeit zum Verzicht noch keinen zynischen Beigeschmack. Dieser Konservatismus verficht die Würde des Leidenden und fordert die Würde des Sterbens zurück. Vor allem aber geht es ihm heute um die Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Im Folgenden sei daher von Wertkonservatismus die Rede.

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Dieser Konservatismus der Werte war immer mißtrauisch, wenn von Fortschritt, zumal vom technischen, die Rede war, er neigt heute gelegentlich dazu, sich durch die Ereignisse mehr bestätigt als herausgefordert zu fühlen. Er hat nie geglaubt, aus dem freien Spiel der Kräfte müsse notwendig Gutes erwachsen. Auf die Frage angesprochen, wie dieses Gute zustandekomme, hat er oft moralische Kräfte über- und Machtverhältnisse unterschätzt.

 

  II  

 

Wertkonservatismus ist oft an Stellen lebendig, wo man ihn nicht vermutet: er war auch eine der Antriebskräfte der Studentenrevolte. Viele Studenten der späteren sechziger Jahre rebellierten, weil sie die Werte, von denen man ihnen allzuviel geredet hatte, von Machtstrukturen überrollt sahen, die ihnen fremd und feindlich gegenübertraten. Sie sahen, wie die Natur überfordert, die Umwelt vergiftet, solidarische Gemeinschaft verhindert, Menschenwürde — bei uns und noch mehr in der Dritten Welt — mit Füßen getreten, der Gedanke der Gerechtigkeit verhöhnt, ihre Zukunft verspielt wurde. 

Einer der Führer der amerikanischen Studentenbewegung, Todd Gitlin, hat diese neue Erscheinung des eher pessimistischen Revolutionärs so beschrieben: Zwar sei Zukunftsorientierung ein Kennzeichen jeder revolutionären Bewegung der letzten anderthalb Jahrhunderte gewesen, aber die neue Linke leide doch an »Mißtrauen gegenüber der Zukunft«. Das Grunderlebnis dieser Generation entspricht wohl ziemlich genau der Frage von Jochen Steffen, »ob es einen Sinn hat, in dieser riesigen Tretmühle, deren Tempo wir selbst ständig beschleunigen und die uns zu immer schnellerem Tempo zwingt, bis alles durcheinanderpurzelt, immer weiter mitzulaufen«.16) Sie wollten nicht mehr mitlaufen, weil sie nicht mehr sahen, was dies für einen Wert haben solle. Daß diese Bewegung dann in marxistischen Dogmatismus und Dogmenstreit einmündete, liegt vor allem daran, daß eine andere als die marxistische Antwort auf die Fragen der Jungen damals nicht angeboten wurde.

Die meisten Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik sind heute solche zwischen Strukturkonservativen und Wertkonservativen.

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Wenn eine Autobahn über den Hochschwarzwald gebaut werden soll, verbünden sich Jungsozialisten mit Bergbauern gegen Christdemokraten und Industrieverbände. Den einen geht es darum, den Wert einer unvergleichlichen Landschaft zu bewahren, den anderen, das wirtschaftliche Wachstum zu sichern, ohne das sie die ökonomischen Machtstrukturen gefährdet sehen.

Wenn unsere Innenstädte veröden, weil die horrenden Grundstückspreise nur noch Banken, Kaufhäuser oder Versicherungen rentabel erscheinen lassen, dann muß entschieden werden, was wir bewahren wollen: die Urbanität der Stadt oder die Eigentumsverhältnisse, genauer: das Bodenrecht, das diese Urbanität zerstört.

Wenn der Konkurrenzdruck in unserem Erziehungswesen zunehmend Psychosen, Neurosen und psychogene Erkrankungen hervorbringt, stellt sich die Frage, ob die Gesundheit unserer Kinder oder ihre frühzeitige Einpassung in die Strukturen unserer Erfolgsgesellschaft Vorrang hat.

Wenn Preisschwankungen auf dem Weltmarkt Millionen zum Tod verurteilen, haben wir zu wählen zwischen dem Wert von Menschenleben und einer Struktur des Welthandels, bei der wir bisher — zugegeben — nicht schlecht gefahren sind.

