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   Wachstum und Arbeitslosigkeit   

 

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An dieser Stelle dürfte bei manchem Leser der Einwand fällig werden: Mag sein, daß die Degradierung des Staates zu bloßen Hilfsfunktionen, zur Bekämpfung von Symptomen, an deren Wurzel er sich nicht heranwagt, die Haushalte überfordert und zu bürokratischen Wucherungen führt. Aber was wird ohne Wachstum mit der Arbeitslosigkeit, was mit dem sozialen Netz, was mit der Dritten Welt?

Abgesehen davon, daß, wer den Maßstab des Bruttosozialprodukts nicht für brauchbar hält, sich keinerlei Wachstumsrate zum Ziel setzen kann, auch nicht die Rate Null; abgesehen davon, daß selektives Wachstum, wie wir sehen werden, Arbeitsplätze schaffen kann; stimmt es dann, daß das herkömmliche Wachstum die Arbeitslosigkeit verhindert, das soziale Netz gefestigt, der Dritten Welt geholfen hat?

Wo Wachstum zur Beseitigung oder Verhinderung von Arbeitslosigkeit verlangt wird, ist meist folgende Argumentation zu hören: Wenn die Produkt­ivität pro Arbeitsstunde — vor allem durch Rationalisierung — steigt, die Produktion jedoch damit nicht Schritt halten kann, ist Arbeits­losigkeit nicht zu vermeiden. Wenn die Produktivität jährlich um 3 %, das Sozialprodukt nur um 2 % oder gar nur um 1 % steigt, so sinkt die Nachfrage nach Arbeit, das Sozialprodukt läßt sich mit weniger Beschäftigten erstellen. Nur wenn die Produktion von Waren und - bezahlten - Dienstleistungen ebenso rasch zunimmt, wie die Rationalisierung fortschreitet, ist Massen­arbeits­losigkeit zu vermeiden.

Wer mit dieser - im Prinzip richtigen - Rechnung im Kopf die Statistiken der Vergangenheit studiert, dürfte sich wundern: Zumindest seit 1960, also seit zwanzig Jahren, ist die Produktivität immer rascher gestiegen als das Brutto­sozialprodukt.

Die Durchschnittszahlen seit 1961 für den Zuwachs von Produktivität und Sozialprodukt dürften manchen überraschen: (28)

1961-65:     Bruttosozialprodukt     +4,9%       Produktivität     +5,5%
1966-70:     Bruttosozialprodukt     +4,5%       Produktivität     +5,8%
1971-75:     Bruttosozialprodukt     +2,0%       Produktivität     +4,3%
1976-79:     Bruttosozialprodukt     +3,4%       Produktivität     +4,3%

Diese Zahlen sagen nicht mehr und nicht weniger als dies: Wäre Arbeitslosigkeit nur zu verhindern, wenn die Wirtschaft mindestens ebenso rasch wächst wie die Produktivität, so hätte schon in den frühen sechziger Jahren Massen­arbeitslosigkeit einsetzen und sich bis heute steigern müssen.

Daß dies nicht geschah, muß Gründe haben. Sie ergeben sich aus einer anderen Statistik, aus der über den Rückgang der Arbeitszeit: Die durchschnittliche effektive Arbeitszeit betrug 1960: 2154 Stunden 1965: 2061 Stunden (- 93) 1970:1969 Stunden (- 92) 1974:1853 Stunden (-116) 1978: 1804 Stunden (- 49)

Nicht weil das Wachstum den Wettlauf mit der Produktivität immer gewonnen hätte - es hat seit zwanzig Jahren diesen Wettlauf verloren -, blieb uns Massenarbeitslosigkeit erspart, sondern weil die Gewerkschaften Arbeits­zeitverkürzungen erzwungen haben, weil sie die durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeit von 1960 bis 1978 von 44,2 auf 40,1 Wochenstunden gedrückt haben. Auch künftig hat das herkömmliche Wachstum nur geringe Chancen, im Wettlauf mit der Produktivität die Nase vorn zu haben, selbst wenn ein Prognos-Gutachten29 dies ausgerechnet bis 1985 meint voraussagen zu können. Wenn durch mehr Investitionen — die zumindest teilweise der Rationalisierung dienen — die Wachstumsrate steigt, beschleunigt sich auch die Zunahme der Produktivität.

28)  Diese und die folgenden Zahlen sind entnommen dem Band 1 der Schriftenreihe Technologie und Beschäftigung, hg. vom Bundesministerium für Forschung und Technologie 
29)  In: Bd. 1 der Schriftenreihe Technologie und Beschäftigung, a.a.O., S. 48  

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Man wird den Unternehmern vor- oder nachrechnen müssen, daß es weder für ihre Lohnstückkosten noch für ihre Konkurrenzfähigkeit am Weltmarkt einen Unterschied macht, ob sie den Arbeitnehmern ihren Anteil an der gestiegenen Produktivität in Form von höheren Reallöhnen oder geringerer Arbeitszeit weitergeben. Beides ist seit Jahrzehnten in verschiedener Mischung geschehen.

Wenn die Zahl der Arbeitnehmer steigt, denen mehr Freizeit wichtiger ist als mehr Lohn, so wird sich dies in Tarifverhandlungen niederschlagen, zumal sich die Wünsche der Arbeitnehmer mit dem volkswirtschaftlich Vernünftigen decken. Und wenn immer mehr Menschen, besonders junge Elternpaare, Teilzeitarbeit verlangen, so werden Unternehmer und Gewerkschaften darüber nicht hinwegsehen können.

Wie immer wir neue Arbeit schaffen — und dies ist möglich —, die durchschnittliche Arbeitszeit wird weiter herabgesetzt werden müssen. Nur über die Formen dieser Verkürzung und über ihre Auswirkungen auf die Lohnpolitik wird man sinnvoll streiten können.

 

   Wachstum und soziale Sicherheit   

 

Wenn die öffentlichen Haushalte sich immer weniger ausgleichen lassen, weil die Folgen des Wachstums mehr kosten, als dieses Wachstum Geld in die öffentlichen Kassen einspielt, ist es nicht eben wahrscheinlich, daß die Träger unserer Sozialversicherung finanziell besser stehen. Die These, nur bei einer Wachstumsrate X werde das soziale Netz halten, dürfte auf wackligen Füßen stehen. Wenn dieses Netz je aus seiner Verankerung gerissen wird, dann nicht, weil bei geringeren Einnahmen in der Rentenversicherung die - im Kern bereits aufgegebene - bruttolohnbezogene Rente sich nicht mehr halten läßt.

