(Prof.) Mario Kessler (2007) Flechtheimbiografie

1970-1998: Futurologie, Ökologie und Sozialismus.

(2 ) Sozialismus und Ökologie

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Weiter zu (3) Zukunft retten (S. 194)

 

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Durch das Futurologie-Buch war Ossip Flechtheim in der Bundesrepublik Deutschland sehr bekannt geworden. Zeitgleich erfuhr der Kommunismusforscher eine breite internationale Rezeption. Mehrere seiner Arbeiten wurden übersetzt: Bereits 1969 erschien <History and Futurology> in Italien. Das KPD-Buch kam 1970 in Italien, 1971 in Japan sowie 1972 in Frankreich heraus. Die von Flechtheim edierten bzw. eingeleiteten Schriften Rosa Luxemburgs und Arthur Rosenbergs wurden, dank des rührigen Verlegers Hans Riepl, in den Paperpack-Ausgaben der Europäischen Verlagsanstalt zur oft benutzten Seminarliteratur der Studenten - nicht zuletzt am Otto-Suhr-Institut. 1971 wurde die neunbändige Dokumentation zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland abgeschlossen.68

Vielleicht noch gefragter war die einbändige Zusammenfassung Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland, die 1973 erschien. Als Autor wie als Herausgeber war Flechtheim weiter unermüdlich tätig: Von 1968 bis 1971 edierte er die Zeitschrift Futurum, in der nahezu alle wichtigen Zukunftsforscher der westlichen Welt, aber auch Reform­kommunisten zu Wort kamen; neben den (teilweise schon im Westen lebenden) tschechischen und slowakischen Kollegen waren dies Forscher aus Jugoslawien und mit Pavel Apostol sogar aus Rumänien. Gemeinsam mit Emesto Grassi gab Flechtheim einen Band heraus, der Texte zur sozialistischen Selbstverwaltung aus Jugoslawien vorstellte. 1983 edierte Flechtheim den Sammelband Marx heute. Pro und contra. Daran beteiligten sich Linke so unterschiedlicher Provenienz wie Emest Mandel und Helmut Gollwitzer, Helmut Hirsch und Leo Kofler, Peter von Oertzen und Fritz Vilmar.

Das Haus der Flechtheims in der Rohlfsstraße blieb ein Treffpunkt für Freunde und Kollegen des In- und Auslandes. Dafür stand nun ein Zimmer mehr zur Verfügung: Die Tochter Marion war 1968 zum Studium der Psychologie nach Hamburg gegangen. Dort lernte sie ihren Mann Detlev Thimm kennen, der sich auf den Beruf des Kinderarztes vorbereitete. 1970 heiratete das Paar und zog später nach Berlin. Ossip Flechtheim sollte noch erleben, dass die Enkelkinder Johannes und Julia zu Gesprächspartnern und Johannes bereits zum Leser seiner Bücher wurde.

1974 wurde Flechtheim mit Erreichen der Altersgrenze von 65 Jahren emeritiert zusammen mit Richard Löwenthal. Der Physiker und Sozialwissenschaftler Rolf Kreibich, Präsident der Freien Universität Berlin, würdigte Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Gelehrten:

"Während Flechtheim seine Aufgabe als Wissenschaftler primär darin sah, den Umgang mit der Macht zu beobachten und zum öffentlichen Problem zu machen, versuchte Löwenthal Macht und Politik durch geistige Impulse, durch seine mannigfaltigen Schriften und Beratungsfunktionen konkret zu beeinflussen. Im wissen­schaftlichen Bereich trat Flechtheim mit bahnbrechenden Arbeiten über Struktur und Entwicklung der deutschen Parteien hervor. Löwenthal verhalf mit seinen scharfen, glanzvollen Analysen der Internationalen Politik zum Durchbruch dieses Fachgebietes in der deutschen Politikwissenschaft. [...] Neben der Innenpolitik war die mögliche Gestaltung der Zukunft die entscheidende Fragestellung im Werk von Ossip K. Flechtheim."69

Nach der Emeritierung verstärkte Ossip Flechtheim sein Engagement innerhalb der Humanistischen Union. Die 1961 gegründete überparteiliche Vereinigung wollte, wie ihr Initiator Gerhard Szczesny schrieb, die Verletzung von „Grundprinzipien der Demokratie“ öffentlich machen. Die Gründungsmitglieder sahen die Humanistische Union weniger als eine Bürger-

[68] Vgl. für diese Angaben die Bibliographie im Anhang des vorliegenden Buches. 
[69] Rolf Kreibich, Politische Wissenschaft im Dienst des demokratischen Sozialismus, in: FU-Info, 1975, Nr. 11, S. 5f. (enthalten im NL Flechtheim, Mappe Lebenslauf).

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rechtsorganisation an, sondern vielmehr als eine lose Vereinigung linksliberaler Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die eine Gegenöffentlichkeit zur herrschenden konservativen Grundstimmung der Adenauer-Ära herstellen sollte.70 

Flechtheim war ihr am 22. November 1961 beigetreten vor allem, weil er hier eine Möglichkeit sah, seiner Opposition gegen die Notstandsgesetze Gehör zu verschaffen.71 Seit 1963 gehörte er dem Beirat der Humanistischen Union an mit einer kurzen Unterbrechung von 1975 bis 1977, als er Mitglied des Bundes­vorstandes der Union war. Im Jahre 1986 sollte ihm die Organisation den Fritz-Bauer-Preis verleihen.72 

wikipedia  Fritz-Bauer-Preis 

Im Februar 1975 wurde das private Institut für Zukunftsforschung, das heutige Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT), gegründet. Das von Rolf Kreibich geleitete Institut, dessen Ko-Vorsitzender Flechtheim zunächst war, suchte interdisziplinär eine Vielzahl projektfinanzierter Themen zu bearbeiten.73 So konnte einer Reihe von Wissenschaftlern zumindest ein zeitweiliger Arbeitsplatz geboten werden. Flechtheim sah mit Sorge, dass die so notwendige Reform der westdeutschen Wissenschafts­landschaft allmählich stecken blieb. Am Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre war eine Reihe von Universitäten und Fachhochschulen im ganzen Land gegründet worden. Der quantitative und qualitative Aufschwung in Forschung, Lehre und Publikationsaufkommen war zunächst unübersehbar. Doch schon um 1973-74 begannen die Kürzungen der Pläne und Reformprogramme. 

Noch aber erhielten die besten Schüler Flechtheims die Chance auf eine akademische Laufbahn. Das Otto-Suhr-Institut erweiterte sein Stellenangebot und damit seine Palette wissenschaftlicher Tätigkeit in Lehre und Forschung. Es blieb noch viele Jahre eine der führenden Einrichtungen im Fach, auch über den deutschen Rahmen hinaus.

Flechtheims Lehrstuhl-Nachfolger wurde sein Schüler Fritz Vilmar. Dies entsprach auch Flechtheims Wunsch. Vilmar, Jahrgang 1929, war lange Zeit in der gewerk­schaft­lichen Bildungsarbeit tätig gewesen, kannte also die Menschen, von denen seine zahlreichen Schriften über politische Bildung handelten. Seine Dissertation über Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus war 1965 einer der ersten relevanten Beiträge zur Friedensforschung als neu entstehender Fachdisziplin.74 

70  Unterlagen der Humanistischen Union, Haus der Demokratie, Berlin: Rundschreiben Gerhard Szczesnys vom 19. Juli 1961. Diese und die folgenden Dokumente wurden dem Verfasser von Sven Lüders, dem Geschäftsführer der Humanistischen Union, über Marion Thimm zur Verfügung gestellt.

71  Ebenda: Flechtheim an den Vorstand der Humanistischen Union, Brief vom 22. August 1963.

72  Ebenda: Sven Lüders an Marion Thimm, Brief vom 23. Oktober 2006.

73  Es ging aus dem 1968 entstandenen Zentrum Berlin für Zukunftsforschung hervor. 1968 beklagte Karl Steinbuch (Falsch programmiert, S. 127), dass in der Bundesrepublik und Westberlin zwar 150 wissenschaftliche Institutionen sich mit der Erforschung der Vergangenheit, aber keine mit der Analyse der Zukunft befassten. 36 Jahre später musste Rolf Kreibich feststellen: „Es ist grotesk, daß wir in der Bundesrepublik rund 3.000 Institutionen haben, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen. Dagegen gibt es nur ein Institut, nämlich das unsere, das das Wort Zukunft im Namen trägt.“ Rolf Kreibich, Wir wissen viel über die Zukunft, in: die tageszeitung (taz) vom 11. Oktober 2004. Einen institutionellen Überblick der dennoch bereits um 1970 intensiv betriebenen Zukunftsforschung in der Bundesrepublik gibt aus DDR-Sicht Bönisch, Futurologie, S. 243.

74  Vgl. Fritz Vilmar, Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus. Mit einem Vorwort von Ossip K. Flechtheim, Frankfurt 1965.

