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1.3 - Futurologie, Futuristik und Utopie

Flechtheim-1987

 

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Gibt es aber überhaupt eine Zukunft, über die etwas Sicheres ausgesagt werden kann? In unserem wissen­schaftlichen Zeitalter ist die Zukunft in der Tat schon seit geraumer Zeit zum Gegenstand sogenannter Zukunfts­forschung geworden. 

Freilich war in den Gesellschafts­wissenschaften das Interesse an der Zukunft bereits früh erwacht. Schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte der englische Staatsmann und Autor der bekannten Utopie <Nova Atlantis>, Sir Francis Bacon — der den Ausspruch "Wissen ist Macht" getan hatte und der glaubte, eine systematische Mehrung des Wissens würde den Menschen zur Herrschaft über die Natur befähigen — die Idee eines Forschungs­instituts, das die Probleme der Zukunft lösen würde.

Für August Comte war die von ihm begründete Soziologie auch eine Art von Zukunftsforschung oder Futurologie. Er faßte deren Aufgaben in dem berühmt gewordenen Ausspruch zusammen: "Voir pour prévoir, prévoir pour prévenir." — "Wir wollen sehen, um vorauszusehen; und voraussehen, um [dem Unheil] zuvorzukommen." 

Im 19. Jahrhundert erwartete der Nationalökonom Friedrich List von einer Wissenschaft der Zukunft mehr Nutzen als von der Wissenschaft der Vergangen­heit. Die beiden großen "Experimente" der Neuzeit, das staatliche Experiment von Nordamerika und das industrielle Experiment von England, würden die National­ökonomie instand setzen, die Zukunft richtig zu deuten.

Für Alexis de Tocqueville waren die Weltmächte der Zukunft Nordamerika und — Rußland!

Sein Zeitgenosse Karl Marx, der einen "wissenschaftl­ichen Sozialismus" begründen wollte, erhoffte von der Zukunft den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus und zum Kommunismus oder, wie es sein Freund Friedrich Engels einmal formuliert hat, "den Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit"

Zu Beginn unseres Jahrhunderts — im Jahre 1902 — schlug der englische Schriftsteller H.G. Wells vor, Wissen­schaftler sollten die Zukunft bearbeiten.

1907 trug sich sein Landsmann, der Soziologe S.C. Gilfillan, mit dem Gedanken einer neuen Wissenschaft von der Zukunft, die er Mellontologie nennen wollte. Dieser rein griechische Begriff bliebe aber, wollte man ihn heute aufgreifen, für den Laien weniger verständlich als der Begriff Futurologie.

Diesen Terminus haben wir 1943 in den USA für eine systematische und kritische Beschäftigung mit der Zukunft vorgeschlagen. Er wird heute nicht nur in Deutschland, sondern auch in Spanien, Indien und anderen Ländern allgemein verwendet. Im Ostblock setzt man sich sehr intensiv mit dem, was man die "bürgerliche Futurologie" nennt, auseinander. 

<The Random House Dictionary> von 1978 enthält die Stichworte <futurology> und <futurologist>, obwohl man in den USA meist die Termini <future studies> und <futurism> vorzieht. Der Ausdruck Futurismus ist jedoch im Deutschen mißverständlich, da er leicht zur Verwechslung mit der Kunstrichtung dieses Namens rühren kann. Andererseits wird im deutschen Sprachbereich auch zwischen Zukunfts­forschung und Futurologie in der Regel nicht unterschieden.

Der Gegenstand der Futurologie — die Zukunft — erscheint uns in vielerlei Gestalt, subjektiv als Erwartung, objektiv als eine Epoche in der Entwicklung der Menschheit, nicht zuletzt aber als eine bloße Dimension der Zeit. Erwarten läßt sich Positives und Negatives. Schon in der Umgangssprache finden sich entsprechende Redewendungen. "No future" hat einen negativen Beiklang, positive Assoziationen stellen sich ein, wenn man sagt, dieser junge Mensch "hat Zukunft" oder dieses Unternehmen ist "zukunftsträchtig"

Aber auch der Tod gehört zur Zukunft. Immer steht Zukunft für etwas, das vor uns liegt oder auf uns zukommt.

Auch in früheren Zeiten interessierte sich der einzelne für das, was ihm und seinen Nächsten bevorstand. In diesem engen Rahmen war der homosapiens im Gegensatz zum Tier immer auch ein "homo prognosticus". Seine Sorge galt der Gründung einer Familie. Er wurde älter, freilich meistens nicht sehr alt, da die durch­schnittliche Lebenserwartung noch bis vor wenigen Jahrhunderten bei 30, 40 oder höchstens 50 Jahren lag.

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Der Mensch wußte auch, daß ihn früher oder später der Tod ereilen würde. Sein Interesse für den Tod und für das, was danach geschehen würde, war groß. In manchen frühen Gesellschaften standen der Tod und das Fortleben nach dem Tode sogar im Mittelpunkt. Dem Ägypter ging es entscheidend darum, die Körper seiner Pharaonen für immer vor dem Verfall zu bewahren. So wollte er die Zukunft durch Konservierung der Vergangenheit hier auf Erden bewältigen. Im Mittelalter hoffte der Christ, daß er nach seinem Hinscheiden direkt oder auf dem Umweg über das Fegefeuer in den Himmel aufsteigen würde — zugleich fürchtete er die Hölle. Das Morgen trat ihm als unvermeidliches und übermächtiges Schicksal entgegen, war doch für allzu viele die Erde ein Jammertal. Die Gegenwart und Zukunft glichen so sehr der Vergangenheit, daß der Mensch weitgehend ein von der Überlieferung geprägtes Gewohnheitstier bleib.