Wenn ein Produktionsprozeß, der die Arbeit des einzelnen in immer kleinere Einheiten zerstückelt, den Arbeitenden körperlich und seelisch verkümmern läßt und schließlich krank macht, haben wir zu entscheiden, was uns wichtiger ist: eine Produktionsstruktur, von der — und dies meist fälschlicherweise — angenommen wird, sie erziele bei minimalen Kosten optimale Ergebnisse, oder die Verwirklichung von Anlagen, die schon immer den Menschen ausgezeichnet haben: Vielfalt an Fertigkeiten, Reichtum an Einfällen, Verbindung von Handarbeit und Reflexion über diese Arbeit, die Fähigkeit zu planen und zu entscheiden, zu irren und sich zu korrigieren.17)

Wenn gesicherter Friede in Europa nur zu haben ist, wenn Grenzen nicht mehr in Frage gestellt werden, müssen wir entscheiden, ob der Wert des Friedens uns wichtiger ist als die verbale Aufrechterhaltung eines — wenn auch fiktiven — Nationalstaats von der Maas bis an die Memel.

Wenn, wie E. F. Schumacher sarkastisch feststellt, im entwickeltsten Land, in den USA, »nicht die Mondfahrt, sondern der Weg nach Hause, wenn es dunkel wird«18 das eigentliche Wagnis ist, rufen die Strukturkonservativen nach immer mehr Polizei, während Wertkonservative fragen, ob diese Welle der Kriminalität nicht doch etwas mit den Machtstrukturen einer Gesellschaft zu tun hat, die den materiellen Erfolg zum Maßstab menschlichen Wertes erhebt und täglich die physische Gewalt in Wort und Bild glorifiziert.

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Wenn Kirchenaustritte ein Ausmaß erreichen, das schon auf mittlere Sicht die Volkskirche gefährdet, werden Strukturkonservative bei jedem Schritt ängstlich nach links und rechts schielen, um keinesfalls Anlaß zu neuen Austritten zu bieten, während Wertkonservative es verständlich finden, daß Menschen, die seit langem nichts mit der Kirche im Sinn haben, ihr auch keine Steuer mehr entrichten. Sie werden fragen, wie die Botschaft, die der Kirche aufgetragen ist, so glaubwürdig ausgerichtet werden kann, daß sie in unserer Gesellschaft etwas bewirkt, auch auf die Gefahr hin, daß die Kirche neue Organisationsformen suchen muß.

Auch wenn wir zwischen dem Maßstab des Lebensstandards und der Lebensqualität zu wählen haben, geht es letztlich darum, ob wir Werte oder Strukturen bewahren wollen. Wer davon überzeugt ist, daß unser ökonomisches System die kommenden Jahre nur dann ohne Korrekturen übersteht, wenn das wirtschaftliche Wachstum wieder voll in Gang kommt, wird Wachstum zum obersten Ziel der Politik erheben. Wer fragt, was für die Menschen welchen Wert habe, wird versuchen, daraus soziale Indikatoren abzuleiten und daran die Nützlichkeit wirtschaftlichen Wachstums zu messen.

 

  III  

 

Die Unterscheidung zwischen Wert- und Strukturkonservatismus begegnet gelegentlich dem etwas vordergründigen Einwand, schließlich seien Werte und Strukturen immer aufeinander bezogen, in jede Struktur seien Werte eingegangen, wo Werte sich durchsetzten, schafften sie Strukturen. Die Frage ist nur, wie Werte und Strukturen aufeinander bezogen sind. Natürlich ist die Kirche auch des späten Mittelalters nicht denkbar ohne die Botschaft, aus der die Kirche entstand. Aber als die Reformatoren die Botschaft neu entdeckten, stellten sie fest, daß sie sich in den Strukturen dieser Kirche nicht mehr ausrichten ließ. Das »Zurück zur Bibel« führte zur Reformation.

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Natürlich ist der sowjetische Kommunismus nicht denkbar ohne das Werk von Karl Marx. Aber als Tschechen und Slowaken den humanistischen Ansatz von Marx wieder entdeckten, mußten sie versuchen, sich aus den Machtstrukturen eines bürokratischen Staatskapitalismus zu befreien. Das »Zurück zum ursprünglichen Ansatz des Sozialismus« brachte Machtstrukturen in Gefahr, und der Sieg der Machtstrukturen bedeutete das Ende einer wertbezogenen Bewegung.

Natürlich sind die Organisationen und Apparate unseres Gesundheitswesens wertbezogene Strukturen. Natürlich ist da nichts entstanden, was nicht einen Bezug hatte zum kranken Menschen, der geheilt werden sollte. Die Frage ist nur, ob das alles nicht schon ein Eigenleben führt, das von mächtigen Interessenverbänden stärker bestimmt wird als von den Erfordernissen menschlicher Gesundheit. Und es macht durchaus einen Unterschied, ob man heute zuerst und vor allem menschliche Gesundheit fördern oder zuerst und vor allem die Strukturen unseres Gesundheitswesens erhalten will.