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Ein weiterer Schüler Flechtheims, Theodor Ebert, hatte in seiner Untersuchung zum gewaltfreien Aufstand einen wichtigen Aspekt des Verhältnisses von struktureller versus manifester Gewalt analysiert und somit einen theoretischen Beitrag zum Problem des friedlichen Gesellschaftswandels in Krisensituationen geleistet. Seine pazifistische Überzeugung verband ihn mit Flechtheim.75 Auch Ebert erhielt eine Professur am Otto-Suhr-Institut. Beide Flechtheim-Schüler trugen zur Festschrift ihres Lehrers bei. An diesem 1975 publizierten Sammelband beteiligten sich hochkarätige Forscher aus Europa und den USA, darunter Johannes Agnoli, Pavel Apostol, Erich Fromm, Heinz Joachim Heydom, John H. Herz, Robert Jungk, Jifi Kosta, Peter von Oertzen und Hermann Weber.76

Zugleich legte Flechtheim zwei neue Textsammlungen aus eigener Feder vor: Ausblick in die Gegenwart enthält Interviewtexte der Jahre 1969 bis 1974 zu den beiden Problemkomplexen Futurologie und Legitimationsprobleme der Parteidemokratie. Darin fasste er im Wesentlichen die Gedanken seiner vorliegenden Aufsätze und Bücher zusammen. Wer "die großen Werte der Vergangenheit bewahren will", schrieb Flechtheim seinen konservativen Kritikern ins Stammbuch, "kann dies nicht dadurch erreichen, daß er die überlieferten Strukturen und Institutionen einfriert, vielmehr nur so, daß er sie dynamisch weiterentwickelt."77

Zeitgeschichte und Zukunftspolitik enthielt (hier meist bereits behandelte) Schriften aus drei Jahrzehnten und war Irmgard und Heinz-Joachim Heydom gewidmet. Nicht weniger als siebzehn der zwanzig Texte sollten 1991 in einer weiteren Essaysammlung, Vergangenheit im Zeugenstand der Zukunft, noch einmal publiziert werden.78 Der älteste Text aus Zeitgeschichte und Zukunftspolitik, ein kurzer Beitrag zu Problemen der wirtschaftlichen Rechnungsführung aus dem Jahre 1940, war eine der wenigen Äußerungen Flechtheims zu einer speziellen Frage der Ökonomie. Die jüngsten, 1974 publizierten Beiträge behandelten mit der Futurologie und der Parteipolitik zwei Schwerpunkte aus Flechtheims Schaffen. Aufsätze zum dritten Arbeitsgebiet, der Marxismus- und Kommunismusforschung, waren allerdings nicht enthalten. Doch kündigte Flechtheim hierzu ein eigenständiges Buch an.79

 

75 Vgl. Theodor Ebert. Gewaltfreier Aufstand - Alternative zum Bürgerkrieg. Mit einem Vorwort von Ossip K. Flechtheim, Frankfurt 1970. „Er ist sehr interessiert an meinen Ideen zum gewaltfreien Widerstand und er ist wahrscheinlich der einzige angesehene Pazifist unter den deutschen Politikwissenschaftlern“, schrieb Ebert über seinen Lehrer. Theodor Ebert, Von der Liebe im Atomzeitalter. Vier Versuche und ein Happy End, Manuskript, Berlin 2007, S. 98.
76 Christian Fenner/Bemhard Blanke (Hg.), Systemwandel und Demokratisierung. Festschrift für Ossip K. Flechtheim, Frankfurt/Köln 1975. Eine kleinere Festschrift mit vorwiegend studentischen Arbeiten hatte Theodor Ebert bereits zu Flechtheims 60. Geburtstag initiiert. Vgl. Theodor Ebert (Hg.), Ziviler Widerstand. Fallstudien aus der innenpolitischen Friedens- und Konfliktforschung, Düsseldorf 1970.
77 Ossip K. Flechtheim, Ausblick in die Gegenwart, München 1974, S. 156 (Hat der Konservatismus eine Zukunft? Gespräch mit Adelbert Reif, 1972). In diesem Interview, wie in früheren Veröffentlichungen, sah Flechtheim das Dilemma des Konservatismus darin, dass dieser die Vergangenheit in dem Maße idealisiere, in dem er die Zukunft fürchte und diese nur nach dem Bilde der gesellschaftlichen Vergangenheit gestalten wolle, so sehr der Konservatismus technische Neuerungen in dieses Bild zu integrieren suche. Vgl. auch Ossip K. Flechtheim, Die Antiquiertheit des Konservatismus, in: Ders., Eine Welt oder keine? Beiträge zur Politik, Politologie und Philosophie, Frankfurt 1964, bes. S. 90f.
78 Ossip K. Flechtheim, Vergangenheit im Zeugenstand der Zukunft, hg. von Egbert Joos, Berlin 1991.
79 Ossip K. Flechtheim, Zeitgeschichte und Zukunftspolitik, Hamburg 1974, S. 9f.

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Es erschien 1978 unter dem Titel <Von Marx bis Kolakowski>,80 Dieses Werk galt Flechtheim als die Quintessenz seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Geschichte, Gegenwart und möglichen Zukunft des Kommunismus. Gewidmet war es dem österreichischen Ökonomen und Freund Eduard März zum 70. Geburtstag.

Flechtheim behandelte darin Grundlinien des marxistischen Denkens von Marx und Engels über Luxemburg und Liebknecht bis hin zu modernen Marxisten: Wolfgang Harich, Svetozar Stojanovic, Eugen Löbl und Leszek Kolakowski, die auch unter persönlichem Risiko heterodoxe Auffassungen vertraten und verteidigten. 

Eine systematische Beschäftigung mit Lenin, Trotzki und Bucharin fehlt jedoch. Sie waren für Flechtheim vor allem wichtige Persönlichkeiten in der Geschichte des Marxismus. Doch in dieser Arbeit nahm Flechtheim deutlich einen Perspektivenwechsel vor: Anknüpfend an sein Futurologie-Buch fragte Flechtheim nach dem Beitrag klassischer und moderner Marxisten, "mit Hilfe von Prognostik und Planung, Pädagogik und Politik zu einer Philosophie der Zukunft als einer Synthese von Utopie und Ideologie zu gelangen. Diese Zukunftsphilosophie sollte praktisch sein und uns als solche instand setzen, Rosa Luxemburgs Alternative Sozialismus oder Untergang in der Barbarei positiv zu entscheiden. Unter diesem Gesichtspunkt werden die hier vorgestellten Autoren nicht zuletzt befragt, wie sie zu einem Dritten Weg stehen, der die Menschheit zwischen der Scylla der Barbarei und der Charybdis eines neocäsaristischen Robotertums hindurchführen könnte.“ (S. 9) 

Im Mittelpunkt des Buches standen Überlegungen zum Verhältnis zwischen Reform und Revolution als mögliche Erscheinungen sozialen Wandels auch in der Zukunft. Das Buch verstand sich somit ausdrücklich auch als Beitrag zur politischen Bildung, nicht als reine Abhandlung um der Theoriediskussion willen.

In einigen Vorauspublikationen zur Thematik hatte Flechtheim die Probleme des entstehenden Buches umrissen. So betonte er 1971 in einer Sendung für Radio Freies Europa, „die Idee, wonach These und Antithese zu einer Art revolutionärer Synthese fuhren sollten - einem qualitativen Sprung wie in der Natur - ist ein reines Produkt der Vorstellung. Für eine solche Idee gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis, und dies verleiht der marxistischen Dialektik einen Hauch von Unwirklichkeit. Wir haben, zumal in den industriell entwickelten Gesellschaften als dem Boden, auf dem der Marxismus beruht, gesehen, daß das Proletariat nicht zum klassenbewußten Subjekt der Geschichte wurde und die Gesellschaft nicht vom Kapitalismus in den Sozialismus verwandelt hat. Es kam im Gegenteil zu einer Verbürgerlichung und zur zahlenmäßigen Schrumpfung des Proletariats.“81

Im kommunistischen Lager sei der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus und Kommunismus, so Flechtheim in der Festschrift für Walter Fabian, dem langjährigen Chefredakteur der Gewerkschaftlichen Monatshefte, oft mit dem vom Feudalismus zum Kapita-

80 Ossip K. Flechtheim, Von Marx bis Kolakowski. Sozialismus oder Untergang in der Barbarei?, Köln/ Frankfurt 1978. Die folgenden Seitenzahlen in Klammem beziehen sich auf diese Ausgabe.
81 Ossip K. Flechtheim, Marxism and the Third Road, in: G. R. Urban/Michael Glenny (Hg.), Can we survive our Future?, New York 1971, S. 374f. Der Historiker Felix Gilbert (The End of the European Era, 1890 to the Present, New York 1970, S. 409f.) meinte indes, die Arbeiter hätten gerade durch ihre Verbürgerlichung die kollektive Fähigkeit erworben, die Organisation der Produktion und Verteilung der Produktionsgüter in bestimmtem Maße zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

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lismus verglichen worden. „Dieser Vergleich erscheint uns aber durchaus problematisch. Wahrscheinlich ist der Übergang vom agraren Feudalismus zum industriellen Kapitalismus ein einzigartiger historischer Vorgang gewesen, der sich in dieser Form kaum wiederholen dürfte.“ Statt des qualitativen Sprungs vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit sei die Staatsordnung des Ostens durch mehr Unfreiheit als die westlich-demokratische Gesellschaft geprägt.82

Flechtheim sah den Sozialismus als praktische Möglichkeit, aber keineswegs als gesetzmäßig an. Eine antizipierte neue Gesellschaft werde sich wohl vom Kapitalismus weniger unterscheiden als jener von vorbürgerlichen Agrargesellschaften.83 Der Entwicklungsprozess der Produktivkräfte laufe vielmehr bereits seit langem innerhalb ein und derselben bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise ab. „Weder Marx noch die späteren Marxisten haben je anzugeben vermocht, auf welch qualitativ andersartige und total neue Produktivkräfte sich die neue sozialistische Gesellschaftsordnung stützen könnte.“ (S. 26)