Bedroht ist unser System sozialer Sicherung dann, wenn immer mehr Menschen allzufrüh in das soziale Netz geworfen werden und allzu wenige übrigbleiben, die dieses Netz halten. Im Jahr 1965 gab es pro hundert Arbeitnehmer etwa 68 Krankmeldungen jährlich; zwölf Jahre später waren es schon 90. 

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Im Jahr 1965 kamen auf hundert Krankenkassenmitglieder etwa 11 Krankenhausaufenthalte; zwölf Jahre später waren es etwa 14. Im Jahr 1965 war Frühinvalidität noch die Ausnahme. Heute ist sie eher die Regel: Im Jahr 1979 waren 56,7% aller Männer, die in Rente gingen, Frühinvaliden. Daß die Zahl der Alkoholiker, der Drogenabhängigen, der psychisch und psychosomatisch Kranken rasch zunimmt, muß hier nicht nachgewiesen werden.

Wenn soziale Solidarität auch in den achtziger Jahren vor allem darin bestehen sollte, alle Opfer möglichst unauffällig und hygienisch abzuschleppen, die unter die Räder unserer Konkurrenz- und Wachstumsgesellschaft gekommen sind, wird unserer Sozialpolitik der Atem ausgehen. Solidarität in den achtziger Jahren muß sich vor allem in dem Bemühen niederschlagen, weniger Menschen unter diese Räder kommen zu lassen.

Wenn in der Medizin die Zahl der Allergien dramatisch ansteigt, dann wird es Zeit, der Überschwemmung unserer Märkte mit immer neuen chemischen Stoffen entgegenzuwirken.

Wenn es stimmt, daß die großen Mengen von Phosphaten in unserer Nahrung bei Kindern Verhaltensstörungen hervorrufen, dann wird es Zeit, sie mit weniger Phosphaten — von der Wurst bis zum Kaugummi — zu traktieren.

Wenn die Erkrankungen der Atemwege, vor allem in Ballungsgebieten, in alarmierender Weise zunehmen, dann muß die Luftverschmutzung eingedämmt werden.

Wenn eine wachsende Zahl von Menschen durch Lärm im Betrieb oder zu Hause geschädigt werden, dann müssen wir dem Lärm zu Leibe rücken.

Wenn unsere Schulen zunehmend Neurosen und Psychosen erzeugen, dann müssen wir weniger über neue Psychopharmaka nachdenken als darüber, ob unsere Kinder nicht zu früh durch Konkurrenzkampf überfordert werden, während ihnen meist vorenthalten wird, was sie zur psychischen Entfaltung brauchen: Spiel, Tanz, Bewegung, Gesang, Musik, Basteln, Malen.

Wenn die Frühinvalidität überhandnimmt, dann wäre nicht nur zu fragen, was an unserer Arbeitswelt dazu führt; es wäre auch eine medizinische Praxis zu überprüfen, die oft mit den Kanonen von Sulfonamiden und Antibiotika nach den Spatzen einer Entzündung schießt, mit der die Selbstheilungskräfte des Körpers besser fertig würden, wenn man ihnen — und damit dem Patienten — die Zeit dazu ließe. 

Wenn Rauchen nachweislich die weitaus häufigste und wichtigste Ursache für Krebs ist, dann sollten wir dem Nikotin — wie die Schweden — mit allen Mitteln außer denen des Zwanges den Kampf ansagen. Wenn der Alkoholismus immer jüngere Menschen ruiniert, dann wird es Zeit, eine Werbung zu verbieten, die ihnen einredet, ein richtiger Kerl sei nur, wer sich dies und jenes hinter die Binde gießt.

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Wenn Langeweile und Hoffnungslosigkeit, der Mangel an persönlicher wie gesellschaftlicher Perspektive junge Menschen Drogenhändlern in die Arme treiben, dann sind Pädagogen und Politiker mehr gefordert als Mediziner und Polizisten.

Es ist nicht auszuschließen, daß auch von Sozialpolitikern noch für einige Jahre um so lauter nach Wachstum gerufen wird, je mehr Menschen im sozialen Netz liegenbleiben. Aber irgendwann ist die Einsicht fällig, daß Sozialpolitik in jedem Fall scheitern muß, wenn sie sich auf die Reparaturfunktion und die Entsorgungsfunktion für eine Gesellschaft festlegen oder abdrängen läßt, in der nur noch die Robustesten ohne sichtbare Schäden davonkommen.

 

Unser System sozialer Sicherheit ist also nicht überfordert, weil wir weniger Geld dafür aufbrächten, sondern weil die Lasten rascher wachsen als die Finanzen. Dies gilt auch für den zweiten großen Aufgabenbereich der Sozialpolitik: das nachträgliche Ausgleichen von Einkommensunterschieden, die offenbar allgemein als ungerecht und daher korrekturbedürftig empfunden werden. Auch hier ist auf die Dauer nur abzuhelfen, wenn eine weniger ungerechte Verteilung von Primäreinkommen und Rentenbezügen den sozialstaatlichen Apparat entlastet.

Eine Abschaffung der unteren Lohngruppen, eine Erhöhung der Primäreinkommen für ungelernte, meist auch unangenehme Arbeit, spart Milliarden, die für Wohngeld oder für Sozialhilfe ausgegeben werden müssen — und einiges an Bürokratie. Wenn ein Hilfsarbeiter im besten Alter eine fünfköpfige Familie nur mit Hilfe der verschiedensten Sozialleistungen ernähren kann, dann sollte sich niemand über ausufernde Sozialbürokratie ereifern, es sei denn, er wäre bereit, das Übel an der Wurzel zu packen: bei den Primäreinkommen. Solange jemand mit seiner Hände Arbeit nur ein Zehntel oder Zwanzigstel dessen verdienen kann, was einem anderen zugestanden wird, ist jedes Sozialsystem überfordert, das nachträglich so etwas wie Gerechtigkeit schaffen soll. Dies gilt übrigens auch für die Renten. 

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Den Beamten, die dem Bundeskanzler für seine Regierungserklärung errechnet haben, daß eine Rente nach 45 Versicherungsjahren heute im Schnitt bei 71 % «des vergleichbaren Netto-Einkommens seines aktiven Kollegen»30 liege, ist sicher kein Vorwurf zu machen. Nur: dies ist ein Durchschnittswert, und es sollen schon ausgewachsene Männer in einem durchschnittlich 80 cm tiefen See ertrunken sein. Leider gibt es immer mehr Rentner, die keine 45 Arbeitsjahre hinter sich haben, und überall schlagen die sehr unterschiedlichen Löhne und Gehälter auf die Renten durch.