Wer immer auf alte Werte zurückkommen, sie neu verstehen, neu interpretieren, sich vom alten, neuen Wert anregen und bestimmen lassen will, stößt auf verkrustete Machtstrukturen. Und wo immer dann diese Machtstrukturen verteidigt werden — und sie werden immer verteidigt —, geht es letztlich nicht um die Erhaltung von Werten, sondern von Macht. Natürlich wird auch dieser Kampf ideologisch geführt. Was aber unsere Epoche kennzeichnet, ist die Tatsache, daß die Strukturkonservativen sich als ideologische Waffe dazu das Erbe des frühen Liberalismus, nicht das des europäischen Konservatismus ausgesucht haben. Erst auf diesem Hintergrund wird übrigens die Parole »Freiheit oder Sozialismus« ganz verständlich.

 

  IV 

 

Der Gegensatz zwischen Wertkonservativen und Strukturkonservativen, immer schon latent, wurde durch die Zäsur der siebziger Jahre zum politischen Sprengstoff. Wo dieser Gegensatz innerhalb des christlich-demokratischen Lagers ausgetragen wird, steht am Ende meist der Sieg der Struktur­konservativen, gelegentlich aber auch die Handlungsunfähigkeit.

Beim Streit um die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs ging es letztlich darum, was wir an Strukturen — etwa der Steuer-, Familien- oder Sozial­gesetzgebung — zu verändern, was wir an Mitteln einzusetzen bereit sind, um werdendes Leben, das durch den Strafrichter nicht mehr geschützt werden kann, durch Beratung und Hilfe für Mutter und Familie zu schützen.

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Diese Frage ergab sich nahezu unabhängig von allen strafrechtlichen Regelungen. Wer werdendes Leben wirklich schützen will, muß dafür sorgen, daß weniger Frauen das Bedürfnis haben abzutreiben. Wer dies erreichen will, muß tiefer in die Strukturen unserer Gesellschaft eingreifen, als wir uns dies bisher klargemacht haben. 

Wären die Christdemokraten von einem Wertkonservatismus ausgegangen, so hätten sie seit langem die Frage so stellen müssen: Wodurch können wir werdendes Leben schützen? Sie haben es erst — und dann ohne Überzeugungskraft — getan, als andere das Strafrecht ändern wollten. Wer auf die Erhaltung von Strukturen — in diesem Fall sowohl der Gesellschaft als auch des Strafrechts — fixiert war, hatte zu dieser Diskussion nichts Konstruktives beizutragen. Daher meldete sich die Union nach jahrelangem Schweigen erst zu Wort, als anderswo die politischen Entscheidungen gefallen waren.

Konservative hätten sich längst von vielem herausgefordert fühlen müssen, was sich heute in unserem Gesundheitswesen abspielt. Der mechanistischen Vorstellung von Gesundheit und Krankheit, die diesem Gesundheitswesen zugrunde liegt, hätte längst von denen widersprochen werden müssen, die so gerne vom »christlichen Menschenbild« sprechen. Sie haben es nicht getan, weil sie damit an Strukturen und Interessen gerührt hätten — etwa der Ärztekammern oder der pharmazeutischen Industrie —, die sich mit ihren eigenen Interessen berührten. Im Streit um das Gesundheitswesen wird sich zeigen, ob der Wertkonservatismus gegen den Strukturkonservatismus eine Chance hat.

 

  V  

 

Nach der Zäsur bricht sich eine neue Einsicht Bahn: Machtstrukturen lassen sich häufig nur noch auf Kosten von Werten konservieren, die unsere Bürger erhalten wissen wollen: Natur, Landschaft, Urbanität, Gesundheit, menschliche Bindungen, Solidarität. Umgekehrt: Wer solche Werte bewahren will, kann nicht Machtstrukturen für tabu erklären, er muß Veränderungsbedürftiges rechtzeitig verändern. Wenn Mesarovic und Pestel recht haben mit ihrer Feststellung — und damit stehen sie nicht allein —, wir stünden zum erstenmal in der Geschichte vor globalen Krisen, »die nur in globalen Katastrophen enden können, wenn man ihnen ihren Lauf läßt«, dann wird Strukturkonservatismus in Zukunft lebensgefährlich. Wo Fortschreibung des Bestehenden sogar das menschliche Leben selbst bedroht, finden sich ernüchterte Progressive und konsequente Wertkonservative.

