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Der Bär 

 

 

 

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Als Aiyuk Speere, Speerschleuder und Wisentfell auf den Boden legte, hatte die Fackel noch geflackert. Jetzt war alles still. Der schwarze Rauch stieg steil nach oben. Aiyuk blieb stehen. In seinem dünnen Hirschfellrock, der ihm bis zur Mitte des Oberschenkels reichte, fröstelte ihn.

Ich höre nichts. Seid ihr schon aufgewacht, Bären? Ich habe versprochen, euch zu malen, und wir werden es tun. Habt keine Angst.

Er wechselte die Fackel in die linke Hand und leuchtete in die Dunkelheit hinein. Ein schwerer Tropfen der feuchten Decke klatschte neben ihm auf den Steinboden; Aiyuk zuckte zusammen. Das Hämmern in ihm, das er auf dem Weg zur Höhle bezwungen hatte, begann wieder. Da entdeckte er die Kratzspuren der Bärentatzen an den Wänden, tief im Gestein eingeritzt. Es hämmerte weiter in ihm und ebbte erst ab, als er dachte: Hikiijaut und Kukikatugak hatten mit ihm gescherzt, oft die Hand auf seine Schulter gelegt und seine Haare gestreichelt. Sogar die kleine Lucuwat, die zum Zusehen mitgenommen war und die Aiyuk an der Hand führte, nannte ihn zum ersten Mal den Bärenjäger. Obwohl es noch gefährlichere Tiere gab - den Löwen und das Mammut — war es doch etwas besonderes, Bärenjäger zu sein. War denn der Bär nicht einst ein Mensch gewesen?

Der Bärengeruch wurde immer stärker.

Ich rieche euch immer mehr, Bären. Könnt ihr mich schon sehen? Habt ihr Angst vor der Fackel?

 

Er blieb wieder stehen. Ein Seitengang zweigte ab; er wußte, daß er zuerst dem Seitengang folgen mußte, denn es war die erste Regel der Bärenjagd, nie einen Bären hinter sich zu haben.

Wer in den Haupteingang geht und aus dem Seitengang den Bären übersieht, der hat einen Bären von vorne und von hinten, der muß sterben. Ich will nicht sterben.

Aiyuk ging schnell durch den Seitengang, denn der Bärengeruch wurde schwächer. Schließlich wurde der Gang zu eng, als daß ein Bär hätte weitergehen können. Aiyuk drehte sich erleichtert um. In diesem Moment hörte er ein Rascheln zu seiner Rechten, dann bewegte ein kaum fühlbarer Luftzug die Flamme der Fackel. In einer Angst, die ihn beinahe lähmte, warf sich Aiyuk mit dem Rücken gegen die Wand und streckte die Fackel so weit vor sich her, wie er es nur vermochte.

Allein zu sein: das ist mein Tod.

Bevor Aiyuk es überhaupt wahrnehmen konnte, war der Polarfuchs schon an ihm vorbei. Der weiße, buschige Fuchsschwanz zuckte kurz im Fackellicht und verschwand. Innerhalb von Sekunden war das leicht hüpfende Geräusch der Pfoten verhallt.

Aiyuk hatte sich nicht bewegt. Er begann zu zittern.

Kukikatugak hätte gelacht, gelacht hätte er. Er ist so viel stärker als ich. Hätte er gelacht, wenn er allein gewesen wäre? Allein zu sein ist auch sein Tod. Ein Fuchs! Wie konnte ich die Füchse vergessen.

Er schämte sich: kann ein Jäger ein Tier vergessen?

Im Hauptgang war alles ruhig.

Nicht mehr zittern, nein, ich zittere nicht, ich zittere nicht, es ist gut. Bald bin ich wieder bei meinen Menschen. Ja. Eschona und Fagayuk, die viele Bären getötet haben, und Kukikatugak, und Hikiijauts Speer.

Aiyuk ging schneller und leuchtete nun im Halbkreis vor sich her. Der Bärengeruch wurde stärker, sogleich jedoch schwächer. Aiyuk blieb stehen. Da sah er es: die Schlaf-statte der Bären, mit Knochenresten bedeckt, war leer. Er

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kniete hin und fuhr über den Boden. Kein Bärenkot, aber viele Bärenhaare.

Das Tageslicht wurde immer heller, Aiyuk rannte ins Licht. Hinter den Felsbrocken zur Linken und Rechten sah er Arme und Speere.

"Kein Bär, kein Bär!" rief er.

Langsam standen Fagayuk, Hikiijaut, Eschona, Gukall, Tore und Teschadjuk auf. Ärgerlich warf Kukikatugak den Speer in den Schnee.

" Es gibt eine andere Höhle", sagte Fagayuk ruhig.

Gukall sagte zu Aiyuk: "Wenn du willst, werde ich das nächste Mal gehen."

Aiyuk schüttelte den Kopf und legte ihm die Hand auf die Schulter.

Dieses Mal war es leichter, vor der Höhle die Waffen abzulegen. Kukikatugaks Ärger hatte sich gelegt. Er lachte leise: "Geh, Fuchsjäger!" Aiyuk grinste und umfaßte die Fackel. Mit schnellen Schritten drang er ins Innere. Bald aber wurden die Schritte langsamer; er blieb stehen.