Flechtheim wiederholte, dass sich die alte marxistische Vorhersage einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft in Kapitalisten und Proletarier so nicht erfüllt habe. Das Proletariat habe keine derart revolutionäre Kraft entwickelt, wie es Marx und Engels angenommen hatten. Hingegen habe die Spaltung zwischen armen und reichen Ländern, die Zerstörung der Umwelt und die Anhäufung von Waffen ein Ausmaß erreicht, das sich Marx, Engels und ihre Zeitgenossen nicht vorstellen konnten, obgleich gerade Engels 1888 hellsichtige Warnungen vor den Folgen eines, so wörtlich: „Weltkrieges“ geäußert habe: „Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlffessen wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unseres künstlichen Getriebes in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankrott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampfe hervorgehen wird. Nur ein Resultat ist absolut sicher: Die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung des schließlichen Sieges der Arbeiterklasse.“84

 

82 Ossip K. Flechtheim, Marx, Engels und die Zukunft, in: Anne Fabian (Hg.), Arbeiterbewegung, Erwachsenenbildung, Presse. Festschrift für Walter Fabian zum 75sten, Frankfurt 1977, S. 106

83 Auch andere Sozialisten teilten Flechtheims Ansicht, wonach eine rationale Wirtschaftsplanung notwendig und möglich, eine Gesellschaft der Freiheit und Gerechtigkeit zwar denkbar, aber allein durch Gemeineigentum und Wirtschaftsplanung noch nicht garantiert sei. So schrieb Norman Thomas 1966: „Wenn man den Sozialismus als eine weitgehend vergesellschaftlichte Wirtschaft mit einem hohen Grad an staatlicher Planung und Kontrolle sowie wohlfahrtsstaatlicher Gesetzgebung versteht, dann ist er beinahe gänzlich unvermeidlich. Er ist die logische Konsequenz aus den Entwicklungen unserer Zeit - immer angenommen, wir vernichten uns nicht gegenseitig in einem Krieg. Versteht man aber unter Sozialismus eine brüderliche Gemeinschaft freier Menschen, die die Naturschätze und wundersamen, ihnen zur Verfügung stehenden Werkzeuge zu ihrer aller Wohl nutzt, dann kommt der Sozialismus keineswegs unvermeidlich, sondern ist weit von jeder Unvermeidbarkeit entfernt.“ Norman Thomas, Humanistic Socialism and the Future, in: Erich Fromm (Hg.), Socialist Humanism. An International Symposium, Garden City, N.Y. 1966, S. 347.

84 Friedrich Engels, Einleitung (zu Siegismund Borkheims Broschüre Zur Erinnerung an die deutschen Mordspatrioten 1806—1807), in: MEW, Bd. 21, S. 350f. - Heinrich Heines Antizipation der modernen Barbarei, die dieser in der Vorrede zur französischen Ausgabe der .Lutezia' äußerte, erwähnte Flechtheim nicht.

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Nach Flechtheim relativierte die unumstößliche Gewissheit über den Sieg der proletarischen Revolution im Gefolge eines großen Krieges Engels’ Vorhersage über das mögliche Ausmaß des künftigen Weltkonfliktes.85 

"Geflügelte Worte", schrieb Walter Markov im Zusammenhang mit Napoleons Herrschaft, "haben ihre Geschichte und ihre Metahistorie dazu. Wer sie zuerst in Umlauf setzt, muß für später damit getriebenen Unfug nicht haften."86 Wenn aber eine Idee mitsamt ihren Losungen die Massen ergreift wie der Marxismus, kann dies kaum gelten. Marxistische Schlüsselbegriffe wie Klasse, Klassenkampf, Revolution und nicht zuletzt gesellschaftlicher Fortschritt seien, so Flechtheim, auf ihren politischen Gebrauch zu prüfen. Sein Befund fiel kritisch aus: 

Insgesamt gesehen habe der als Wissenschaft auftretende Fortschrittsglaube der marxistischen Gründerväter dafür gesorgt, dass der Marxismus nicht nur Wissenschaft, sondern auch Heilslehre wurde. Innerhalb dieser Lehre sei eine Falsifizierung zentraler Thesen aber nicht angelegt; somit seien Marx und Engels teilweise verantwortlich für die Kanonisierung ihrer Texte durch ihre Nachfolger. (Vgl. S. 13 und passim) 

Dass Marx und Engels die Bedeutung der Klassenauseinandersetzungen für die Gesellschaftsentwicklung erkannt hatten, bezeichnete Flechtheim als ihr großes Verdienst, sie verabsolutiert zu haben, als verhängnisvoll. Damit, so Flechtheim, erhoben und reduzierten Marx und Engels die Jahrtausende komplexer, widerspruchsvoller Entwicklung der  Menschheit auf einprägsame Kategorien, die sie aber zu einseitig ökonomisch fassten.87

Flechtheim erinnerte daran, dass Marx und Engels bereits 1845 in der <Deutschen Ideologie> den Menschen von der Arbeit her definiert hatten. Sie hatten "als erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch aller Geschichte", die Voraussetzung konstatiert, "daß die Menschen imstande sein müssen zu leben, um <Geschichte machen> zu können. Zum Leben gehört aber vor Allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere. Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst [...]."88

 

85 Flechtheims Ansicht, Engels habe mit seiner Voraussage eines Kampfes um die Neuverteilung der Welt sogar einen Zweiten Weltkrieg vorhergesagt (S. 246 und passim), scheint dem Verfasser jedoch übertrieben. 

86 Walter Markov, Napoleon und seine Zeit. Geschichte und Kultur des Grand Empire, Leipzig 1996, S. 71.

87 Flechtheims „reduktionistische“ Interpretation wurde natürlich keineswegs von allen Sozialisten geteilt. So betonte Marek Fritzhand, das von Marx begründete Denken in gesellschaftlichen Kategorien sei die unumgängliche Voraussetzung der Entwicklung und Entfaltung der sozialistisch-humanistischen Ethik und sogar eines adäquaten Verständnisses von Kultur und Ästhetik gewesen: „Marx hat den Kommunismus niemals nur als eine radikale Umwälzung der ökonomischen Existenzbedingungen des Menschen begriffen, sondern sah im Kommunismus die radikale Umwälzung der gesamten menschlichen Existenz.“ Der Marxsche Begriff der Arbeit umfasse weit mehr als nur die Produktions- und Distributionsvorgänge, er sei die geronnene Kategorie für die vielfältigen Austauschprozesse des Menschen mit der Natur sowie der Gesellschaft. Vgl. Marek Fritzhand, Marx’s Ideal of Man, in: Fromm, Socialist Humanism, Zitat S. 172. Dieser Aufsatz gibt eine englische Zusammenfassung einiger Gedanken der in polnischer Sprache erschienenen Bücher Fritzhands. Zur Problematik des Aneignungs- und Austauschprozesses vgl. auch Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Karl Marx, Frankfurt 1962.

88 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, S. 28.

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Diese „Produktion des Lebens“, so Marx und Engels weiter, erscheint „sogleich als ein doppeltes Verhältnis - einerseits als natürliches, andererseits als gesellschaftliches Verhältnis - , gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zweck, verstanden wird.“ So entstünde eine bestimmte Produktionsweise, deren Entstehung und Verschwinden Kern des Geschichtsprozesses sei.89

Damit erschien dieser Prozess durchschaubar gemäß allgemeiner historischer Entwicklungsgesetze.90 Hier übernahm, so Flechtheim in einem frühen Aufsatz, Marx die Hegelsche Konzeption, wonach Natur und Geschichte letzten Endes „nur Teilbereiche ein und derselben Wirklichkeit“ seien.91 „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens“, so Marx 1859, „gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und ein politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt haben. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche der sozialen Revolution ein.“92

So lautete nach Marx das allgemeinste Entwicklungsgesetz der Gesellschaft. Deren Entwicklung vollziehe sich, wenngleich diskontinuierlich, hin zu immer höheren Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens. Die gesellschaftliche Entwicklung sei in ihren Grundzügen ebenso wie die Entwicklung der Natur erkennbar. Marx’ optimistische Vision entzündete sich, so Flechtheim, „an dem unvorstellbar raschen Anwachsen der industriellen Produktivkräfte, an den Verheißungen der Technik und Wissenschaft, an der fortschreitenden Rationalisierung und Modernisierung des ganzen Lebens.“ (S. 21) Als Abkömmlinge der Junghegelianer suchten Marx wie Engels, Borkenau zufolge, dem Flechtheim hier zu

89 Ebenda, S. 29f.
90 Gerade diese Durchschaubarkeit, die Geschichte und Natur irrigerweise in eins setze, stieß auf Zweifel - zumal im Atomzeitalter. Eine entsprechende Kritik in der Periode der beginnenden „Wiederentdeckung“ von Marx in Westdeutschland lieferte Fritz Wagner, Der Historiker und die Weltgeschichte, Freiburg/München 1965, hierzu bes. S. 69f.
91 Ossip K. Flechtheim, Zur Kritik der Marxschen Geschichtskonzeption [geschrieben 1939], in: Cahiers Vilfredo Pareto, 5, 1965, S. 142.
92 Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort, in: MEW, Bd. 13, S. 8f.

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stimmte, „die Hegelsche dialektische Entwicklung in die Zukunft zu projizieren.“93 Anders als Hegel habe sein Schüler August Cieszkowski, doch vor allem Ludwig Feuerbach, dem Marx und Engels besonders nahestanden, sein Werk als Auseinandersetzung mit der Zukunft begriffen, worauf Jürgen Gebhardt und Alfred Schmidt hinwiesen.94 Die Marxisten hätten die Aufgabe und die Möglichkeit, die Frage nach dem Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewusstsein im Sinne des historischen Fortschritts zu beantworten. Dieses Denken fand als historischer Materialismus Eingang in die Lehrbücher der kommunistischen Staatenwelt. Doch die von Hegel und seinen Nachfolgern erdachte Synthese als Resultat von These und Antithese sei „spekulativ-metaphysisch, um nicht zu sagen theologisch chiliastisch“, jedenfalls willkürlich gesetzt.95 Die historische Entwicklung sei offen und nur sehr bedingt aus noch so geschickten Denkkonstruktionen her ableitbar. Es gebe keine Gesetze, nach denen eine Entwicklung hin zum Sozialismus unvermeidlich sei. 