Diese Einstellung ist selbst heute noch keineswegs verschwunden. Der konservative Mensch — und in den meisten von uns steckt immer auch etwas vom Konservativen — erlebt die Gegenwart und die Zukunft als Fortsetzung der Vergangenheit, die er möglichst bewahren möchte. Eine eher restaurative oder reaktionäre Haltung zeigt, wer die Vergangenheit, wo sie verloren ist, wiederherstellen will. Wer dagegen wie etwa der Liberale des 19. Jahrhunderts an den Fortschritt glaubt, sieht die Vergangenheit kritisch.

Das gilt erst recht für den Radikalen und den Sozialisten, der auf das Reich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in der Zukunft hofft. Noch heute gibt es für den utopischen Revolutionär eigentlich nur die Zukunft, die er für so vollkommen hält, daß er die Vergangenheit und Gegenwart ganz abschreibt und oft jedes Mittel zur Verwirklichung seiner Zukunft heiligt. Umgekehrt haben einige Theoretiker des italienischen Faschismus die Vergangenheit und Zukunft total abgewertet, um die reine Aktion in der Gegenwart zu verherrlichen. Im letztlich nihilistischen Nationalsozialismus wurde eine mißdeutete Vergangenheit zum Trugbild einer glorreichen Zukunft.

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In der Krise unserer Tage muß der moderne Mensch mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft leben und fertig werden. Er kann die Vergangen­heit mit ihrem Einwirken auf Gegenwart und Zukunft nicht einfach ausklammern. Daß er in der Gegenwart lebt, versteht sich von selbst — aber wie? 

Genügt es - gleich den römischen Hedonisten - den Tag zu genießen (carpe diem), die Schönheit zu kultivieren, dem Beruf nachzugehen, kurz, der Forderung des Tages gerecht zu werden? All das mag sinnvoll sein, aber es reicht nicht mehr aus. Um die Probleme der Gegenwart und Zukunft erfolgreich zu lösen, müssen wir die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft meistern. 

So gesehen ist die Zukunft nicht nur die abstrakt-unverbindliche Vorwegnahme dessen, was später einmal sein wird, sondern auch schon eine praktische Herausforderung, der wir uns hier und heute zu stellen haben.

Noch ein Wort zur Zukunft als reiner Zeitdimension. Was unwiederbringlich hinter uns liegt, ist Vergangen­heit; was auf uns zukommt, ist Zukunft. Dazwischen eingeklemmt liegt die Gegenwart, die unter Umständen zu einer Trennungslinie oder zu einem bloßen Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft zusammen­schrumpft. Dementsprechend behandeln die Psychologen sie als ein Präsens, d.h. eine als Gegenwart wahrgenommene Zeitstrecke, die nur sechs Sekunden andauern soll. Freilich kann man auch dem Gestern und Morgen das Heute entgegenstellen. Dann hätte die Gegenwart schon eine Dauer von 24 Stunden. Individuell und subjektiv gesehen mag sie sich sogar für den Geschäftsmann oder Politiker, je nach dem Zweck, dem sie zu dienen hat, auf Tage, Wochen oder Monate erstrecken.

In der Politik kann die Gegenwart noch länger andauern. Eine Institution wie das Parlament kann in den nächsten drei oder vier Jahren im wesentlichen so zusammengesetzt bleiben wie in der jüngsten Vergangenheit. Die Grammatik kennt das Tempus des "zeitlosen Präsens". Für diese Gegenwart gilt, daß sie, insofern sie sich nicht oder doch nicht wesentlich verändert, mit der jüngsten Vergangenheit und der unmittelbar vor uns liegenden Zukunft identisch ist. Beispiele wären Aussagen wie "die Erde ist rund" oder "der Mensch ist sterblich". Damit rückt das zeitlose Präsens in die Nähe des Unveränderlichen, des Beständigen, ja des "Ewigen".

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Innerhalb der Zukunft wird of zwischen einer kurzfristigen Zukunft von ein bis fünf Jahren, einer mittel­fristigen Zukunft von fünf bis zwanzig Jahren, einer langfristigen Zukunft, die über fünfzig Jahre hinausgeht, unterschieden. Manche meinen, die Futurologie solle sich vor allem auf die mittelfristige Zukunft der nächsten fünf bis zwanzig Jahren konzentrieren. Heute getroffene Entscheidungen würden sich erst in diesem Zeitraum auswirken. Bei der langfristigen und fernen Zukunft kämen so viele Faktoren ins Spiel, daß eine derart lange Zeitspanne nicht voraussehbar sei.

Wer diesen Standpunkt vertritt, ist häufig einem grundlegenden Wandel gegenüber skeptisch. Ihm liegt an einer möglichst genauen Vorhersage der voraus­berechen­baren Zukunft. Für diese Art der Zukunftsforschung steht die Prognostik im Mittelpunkt. Mit ihrer Hilfe will man ohne eigene Stellungnahme und aktive Einwirkung die jeweils möglichen positiven und negativen Ereignisse und Daten, Tendenzen und Trends voraussagen oder gar vorausberechnen. Die Zukunft erscheint dann als eine verlängerte Gegenwart. Der Status Quo wird fortgeschrieben, grundlegend Neues gibt es, wenn überhaupt, nur im Bereich des technischen Fortschritts. 

Ein solches Vorgehen ist typisch für die sogenannte Establishment-Futurologie. Einer ihrer bekanntesten Vertreter war der inzwischen verstorbene Herman Kahn, dessen Zukunftsbild sich gar nicht so sehr von den Vorstellungen eines Wall-Street-Brokers unterscheidet.