Solche Durchschnittszahlen täuschen darüber hinweg, daß es heute eine wachsende Zahl von Rentnern gibt, die netto mehr verdienen als vorher im Arbeitsleben, während andererseits auch die Zahl der Rentner steigt, die auf Sozialhilfe angewiesen sind.

Solange nur darüber diskutiert wird, um welchen Prozentsatz alle Renten anzuheben sind, wundere sich niemand, wenn unsere soziale Sicherung mit der Zeit unbezahlbar wird.

Das soziale Netz wird nur halten, wenn

1. Sozialpolitik den Ursachen zu Leibe rückt, die immer mehr Menschen allzufrüh in das Netz werfen;

2. das Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit, das durch Sozialgesetze nachträglich erreicht werden soll, zunehmend bei den Primäreinkommen und Renten realisiert wird;

3. auf mittlere Sicht der zentrale Apparat des Sozialstaats entlastet wird durch kleinere örtliche Netze, durch — öffentlich geförderte — Selbsthilfegruppen, die näher an den Bedürfnissen der Menschen und überdies billiger arbeiten.

 

   Wachstum und Entwicklungsländer   

 

Entspringt das Argument, bei allzu bescheidenen Wachstumsraten kämen Arbeitsplätze und soziale Sicherung in Gefahr, meist verständlicher und — bleibt man in den gängigen Denkkategorien — auch berechtigter Sorge, so hat der Ruf nach mehr Wachstum im Interesse der Entwicklungsländer einen peinlichen, fast zynischen Unterton.

30)  Regierungserklärung vom 24.11.1980, Ziffer 74

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Keiner der Politiker oder Publizisten, die heute Wachstum fordern, damit wir besser den Armen in der Dritten Welt helfen können, hat zu Beginn der siebziger Jahre, als sie sich nicht über allzu schmale Wachstumsraten beklagen konnten, dies zum Anlaß genommen, die Entwicklungshilfe zu steigern. Im Gegenteil: Damals haben dieselben Leute gemeint, bei überschäumender Konjunktur müsse man die öffentlichen Haushalte und damit auch den für Entwicklungshilfe so klein wie möglich halten.

Hätten wir uns in der Mitte der sechziger Jahre entschlossen, jedes Jahr 10% unseres realen Wachstums an Entwicklungsländer abzugeben, also neun Zehntel für uns und ein Zehntel für die Entwicklungsländer — und eine solche Forderung wäre keineswegs revolutionär gewesen —, so hätte unsere Entwicklungshilfe zu Beginn der achtziger Jahre etwa das Zehnfache der 0,7% des Sozialprodukts betragen müssen, die von der UNO gefordert und von der Bundesregierung als Ziel anerkannt wurden. In Wirklichkeit bewegen wir uns knapp oberhalb der Hälfte dieser Richtzahl.

Das Wachstum in den Industrieländern hat nicht dazu geführt, daß ein größerer Teil des Sozialprodukts in die Entwicklungshilfe floß. Im Gegenteil: Hatten die OECD-Länder im Jahre 1960 noch 0,51 % ihres Bruttosozialprodukts an öffentlicher Entwicklungshilfe geleistet, so waren es 1968 noch 0,34 %, und seither bewegen sich die Zahlen um diese Marke, also um die Hälfte der geforderten und versprochenen 0,7 %.

Die Behauptung, Wachstum erlaube verstärkte Anstrengungen für die Dritte Welt, wird also durch die Tatsachen widerlegt. Aber sie ist auch vom Ansatz her unhaltbar. Wenn das Wachstum der letzten Jahrzehnte die Anforderungen an die öffentlichen Kassen überall da überproportional in die Höhe schnellen ließ, wo eine der sechs Zwangsfunktionen des Staates (s. S. 50ff) gefragt war, dann braucht sich niemand darüber zu wundern, wenn für die Entwicklungsländer nichts übrig blieb. Wenn zum Beispiel die Kosten für das Gesundheitswesen jedes Jahr um eine Summe stiegen, die der gesamten Entwicklungshilfe in diesem Jahr entsprach, dann mußte diese Hilfe eine Randerscheinung bleiben. Wenn die Wachstumsmotoren der Vergangenheit den öffentlichen Kassen mehr abverlangt haben, als sie ihnen geben konnten, dann läßt sich das jämmerliche Versagen in Blick auf das nie erreichte UNO-Ziel nicht allein der Feigheit von Politikern anlasten, die ihren Wählern nichts zumuten wollten.

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Dann hat das Versagen der industriellen Metropolen des Westens und Ostens dieselben Gründe, die in Brasilien dazu führen, daß die hochindustrialisierten Ballungsräume von Säo Paulo und Rio kaum in den bettelarmen Nordosten des Landes, ja nicht einmal in die Slums an den eigenen Rändern ausstrahlen. Die Metropolen hier wie dort verbrauchen die finanziellen Früchte des Wachstums, um mit den Folgen des Wachstums einigermaßen — und immer unzulänglicher — fertig zu werden.

Nun mag man einwenden, Wachstum erhöhe mindestens die Chancen der armen Länder, ihre Produkte bei uns abzusetzen; wachsende Volkswirtschaften verschlössen sich weniger den Importen aus der Dritten Welt als stagnierende. Dies dürfte im Prinzip kaum zu widerlegen sein. Allerdings helfen den Ländern des Südens schon mittelfristig weniger die Exporte an —immer noch zu billigen und oft rasch erschöpflichen — Rohstoffen; was helfen könnte, wäre der Export von Arbeitskraft in Form von Fertigwaren oder Halbfertigwaren.

Dieser aber beschränkt sich auf ganz wenige Länder, sogenannte Schwellenländer. Südkorea, Singapur, Taiwan und Hongkong, Länder, in denen ein Bruchteil der Menschen lebt, die nach Lebenschancen suchen, bestreiten zusammen 56% des Exports von Fertigwaren, also meist Textilien, Lederwaren, optischen oder elektrischen Geräten. Nimmt man Brasilien und Mexiko dazu, dann sind schon drei Viertel aller Fertigwarenexporte aus der Dritten Welt Sache dieser sechs Länder.

Auf der Soll-Seite des Wachstumskontos steht mehr: Das energieintensive Wachstum im Norden hat 1979 den zweiten großen Schub in den Olpreisen wenn nicht verursacht, so doch erleichtert. Es sind aber die Ölpreise, die alle nicht ölproduzierenden Länder der Dritten Welt in eine Verschuldung treiben, deren Ende nicht abzusehen ist. Betrug die Gesamtverschuldung der Entwicklungsländer 1973 noch 105 Milliarden Dollar, so waren es 1979 schon 330 Milliarden, 1981 dürften es 440 Milliarden werden. Der Schuldendienst nahm von 4,9 Milliarden Dollar 1973 auf 40 Milliarden Dollar 1979 zu, also noch rascher als die Verschuldung selbst, weil die Entwicklungsländer sich mit immer teureren Krediten privater Banken über Wasser zu halten versuchen. Wäre den armen Ländern auch nur die zweite große Erhöhung des Ölpreises erspart geblieben, so hätte ihnen das mehr geholfen als die Entwicklungshilfe aller Industrieländer zusammengenommen.