Vielmehr sei sie nur eine unter einer „Vielfalt von Möglichkeiten“, und keineswegs die wahrscheinlichste.96

Marx und Engels wagten eine Deutung der Zukunft, „die nur erkämpft werden kann mit Hilfe eines sich revolutionierenden Proletariats. Das Marxsche System“, so Flechtheim, „steht und fällt mit der These, daß dem Proletariat diese seine Aufgabe unabdingbar vorgezeichnet ist“ (S. 25) - dies bezeichneten Marx und Engels als die historische Mission der Arbeiterklasse, worunter sie aber nicht nur die Industriearbeiter fassten, sondern alle Nichtbesitzer von Produktionsmitteln, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, wie Flechtheim zu entgegnen ist.97 Doch habe, so Flechtheim weiter, der Kapitalismus Potenzen entwickelt, die dem Proletariat zumindest in den industriellen Zentren den revolutionären Schneid gewissermaßen abkauften, da es seine Bedürfnisse wenigstens teilweise durch eine Reformpolitik befriedigt fand.

Dabei wurde es, dies räumte Flechtheim ein, Marx und Engels zunehmend bewusst, dass ihr  Anspruch, den historischen Materialismus den Naturwissenschaften an die Seite zu stellen, mit ihrer gesellschaftskritischen Perspektive in Konflikt geriet.98 Vor allem aber bedürften ihre Voraussagen über die proletarische Revolution wenigstens im industriellen Westeuropa

93- Borkenau, Praxis und Utopie, S. 12.

94- Vgl. Jürgen Gebhardt, Politik und Eschatologie. Studien zur Geschichte der Hegelschen Schule in den Jahren 1830-1840, München 1963, S. 130ff., sowie Alfred Schmidts Einleitung zu: Ludwig Feuerbach, Anthropologischer Materialismus. Ausgewählte Schriften I, Frankfurt 1967, bes. S. 32.

95- Flechtheim, Zur Kritik der Manischen Geschichtskonzeption, S. 145.

96- Diesen Gedanken äußerte Flechtheim bereits 1939. Vgl. ebenda, S. 147.

97- Das Kapitel über Engels ist generell nicht frei von Pauschalurteilen, so wenn Flechtheim Engels persönliche Voreingenommenheit in der politischen Auseinandersetzung attestiert (vgl. S. 56, 58) oder gar seine Lebensführung bemängelt (S. 57). Engels wie Marx hatten stets betont, ihnen sei nichts Menschliches fremd - dies gilt, wenngleich er es nur selten zugab, auch für Flechtheim.

98- Auch Siegfried Bahne meinte, Marx’ und Engels gesellschaftskritische Perspektive habe sich mit ihrem Drang zur Objektivität als einer Form des Positivismus nicht in Einklang bringen lassen. Stattdessen hätten beide, ungeachtet aller Zweifel, die Ergebnisse historischer Forschung einseitig nach ihrem Nutzen für den Emanzipationskampf des Proletariats beurteilt und damit der späteren „kommunistischen Parteilichkeit“ in der Geschichtsbetrachtung indirekt Vorschub geleistet. Vgl. Siegfried Bahne, Der marxistisch-leninistische Historismus, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 4, 1956, S. 195

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einer Neuformulierung. „Hätte aber dann eine stärkere skeptisch-kritische Haltung von Marx und Engels nicht ihrerseits neue Probleme aufgeworfen? Nehmen wir einmal an, die Manische Lehre hätte den Anhängern und Nachfolgern nicht die absolute Siegeszuversicht vermittelt. Hätten sie dann ebenso mutig und opferfreudig, besessen und rastlos gekämpft?“ (S. 48) 

Flechtheim erkannte, dass für die politische Wirksamkeit des Marxismus dessen Doppelcharakter außerordentlich fördernd war: die Verbindung einer Gesellschaftsanalyse mit einem sozialen wie massenwirksamen Impuls. Für den Marxismus als Denkmethode und somit für das marxistische Gesellschaftsdenken erwies sich genau dies aber als hinderlich." 

Überspitzt könne man sagen, „daß für Marx und Engels der Kapitalismus auf einer Einbahnstraße zum Sozialismus fortschreitet.“ (S. 247) Erst die folgende Generation von Marxisten habe im Zeitalter des Imperialismus diesen Fortschrittsglauben mit der möglichen Entwicklung der Gesellschaft hin zur Barbarei konfrontieren können. Niemand habe so klar wie Rosa Luxemburg bereits Jahre vor dem Ersten Weltkrieg erkannt, dass hinter der glanzvollen Fassade im Europa des Fin de siècle Gewaltpotentiale lauerten und politische Bewegungen entstanden, die diese Potentiale abrufen und anwenden würden.

Präzise wie wenige ihrer Zeitgenossen habe Rosa Luxemburg „nicht nur allgemein eine Verbürgerlichung und Verbürokratisierung der Sozialdemokratie [erkannt], sondern auch eine Anpassung an spezifisch 'wilhelminische' Wesenszüge. Der Kampf mit der wilhelminischen Autokratie führte dazu, dass die SPD gerade im Verlauf dieses Prozesses selber immer autoritärer wurde.“ (S. 90) 

Doch leitete Rosa Luxemburg daraus Schlüsse ab, die sich sehr von denen Robert Michels’ unterschieden: Michels, schon im Abmarsch vom Lager der Linken begriffen, hatte 1911 am Beispiel der SPD seine These erhärtet, nach der ursprünglich demokratische Parteien durch ihre bürokratische Struktur stets oligarchisch würden. Die Linksparteien würden dabei ihre revolutionäre Zielsetzung umso sicherer aufgeben, je mehr sie dies durch eine kriegerische Sprache zu verschleiern suchten.100

In einer Phase schneller Polarisierung wie im Ersten Weltkrieg waren dann Politiker gefragt, die bereit waren, ein hohes Risiko auf sich zu nehmen und alles auf eine Karte zu setzen. Flechtheim erinnerte an Gustav Mayer, den Biographen Lassalles. (Vgl. S. 166) Dieser hatte „in der ganzen sozialdemokratischen Führungsschicht“ um Ebert und Scheidemann nur „kleinbürgerliche Philisterallüren“ erblickt, die „sich bei vielen mit Egoismus und Strebertum“ paarten. Hingegen hätten Lenin und seine Genossen im Exil „wie ein Generalstab die Schlachten der Geschichte, aller Revolutionen der Vergangenheit wieder und wieder analysiert, um aus ihnen zu lernen für künftige Aktionen.“101  

Dass Flechtheim diese Passage zustimmend zitierte, zeigt einmal mehr seinen Abstand auch zum Gros der sozialdemokratischen Historikerschaft in der Bundesrepublik.102

99 Gleich anderen Autoren spricht auch Gareth Steedman-Jones in einer aktuellen Publikation in diesem Zusammenhang von den „spekulativen oder quasi-religiösen Ursprüngen des sozialistischen Glaubens“, der sich in der Hoffnung auf das Proletariat als Erlöser von Ausbeutung und Gewalt manifestiert habe. Siehe Gareth Stedman-Jones’ umfangreiche Einleitung zur „Penguin Classics“-Ausgabe des Communist Manifesto, Harmondsworth 2002, hierzu S. 9. 

100 Vgl. Robert Michels, Soziologie des Parteiwesens. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens [1911], 4. Aufl., Stuttgart 1989, S. 40 und passim.
wikipedia  Robert_Michels 1876-1936

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Stärker als in früheren Veröffentlichungen wies Flechtheim am Beispiel Rosa Luxemburgs auf das Widerstandsrecht von Sozialisten (und nicht nur von ihnen) gegenüber den Verantwortlichen für Krieg und Massenmord hin.103 „In ihrem Kampf gegen die deutsche Sozialdemokratie sah sie sich gedrängt, die positive Rolle der revolutionären Führung und der konsequenten Gewalt hervorzuheben.“ (S. 129) In Ausnahmefällen sah Flechtheim gewaltsamen Widerstand als notwendig an, so dieser etwa die Vernichtung der europäischen Juden verhindert hätte. (Vgl. S. 273)

Neben Rosa Luxemburg hatte Karl Liebknecht seit langem Flechtheims Interesse hervorgerufen. Wie wenige andere habe der oft im Schatten Rosa Luxemburgs stehende Liebknecht „die verhängnisvollen Auswirkungen des Paktes Eberts mit Groener, des Kompromisses der Gewerkschaftsführer mit den Unternehmern gesehen. Doch war er „nicht weise genug, um die politische Unreife des Volkes und die Ungunst der internationalen Lage kühl kalkulierend und realistisch wägend in seine Rechnung einzubeziehen.“ (S. 167) Dies habe 1918 Kurt Eisner am klarsten auf der radikalen Linken erkannt; damit schloss sich Flechtheim Arthur Rosenberg an, der Eisner als „den einzigen schöpferischen Staatsmann“ der Novemberrevolution bezeichnet hatte;104 ein Urteil, das durch eine neue biographische Untersuchung gestützt wird.105

Flechtheim machte, neben dem politischen Publizisten und glänzenden parlamentarischen Redner, auch den Kultursoziologen Liebknecht erstmals nach 1933 einer deutschen Leserschaft zugänglich, dessen heterodoxe Schriften zur Philosophie und Soziologie damals auch in der DDR ungedruckt blieben.106 Liebknecht betonte, so Flechtheim, die Bedeutung des Evolutionsbegriffes.