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Es ist das Elend der Progressiven, daß der alte Fortschrittsglaube ausstirbt oder abwandert, daß auf die Frage, was Fortschritt sei, erst mühsam eine Antwort erarbeitet werden muß. Aber wenn nachweisbar ist, daß menschenwürdiges Überleben rasche und tiefgreifende Veränderungen verlangt, dann sind die Progressiven neu gefordert, nicht ihr Glaube an den Fortschritt, wohl aber ihr Wille zum Fortschritt, ihre Zähigkeit, ihr Trotzdem.

Aber dann darf auch niemand, dem es um die Bewahrung von Werten geht, sich vor den Karren derer spannen lassen, die letztlich nur ihre Macht konservieren wollen. Gegen einen Strukturkonservatismus, der geistig von den Resten des altliberalen Erbes lebt, muß der Wertkonservatismus — im angelsächsischen Sinne des Wortes — revolutionär werden.

Die Wertkonservativen müssen lernen, daß Bewahrung von Werten Veränderung von Machtstrukturen unerläßlich macht. Die Progressiven müssen lernen, daß sie Machtstrukturen nur verändern können, wo sie sich auf Werte berufen können, die tief in der europäischen Tradition verwurzelt sind. Es lohnt sich auch, darüber nachzudenken, ob diese Werte nicht in der Tradition der Arbeiterbewegung denselben Stellenwert hatten und haben wie in den anderen Traditionen unseres Kontinents. Man kann nicht verdienten Mitgliedern dafür danken, daß sie fünfzig oder siebzig Jahre ihrer Partei oder ihrer Gewerkschaft die Treue gehalten haben, im übrigen aber den Begriff der Treue als altmodisches Vorurteil abtun. Man kann nicht die Opfer der Arbeiterbewegung ehren, ansonsten aber dem Begriff des Opfers scheu aus dem Wege gehen.

Der Progressive wird den Wertkonservativen gelegentlich auf die Mißbrauchbarkeit seiner Werte aufmerksam machen oder ihn auch zur Neuinterpretation von Werten auffordern, nicht aber zu deren Verleugnung.

Wer die geistig-politische Entwicklung von so unabhängigen Köpfen wie Georg Picht, Eberhard Stammler, Klaus Müller, Günter Altner oder auch Carl Friedrich von Weizsäcker verfolgt hat — und sie sind allesamt durch einen wachen Wertkonservatismus geprägt —, wird sich der Frage nicht entziehen können, ob in diesem Bereich heute nicht radikaler nachgedacht und ungeduldiger nach vorwärts gedrängt wird als bei manchen, die sich progressiv nennen.

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Und wer zu verstehen versucht, was Jochen Steffen umtreibt, stößt auf Sätze wie diesen: »Wenn es eine Gefahr für jene Werte gibt, deren Praktizierung die Menschen menschlich macht, dann liegt sie einzig und allein daran, daß wir so weitermachen, wie wir wissen, daß wir so nicht weitermachen dürfen.«'9 Präziser ließe sich das Credo des Wertkonservativen heute nicht formulieren.

Der Katholik Carl Amery beschreibt denselben Sachverhalt, wenn er an den Satz des ersten großen Konservativen der europäischen Geschichte, des Engländers Edmund Burke (1729-1797), anknüpft, wonach Konservatismus »die Partnerschaft der Toten, der Lebenden und der Ungeborenen« sei. Dies, meint Amery, sei »die einzige, aber wesentliche Vorstellung, welche eine linke Verantwortung aus dem konservativen Sprach- und Gedankenschatz wird übernehmen müssen«.20)  

Ob es die einzige Vorstellung ist, mag man bestreiten, daß es die entscheidende ist, nicht. Wertkonservatismus meint Werte, »deren Praktizierung die Menschen menschlich macht«. Und eben diese Werte sind bedroht, für die Ungeborenen noch mehr als für die Lebenden. Sie sind bedroht, wenn Machtverhältnisse die Fortschreibung des Bestehenden erzwingen. Oder wie Klaus Müller es formuliert: »Der Zwang zur Umgestaltung aller Lebens­verhältnisse ist die Priorität des Überlebens selbst.«21)  

Was heute als Tendenzwende zum Konservativen von den einen — zu Unrecht — gefeiert, von den anderen — wohl auch zu Unrecht — beklagt wird, ist in seinem Kern wohl eher wertkonservativ. Ein behutsameres, weniger ausbeuterisches Verhältnis zur Natur, das Suchen nach einer »weicheren« Technologie, die Wiederentdeckung von Tugenden wie Sparsamkeit oder Bescheidenheit trägt wertkonservative Züge. Nur: Ist die Emanzipation von der Herrschaft einer Konsumideologie wirklich etwas grundsätzlich anderes als die Emanzipation von anderen Autoritäten, die sich nicht ausweisen können? 