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Schließlich gibt es noch andere Abfallprodukte unseres Wachstumsprozesses. Es sind meist europäische, amerikanische oder japanische Firmen, die dafür sorgen, daß von Brasilien über Westafrika bis nach Sumatra tropische und subtropische Wälder in einem Tempo abgeholzt werden, das, nach Angaben der Weltbank, dazu führen dürfte, daß in zwanzig Jahren sich der Waldbestand um 40% verringert haben wird. Wenn dieser übelsten und radikalsten Umweltzerstörung in der Menschheitsgeschichte nicht rasch Einhalt geboten wird, könnten die ökologischen Lebensgrundlagen vieler Entwicklungsländer — und nicht nur die ihren — zerstört werden. Denn die Zunahme des Kohlendioxids in der Luft ist weniger auf die Verbrennung fossiler Energieträger zurückzuführen als auf die verringerte Absorption durch dezimierte Waldbestände.31)

Die Frage ist also nicht, wieviel Wachstum wir brauchen, um der Dritten Welt zu helfen. Die Frage ist, was — überwiegend bei uns selbst — geschehen muß, damit wir für die armen Länder brauchbare Partner werden können. Auch sie — davon soll später die Rede sein — sind daran interessiert, was bei uns wächst.

 

   Wachstum und Verteilungsgerechtigkeit   

 

Das wichtigste Motiv für eine undifferenzierte Wachstumspolitik war wohl bisher die Furcht, wenn nicht Jahr für Jahr alle etwas mehr bekämen, seien Verteilungskämpfe von bisher unbekannter Bitterkeit und Härte unvermeidlich.

Daran ist sicherlich eines richtig: Die bequeme Methode, das Murren über groteske und durch nichts gerechtfertigte Unterschiede in Einkommen und Vermögen durch den Hinweis zu überspielen: «Wenn wir weiter miteinander Wachstum schaffen, habt ihr mehr davon als von jeder Umverteilung», dürfte bei geringer werdenden Wachstumsraten nicht mehr verfangen. Ob dies nur ein Unglück wäre, darüber sollte man zumindest in politischen Gruppierungen links vom Zentrum unbefangen reden können. Aber es ist auch völlig offen, ob sich durch das uns bekannte Wachstum, auch wenn es anhielte, die Frage nach der Verteilung unterdrücken ließe.

31)  J. Bockris und E. Justi, Wasserstoff, die Energiequelle für alle Zeiten, München 1980, S. 23 f  

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Dies gelänge wohl nur, wenn bei der Mehrheit der weniger Begünstigten, also bei der großen Masse der Arbeitnehmer, die Überzeugung erhalten bliebe, daß — bei entsprechenden Wachstumsraten — der gehobene Konsum von heute sehr wohl der Massenkonsum von morgen werden könne. Daß dies lange Zeit in Grenzen zutraf, ist kaum zu bestreiten. Die Waschmaschine, die Ski-Ausrüstung, das Auto, der Urlaub am Mittelmeer, das alles konnten sich vor dreißig oder auch fünfzig Jahren nur wenige leisten, heute ist es — und vieles dazu — den meisten zugänglich. Daß dies so bleiben könne, habe ich, ohne die These im Detail zu belegen, 197532 bestritten. Das Ferienhaus am Luganer See, die eigene Jagd, das Reitpferd, das beheizte Schwimmbad, Golfspiel oder Dienstpersonal werde es auch dann nicht für jeden geben, wenn wir noch hundert Jahre raschen Wachstums hinter uns hätten.

Inzwischen ist Fred Hirsch dieser Frage sehr viel gründlicher und systematischer nachgegangen. Hirschs Ausgangspunkt: «Die unwiderstehliche Anziehungs­kraft des wirtschaftlichen Wachstums erklärt sich daher, daß es als ein höherwertiges Substitut für eine Umverteilung gelten konnte. Auch wenn die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemals an das heranreichen könnte, was die oberen Zehntausend besitzen, selbst wenn diese alle enteignet würden, so kann sie es doch nach herkömmlicher Auffassung mit Geduld in nicht zu ferner Zukunft ebensoweit bringen, und zwar durch das Wunder des aggregierten Wachstums. Aber sobald dieses Wachstum dazu führt, daß der Massenkonsum Flaschenhalseffekte im weitesten Sinne erzeugt (...), liegt der Schlüssel zu individuellem Wohlstand wiederum in der Fähigkeit, der Masse voraus zu sein. Ein generalisiertes Wachstum verursacht demnach nur ein größeres Gedränge.»33)

32)  Erhard Eppler, Ende oder Wende, München 1976 (Taschenbuchausgabe), S. 24  
33)  Fred Hirsch, Die sozialen Grenzen des Wachstums, Reinbek 1980,S. 22

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Wir kennen diese Flaschenhalseffekte aus dem Alltag der Städte, in denen man zu bestimmten Zeiten mit dem Fahrrad rascher vorwärts kommt als mit dem Mercedes. Eine Autobahn zum Bodensee erschließt eine herrliche Landschaft. Aber wenn der Arbeiter aus dem Stuttgarter Ballungsraum sich in der Kolonne gen Süden gequält hat, die Auspuffgase seines Vordermanns atmend, wenn er lange genug am See nach einem Parkplatz gesucht, allzu lange auf eine Tasse Kaffee gewartet hat, kurze Zeit eingezwängt in Scharen von Menschen am See spazierengegangen ist, zu Fuß durch dichten Autoverkehr den eigenen Wagen und schließlich, wieder in Kolonne, die Heimat erreicht hat, sind seine Nerven so strapaziert, daß der See ihn nicht mehr so lockt wie vorher.

Wenn alle sich auf die Zehenspitzen stellen, kann keiner besser sehen, kommentiert Hirsch diesen Vorgang. Wer im Privatflugzeug in den Tessin fliegen kann, wo die eigene Villa wartet, ist von alledem nicht betroffen, aber eben nur deshalb, weil es nicht beliebig viele Villen im Tessin geben kann und auch nicht — aus Sicherheitsgründen — beliebig viele Sportmaschinen in der Luft.