 

101 Gustav Mayer, Erinnerungen. Vom Journalisten zum Historiker der deutschen Arbeiterbewegung, München 1949, S. 308
102 Für diese war das etwas später erschienene Werk von Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918-1924, Berlin/Bonn 1984, repräsentativ.
103 Vgl. Rosa Luxemburg, Die Russische Revolution, hg. und eingeleitet von Ossip K. Flechtheim, Frankfurt 1963, 2. Aufl. 1964; dies., Politische Schriften, hg. und eingeleitet von Ossip K. Flechtheim, 3 Bde., Frankfurt 1966-1968, Nachdruck 1975, einbändige Neuauflage 1988. Die sorgfältige Edition dieser Schriften fand auch in der DDR Anerkennung. Vgl. Günter Radczun, Einige Probleme der Haltung Rosa Luxemburgs zur proletarischen Revolution, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 8, 1966, S. 9 ff, und Annnelies Laschitzas Rezension zu Rosa Luxemburg, Politische Schriften, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 16, 1968, S. 75f.
104 Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, Hamburg 1991, S. 67 (Erstausgabe Karlsbad 1935).
105 Bernhard Grau: Kurt Eisner, 1867-1919, eine Biographie. München 2001. 
        Vgl. Mario Keßler, Kurt Eisners politisches Vermächtnis, in: Ders., Vom bürgerlichen Zeitalter zur Globalisierung, S. 93.
106 Vgl. Karl Liebknecht, Studien über die Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung, hg. und eingeleitet von Ossip K. Flechtheim, Hamburg 1974; ders., Gedanke und Tat. Schriften, Reden und Briefe zur Theorie und Praxis der Politik, hg. und eingeleitet von Ossip K. Flechtheim, Frankfurt etc. 1975. Analog zum Luxemburg-Kapitel beruhen die entsprechenden Ausführungen Flechtheims zu Liebknecht substantiell auf seinen Einleitungen zu den edierten Bänden.

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"Für den großen Revolutionär ist der Revolutionsbegriff nur ein Unterbegriff des Evolutionsbegriffes. Die Revolution ist die konzentrierte Form, in der sich die Evolution unter gewissen kritischen Umständen vollzieht.“ (S. 151) Der schematischen Trennung zwischen Revolution und Evolution, die Liebknecht verwerfe, entspreche auch der Versuch einer Neubestimmung der Beziehung von ökonomischer Basis und soziokulturellem Überbau. Flechtheim hob Liebknechts Kritik an Marx hervor. Dieser habe, Liebknecht zufolge, die Ideologie „zu schematisch und passiv“ gedeutet. Marx’ „scharfe Trennung von Ökonomie und Ideologie wird von Liebknecht verworfen. Beide durchdringen einander. Die sie konstituierenden Faktoren sind im wesentlichen psychisch-geistig. Das nichtmaterialistische Element sei stets auch im Wesen des Sozialen und Ökonomischen eingeschlossen.“ (S. 146)

Liebknecht wie Luxemburg glaubten unerschüttert "an die unausrottbare revolutionäre Spontaneität der Massen des Proletariats." (S. 169) Mehr als ein halbes Jahrhundert später mussten Sozialisten - nach einer Reihe bitterer Niederlagen und oft nur widersprüchlicher Gewinne - die Fragwürdigkeit eines solchen Glaubens bei all ihrem Denken in Rechnung stellen. 

Die Resultate solcher Überlegungen waren mannigfaltig.

Wolfgang Harich und Leszek Kolakowski gelangten in ihren Analysen von Kapitalismus und Kommunismus zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen, die sie, so Flechtheims Urteil, aber gleichermaßen von der sozialistischen Linken wegführten. Er unterzog Harichs Buch Kommunismus ohne Wachstum? einer scharfen Kritik „Das Auftauchen der ökologischen Krise war für [Harich] der Anlaß, das autoritäre System zu rechtfertigen, da angeblich nur ein solches die Umweltkrise durch zentralistische Planung bewältigen könne.“ (S. 246f.) 

In seinem aufsehenerregenden politischen Manifest hatte Harich 1957 das Beispiel Liebknechts vor Augen gehabt. Wie jener im Jahre 1914, wollte auch Harich durch einen offenen innerparteilichen Disziplinbruch die Parteiführung zu Reformen zwingen und andernfalls zu ihrem Sturz aufrufen. Sie reagierte noch repressiver als das wilhelmische Regime gegenüber Liebknecht: Harichs Rebellion sollte ihm über acht Jahre Zuchthaus in Bautzen einbringen. Seine Forderung, mit dem Stalinismus zu brechen und den MarxismusLeninismus durch Rückgriff auf Gedanken von Trotzki, Rosa Luxemburg, Bucharin und auch Fritz Stemberg sowie jugoslawischer Denker und sogar Kautsky zu erneuern, faszinierte nicht nur Flechtheim. „Eine radikal entstalinisierte östliche Wirtschaftsstruktur in der UdSSR und in den Volksdemokratien wird im Verlaufe der weiteren Entwicklung den kapitalistischen Westen allmählich beeinflussen. Gleichzeitig wird der Westen den Osten mit demokratischen und freiheitlichen Ideen und Auffassungen beeinflussen und den Osten zwingen, sein totalitäres und despotisches politisches System Schritt für Schritt abzubauen“, hieß es in einer oft zitierten Passage von Harichs Manifest.107

 

107 Hier zit. nach Ossip K. Flechtheim (Hg.), Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland, Bd. 7, Berlin 1969, S. 623.

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Der schillernde, von vielerlei Ideen sprühende Harich hatte nach seiner Haftentlassung in der DDR nicht nur die Gelegenheit erhalten, sich über Jean Paul zu habilitieren und dessen Werkausgabe zu betreuen, sondern durfte auch zu einigen Gastaufenthalten in den Westen. Dort erschien die Mehrzahl seiner Bücher, in denen er sich nach wie vor als unbeugsamer Marxist und Leninist zeigte. Zu Flechtheims Entsetzen, dies verheimlichte Flechtheim auch nicht in seiner Kritik, gewann Harich, einst ein Opfer des Stalinismus, nunmehr Stalin ausgesprochen gute Seiten ab. Die „Nostalgiker des Prager Frühlings“, worunter auch Flechtheim fiel, würden nicht verstehen, dass Stalin, den Harich den „großen Stalin“ nannte, zum Terror greifen musste, um sein Volk zu dessen kommunistischem Glück zu zwingen.108

„Ist also demnach Harich ein Mann nach dem Herzen Breshnews und Honeckers?“, fragte Flechtheim. „Doch wohl nicht so ganz - er befürwortet nämlich recht unverblümt das, was jene zwar praktizieren, zugleich aber unbedingt verbergen wollen: die Unterdrückung im Kommunismus. Nach Breshnew und Honecker soll sie niemand beim Namen nennen. Die Täuschung soll den Terror absichem, die Lüge die Gewalt verschleiern. Harich ist ein heller Kopf, zu klug und zu stolz, solchen Betrug einfach mitzumachen.“ Ähnlich wie einst Karl Radek mochte Harich den Machthabern gute Ratschläge geben, diese aber wünschten sich ihre Gefolgschaft zwar loyal, doch nicht zu intelligent (und auf keinen Fall zu vorlaut, wie angemerkt sei). Rundheraus schreibe hingegen Harich, „mit welchen Mitteln nach seiner Ansicht die Kommunisten das Problem lösen sollten, das auf lange Sicht den Bestand der gesamten Menschheit gefährden könnte: die Umweltkrise.“ (S. 185f.)

Angesichts begrenzter und schrumpfender Naturressourcen werde, so Harich, der Kommunismus „nicht die Überflußgesellschaft sein, die man sich unter ihm seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts [...] immer vorgestellt hat. Der Kommunismus wird daher auch nie ohne staatliche Autorität und kodifiziertes Recht auskommen, wie dies die Klassiker des Marxismus-Leninismus, darin letztlich mit den Anarcho-Kommunisten übereinstimmend, angenommen haben.“109 Die kapitalistischen Industrieländer seien für den Übergang zum Kommunismus überreif, mehr noch als die Sowjetunion, China und ihre Verbündeten, schon weil dies der einzige Weg sei, um normale, auf Gerechtigkeit basierende Beziehungen zu den Entwicklungsländern herzustellen. Dies sei keine Aufgabe der Zukunft, sondern dringendes Erfordernis für die Gegenwart. „Von der neuerdings zu beobachtenden Infamie der multinationalen Konzerne, die in besonders starkem Maße die Umwelt zerstören, durch Verlagerung in die Dritte Welt den Protestaktionen der alarmierten Öffentlichkeit der eigenen Länder zu entziehen, will ich einmal ganz absehen.“ 

Alle noch so umfangreiche Entwicklungshilfe ändere daran nichts, „solange sie in der Form des Kapitaltransfers gewährt wird, der die ökonomische Abhängigkeit von den multinationalen Konzernen steigert und die Übernahme der kapitalintensiven modernen Technologie, mit all ihren fürchterlichen Folgen, nach sich zieht. Erst der Übergang der nördlichen industrialisierten Regionen zum Kommunismus würde es ermöglichen, das Problem zu lösen.“ Dieser würde eine zentral gesteuerte Umverteilung der gesellschaftlichen Güter organisieren und dabei notwendiger

 

108 Wolfgang Harich, Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der „Club of Rome“. Sechs Interviews mit Freimut Duve und Briefe an ihn, Reinbek 1975, S. 139.
109 Ebenda, S. 161.