Wenn junge Menschen den Wert dauerhafterer Bindung an einen anderen Menschen entdecken oder auch der neutestamentlichen Botschaft mit einer ebenso kritischen wie unbefangenen Offenheit begegnen, wenn sie die Geborgenheit der solidarischen Gruppe suchen, so bedeutet dies in der Tat, daß Werte aus der Tradition an Gewicht gewinnen. Aber hat es in der europäischen Geschichte jemals eine Bewegung nach vorn gegeben, die sich nicht auf Werte der Tradition berufen hätte?

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Tatsächlich ist diese Tendenz nicht allzu —weit entfernt von der Strömung, die der erste sozialdemokratische Bundeskanzler 1972 für sich zu gewinnen wußte. Daß diese Strömung gegenwärtig zur Stärkung und Verhärtung von Machtstrukturen genutzt werden kann, hat viele Gründe. Sie beginnen bei der ökonomischen und publizistischen Macht, die diesen Vorgang fördert, und reichen bis zum Unvermögen der demokratischen Linken, sich Wertkonservativen gegenüber verständlich zu machen.

 

  VI  

 

Zur Tendenzwende gehört der Stellungswechsel der Technokratie. Technokratisches Denken, Planen, Programmieren empfand sich in den sechziger Jahren noch als progressiv: es mußte sich durchsetzen gegen Kräfte, die solches Planen und Programmieren für überflüssig hielten. Die Technokraten von heute spüren, daß nun der Sinn ihres Tuns von denen in Frage gestellt wird, die betriebsblindes Fortschreiben nicht mehr für sinnvoll halten, angeblichen Sachzwängen mißtrauen oder gar — analog zum Priestertum aller Gläubigen — das Expertentum aller Laien verkünden.

Alvin Toffler hat diesen Vorgang schon 1970 so beschrieben: Technokratische Planung stütze sich notwendig auf eine hierarchische Struktur. »Die Welt war in Manager und Arbeiter, in Planer und Verplante eingeteilt, und erstere trafen Entscheidungen für die letzteren. ... Mit der Ausbreitung des Verdachts, daß Befehle von oben nach unten nicht mehr praktikabel sind, beginnen die Verplanten, das Recht auf Beteiligung an Entscheidungs-prozessen zu verlangen. Die Planer leisten jedoch Widerstand. Denn wie das bürokratische System, das es widerspiegelt, ist auch das technokratische Planen seinem Wesen nach undemokratisch.«22) Jochen Steffen meint denselben Sachverhalt, wenn er überspitzt formuliert: »Der moderne Technofaschismus beruht auf der elitären Macht über Pläne und deren Durchführung.«23)

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Technokratisches Denken, ursprünglich vom Elan der Zukunftsbewältigung beflügelt, wird nun strukturkonservatives Denken. Technokraten, die sich noch in den sechziger Jahren der zukunftsoffenen Linken verbunden fühlten und ihrem Ärger über konservative Ängstlichkeit und Kurzsichtigkeit Luft machten, finden sich heute, von der jungen — zumindest teilweise wertkonservativen — Linken angegriffen, an der Seite der strukturkonservativen Rechten wieder. Damals wie heute fühlen sie sich nicht verstanden. Und da es ihnen schwerfällt, die Wertprämissen anderer für legitim zu halten — schließlich gehen sie »pragmatisch« von der »Realität« aus —, sind ihre Verdikte heute nicht weniger vernichtend als vor zehn Jahren.