Im Gegensatz zu den Establishment-Futurologen konzentriert sich das Hauptinteresse der sogenannten kritischen Futurologen auf die längerfristige Zukunft. Sie halten grundlegende Veränderungen für möglich und wünschenswert und wissen, daß sie Zeit brauchen. Es geht also letztlich um eine Gesamtschau möglicher, wahrscheinlicher, insbesondere aber auch wünschenswerter Zukünfte. Zugleich ist die kritische Futurologie stets bemüht, einen konkreten Beitrag zur Verwirklichung einer besseren Zukunft zu leisten. Sie ist also immer auch praxisorientiert. Wir sprechen hier daher sowohl von einer Theorie oder Philosophie wie auch von einer Politik und Pädagogik der Zukunft. 

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Zwar bildet für eine umfassende Philosophie der Zukunft auch die Prognostik einen unabdingbaren Bestandteil, und keine praktische Politik und Pädagogik ist ohne sinnvolle Planung denkbar; doch stehen Prognostik und Planung bereits so stark im Mittelpunkt des Interesses, vor allem der Establishment- Futurologen, daß sich ganze wissenschaftliche Institute mit einem Stab von Spezialisten ihrer annehmen. Dagegen ist das Interesse für die Philosophie, Politik und Pädagogik der Zukunft, die hier als Futuristik bezeichnet werden, noch so gering, daß unsere Hauptaufmerksamkeit diesen vernachlässigten Problemkreisen gilt. Infolgedessen werden Prognostik und Planung erst im Anschluß an die Futuristik separat behandelt werden.

Die kritische Futurologie befaßt sich nur mit der Zukunft des Menschen und der Menschheit und überläßt die Beschäftigung mit der Zukunft etwa der Sterne oder des Weltalls anderen Disziplinen. Dabei begnügt sie sich auch nicht mit einer reinen Methodenlehre der Futuristik, Prognostik und Planung oder Analyse von deren Wechselbeziehungen. Sie läßt sich nicht auf reine Wissenschaft im klassischen Sinne beschränken, sondern rückt durch ihren Praxisbezug in die Nähe einer Kunde oder gar einer Kunst.

Ein Vergleich mit der Medizin mag verdeutlichen, was hier gemeint ist. In dieser werden die wissenschaftlichen Befunde aus so unterschiedlichen Disziplinen wie der Chemie und Biologie, der Physiologie und Psychologie unter dem einen beherrschenden Gesichtspunkt des Kampfes gegen die Krankheit und des Dienstes an der Gesundheit des einzelnen Patienten zusammengefaßt. Der "Patient" der Futurologie ist die Menschheit.

 

Die etablierten Wissenschaften von heute neigen dazu, sich auf ein stets enger werdendes Gebiet zu spezialisieren. Zugespitzt formuliert gilt als größter Forscher, wer immer mehr über immer weniger weiß. Das war nicht immer so. Noch im 19. Jahrhundert waren die Gesellschafts­wissenschaften, die ja als Mitbegründer der Futurologie anzusehen sind, umfassend und zukunfts­orientiert. Die Probleme jedoch, die sie zu bewältigen hatten, waren relativ begrenzt und überschaubar.

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Heute werden die Herausforderungen, die es zu meistern gilt, immer gewaltiger. Deshalb können die neuen Fragestellungen kaum noch im Rahmen der etablierten, spezialisierten Wissenschaften konstruktiv angegangen werden. Wie soll z.B. die Nationalökonomie, die Psychologie oder die Anthropologie für sich allein mit dem Problem des Atomkriegs fertig werden?

Da das unmöglich ist, mußten Forschungsansätze gefunden werden, die sich zu neuartigen, praxisorientierten, sogenannten Superwissenschaften ausweiteten. Man denke an die Friedensforschung, die Entwicklungs­forschung, die Umweltforschung oder auch die Demokratie- und Emanzipations­forschung. Der Futurologie bleibt vorbehalten, die zukunftsweisenden Aspekte dieser monumentalen "Zubringer­wissen­schaften" heraus­zu­arbeiten, sie zusammenzufassen und so mögliche, wahrscheinliche und wünschenswerte Zukünfte zu entwerfen.

Um es noch einmal zu wiederholen: Die Futurologie besteht aus Futuristik, Prognostik und Planung. Die Futuristik wiederum umfaßt die Philosophie, die Politik und die Pädagogik der Zukunft. Die Zukunfts­philosophie steht also an erster Stelle. Dieser Begriff ist älter, als man denkt. Er taucht schon bei Ludwig Feuerbach in seiner Schrift <Grundsätze der Philosophie der Zukunft> auf, aber auch bei dem Junghegelianer August Cieszkowski.

Fast immer ist man in der Philosophie von einem geschlossenen System "ewiger Wahrheiten" ausgegangen, das Veränderungen, wenn überhaupt, nur in begrenztem Ausmaß zuließ. Das total Neue wurde von der Schul­philosophie allzuoft übersehen. Die Philosophie der Zukunft hingegen will keine fertigen und geschlossenen Systeme produzieren, vielmehr die dynamischen Aspekte herausarbeiten, ohne dabei die in der Vergangenheit begründeten und noch fortdauernden Erscheinungen zu vernachlässigen. 

Sie muß sich damit begnügen, einen "approach" oder Denkansatz zu bieten. Stets und ständig stellt sie alles und jedes radikal in Frage. Der Phantasie und Imagination wird freier Lauf gelassen. Auch dort, wo über die Analyse von Einzel­erscheinungen hinaus eine Zusammenschau und Synthese gewagt wird, bleibt ein solches Gesamtbild immer provisorisch und revisionsbedürftig.

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Den Ausgangspunkt der Zukunftsphilosophie bildet die kritische Auseinandersetzung mit der Utopie und der Ideologie. Die Futurologie setzt sich dabei auch mit Gegenutopien, die in unserem Jahrhundert als Schreckensvisionen berühmt wurden, auseinander, um Menschen aufzurütteln und sie zu motivieren, derartige Fehlentwicklungen zu verhindern. Schließlich nimmt sie die Ideologie, die die Vergangenheit verabsolutiert und die Gegenwart nur im Lichte der Vergangenheit sieht, ins Kreuzfeuer; sie enthüllt deren Doppelbödigkeit und nimmt die angebliche Entideologisierung als eine bloße Verschleierung der Ideologie unter die Lupe.