 

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weise Zwangsmaßnahmen anwenden. In einer solchen kommunistischen Gesellschaft, die das Wirtschaftswachstum zurückschraube und schließlich auf einem umweltverträglichen Maß stilllege, habe die westliche Parteiendemokratie ausgedient.110 Das chilenische Beispiel habe gezeigt, wohin es führe, wenn eine Linksregierung am Pluralismus festhalte, „an ihrer selbstmörderischen Loyalität gegenüber einem politischen System, das sie zwang, einerseits die gegen sie organisierten Komplotte einer nach Mord gierenden Reaktion zu dulden und andererseits sich das Wohlwollen kurzsichtiger, politisch unaufgeklärter Teile des Proletariats mit volkswirtschaftlich noch gar nicht zu verkraftenden Lohnerhöhungen zu sichern“, so Harich.111

Zwar müsse die Linke den politischen Pluralismus gegen autoritäre Anschläge von rechts verteidigen. „Ausnutzen muß sie ihn, soweit er das zuläßt, um ihren eigenen politischen Einfluß zu mehren. Aber sobald ihr, sei es auf friedlichem Wege, sei es durch gewaltsamen Umsturz, die Macht im Staate zufällt, dann schleunigst weg mit diesem System und her mit der wahren, der ursprünglichen Demokratie, die in Europa als erste die Jakobiner, geführt von Robespierre, verwirklicht haben und die Babeuf mit seiner <Verschwörung der Gleichen> wiederherstellen wollte!“112 

Nur eine zentral gesteuerte kommunistische Weltwirtschaft, die das überbordende Wirtschaftswachstum und die Bedürfnisbefriedigung der Menschen restriktiv einschränke, könne einen ansonsten irreparablen Raubbau an der Natur verhindern.

Harichs „grandiose Vision“ sei, so Flechtheim, „in ihrer Einseitigkeit doch wohl unrealisierbar oder selbstzerstörerisch.“ (S. 189) Abstrakt gesehen mochte eine Diktatur, die die Bedürfnisse der Menschen steuere, die Umweltplanung vielleicht besser angehen können als ein am Profit orientierter Kapitalismus. Doch Flechtheim hielt Harich entgegen, dass eine autoritäre kommunistische Weltregierung, schon wegen der Natur ihrer Herrschaftsordnung, kaum derart uneigennützig dem Wohl der Natur und der Menschen dienen werde, wie Harich dies voraussetze.113 Als eine unkontrollierbare Herrscherschicht würden diese Regierung und ihr Apparat, und dies zeigten alle Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart, dem korrumpierenden Einfluss immenser Machtfiille erliegen. Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut-, dieser Satz von Lord Acton gelte noch immer, und er gelte ganz bestimmt in einem von Harich erhofften kommunistischen Zwangsstaat. (Vgl. S. 190)

Ein weiteres Argument lasse sich gegen Harich einwenden: „Wenn die sogenannten sozialistischen Staaten ihren Bürgern so wenig Freiheit und Mitbestimmung bieten, wie das der Fall ist und wie Harich es ohne weiteres hinnimmt, so sind sie wohl stets versucht, als Ausgleich den Bürgern Konsummaximierung in Aussicht zu stellen. Harich verweist zwar auf

 

110 Ebenda, S. 163.
111 Ebenda, S. 205.
112 Ebenda, S. 206f.
113 Genau in diesem Punkt schieden sich auch die Geister zwischen Harich und Havemann, der in seinem letzten Buch die Notwendigkeit einer demokratischen Regelung dieser Fragen unter einer antizipierten kommunistischen Regierung unterstrich. Vgl. Robert Havemann, Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg, Frankfurt 1980, Neuausgabe Halle/Leipzig 1990.

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den wirtschaftlichen Wettbewerb der westlichen und östlichen Systeme als eine der Ursachen von Konsumsteigerung und Wirtschaftswachstum. Er übersieht dabei jedoch, daß zwei andere Faktoren in dieselbe Richtung weisen: Die autoritäre Verfassung und der zwischenstaatliche Machtkampf. Dieser mag den Konsum fördern oder nicht, auf jeden Fall beschleunigt er den Rüstungswettlauf und damit den Fortschritt der Destruktion. Das erklärt wohl auch, warum bisher im sozialistischen Lager nicht so viel mehr als im Westen getan worden ist, um die Umweltkatastrophe abzuwenden.“ (S. 190f.).

Wie Harich hatte auch Leszek Kolakowski 1956 zu den Reformkommunisten im sowjetischen Machtbereich gehört, die den Prozess der Entstalinisierung in Richtung einer Demokratisierung auf sozialistischer Grundlage vorantreiben wollten. Ihm wurde zunächst ein weit günstigeres Los zuteil als Harich: Kolakowski übernahm eine Professur für Philosophie in Warschau. Doch 1966 verlor er seinen Lehrstuhl und verließ Polen zwei Jahre später. In Oxford schrieb er ab 1970 eine Ideengeschichte des Marxismus in drei Bänden. 1977 erhielt Kolakowski den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Flechtheims aus diesem Anlass in der Frankfurter Rundschau publizierter Artikel war die Grundlage für seinen Abschnitt über Kolakowski im Marxismus-Buch.114

Als „ein Mann der Linken“ habe Kolakowski schon 1960 nach dem Sinn des Begriffes Links gefragt. Der Begriff sei relativ; links sei man stets im Verhältnis zu etwas. Die Linke, schrieb Kolakowski, „ist ein Akt des Protestes, aber sie ist keine Sehnsucht nach dem Nichts. Die Linke ist eine Sprengstoffladung, welche die Verhärtung des sozialen Lebens aufbricht, aber sie fuhrt nicht ins Leere.“115 Notwendig sei die Konkretisierung eines UtopieBegriffs; dieses Problem sollte Kolakowski in der westlichen Emigration stark beschäftigen. 

„Die Linke scheidet Utopien aus, wie die Bauchspeicheldrüse Insulin ausscheidet - aufgrund einer angeborenen Gesetzmäßigkeit“ - diesen aus der Medizin stammenden Vergleich zog (der mit einer Ärztin verheiratete) Kolakowski 1960.116 Dabei war die Utopie für ihn zunächst jener „Zustand des sozialen Bewußtseins, der einer sozialen Bewegung entspricht, die auf radikale Veränderungen der menschlichen Gesellschaft hinzielt, diesen Veränderungen aber nicht genau entspricht, sondern sie in idealisierter und mystifizierter Weise versinnbildlicht und so der wirklichen Bewegung den Sinn eines Ideals verleiht, das in der reinen Sphäre des Geistes entsteht und nicht aus der gegenwärtigen geschichtlichen Erfahrung. Die Utopie ist also das mystifizierte Bewußtsein der tatsächlichen geschichtlichen Tendenz.“117 

Die Utopie, so Kolakowski weiter, sei „ein notwendiger Bestandteil der revolutionären Linken, und die revolutionäre Linke ist das notwendige Produkt der gesellschaftlichen Linken als Ganzes.“ Die Rechte brauche keine Utopie, da sie an der Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustandes und nicht an seiner Veränderung interessiert sei.118

114 Ossip K. Flechtheim, Kolakowski und der Kommunismus, in: Frankfurter Rundschau vom 15. Oktober 1977.
115 Kolakowski, Alternative, S. 164.
116 Ebenda, S. 152.
117 Ebenda, S. 151.
118 Ebenda, S. 153.

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1974 schlug Kolakowski deutlich kritischere Töne an, als er Marx bescheinigte, entgegen dessen Behauptung nie aus der Festung des Utopismus ausgebrochen zu sein. Die als wissenschaftlicher Sozialismus verkleidete Lehre von Marx sei in ihrer Essenz von einem mythologischen, prophetischen, kurz: utopischen Bewusstsein bestimmt, urteilte der zum philosophischen Positivisten gewordene Kolakowski. Die Zukunft der Geschichte wie die Zukunft des Geistes könne ,.nicht einfach so vorausgesagt werden, wie man eine Sonnenfinsternis voraussagt. Diese Zukunft wird nur durch den Akt, der sie schafft, erfahren, folglich ist sie schon da, sie existiert bereits sehr viel stärker als die empirische Welt, die im Begriff ist zu verfallen.“ Marx’ Verhaftung im Utopischen zeige sich auch im Grammatikalischen, wenn er „die Welt des Kommunismus beschreibt; er spricht von dieser Welt nicht in der Zukunftsform, sondern im Präsens; er sagt, was diese Welt ist, nicht was sie sein wird.“

Diese Gleichsetzung von beschreibenden und normativen Inhalten sei typisch für die Art, wie Gläubige die Realität zu sehen wünschten.119

Praktisch bedeute dies, dass Entstalinisierung keineswegs mit Demokratisierung gleichgesetzt werden könne, schrieb Kolakowski und revidierte damit seine frühere Auffassung. Entstalinisierung im Sowjetblock bedeute noch immer keinen Abschied von der verfehlten erkenntnistheoretischen Grundlage des Marxismus und besonders des Leninismus. Hier seien Reformkommunisten und Leninisten-Stalinisten im selben Käfig gefangen. „Das leblose und schon groteske Gebilde, das sie Marxismus-Leninismus nennen, würgt weiterhin den Hals der Regierenden wie ein Geschwür, das die Atmung behindert.“120 

Es verwundere nicht, dass die Machthaber statt des von Marx übernommenen Vokabulars immer häufiger zu direkt nationalistischer und imperialer Ideologie Zuflucht nähmen, um ihre schwindende Legitimität vor den Volksmassen aufrechtzuerhalten. All dies zeuge vom Zerfall des Marxismus und überhaupt von der Fragwürdigkeit utopischen Denkens. In seinem Werk über Die Hauptströmungen des Marxismus, so der deutsche Titel, zog Kolakowski 1977 die Quintessenz seiner Überlegungen.121 Flechtheim bezeichnete den ersten Band als eine „der fundiertesten und sachlichsten Analysen und Kritiken von Marx und Engels, die seit langem veröffentlicht worden ist“, ohne sich jedoch mit den inhaltlichen Aussagen Kolakowskis im Einzelnen auseinanderzusetzen. (S. 238) Der freiheitlichdemokratische Impuls, der das Schaffen von Marx und Engels so stark prägte, trat bei Kolakowski weit hinter die Kritik ihrer utopischen wie auch ihrer autoritären Züge zurück.122 

Die beiden weiteren Bände des Werkes, die den Marxismus nach dem Tode seiner Gründer behandeln, scheint Flechtheim nicht mehr für sein Buch herangezogen zu haben. Jedenfalls nahm er auf die umstrittenen Urteile Kolakowskis, die sich besonders im dritten Band finden, keinen Bezug.