Hirschs eindrucksvollstes Beispiel setzt hier an: «Eine Stadtrandsiedlung bezieht ihre besondere Eigenschaft aus ihrem Verhältnis zu anderen soziogeographischen Formen, der Stadt und dem Land. Sie lebt von beidem. Die Nähe zur Stadt ermöglicht den Stadtrandbewohnern, bestimmte Vorteile des städtischen Lebens wahrzunehmen — Zugang zu Arbeitsplätzen, Unterhaltung und kulturellem Leben, alles abhängig von einer zahlreichen und konzentriert zusammenlebenden Bevölkerung. (...) Die Nähe zum Land bietet die Vorteile reinerer Luft, billigerer Grundstücke und leichten Zugangs zu freiem Gelände.

Diese Vorzüge des Stadtrandlebens machen sich sowohl bei Stadtbewohnern als auch bei Landbewohnern als Anreiz bemerkbar, in die Vororte zu ziehen. Dieser Wanderungsprozeß wird wiederum die Qualität des Stadtrandlebens zunächst vorteilhaft, ab einem bestimmten Punkt jedoch nachteilig verändern. Mit einer im Niedergang begriffenen City nach innen und einem weiteren Stadtrand nach außen anstatt des offenen Landes ändert sich der Charakter des Stadtrandgebietes und wird zum Teil sogar zerstört. (...) Individuelle Entscheidungen, jeweils für sich getroffen (...), haben in ihrer Gesamtheit zerstö-

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rerische gesellschaftliche Konsequenzen. Die Stadtrandsiedlung, als Zuflucht vor der Stadt gedacht, wird von denen verändert, die dort Zuflucht suchen.»34 Die herrschende ökonomische Theorie, meint Hirsch, habe «das ganze Ausmaß des modernen Konflikts zwischen individualistischem Handeln und der Befriedigung individueller Neigungen verschleiert.»35)

«Indem man tut, was einem Spaß macht, bekommt man immer weniger, was man möchte.»36

Wo es um rein individuell zu nutzende Güter geht, schafft Wachstum neue Konsumchancen. Da aber die meisten heute erstrebten Güter und Dienstleistungen gerade nicht vom isolierten einzelnen konsumiert werden können, weil der Verbrauch des einen die Belästigung des anderen ist, führt Wachstum zu einem Nullsummenspiel. Viele meinen vorwärtszukommen, aber sie strampeln sich ab in einer Tretmühle. Wenn die Menschen dies erkannt haben, beginnt der Verteilungskampf von neuem, nur härter.

Früher habe man von Umverteilung zuviel erwartet, heute vom Wachstum. Aber dieses Zaubermittel Wachstum kann Umverteilung weder schaffen noch ersetzen, es erzeugt nur die Illusion des Vorwärtskommens. Hoffnungen werden gleichzeitig geweckt und frustriert. «Was die Wohlhabenden von heute besitzen, das kann morgen unmöglich auch der übrigen Bevölkerung gegeben werden; und doch erwarten wir genau das, da wir als Individuen reicher werden. Statt die unbefriedigte Nachfrage an das ökonomische System zu dämpfen, verschlimmert das wirtschaftliche Wachstum sie nur noch. Das Rennen wird länger, aber die Siegesprämie wird nicht höher.»37

Aus diesen Überlegungen ließen sich durchaus auch reaktionäre Schlüsse ziehen: Wenn es bestimmte Dinge eben nicht für alle geben kann, so laßt uns klar trennen zwischen einer Elite, die hat, und einer Masse, die zusieht. Hirschs Konsequenz sieht anders aus: Wenn es stimmt, daß die Summe individualistischer Wünsche nicht — wie der klassische Liberalismus meinte — zu allgemeiner Wohlfahrt führt, könnte es dann nicht umgekehrt sein: daß wir unser individuelles Wohl bewirken, indem wir erst einmal das Wohl der Gesellschaft anstreben?

34)  ebenda, S. 64/65  
35)  ebenda, S. 28
36)  Dieser anschließende Satz ist in der deutschen Ausgabe mißverständlich übersetzt, daher hier eine eigene, freie Übersetzung von S. 10 des Originals, The Social Limits of Growth, Harvard 1976
37)  ebenda, S. 104/105

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«Statt daß die Verfolgung des Eigeninteresses zum gesellschaftlichen Gut beiträgt, trägt die Verfolgung des gesellschaftlichen Gutes zur Befriedigung des Eigeninteresses bei.»38)

Nur wenn die Gesellschaft, die societas, für alle saubere Luft, weniger nervenzehrende Transportmöglichkeiten, unvergiftete Nahrungsmittel, bessere Fernsehprogramme zur Verfügung stellen kann, hat auch der einzelne etwas davon.

Hirsch denkt auch darüber nach, wie der neu zu erwartende Verteilungskampf gemildert werden kann: etwa dadurch, daß besonders attraktive berufliche Positionen finanziell weniger großzügig honoriert werden:

Warum sollte man ausgerechnet die Stellen besonders hoch dotieren, bei denen die Arbeit Freude macht? Und warum soll gerade die Arbeit schlecht entlohnt werden, die besonders widerwärtig ist? Dadurch wird das Gedränge nach den ohnehin begehrten Stellen nur schlimmer. «Es ist zu erwarten, daß eine Verringerung der finanziellen Anreize die Gesamtnachfrage nach solchen Stellen verringert, weil dadurch die Bewerber abgeschreckt werden, für die der Vorteil der hohen Entlohnung im Vordergrund steht.»39

Wenn hier Fred Hirsch ausführlich zu Wort kam, so nicht nur, weil seine Arbeit fast alles in Frage stellt, woran unsere Nationalökonomie heute noch glaubt. Wichtiger ist: Auch wenn wir mehr Wachstum bekämen, als realistischerweise zu erwarten ist, würde dies am Wiederaufleben von Verteilungskämpfen nichts ändern. Wenn die Hoffnung getrogen hat, Wachstum könne uns Verteilungskämpfe ersparen, so könnte vielleicht umgekehrt ein Schuh daraus werden: Gerechtere Einkommensverteilung könnte den Zwang zu undifferenziertem Wachstum mildern.

 

38)  ebenda, S. 250 / 251  
39)  ebenda, S. 259

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   Wachstum und Energie — verschränkte Sachzwänge  

 

Die Themen Wachstum und Energie sind auf doppelte Weise verknüpft worden. Zum einen hieß es, ohne großzügige Energieversorgung könne es kein ausreichendes Wachstum geben, zum anderen sollten riesige Investitionen für die Bereitstellung von immer mehr Energie selbst zum Motor des Wachstums werden. So wurden Prognosen aufgestellt nach der Methode: Man lege ein Wirtschaftswachstum von x % (meist waren es 4 %) zugrunde, multipliziere sie mit Koeffizienten für den Verbrauch von Primärenergie (meist 1:1) und von Strom (meist 1:1,5), dann ergibt sich daraus der künftige Energiebedarf.