Das utopische Denken und Verhalten mag sehr unterschiedliche Formen annehmen. Entscheidend bleibt stets die radikale Revolte gegen eine allzu rasche Versöhnung mit der unvollkommenen Welt — der unzulänglichen Gegenwart wird eine ideale Zukunft gegenübergestellt. Die Utopien artikulieren das mehr oder weniger bewußte Sehnen des Menschen nach einer Gesellschaft und Kultur ohne Entmenschung und Entfremdung, in der Frieden und Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität herrschen sollen. Bloch spricht vom "Wunderland", "das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat".

In der Vorgeschichte der Utopie begegnen uns Wahrsager und Chiromantiker, die vor Jahrtausenden das Rätsel der Zukunft glaubten lösen zu können. Schon früh verkündeten Seher und Propheten das Kommen eines "neuen Jerusalems" oder des Tausendjährigen Reiches. Im 4. Jahrhundert vor Christi Geburt schrieb der griechische Philosoph Plato seine <Politeia> (auf deutsch <der Staat>) — noch immer eine der bedeutendsten Zukunftsvisionen aller Zeiten. Ohne eine eschatologische, chiliastische und utopische Zukunftserwartung wäre das frühe Christentum nicht denkbar.

Das christliche Mittelalter entwickelte erstaunlicherweise keinerlei Utopien. 

Erst im Zeitalter der Renaissance und Reformation veröffentlichte der später hingerichtete und dann von der römischen Kirche heilig­gesprochene englische Lordkanzler Sir Thomas More oder St. Thomas Morus seine berühmte <Utopia>, die der Gattung der die Zukunft positiv schildernden sogenannten Staatsromane ihren Namen gab. Morus' <Utopia>" ist ein dialogisch angelegter Reisebericht über eine glückliche Insel, auf der die Menschen in einer kommunistischen Gemeinschaft frei von Ausbeutung und Unterdrückung harmonisch zusammenleben. 

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Danach stieg die Zahl der Utopien rasch an. Waren es im 16. Jahrhundert elf, so schon im 18. Jahrhundert neunzig. In einem utopischen Werkkatalog werden für die Zeit vom 16. bis zum 20. Jahrhundert rund tausend von Utopien handelnde Titel aufgeführt. Besondere Bedeutung kommt zu Beginn des 19. Jahr­hunderts den Visionen der utopischen Sozialisten von einer neuen Gesellschaft zu.

 

Auch heute werden noch Utopien entworfen, die aber oft im Gewand der Science-fiction erscheinen. Man kann sie bedenkenlos zur Utopie im weitesten Sinne des Wortes zählen. Von solchen Publikationen soll es allein in den USA bis 1953 schon über 6000 gegeben haben. Schließlich wird in unseren Tagen die positive Utopie der Hoffnung von ihrem Gegenteil, der Gegenutopie, verdrängt, die die Zukunft in den düstersten Farben schildert. 

Am bekanntesten sind neben Samjatins <Wir> (schon 1920 geschrieben!) die <Schöne neue Welt> von Aldous Huxley, die 1932 erschienen ist, und George Orwells <1984>.

Huxley beschreibt eine Robotergesellschaft, in der die Massen glücklich sind, aber dumpf dahinvegetieren, während die Machthaber, die "General­kontrolleure", alle Entscheidungen nach ihrem Gutdünken treffen. Orwell, dessen Buch 1949 publiziert wurde, zeichnet unter dem Eindruck von Hitlers und Stalins Totalitarismus das Bild einer totalen Schreckensherrschaft, in der das "Friedens­ministerium" einen ständigen lokalisierten und geregelten Krieg führt, das "Ministerium der Liebe" für Verfolgung und Folter zuständig ist und das "Ministerium der Wahrheit" den Apparat einer allgegenwärtigen Lügenpropaganda dirigiert. "1984", das wir inzwischen leider in manchem — nicht nur zeitlich — eingeholt haben, warnt vor einem Schrecken ohne Ende.

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Ein Ende mit Schrecken beschreibt der Tiefenpsychologe und Direktor des Zentrums für Psycho­somat­ische Medizin in Gießen, Horst Eberhard Richter, in einer Schrift, die man als "Super-Orwell" bezeichnen könnte. Dieses Buch erschien 1981 unter dem Titel <Alle redeten vom Frieden> und schildert einen sich wahnsinnig beschleunigenden Rüstungswettlauf.

Richter meint, es hätten "wenige erfundene Zitate genügt", um "dem makabren Rüstungswettlauf die innere Logik eines programmgemäß ablaufenden General­stabs­planes zu unterstellen". So ist der Hauptteil seines Buches eine "Rekonstruktion eines Dramas!" Intelligente Wesen von einem anderen Stern finden heraus, "daß eine mehrtausendfache nukleare Explosion die Erdvölker vernichtet hat". Sie fragen sich, warum die Menschen sich selber umgebracht haben, und kommen zu der Schlußfolgerung, die Menschen hätten erkannt, daß ihre Zivilisation unheilbar krank geworden sei, daß ihnen nur noch ökologische Katastrophen, schleichendes Siechtum, Armut und Elend bevorstünden.