119 Leszek Kolakowski, Marxismus - Utopie und Anti-Utopie, Stuttgart 1974, S. 17.
120 Ebenda, S. 130.
121 Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung - Entwicklung - Zerfall, 3 Bde., München 1977-1978, Neudruck: München/Zürich 1989.
122 So findet sich bei Kolakowski nicht jener Brief von Engels an Kautsky, in dem dieser betonte: „Der Liberalismus ist die Wurzel des Sozialismus, will man also .radikal' verfahren, so muß man den Liberalismus kaputtmachen, dann verdorrt der Sozialismus von selbst.“ Engels an Kautsky, Brief vom 5. März 1892, in: MEW, Bd. 38, S. 288. Zahlreiche analoge Äußerungen, die auch in der DDR nicht oft zitiert wurden, finden sich bei Wolfgang Leonhard, Die unbekannten Klassiker. Marx und Engels in der DDR, in: Deutschland Archiv, 28, 1995, S. 709ff.

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Flechtheim zog auch nicht den naheliegenden Vergleich von Kolakowskis Hauptwerk mit einer anderen groß angelegten Darstellung zum Thema: Predrag Vranickis Geschichte des Marxismus, die wenige Jahre zuvor in zwei Bänden in deutscher Übersetzung erschienen war und deren Urteile über die Protagonisten der Lehre nuancierter und abgewogener ausfielen als bei Kolakowski.123 Stattdessen analysierte er das Buch eines anderen jugoslawischen Marxisten aus dem Praxis-Kreis: Kritik und Zukunft des Sozialismus, dessen Verfasser Svetozar Stojanovic auch als Gastprofessor an der Freien Universität - wohl auf Initiative Flechtheims - gelehrt hatte.124

Mit Stojanovics Buch tritt das Problem der Entfremdung in das Zentrum von Flechtheims Aufmerksamkeit.125 Marx habe den Menschen zu positiv gesehen, betonte Stojanovic und erteilte der heilsgeschichtlichen Dimension im Marxismus eine deutliche Absage.126 Die geschichtlichen Erfahrungen insbesondere des Zweiten Weltkrieges zeigten jedoch das Nebeneinander von humanen und inhumanen Potenzen im Menschen. Dies erfordere unter anderem eine Konkretisierung auch des Utopiebegriffs; der Marxsche Utopiegedanke als die Überwindung aller menschlichen Widersprüche sei nicht haltbar. Diesem Gedanken „der vollkommenen und endgültigen Aufhebung der Entfremdung schließt sich die übertriebene Neigung Marxens zum Determinismus an: die kommunistische Zukunft der Menschheit ist durch die unerbittlichen Gesetze der geschichtlichen Entwicklung gesichert.“ Die Gründe für Marxens Utopie und ihrer Überbewertung lägen in der aufklärerischen Tradition mit ihrem von keinem Selbstzweifel getrübten Rationalismus und Evolutionismus sowie im Marxschem Arbeitsbegriff, der die Entfremdung auf Klassenabhängigkeiten reduziere.127 

Dieser Utopiebegriff münde leicht, wie in der Geschichte des Kommunismus geschehen, in einen destruktiven „Superstaat“, für den die Sowjetunion das schlagende Beispiel sei. Stojanovic bezeichnete diese tragische Entwicklung als „etatistischen Mythos des Sozialismus“.128 Damit sei „eine neue Phase der Klassen-Vorgeschichte“ statt des Übergangs zur klassenlosen Gesellschaft eröffnet worden.129

 

123 Predrag Vranicki, Geschichte des Marxismus, 2 Bde., Frankfurt 1972-1974 (Neuaufl. 1983).
124 Zu Teilen griff Flechtheim in diesem Abschnitt auf folgenden Text zurück: Die Praxisgruppe und der Humanismus, in: Ders./Grassi (Hg.), Marxistische Praxis, S. 35ff.
125 Dass eine wissenschaftliche Erkenntnis nur eine historisch bedingte und begrenzte Interpretation der Welt darstelle, indes zur Objektivierung und damit zur Verdinglichung und Entfremdung neige, hatte Flechtheim bereits 1939 hervorgehoben - sicher auch ein Ausdruck seiner damaligen Nähe zu den Diskursen des emigrierten Instituts für Sozialforschung. Vgl. Flechtheim, Zur Kritik der Marxschen Geschichtskonzeption, S. 147.
126 Dies hob auch Arnold Künzli (Über Marx hinaus. Beiträge zur Ideologiekritik, Freiburg 1969, S. 50) in seiner Erörterung der Zeitschrift Praxis hervor. Der Schweizer Künzli war in Zagreb aufgewachsen und kannte die meisten Protagonisten des /Voxri-Kreises gut.
127 Svetozar Stojanovic, Kritik und Zukunft des Sozialismus, München 1970, S. 30.
128 Ebenda, S. 38. An anderer Stelle schrieb Stojanovic über den russischen Bürgerkrieg: „Der rote Terror, der so [wie geschehen] auf den weißen Terror reagiert, ändert auch selbst, allen proklamierten humanistischen Zielen zum Trotz, unmerklich die Farbe.“ Ebenda, S. 196.
129 Ebenda, S. 150.

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Sozialismus war für Stojanovic die Errichtung einer Gesellschaft, die potentiell einen höheren Grad an Pluralismus und Demokratie aufweise als der Kapitalismus. Es überraschte Flechtheim, dass Stojanovic für Jugoslawien ein Mehrparteiensystem zumindest für die Gegenwart strikt ablehnte: Ein solches Experiment würde „aller Wahrscheinlichkeit nach katastrophal enden“.130 In einem Mehrparteiensystem würden sich die verschiedenen Nationen getrennt organisieren, um dann unter dem Vorwand der Demokratisierung Jugoslawien zu spalten. Stojanovic, der mit den nationalen Problemen des Balkans vertraut war, urteilte hier weitblickender als Flechtheim.

Dennoch könne ein Parteimonopol nur vorläufiger Natur sein, schrieb Stojanovic. Notwendig sei, dass die bestehenden politischen Organisationen der kommunistischen Partei gleichberechtigt gegenübertreten könnten. „Von besonderer Bedeutung ist, daß die Arbeiterklasse die Gewerkschaft reformiert und über diese auf die politische Bühne gelangt, um am entschiedensten die Frage nach ihrem Anteil am gesellschaftlichen Gesamtprodukt und der gesamten gesellschaftlichen Macht zu stellen.“131 So kam Stojanovic auf die indes keineswegs sichere oder auch nur wahrscheinliche Möglichkeit eines Dritten Weges zwischen Etatismus und Kapitalismus: auf das System „der integralen gesellschaftlichen Selbstverwaltung.“ 

Ein solches System könne überlegt die gesellschaftliche Entwicklung, den Markt eingeschlossen, planen, kontrollieren und lenken.132 Flechtheim würdigte die mutige Kritik von Stojanovic an der Praxis des jugoslawischen Selbstverwaltungssystems.133 Dieses sei noch weit von einer solchen Gesellschaft entfernt. Dass Stojanovic einräumte, in Jugoslawien bestünden immerhin einige strukturelle Voraussetzungen für einen solchen Übergang, mochte ihn davor bewahrt haben, das Schicksal von Milovan Djilas zu teilen. Bisher habe jedoch keine Gesellschaft in Ost oder West ein Wirtschaftsmodell gefunden, das Selbstverwaltung, Markt und Planung vereinige. „Der Sozialismus ist eine der realen Möglichkeiten und Tendenzen, auf keinen Fall aber eine Unvermeidbarkeit. Ob er sich verwirklicht, hängt von den Menschen ab. Erst jener Marxismus, der den Sozialismus als eine Möglichkeit begreift, kann den Menschen ethisch dazu verpflichten, sich für seine Verwirklichung einzusetzen.“134

Der von Stojanovic als geschichtliche Möglichkeit begriffene „Human-Sozialismus“ kam Flechtheims eigenen Vorstellungen nahe. (S. 247) Kern der Problematik blieb das Handeln des geschichtlichen Subjekts: des arbeitenden Menschen. „Immer deutlicher“, so Flechtheim, habe sich jedoch gezeigt, „daß entgegen den Erwartungen von Marx und Engels, von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht das Weltproletariat nicht berufen sein dürfte, eine Weltrevolution zu verwirklichen.“ (S. 278) Stojanovic sprach von einer „Erweiterung des klassischen revolutionären Subjekts“, als er ein Bündnis von Proletariat und lohnabhängiger Intelligenz als „neuer Arbeiterklasse“ antizipierte.135  

 

130 Ebenda, S. 93.
131 Ebenda, S. 95.
132 Ebenda, S. 164.
133 Flechthcim erinnerte an Karl Korschs Überlegungen, wie die „scheinkonstitutionelle“ Arbeitsverfassung im Betrieb so zu ändern sei, dass über eine „industrielle Demokratie“ Voraussetzungen für eine sozialistische Wirtschaftsverfassung entstünden. Vgl. Karl Korsch, Arbeitsrecht für Betriebsräte [1922], in: Dcrs., Gesamtausgabe, Bd. 2, hg. von Michael Buckmiller u.a., Frankfurt 1980, S. 458f. 
134 Stojanoviö, Kritik, S. 149f. 