Noch in den Eckwerten und Grundlinien der Energiepolitik 1977, also der zweiten Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung, werden als Prämisse erst einmal 4% Wachstum des Bruttosozialprodukts für unerläßlich erklärt mit Begründungen, die uns mittlerweile nicht mehr ganz fremd sind:

«Bei geringerem Wachstum sind weder die aktuellen noch die künftig demographisch bedingten Beschäftigungsprobleme zu lösen. Für die Wirtschaft der Bundesrepublik wird längerfristig mit einem Produktivitätsanstieg von mindestens 3 bis 4 Prozent pro Jahr gerechnet (Vergangenheit 4 bis 5 Prozent). Würde das gesamtwirtschaftliche Wachstum unterhalb der Produktivitätsentwicklung liegen, käme es zu einerweiteren Verschärfung der derzeitigen Beschäftigungsprobleme.
— Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme könnte ohne ein solches Wachstum nicht gewährleistet werden.
— Die internen Einkommens- und Verteilungsprobleme sowie die derzeitigen und sich abzeichnenden Strukturprobleme in der Wirtschaft wären bei geringeren Wachstumsraten kaum zu lösen ...»

 

Am Anfang der Argumentationskette steht also das Wachstum. Welche Art von Wachstum gemeint ist, wird nicht gesagt. Aus diesem nicht näher definierten Wachstum, für dessen Notwendigkeit viele wichtige Argumente angeführt werden, wird dann gefolgert: 

«Dieses gesamtwirtschaftliche Wachstum kann nur erreicht werden, wenn die notwendigen Energiemengen zur Verfügung stehen. (...) Ein ungenügendes Energieangebot müßte zwangsläufig zu einer Verminderung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums führen.»

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Kurz: Wir brauchen für alle möglichen Zwecke ein Wachstum von x % und, um dieses Wachstum zu erreichen, einen zusätzlichen Energieverbrauch von y %. Dies führt dann zu Verbrauchszahlen, die Frank Haenschke so beurteilt: «Das wichtigste Instrument für moderne Energieverbrauchsprognosen ist nach wie vor der Malstift, mit dem die Linien der Vergangenheit einfach in die Zukunft verlängert werden.»40 Also das alte Lied: Experten errechnen Prognosen, Technokraten machen daraus Programme, und die Regierung findet, sie habe sich einem Sachzwang zu beugen.

Glücklicherweise hat die Wirklichkeit sich der Sachzwang-Ideologie entzogen; die Entwicklung verläuft jetzt schon, ohne große Sparanstrengungen von Seiten der Regierung, völlig anders, als die Energieprogramme es vorgesehen haben. Die meisten Programme und Prognosen sind längst Makulatur.

1973 hatte die EG für die Bundesrepublik Deutschland einen Primärenergieverbrauch für das Jahr 2000 von 1350 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten errechnet. Im Juli 1976 bot eine Studie für das Bundesministerium für Forschung und Technologie zwei Alternativen: eine mit 755, die andere mit 620 Millionen Tonnen. Dann bekamen wir aus Karlsruhe von einem Institut Alternativen, die zwischen 540 Millionen Tonnen und 400 Millionen Tonnen schwankten. Der Unterschied zwischen den 1350 im Jahr 1973 und den 620, die 1976 dem Bundesforschungsministerium errechnet wurden, ist 2:1, und der Unterschied zwischen den EG-Zahlen von 1973 und denen des Karlsruher Forschungsinstituts 3:1.

Bei ihrer ersten Fortschreibung des Energieprogramms (1974) rechnete die Bundesregierung für 1985 mit einem Primärenergieverbrauch von 555 Millionen Tonnen SKE, in der zweiten (1977) rechnete sie bereits mit 482 Millionen Tonnen SKE, und schon heute steht fest, daß auch diese Zahl nicht annähernd erreicht wird.41

 

40)  Frank Haenschke, Modell Deutschland? Die Bundesrepublik in der technologischen Krise, Reinbek 1977, S. 57 
41)  Siehe auch Dieter Rucht, Von Wyhl nach Gorleben, München 1980, S. 19,S.32ff  
42)  Siehe Bundestagsdrucksache 8/4341, S. 24ff

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Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages42 stellte 1980 vier Varianten zur Diskussion. Nach der ersten, die im Grunde fortschreibt, was gegenwärtig geschieht, brauchten wir im Jahr 2000 immerhin 600 Millionen Tonnen SKE, dreißig Jahre später 800 Millionen Tonnen SKE. Nach der zweiten Version, die ein geringeres Wirtschaftswachstum annimmt, wären wir in zwanzig Jahren bei 455 Millionen Tonnen SKE, in fünfzig Jahren bei 550 Millionen Tonnen SKE. Nach der dritten Version oder, wie es dort heißt, nach Energiepfad Nummer 3, kämen wir im Jahr 2000 auf 370 Millionen Tonnen SKE, dreißig Jahre später wären wir bei etwas weniger, nämlich 360 Millionen Tonnen SKE angekommen.

Und schließlich ist da noch von einem vierten Energiepfad die Rede, bei dem «der gesamte Umgang mit Energie auf eine neue, von der heutigen Praxis drastisch abweichende Basis gestellt wird».43

Dabei kämen wir im Jahr 2000 auf 342 Millionen Tonnen SKE, im Jahr 2030 auf wesentlich weniger, nämlich 300 Millionen Tonnen SKE. Dies stünde zur EG-Prognose von 1973 schon im Verhältnis 4:1.

Ähnlich sieht es beim Stromverbrauch aus. Professor Mandel rechnete 1967 vor, daß wir im Jahr 2000 etwa 280.000 Megawatt an Brutto-Engpaßleistung unserer Kraftwerke brauchten. Auch die Hälfte dieser Zahl dürfte viel zu hoch gegriffen sein, und wenn wir das Mandelsche Ziel erreichen wollten, müßten in den nächsten zehn Jahren jährlich etwa fünfzehn Atomkraftwerke von je 1200 Megawatt in Bau gehen. Noch 1975 war es gefährlich, gegen die Technokraten in den Ministerien des Bundes und der Länderden Zweifel daran zu äußern, daß der Stromverbrauch jährlich um 7% wachsen müsse. Heute stellen wir fest, daß in den sieben Jahren von 1974 bis 1980 der Zuwachs des Stromverbrauchs im Schnitt unter 3 % lag. 1980 lag er unter 1 %.