Nun habe eine gewisse Führungselite aus den östlichen und westlichen Geheimdiensten eine Strategie entwickelt, um die "Volksmassen in Ost und West zum willigen Mitspielen in einem schaurigen Drama zu verführen. Kernidee des Stückes war es, eine Spaltung zwischen Ost- und Westvölkern künstlich zu vertiefen und den gemeinsamen Suizid als einen wechselseitigen Kreuzzug der so halbierten Völkergruppen erscheinen zu lassen". Ein internationales Geheimkabinett mit der Code-Bezeichnung Hermes habe den Plan in langjähriger Arbeit entwickelt. Führend sei dabei der Top-Doppelagent SC (Strategie Commander) gewesen. Also eine Art von Weltregierung, um der Welt ein Ende zu setzen!

Im Himmel der Utopie und in der Hölle der Gegenutopie werden Grenzsituationen dargestellt, die von der Zukunftsphilosophie relativiert und integriert werden müssen. Der "Gewalt und Gefahr der Utopie" (Jean Amery) gegenüber verweist die Zukunftsphilosophie auf die Bedingtheit und Unzulänglichkeit auch der Zukunft.

 

Erheblich gefährlicher für eine positive Zukunftsbewältigung als die Utopie sind die Ideologie und die sogenannte Entideologisierung. Beide nehmen von der Zukunft als einer neuen, eigenen Dimension keine Kenntnis. Sie glorifizieren vielmehr die Vergangenheit und Gegenwart, von denen sie behaupten, daß sie auch die Zukunft prägen.

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Als ideologisch werden hier nun nicht nur jene philosophischen Haltungen und Systeme angesehen, die nachzuweisen versuchen, daß die gegenwärtige Welt die beste aller möglichen Welten ist, sondern auch alle politisch-sozialen Richtungen und Weltanschauungen wie die des Konservativismus und Traditional­ismus im weitesten Sinne, die den Status quo rechtfertigen und gegebenenfalls rücksichtslos und fanatisch verteidigen. Unser Ideologiebegriff unterscheidet sich mithin radikal von der gängigen Definition all jener Konservativen, die jedwede Form utopischen, aber auch kritisch-futurologischen Denkens als Ideologie abwerten.

 

Was die Fähigkeit des Menschen, die Zukunft zu gestalten, anbelangt, so ist der Konservative und Traditionalist eher skeptisch und pessimistisch. Das hat schon Heinrich Heine sehr schön formuliert: 

"Die einen sehen in allen irdischen Dingen nur einen trostlosen Kreislauf; im Leben der Völker wie im Leben der Individuen, in diesem, wie in der organischen Natur überhaupt, sehen sie ein Wachsen, Blühen, Welken und Sterben: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. <Es ist nichts Neues unter der Sonne!> ist ihr Wahlspruch; und selbst dieser ist nichts Neues, da schon vor zwei Jahrtausenden der König des Morgenlandes ihn hervorgeseufzt. Sie zucken die Achsel über unsere Zivilisation, die doch endlich wieder der Barbarei weichen werde; sie schütteln den Kopf über unsere Freiheitskämpfe, die nur dem Aufkommen neuer Tyrannen förderlich seien; sie lächeln über alle Bestrebungen eines politischen Enthusiasmus, der die Welt besser und glücklicher machen will und der doch am Ende erkühle und nichts gefruchtet habe; in der kleinen Chronik von Hoffnungen, Nöten, Mißgeschicken, Schmerzen und Freuden, Irrtümern und Enttäuschungen, womit der einzelne Mensch sein Leben verbringt, in dieser Menschen­geschichte sehen sie auch die Geschichte der Menschheit." 

Die konservative Ideologie lehnt von vornherein jede Form des Wandels ab, da jede Veränderung der Gegenwart Risiken birgt, gegen die es keine Versicherung gibt. An den "ewigen Werten", denen die höhere Kultur zu dienen hat, darf um Himmels willen nicht gerüttelt werden.

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Schon aus diesem Grund verabsolutiert und legitimiert der Ideologe die Erscheinungen und Institutionen, welche die ewigen Kulturwerte angeblich schützen: die traditionelle Familie und die etablierte Kirche, das Beamtentum und die Armee, Blut und Boden, Landschaft und Landwirtschaft, Besitz und Bildung. Vor allem wird der starke Staat als Garant von Ruhe und Ordnung verherrlicht.

Paradoxerweise verdammt der Ideologe heute die Reformen und Revolutionen von morgen, auf die er sich jedoch, sobald sie Gegenwart geworden sind, zum Beweis für die Vollkommenheit der dann bestehenden Ordnung berufen wird. Andererseits ist der Konservative sogar bereit, die rasanteste wissen­schaftlich-technische Entwicklung (die seine Gegner nun in Frage zu stellen beginnen!) erst recht zu fördern, ohne gewahr zu werden, daß er so die Ordnung, die er um jeden Preis aufrechterhalten möchte, und damit sich selbst am Ende ernsthaft gefährdet.

War in früheren Epochen unmerklichen Wandels das Festhalten am Status quo durchaus adäquat (selbst der geniale Aristoteles konnte die Sklaverei für naturgegeben halten), so müßte heute in unserem dynamischen Zeitalter ein konsequenter konservativer Ideologe, will er jegliche Veränderung verhindern, hinter den Status quo zurückfallen und zu einem Reaktionär und Anwalt der Restauration werden. Dies hieße, zurück ins Mittelalter oder auch ins Altertum, zurück zu Folter und Sklaverei, zurück zum Kampf aller gegen alle, ein Weg, der sich z.B. in der islamischen Bewegung heute andeutet. In letzter Konsequenz müßte der konservative Ideologe vielleicht sogar die Überwindung des Kannibalismus als Dekadenz, Verweichlichung und Humanitäts­duselei verdammen! Mag die Identifizierung des Konservativen mit dem jeweiligen, gerade zu seinen Lebzeiten erreichten Stand der historischen Entwicklung verschiedene Gründe haben, so dürfte der handfeste materielle Vorteil dabei auch eine gewisse Rolle spielen.