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Politisch sei ein solches Bündnis 1968 in der Tschechoslowakei - aber kurz darauf auch in Chile unter Salvador Allende - geschichtlich wirksam geworden, schrieb Flechtheim. (S. 212) „Das wohl Einzigartige an der Entwicklung in der CSSR war die enge Zusammenarbeit von Theoretikern und Praktikern, von Futurologen und Reformern“, wie auch der Richta-Report gezeigt habe. (S. 215) Der Finanzwissenschaftler Eugen Löbl, einer der weniger bekannten Köpfe unter den Prager Reformern, zog 1975 im amerikanischen Exil eine Bilanz dieses einzigartigen Versuchs. Wie konnte es geschehen, dass die marxistisch-kommunistische Bewegung mit ihrem humanistischen Ansatz „im barbarischen Faschismus mündet?“, fragte sich Löbl, gleich Wolfgang Harich ein Opfer des Stalinismus, in seiner langen Gefängnishaft zwischen 1952 und 1963.136 Als Direktor der slowakischen Staatsbank forderte er 1968 ein Umdenken in der Wirtschaft - in Ost und West gleichermaßen.137

"Die Herstellung eines jeden Produktes ist das Ergebnis der Arbeitsleistung praktisch aller Berufszweige und einer Gesellschaft und ist in diesem Sinne als ein 'Menschheitsprodukt' anzusehen“, schrieb Löbl. Er konkretisierte: "Jeder Unternehmer setzt nicht nur sein eigenes investiertes Kapital, sondern auch einen Teil des nationalen, sogar globalen materiellen und kulturellen Reichtums ein. Hierbei begegnen wir dem Phänomen des 'gesamtgesellschaftlichen Eigentums'. Der Staat als Organ der Nation ist dafür verantwortlich, daß die (treuhänderische) Verwaltung des 'Kapitals' der Gesellschaft in deren Interesse sichergestellt ist."138

Die derzeitige Wirtschaft sei produktionsorientiert, d.h. im Westen auf die Interessen der Unternehmer bezogen. Es sei Aufgabe des Staates, hier für eine Balance zu sorgen und die Wirtschaftsentwicklung den Interessen der Gesamtgesellschaft stärker anzupassen. Mehr noch: Der Staat müsse umfassende Wirtschaftsprogramme erarbeiten. Diese seien in Form des Nationalbudgets den Bürgern vorzulegen, die dann über diese zu entscheiden hätten. Somit bedingten staatliche Wirtschaftsplanung und aktive Demokratie einander.139 Flechtheim entgegnete Löbl, „daß der Mensch nicht nur homo prognosticus, sondern auch Gewohnheitstier ist, daß seine Einsicht und Umsicht, Übersicht und Voraussicht allzu oft von seinen Vorurteilen und kleinlichsten Interessen verdrängt werden, daß bisher in der Regel weder die breiten Massen noch die tonangebenden Eliten global und langfristig zu denken wußten. Eines der ganz großen Probleme bleibt die Organisierung der über die Stunde, den Tag und die Woche wie auch über die Gruppe, Klasse und Nation hinaus weisenden Erkenntnisse in neuen Aktionsformen und Institutionen.“ Die Probleme von heute und morgen könnten nur noch im übernationalen Maßstab gelöst werden. (S. 225f.) 

 

135 Ebenda, S. 76.
136 Eugen Löbl, Wirtschaft am Wendepunkt, Achberg/Köln 1975, S. 2. Flechtheims Ausführungen zu Löbl basieren auf seinem Nachwort zu diesem Buch.
137 Vgl. hierzu Löbls Vorbemerkung zu: Leopold Grünwald (Hg.), CSSR im Umbruch. Berichte, Kommentare, Dokumentation, Wien 1968, S. 7f.
138 Löbl, Wirtschaft am Wendepunkt, S. 227.
139 Vgl. ebenda, S. 229ff.

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Reicht das Plädoyer für das Zusammenwirken von Staat und Gesellschaft „zur Sicherung einer sozialen Zukunft ohne Inflation und Arbeitslosigkeit mittels radikaler Geld- und Steuerreform aus, die Vermachtung der Märkte durch die Monopole, Oligopole, multinationalen Korporationen usw. aufzubrechen, die neofeudale Konzentration und Tributerhebung seitens der verschiedenen Plutobürokratien zu beseitigen? Muß man in diesem Zusammenhang nicht an Vergesellschaftungs­vorstellungen sozialistisch-demokratischer Denker und Organisationen anknüpfen?“ (S. 226) 

Zwar habe -- nach all seinen bitteren Erfahrungen -- Löbl auf das Wort <Sozialismus> zugunsten des Gedankens einer Wirtschaftsdemokratie verzichtet. Flechtheim hingegen suchte nach einer Erweiterung des begrifflichen Inhalts, wenn er von "Ökosozialismus" schrieb und damit der Umweltproblematik ihren politischen Platz zuerkannte. (S.251)

Sein Sozialismus-Verständnis sei, wie Flechtheim wiederholte, zugleich global, human und ökologisch. „Der Globalsozialismus würde vor allem jedweden Staatssozialismus in Frage stellen - selbst einen Sozialismus, der sich auf einen noch so demokratischen Staat beschränkt.“ Der Globalsozialismus schließe den Pazifismus und Universalismus ein, „die die Möglichkeit und Notwendigkeit des Föderalismus bis hin zu einer Weltföderation immer wieder betont haben.“140 Er streiche den Gegensatz zum autoritären Kollektivismus heraus. 

Er „führt die Tradition des Liberalismus, Radikalismus (im englischen Sinne des Wortes) und Anarchismus weiter. Er bekennt sich zum Individuum in der Gesellschaft und wendet sich gegen jedwede Verherrlichung von Gewalt und Terror. [...] Vom opportunistischen Reformismus unterscheidet er sich durch das Bekenntnis zu radikalen Strukturreformen, vom Revolutionarismus durch den Glauben an die Möglichkeit zur gewaltfreien Revolution.“ (S. 248)

Schließlich gehe es bei der menschenwürdigen Gestaltung der Gesellschaft nicht mehr allein um die soziale Frage, sondern „der Sozialismus muß um ein neues Gleichgewicht zwischen einer noch so humanen Gesellschaft und der sie umgebenden Natur bemüht ein. Wir können nicht mehr wie einst Marx und Engels mit der imbegrenzten Güte und Fülle der Natur rechnen.“ Der Begriff der Fülle der Natur sei aber relativ. „Ein Lebensstandard, bei dem alle Menschen mit ausreichender Nahrung und Kleidung, Wohnung und Bildung versorgt wären, kann schon als Fülle gelten, verglichen mit der Not und dem Elend der überwältigenden Mehrheit in den verflossenen Jahrhunderten und Jahrtausenden.“ 

Angesichts der absehbaren Erschöpfung wichtiger Ressourcen wie der Umweltzerstörung bedürfe es der politischen Entscheidung über die Nutzung der Natur. (S. 250) Hierbei sei eine Kombination von parlamentarischen und rätedemokratischen Organen denkbar. (Vgl. S. 267) Doch in „dieser hochmoralischen, so redlichen, radikal-demokratischen intellektuellen Interpretation“ Flechtheims, schrieb eine Rezensentin zu Recht, trete „die Frage nach der wirklichen Emanzipationsleistung“ der Arbeiterbewegung sowie ihre politischen Möglichkeiten zurück. Solange dafür „allerdings eine kluge Lösung noch nicht gefunden“ sei, bleibe Flechtheims „gut lesbare und überlegene Einführung“ in Fragen der Geschichte, Theorie und Zukunft des Sozialismus bedeutsam.141 Besonders das Schlusskapitel sei „mit Herzblut“ geschrieben, so Jifi Kosta.142 Wo man Mitkämpfer brauche, sei Flechtheim zu finden, schrieb Helmut Gollwitzer.143 Von Marx bis Kolakowski knüpfte somit in mancher Hinsicht an das Futurologie-Buch an. Doch stellte es einen Zusammenhang von Sozialismus und Ökologie her, den Flechtheim seitdem betonen sollte.

 

140 In seinen Gedanken zum Föderalismus griff Flechtheim auf Hamilton, Madison, Jay, die Fabian Society und sogar auf Constantin Frantz zurück, ohne dessen reaktionären, oft antisemitischen Zügen genug Beachtung zu schenken. Vgl. z. B. Ossip K. Flechtheim, Das politische Engagement des politologischen Publizisten, in: Hanno Beth (Hg.), Feder-Lese. Publizistik zwischen Distanz und Engagement. Harry Pross zum 60. Geburtstag, Berlin 1983, S. 69f, und Flechtheim, Futurologie, S. 41. Zu Franz vgl. jetzt Helmut Meier, Constantin Franz (1817-1891) - ein zeitgenössischer Gegner von Karl Marx und seinen Ideen, in: Helmut Bleiber/Walter Schmidt (Hg.), Revolution und Reform in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Zum 75. Geburtstag von Walter Schmidt, 2. Halbbd., Berlin 2005, S. 151 ff.

141 Monika Kramme, Rez. zu Ossip K. Flechtheim, Von Marx bis Kolakowski, in: IWK, 15, 1979, S. 506.

142 Jifi Kosta, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 29, 1978, S. 807

143 Helmut Gollwitzer in: Das Argument, Beiheft 19, 1979, S. 9

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