Wenn es nicht zu der immer wieder beschworenen Stromlücke kommt, dann nicht, weil gebaut wurde, was die Elektrizitäts­versorgungs­unternehmen bauen wollten, sondern weil sich die Verdoppelungszeit im Verbrauch inzwischen von zehn Jahren auf etwa dreißig Jahre erhöht hat — und dies, ohne daß politische Maßnahmen diesen Prozeß wesentlich unterstützt hätten.

 

43)  Siehe Bundestagsdrucksache 8/4341, S. 24ff

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Noch 1969 lag die Höchstbelastung des Stromnetzes mit 31.899 MW nur knapp unter der Brutto-Engpaßleistung der öffentlichen Kraftwerke von 32.379 MW. 1979 stand bereits einer Netzhöchstlast von 50.241 MW eine Engpaßleistung von 71.551 MW gegenüber. Sogar wenn man eine Sicherheitsmarge von 20 % einrechnet, bleibt eine Überkapazität von gut 11.000 MW, die sich in den frühen achtziger Jahren weiter erhöhen dürfte.

Es war die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages unter dem Vorsitz von Reinhard Ueberhorst, die in ihrem Bericht über die zukünftige Kernenergie-Politik mit der Sachzwang-Ideologie im Bereich der Energiepolitik aufgeräumt hat. Im Gegensatz zu allen Energieprogrammen des Bundes und der Länder hat sie Alternativen, «Pfade» beschrieben, die wir gehen können, wenn wir uns dafür entscheiden, auch für die Opfer, die jeder dieser Pfade auf seine Weise uns abverlangt. Energiepolitik hört auf, Exekution technokratisch ermittelter Sachzwänge zu sein, sie wird Entscheidung zwischen Alternativen. Die Wiedereinsetzung der Politik in ihre Pflichten und Rechte, auf dem Energiekongreß in Köln 1977 gefordert,44 beginnt sich zu vollziehen.

Sogar die Frage, ob es einen Sinn macht, Öl durch Atomenergie zu ersetzen, ist wieder offen. Einige Berechnungen der Kommission dazu sind höchst aufschlußreich. Pfad 1, der von einem Wirtschaftswachstum von 3,3 % bis zum Jahr 2000, dann von 1,4% ausgeht, keine größeren Anstrengungen zum Energiesparen vorsieht, führt nicht nur zu einem gewaltigen Ausbau der Atomenergie (77000 Megawatt im Jahr 2000, 165000 Megawatt im Jahr 2030, davon 84000 Megawatt aus Schnellen Brütern), dieser Pfad führt — entgegen allen Substitutionsthesen — zum höchsten Verbrauch an Öl und Erdgas. 

Während bei allen anderen Pfaden im Jahr 2000 weniger als 200 Millionen Tonnen SKE an Öl und Erdgas vorgesehen sind, brauchen wir ohne eine klare Sparpolitik im Jahr 2000 immerhin 250 Millionen Tonnen SKE. Wollte man den Ölverbrauch wenigstens in die Nähe von 200 Millionen Tonnen SKE drücken (210 Mio. t SKE), so wären 200.000 Megawatt Kernkraft für das Jahr 2030 nötig, und wollte man in größerem Umfang eine Substitution von Öl erreichen, so wären bis in fünfzig Jahren 500.000 Megawatt Kernkraft nötig, das entspräche etwa 400 Kraftwerken von der Leistungsfähigkeit von Biblis B (1200 MW).

44)  Erhard Eppler, Energie — Beschäftigung Lebensqualität, Referat auf der Energiekonferenz der SPD in Köln, 28. 4. 1977

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Da man heute für ein Kernkraftwerk eine Bauzeit von etwa zehn Jahren rechnet, müßten zum Zwecke der Ölsubstitution in den nächsten vierzig Jahren jährlich zehn Kraftwerke vom Kaliber Biblis genehmigt werden. Dies ist wohl noch wesentlich unrealistischer als alle radikalen Sparmaßnahmen, wie sie der Pfad 4 vorsehen muß. Wer also argumentiert, eine Politik des vernünftigen Umgangs mit Energie lasse sich nicht durchsetzen, muß sich fragen lassen, ob eine Politik des Nicht-Sparens etwa leichter zu erzwingen wäre.

Heute rechnet man mit etwa zwei Milliarden Mark für ein großes Atomkraftwerk, wobei die Kostensteigerungen deutlich höher sind als die Inflationsrate. Das wären dann etwa 800 Milliarden Mark. Dazu kämen die Kosten völlig neuer Leitungsnetze, denn mit den heutigen Netzen läßt sich die Raumheizung nicht in erheblichem Umfang auf Strom umstellen, und die Kosten für Bewachung und Überwachung atomarer Anlagen, atomarer Transporte, dazu kämen Entsorgungskosten, die all die zweistelligen Milliardenbeträge harmlos erscheinen ließen, von denen für Gorleben die Rede war. Wir wären also sehr rasch bei mehr als 1000 Milliarden Mark. Vielleicht lassen sich Wege in die Zukunft bauen, die nicht nur ungefährlicher, sondern auch billiger sind?

Im übrigen hat die Wirklichkeit die Substitutionstheoretiker längst überholt. Im Jahr 1980 sank der Ölverbrauch in der Bundesrepublik um 10 %, obwohl nicht mehr Kernenergie verfügbar war als im Jahr zuvor. Wenn jetzt der Anteil des Öls am Energieverbrauch auf 48 % gesunken ist (1973 waren es 55 %), dann nicht, weil Öl durch Kernenergie ersetzt worden wäre. Zwei Drittel des Minderverbrauchs 1980 gehen (laut Esso) auf sparsameren Umgang zurück, das wären ca. 6,5 % des gesamten Ölverbrauchs. Das ist mehr, als alle laufenden Kernkraftwerke gegenwärtig an Energie liefern.45)

 

Wer also gegen eine alternative Energiepolitik — davon soll später die Rede sein — mit Sachzwängen argumentiert, muß sich sagen lassen, daß die Diskussion schon um einige Schritte weiter ist; wer das Pathos der Machbarkeit bemüht — schön wär's, aber nicht durchsetzbar —, muß sich sagen lassen, daß wohl nichts auf diesem Gebiet schwerer durchzusetzen wäre als die gigantischen Pläne, die noch Mitte der siebziger Jahre in Amtsstuben und Vorstandsetagen ausgeheckt wurden. Die Energiepolitik könnte zum Waterloo der Sachzwang-Ideologie werden.