 

Ebenso wie der Begriff der Ideologie gegensätzliche Interpretationen zuläßt, ist der Terminus "Entideolog­isierung" zweideutig, je nachdem, von welchem Ideologiebegriff man ausgeht. Wäre Entideologisierung nichts als eine Wendung von jedweder Form des Fanatismus zu unpathetischer Nüchternheit und einem Abbau von Affekten und Idiosynkrasien, von Sentiments und Ressentiments gewesen, so wäre gegen eine solche Reaktion auf die jüngste Vergangenheit kaum etwas einzuwenden.

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Oswald Spengler hat bereits den Niedergang der großen politischen und sozialen Ideen, Ideale und Programme für unser Jahrhundert prophezeit. Eine gewisse Abschwächung des utopischen und ideologischen Bewußtseins als welthistorischer Vorgang ist in der Tat nicht zu leugnen. Man kann ihn mit dem Älter- und Reiferwerden des Individuums vergleichen, das einige Jugendideale verliert und "realistischer" (aber auch müder und zynischer!) wird. Ein solches Müdewerden ist wohl nicht untypisch für unser Zeitalter, in dem sich angesichts allzu großer Versprechungen und allzu hoher Erwartungen überall Enttäuschung breitmacht. Skepsis und Zweifel können aber auch so überhandnehmen, daß der Flug der Phantasie gelähmt, jegliches gesellschaftliche Experiment verworfen und auf die hausbackensten Rezepte zurückgegriffen wird. Eine solche "Entideologi­sierung" läuft auf eine neue verkappte Ideologie hinaus, die alle utopischen oder kritischen Versuche im Keim erstickt.

Genau das geschah nach 1945 in der sich neu etablierenden Bundesrepublik. Während die Niederlage zu einer Abkehr von der Ideologie des National­sozialismus zwang, wurde der "Systemveränderer" als solcher stigmatisiert und der kapitalistische Status quo über jeden Zweifel erhoben. Als loyaler Juniorpartner der Vereinigten Staaten perfektionierte der westdeutsche Staat jene Wesenszüge der Neuen Welt, für die der Satz "America's business is business" typisch ist, wobei die utopische und radikal demokratische Tradition des "amerikanischen Traums" verschwiegen wurde.

 

Unter dem Deckmantel eines primitiven Antikommunismus und einer streitbaren Demokratie wurde die Beschäftigung mit allen umfassenderen politischen und geistigen Fragen suspekt. In einer Ära des großen Geschäfts und der kleinen Politik, des Parochialismus der öffentlichen Meinung und des Partikular­ismus der Pressionsgruppen, der Institutionalisierung der Bewegungen und der Bürokratisierung der Parteien wurden die Spannungen, Gegensätze und Meinungsverschiedenheiten leicht hinter den Kulissen — in den Ausschüssen und Büros, in den Wandelhallen und auf den "Parties" — bereinigt oder gar vertuscht.

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Der saubere Kompromiß wurde zum Kuhhandel. Die politischen Richtungen und Parteien rückten angeblich oder auch zeitweise tatsächlich aneinander. Die Gegensätze von kapitalistisch und sozialistisch, von konservativ und liberal, von christlich und weltlich verschwammen. An die Stelle des alten starren Systemdenkens trat ein impressionistisches Oberflächenbewußtsein. Es wurden nur noch Einzelfragen diskutiert und von Fall zu Fall pragmatisch-opportunistisch gelöst.

Aus dem Zustand der angeblichen Ideologiefreiheit, der der Bundesrepublik den Anschein von etwas "Natürlichem" und "Problemlosem" verlieh, entwickelte sich somit eine neue Ideologie der Ideologielosigkeit, die einer umfassenden Rechtfertigung und Erklärung — von systematisch fundierter Kritik ganz zu schweigen — nicht mehr bedurfte und die vorhandene Machtstruktur nicht in Frage stellte. Die Philosophie der Zukunft hingegen, die den Weg in eine wünschenswerte Zukunft weisen soll, muß nicht nur jedwede Machstruktur in Frage stellen, sondern auch eine zukunftsorientierte Praxis vorbereiten. Die spezielle Aufgabe einer Zukunftspolitik als Teil der Futuristik und damit auch der Futurologie besteht somit in einer genaueren zukunftsorientierten politologischen Analyse, die in erster Linie untersucht, wie Macht, Gewalt und Herrschaft abgebaut und durch funktionale Leitung und sachgerechte Führung ersetzt werden können.

Auf eine "Politik der Zukunft" zielten schon im 17. Jahrhundert die Naturrechtssysteme von Hermann Conring, Pufendorf und Thomasius; im 19. Jahr­hundert sprach der Föderalist Constantin Frantz sogar von einer "Partei der Zukunft"

In der langen Geschichte der Menschheit verfolgte man in der Politik nur selten futurologische Ziele. In der Regel stand die Politik als Machtpolitik im Dienste der Erhaltung der bestehenden Strukturen und Systeme, war also in dem hier beschriebenen Sinne ideologisch oder konservativ ausgerichtet.

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Obwohl der Durchschnittsmensch sich im allgemeinen mit den gegebenen Verhältnissen abfindet, hat er für deren Unzulänglichkeit ein mehr oder weniger unbewußtes Gespür. Meistens gelingt es den für sakrosankt erklärten Priestern, Königen und Staatsoberhäuptern, ja dem "Vater Staat" selbst, sich zu legitimieren und sich so jeder Verantwortung hier auf Erden zu entziehen. Um so größer wird aber dann das Bedürfnis der Bürger, alle Schuld für bestehende Mißstände auf die in der Tat nicht so selten korrupten, bornierten und machtgierigen Politiker abzuwälzen. Diese Haltung ist dort besonders ausgeprägt, wo durch die Demokratisierung alte Legitimitätsvorstellungen ins Wanken geraten sind und sich noch keine neue konstruktive Zukunftssicht auftut. In den Vereinigten Staaten sind "dirty politics" und der "dirty politician" sprichwörtlich. In der Bundesrepublik wird die Glaubwürdigkeit des Politikers immer geringer.