Das klassische Beispiel für diesen Vorgang ist Karl Steinbuch. Nicht weil er sich in seinem Denken gewandelt hätte, ist er symptomatisch für den Stellungswechsel der Technokratie, sondern weil er geblieben ist, was er immer war, während die Welt um ihn herum nicht bleiben wollte, wie sie bleiben sollte. Seine Antwort auf die Frage der <Welt>, was Tendenzwende für ihn bedeute, ist die klassische Formulierung des strukturkonservativen Credos: »Die Unterwerfung unter Normen, welche die Existenz der menschlichen Kultur auch in der voraussehbar unruhigen Zukunft ermöglichen«, nämlich unter »Autorität, Staat und Recht«. Während der Wertkonservative fragt, welche Autorität, welcher Staat, welches Recht sich aus den für ihn gültigen Werten ergibt, klammert sich der Technokrat an die Strukturen, weil sie Strukturen sind.

 

  VII  

In einigen Jahren wird es als Kuriosität unserer Zeit gelten, daß just in dem geschichtlichen Moment prinzipieller Pragmatismus modern wurde, wo er am wenigsten den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprach; daß längerfristige Programmatik just indem Augenblick in Verruf kam, wo sie absolut unentbehrlich wurde.

Ein Publizist, den man getrost unter die Strukturkonservativen zählen darf, hat diesen Vorgang als »pragmatische Gegenreformation« gefeiert und damit auch einen Hinweis darauf gegeben, daß es sich dabei doch um etwas mehr als eine Kuriosität handelt.

Alles Handeln, sofern es diesen Namen verdient, ist zweckgerichtet, zielgerichtet und also pragmatisch. Aber alles Handeln hat sich der Frage zu stellen, was denn seine Zwecke, seine Ziele seien. Und dabei kommen Wertungen ins Spiel, sei es bewußt oder unbewußt.

Pragmatisch wird auch derjenige handeln, der sich Rechenschaft ablegt über die Wertvorstellungen und ihre ideologischen Prämissen, die sein Handeln bestimmen. Nur: Hinter prinzipiellem Pragmatismus verbirgt sich meist die gefährlichste aller Ideologien, die Ideologie von der eigenen Ideologielosigkeit. Sie verleiht auf der einen Seite Schlagkraft und Unbekümmertheit dessen, der sein Handeln als das von der Sache her einzig denkbare und richtige empfindet.

Genauso klar ist: Prinzipieller Pragmatismus wird sich in den vorhandenen Strukturen bewegen, die vorhandenen Apparaturen so gut wie möglich in Gang halten. Hier trifft er sich mit der Technokratie. Beide wissen, daß Apparate empfindlich gegen Störungen sind, sie werden sie nicht in Frage stellen, sondern nach Kräften beschützen. Insofern haben die Strukturkonservativen guten Grund, vom Politiker lediglich prinzipiellen Pragmatismus zu verlangen. Was brauchen sie mehr? Aber wenn es je eine Zeit gab, in der wir uns diese Art von prinzipiellem Pragmatismus nicht leisten konnten, dann ist es die unsere. Sicher: Es ist mühsam genug, auch nur die Apparaturen am Laufen zu halten. Nur: Wer sich darauf beschränkt, wird eines Tages feststellen, daß auch die Apparaturen nicht mehr laufen.

Daran ändert auch die Notwendigkeit eines Krisenmanagements nichts. Krisen und ihre Bewältigung gehören nicht nur zum alltäglichen Geschäft des Politikers, sie nehmen von Jahr zu Jahr mehr von seiner Zeit und seiner Kraft in Anspruch. Gerade hier liegt es nahe, aus der Not eine Tugend zu machen: man tut, was nötig, opportun, möglich, machbar ist und findet dafür auch eine Rechtfertigung. Aber auch in der Krise zeigt sich, von welchen Werten wir bestimmt sind und welches Bild von Gesellschaft wir haben. Es gibt ein Krisenmanagement, das schlicht auf die Wiederherstellung des alten Zustands zielt. Und es gibt ein Krisenmanagement, das den Schock der Krise nutzt, um notwendige Veränderungen zu erzwingen.

Auch Krisenmanagement, so wichtig es ist, entbindet nicht von der Frage, worauf wir eigentlich hinauswollen. Und bei den meisten politischen Entscheidungen, ob es nun um Schule oder Gesundheit, Energie oder Rohstoffe, Technologie oder Verkehr, Investitionssteuerung oder Zölle geht, werden wir gefragt sein, ob wir Strukturen auf Kosten von Werten oder Werte auf Kosten von Strukturen bewahren wollen. Wer ersteres versucht, wird dem Sog des Reaktionären nicht lange entgehen. Wer letzteres will, wird sich bei den Progressiven wiederfinden.

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  Ende oder Wende 1975  Von der Machbarkeit des Notwendigen  Von Dr. Erhard Eppler