45)  Siehe Stuttgarter Zeitung vom 8.1. 1981, S. 1

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   Zwänge in den Köpfen  

 

Die Zeiten, in denen Politiker vermuteten, die Krisen unserer Welt spielten sich nur in den verwirrten Gehirnen überdrehter Intellektueller ab, dürften vorbei sein. Heute wäre zu fragen, ob nicht viele von den Zwängen, die uns den Atem nehmen, in den Köpfen von Politikern entstehen, die sich mit einem geistigen Rüstzeug, das vor der Zäsur ausreichen mochte, an die Aufgaben der achtziger Jahre heranmachen. Die Frage ist, wie viele von den Zwängen, unter denen heute Regierungen und Parlamente seufzen, hausgemacht, selbstgefertigt sind. Wer sich gezwungen sieht, bestimmte Wachstumsraten — die er dann meist nicht erreicht — zum Ziel zu erheben, stolpert von einem Sachzwang in den anderen und handelt sich nicht nur die Frustration dessen ein, der sein Soll nicht erreicht, sondern, falls er es einmal erfüllt, all die unvermeidlichen Enttäuschungen, die jenes Wachstum für uns bereithält, dem wir weder Richtung noch Inhalt zu geben vermögen.

Gelernte Marxisten würden hier einwenden, schließlich entsprängen die Zwänge einer kapitalistischen Industriegesellschaft nicht den Köpfen von politischen Führungsfiguren, sondern den Gesetzen der Kapitalverwertung, die eben nur unter der Peitsche des Wachstums funktioniere.

Auch wenn man einige relativierende Einwände dagegen nicht gelten lassen wollte: daß es Kapitalismus schon gegeben habe, ehe von Wachstum die Rede war, bei sehr bescheidenen oder ausbleibenden Wachstumsraten, daß es nicht darum gehe, wirtschaftliche Expansion generell zu bremsen, daß es immer Unternehmen gab, die größer wurden, und andere, die schrumpften oder verschwanden; wenn man also darauf beharrte, daß die wirtschaftlich Mächtigen an den Prozessen und an der Politik undifferenzierter Expansion interessiert seien, interessiert auch an dem hoffnungslosen Versuch, die materiellen und menschlichen Schäden der industriellen Wachstumsgesellschaft industriell zu reparieren, dann bleibt doch die Frage, warum Politiker, die aus der Arbeiterbewegung kommen, sich dem allem auch dann noch beugen sollten, wenn das Untaugliche des Versuchs offen zutage liegt.

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Es ist eben nicht — oder nur in den seltensten Fällen — so, daß die politisch Verantwortlichen, durch mehr oder minder sanfte Korruption gelenkt, jene Sachzwänge erfänden, die den Interessen der Großindustrie entsprechen. Für diese vulgärmarxistische These ließen sich auch dann nur wenige Beweise erbringen, wenn die Beziehungen zwischen Politik und Industrie durchsichtiger wären, als sie es sind.

Nein, die mir bekannten Politiker lügen oder heucheln keinesfalls, wenn sie erklären, ohne x % Wachstum laufe nichts mehr; sie glauben daran, auch wenn die Zahlen, die sie für x einsetzen, heute schon andere sind als gestern und morgen andere sein dürften als heute. Sie glauben an die Machbarkeit von Wachstum, auch wenn sie inzwischen sehr wohl verstehen, was Alvin Toffler mit dem Bild der Maginot-Linie meinte:

«Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß die Wirtschaftsfachleute , in dieser Hinsicht Generälen vergleichbar, dabei sind, ihre letzte Schlacht zu schlagen. Ihre Stabilisatoren und Technikern erinnern verdächtig an eine fadendünne ökonomische Variante der Maginot-Linie — imposante Befestigungsanlagen mit Kanonen, die in die falsche Richtung zielen.»46) 

Sie glauben daran, weil hier der Kern ihrer Legitimation berührt wird, jedenfalls der Legitimation, wie sie sie verstehen. Regieren, das bedeutet für viele, die heute Verantwortung tragen, den ökonomischen Wachstumsprozeß in Gang zu halten. Schließlich ist dies auch drei Jahrzehnte lang gelungen, erst spielend , dann nicht ohne Knirschen in der Maschinerie, schließlich mit Hängen und Würgen, aber eben: Wenn jemand drei Jahrzehnte mit einer — kaum angefochtenen — ökonomischen Theorie wie der von Keynes gearbeitet hat, und dies nicht ohne Erfolg, wer will dann von ihm noch verlangen, daß er umlerne? 

Was Fred Hirsch über die Legitimation der britischen Führungsschicht schreibt, gilt ohne Abstrich auch für die unsere:

«Nach dem Zweiten Weltkrieg stand das herrschende Establishment Englands zunehmend unter einem Legitimationsdruck, den Interessen aller Klassen und Gruppen zu dienen. (...) Die pragmatischen, anti-ideo­logischen und folgerichtig elitären Schlußfolgerungen der Keynesianer halfen dieser etablierten Schicht, sich selbst und die Wähler von ihrer Legitimität und der Vernünftigkeit ihrer politischen Maßnahmen zu überzeugen. Man kontrastierte diese mit den zerstörerischen Kräften eines überholten politischen Kampfes um abgestandene Ideologien und falsch verstandene Klassenkonflikte, die durch den neuen Ansatz einer gesteuerten Wirtschaft überwunden werden konnten. Dummheit, nicht Begehrlichkeit, war die Lieblingssünde der Männer an der Spitze: für eine politische Lenkung brauchte man keine Wahl zu treffen, sondern nur zu denken, zu zählen und zu verwalten.»(47)

Was, wenn dies nun plötzlich nicht mehr gelten sollte, wenn es wirklich darauf ankäme, nicht nur zu denken, zu zählen und zu verwalten, sondern eine Wahl zu treffen, nämlich zwischen dem, was wachsen und was nicht wachsen soll? Man würde Anstoß erregen, keineswegs nur in den Chefetagen der Konzerne, auch in den - jammerwürdig eintönigen - Wirtschaftsteilen unserer Zeitungen, wohl auch in den Hauptquartieren einiger Gewerk­schaften. So etwas nimmt niemand auf die Hörner, wenn es dem Selbstverständnis widerspricht, aus dem heraus er über drei Jahrzehnte guten Willens und guten Gewissens für seine Republik geschuftet hat.

Da geht er lieber seinen Weg zu Ende, dem Gesetz folgend, unter dem er angetreten.

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46) Alvin Toffler, Grenzen der Krise, a.a.O., S.13  
47)  Fred Hirsch, Die sozialen Grenzen des Wachstums, S. 181 f 

 

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Von Dr. Erhard Eppler