Aber auch schon in vordemokratischen Zeiten, als noch kaum jemand wagte, das Gottesgnadentum der Herrscher radikal in Frage zu stellen, prangerte der schwedische Kanzler Oxenstierna im 17. Jahrhundert die Engstirnigkeit und Kurzsichtigkeit politischer Herrschaft mit den Worten an: "Quam parva scientia regit mundum." Und wenn heute Soziologen von der Lernfeind­lichkeit und Unproduktivität der Macht sprechen, so findet sich auch dieser Gedanke schon im Buch der Richter des Alten Testaments. Dort steht zu lesen, daß die fruchttragenden Bäume — der Ölbaum, der Feigenbaum und der Weinstock — sich nicht zum König wählen lassen wollten. Nur der "unproduktive" Dornbusch war dazu bereit.

Typisch für die Entfremdung der Macht sind nicht nur Korrumpierbarkeit, Borniertheit und Mangel an Produktivität, sondern auch Unterdrückung und Ausbeutung. Auch das wußte schon Jahwe, der sein auserwähltes Volk vor dieser Teufelskraft bewahren wollte. Als die Juden ihn um einen König baten, der sie wie alle Heiden richten sollte, erklärte er ihnen, wie ein solcher König ihnen ihre Söhne und Töchter, ihre Äcker und Weinberge, ihre Saat und ihre Esel wegnehmen würde: "... und ihr müßt seine Knechte sein. Wenn ihr dann schreien werdet zu der Zeit über euren König, den ihr euch erwählt habt, so wird euch der Herr zu derselben Zeit nicht erhören."

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Denn nicht zufällig verführt die Macht die ewiggestrigen Machthaber, ihre Herrschaft zu verewigen. Sie fürchten, daß schon die geringste Innovation oder Reform sie ihrer Privilegien berauben könnte. Enthält alles politische Handeln ein Element der Macht, so kann es diese auch dazu nutzen, den Menschen dienende echte Werte zu verwirklichen. Für eine globale , und zukunfts­orientierte Gesellschaftspolitik werden heute die Verwirklichung alter humaner und machtfremder Werte — Frieden und Wohlfahrt, Freiheit und Gleichheit — zur Forderung des Tages.

 

Einige wenige Vorbilder für eine solche zukunftsorientierte Politik lassen sich in der Geschichte ausfindig machen. Als vor etwa 200 Jahren Nordamerika von Zerfall und Krieg bedroht war, gelang es weitsichtigen Politikern wie Hamilton, Madison und Jay, die öffentliche Meinung für das von ihnen neuentdeckte Prinzip des Föderalismus zu gewinnen. So errichteten sie mit dessen Hilfe ein stabiles "kontinentales", das heißt für ihre Zeit fast globales, Regierungs­system, das ihrem Kontinent auf Jahrzehnte hinaus Frieden und Freiheit von Militarismus sicherte. 

Ein Jahrhundert später nutzten in England die Fabier mit Erfolg ihr Wissen, um die Probleme der Armut und der Not einer Lösung näherzubringen. Diese kleine Gruppe von Intellektuellen war 1883 auf Initiative des amerikanischen Erziehers Thomas Davidson als eine Diskussionsgemeinschaft entstanden, zu der die Schriftsteller H.G. Wells und George Bernhard Shaw, die Sozialwissenschaftler Graham Wallace, R. H. Tawney sowie Sidney und Beatrice Webb gehörten. Die Fabian Society war bahnbrechend für die Gründung der Arbeiterpartei in England und bereitete deren Erfolge vor. 1945 gehörten ihr von 62 Mitgliedern der Labour-Regierung 45 an. 

In den sechziger Jahren haben die Gelehrten der Prager Akademie der Wissenschaften, das sogenannte Richta-Team, in jahrelanger intensiver Arbeit das Reform­programm vorbereitet, das 1968 einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" möglich machen wollte. Diese Gruppe, die man mit Recht eine Art illegales Zentralkomitee der Kommunistischen Partei genannt hat, hat wirklich Zukunftsphilosophie und darüber hinaus auch praktische Gesellschaftspolitik vorbereitet und betrieben. 

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Bei allen drei zeitlich und inhaltlich so unterschiedlichen Unternehmungen fällt auf, daß deren Politik sich zwar im Rahmen eines Staates, das heißt einer hauptsächlich das Gewaltmonopol ausübenden Institution abspielt, daß aber dennoch das Element der Macht in den Hintergrund tritt, um rational-funktionaler Leitung einen größeren Spielraum einzuräumen.

Für die Politik der Zukunft wäre wesentlich, daß Politiker auf Privilegien verzichten und zur republikan­ischen Tugend der Frugalität zurückfinden. Die Massen­medien würden statt Werbung und Propaganda Bildung und Information vermitteln. Zuchthäuser werden durch sozialtherapeutische Kliniken ersetzt. Die bewaffneten Streitkräfte werden in unbewaffnete Friedenskräfte umgewandelt. An die Stelle von gewaltsamem Aufstand, Terrorismus und Krieg treten die vielfältigen Formen gewaltfreien Widerstandes nach dem Vorbild eines Mahatma Gandhi oder Martin Luther King.

 

Sind das nun nicht Beispiele für utopisch-illusionäres Denken? Sollte sich die Politik nicht gerade davon freihalten, da sie doch - wie Bismarck es formuliert hat - nur die Kunst des Möglichen sein kann? 

Nun haben in der Tat in der Vergangenheit auch zukunfts­orientierte Politiker oft nur das Mögliche angestrebt und es gelegentlich sogar erreicht. Aber sie handelten in einem begrenzten Raum und in einer geruhsamen Zeit. Heute ist der Raum der Politik global, und die Zeit für Zukunftspolitik wird immer knapper. Vergessen wir aber auch nicht, daß im Gegensatz zu Bismarck der Revolutionär Karl Liebknecht, der Soziologe Max Weber und der Dichter Hermann Hesse übereinstimmend betonten, die Politik sei die "Kunst des Unmöglichen".

Wer hat nun recht? 

In der Tat ist die Scheidelinie zwischen Unmöglichem und Möglichem nicht immer deutlich gezogen. Was heute noch unmöglich scheint, mag doch morgen wider alles Erwarten möglich werden. Selbst der sonst so skeptische Max Weber hat zudem einmal erklärt, daß in der Politik auch das Mögliche nicht erreicht worden wäre, "wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre".

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Die Pädagogik der Zukunft muß mit einem ähnlichen Dilemma fertig werden wie die Zukunftspolitik. Um den Menschen dazu zu bringen, daß er sich für eine wünschenswerte Zukunft entscheidet und diese politisch durchsetzt, muß sie einen neuen Menschentypus, den "homo humanus", heranbilden oder in der Sprache der Aufklärer die "Menschwerdung" des Menschen anstreben. Darunter verstanden Rousseau und Pestalozzi, Kant und Fichte, daß jeder Mensch sich selber finden und voll entfalten sollte.

Schlüsselbegriffe dieser Denker waren Mündigkeit und Emanzipation. Was bedeuten diese nicht leicht zu erfassenden Vorstellungen heute konkret für eine Zukunftspädagogik? Mündigkeit und Emanzipation erfordern umfassende Innovationen und Reformen in der Pädagogik, die weit über die Familie und Schule hinausreichen und die gesamte Gesellschaft und Kultur umgestalten würden. Etwas genauer formuliert heißt das, daß die Menschen von morgen im Rahmen einer Weltgesellschaft lernen, friedlich miteinander umzugehen, ihren Lebensunterhalt unter Schonung der Umwelt sicherzustellen und ihrer kulturellen Vielfalt ungehindert Ausdruck zu verleihen. 

 

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Endgültigkeit seien hier einige Vorschläge wiedergegeben, die heute in der Erziehungswissenschaft der westlichen Welt diskutiert werden:

  1. Neue Sozialisationsformen durch intimere Mutter-Kind- Beziehungen, Verbalisierung von kindlichen Gefühlen, Enttabuisierung des Trieb­lebens, Verarbeitung der langen frühkindlichen Abhängigkeit.

  2. Stärkung der personalen und sozialen Ich-Identität, nicht zuletzt durch autogenes Training, Meditation, Joga und andere in östlichen Kulturen entwickelte Methoden. Stärkung des Entscheidungs- und Durchsetzungsvermögens, der Kreativität und Neugier.

  3. Entwicklung von Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit, Abbau von Vorurteilen; Empathie, Fähigkeit zu Kooperation und Solidarität. Alphabet­isierung und Schaffung einer Weltsprache als globales Verständigungsmittel, Friedenserziehung.

  4. Förderung eines Dialogs zwischen allen am Bildungsprozeß Beteiligten, insbesondere zwischen Erziehern und Heranwachsenden.

  5. Bewußte Auseinandersetzung mit den Problemen der Zukunft. Organisierung von Zukunftswerkstätten, die die Teilnahme aller an der Zukunfts­gestaltung erleichtern. Lehrangebote, Vorlesungen, Seminare im Bereich der Zukunftsforschung an Schulen, Hochschulen usw.

  6. Vermittlung von Verfahrens- und Studienmethoden anstelle von Anhäufung spezialisierten Fachwissens.

  7. Beseitigung der Trennung der Bildungsträger, Zusammenwirken von Familie, Schule, Kirche und Gewerkschaft, Schaffung neuer Gemein­schaften, innerhalb derer das Individuum erzogen und gebildet wird und sich selber "erzieht".

  8. Lebenslange Bildung als "education permanente".

Alle diese pädagogischen Maßnahmen sollen dazu führen, daß das Selbstbewußtsein der Menschen gegenüber ihren "Oberen" oder "Vorgesetzten" gestärkt wird. Diese so dringlich nötigen Innovationen und Reformen der Pädagogik im Dienste der Zukunft stoßen nicht nur auf den Widerstand der überlieferten Institutionen, der Privilegierten und auf den "Unverstand der Massen", sie werden paradoxerweise auch dadurch erschwert, daß die neue Generation, ob sie es will oder nicht, von der alten geformt werden muß.

Die lange Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern verstärkt bei ihm die Tendenz, die Eltern und Erzieher nachzuahmen und es ihnen gleichzutun. Es verinnerlicht die Herrschaft, die der Erwachsene über das Kind ausübt. Andererseits hat es schon immer Generationskonflikte gegeben. In unserer sich so rasch ändernden Zeit verliert die ältere Generation in ganz anderem Ausmaß als früher an Autorität. Nur insofern ihre Erfahrungen und Kenntnisse wirklich veralten und wertlos werden, ist diese Entwicklung zu begrüßen.

Jedenfalls sollten die Alten den Jungen zur Mündigkeit verhelfen, um dann von ihnen zu lernen. Die bedeutende Ethnologin Margaret Mead spricht sogar von einem neuen präfigurativen Stil, weil das Kommende vom Kind repräsentiert werden wird. Sie fordert, "das noch im Mutterleib ruhende Kind müsse zum Symbol des zukünftigen Lebens werden".

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 Die Megakrise unserer Zeit und ihre sieben Herausforderungen