Wieder allein. Wieder nur zwei Arme und kein Speer, kein Speer, ein nutzloser Speer in einer engen Höhle, ein Speer, der überall anstößt, ein Speer, der den Bären nur verletzt, damit er schneller rennt, nein, ich brauche keinen Speer. Ich brauche die Fackel, ja die Fackel, die den Bären aufweckt und am Fell kitzelt.

Die Nutzlosigkeit seines Speeres gab ihm Mut. In dieser Höhle war der Boden noch feuchter als in der anderen, der Lehm wurde dicker. Aiyuk hörte seine langsamen Schritte. Bei jedem Schritt sank sein Fuß ein wenig ein und wurde mit einem leichten Sauggeräusch abgezogen. Die Fackel wackelte und schlug leicht gegen die vorkragende Wand.

Die Fackel, ich darf die Fackel nicht verlieren, die Fackel verlieren, und ich muß umkehren. Wenn der Bär hinter mir her rennt und ich die Fackel verliere? Er riecht mich, und ich sehe nichts, und ich bin tot, ich bin tot. Bär, hast du mich nicht gehört? Wir werden malen, Bär.

Plötzlich blieb Aiyuk stehen. Vor ihm gab es nur ein

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Loch: die Decke hatte sich gesenkt, nun mußte er kriechen. Die Decke hatte sich auf Gürtelhöhe eines Jägers gesenkt. Er entschied: es ist breit wie zwei Bären und so hoch wie ein Bär auf allen Beinen.

Der Lehm hatte aufgehört, es war leicht, auf dem glatten Fels auf den Knien voranzukommen. So plötzlich wie die Decke sich gesenkt hatte, stieg sie nun steil nach oben, so weit, wie Aiyuk nicht zu leuchten vermochte. Nun waren Wände und Boden mit Tropfsteinen bedeckt. Aiyuk leuchtete im Kreis umher. Es blitzte und glänzte ringsum; er staunte und vergaß für einen Augenblick seine Angst. Dann brachte ihn das hohle Klatschen eines Wassertropfens zur Besinnung. Er horchte, und das Hämmern in ihm wurde lauter.

Er ist da. Ich spüre ihn. Er ist da. Bär!

In diesem Augenblick sog er den schweren Duft der Bären ein, den er vor dem Engpaß noch nicht riechen konnte.

Aber wohnt der Bär in der Wasserhöhle?

Das Ungeheuerliche seiner Frage wurde ihm langsam klar. Er wußte: kein Bär wohnt dort, wo es naß ist. Vorsichtig, ohne den geringsten Laut, atmete er. Er atmete - den Bären. Nichts regte sich. Aiyuk blieb lange ohne sich zu rühren. Er atmete, er atmete nur. Mit jedem Atemzug wurde das Pochen in ihm ruhiger, dumpfer.

Es muß, es muß einen Seitengang geben. Einen Seitengang, der trocken ist.

Behutsam, ganz behutsam setzte er den linken Fuß vor, dann den rechten, dann den linken. Er blieb stehen und leuchtete. Dann sah er den riesigen, dunklen Spalt. Das Pochen wurde zu einem Hämmern, das Hämmern wurde zu Zittern. Sein rechter Arm mit der Fackel bewegte sich wie im Wind.

Allein zu sein: das ist der Tod.

Der Bärengeruch war nun in ihm. Um ihn herum glitzerte die Höhle im Fackellicht.

Die Fackel nicht verlieren, wenn ich krieche, den Lehm

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nur mit dem Fußballen berühren, auf die vorkragende Wand aufpassen, aufpassen!

Das Zittern wurde übermächtig, seine kleine, weiße linke Hand griff instinktiv nach dem Speer und krallte sich dann in seinem Bart fest.

"Ich komme, Bär!" rief er und sprang vorwärts, auf die Spalte zu, ein, zwei Schritte. "Ich komme!"

Das Hallen seiner Stimme feuerte ihn an - das Hallen war wie viele Stimmen, Stimmen von Menschen. Er sprang in den Spalt und sah das riesige Bärenfell vor sich. Zuerst war es ruhig, dann regte es sich und bewegte sich hin und her. Aiyuk schwang die Fackel im hohen Bogen von oben nach unten und sengte das Bärenfell an.

Die Tatze, die nach ihm schlug, sah er schon nicht mehr. Er war mit einem großen Sprung wieder in der Tropfsteinhöhle. Als er an der niedrigen Decke angelangt war, erschütterte ihn das Brüllen; es preßte sich in die Ohren. Aiyuk rutschte auf dem glatten Stein aus, fing sich, riß das Knie auf und fiel wieder der Länge nach hin. Im Fallen aber glitt er durch den Engpaß hindurch und hielt erst an, als sein Gesicht vom feuchten Lehm bedeckt wurde.

Augen! Meine Augen, Fackel!

Mit der linken Hand wischte er über die Augen, und dann hörte er es dicht hinter sich, das aufgeregte Keuchen und nochmals ein Brüllen. Wieder auf den Knien drehte er sich um und stieß die Fackel in Richtung des Bären. Kurz, ganz kurz sah Aiyuk zwei Augen und das Glänzen eines einzigen langen Zahns. Dann schlössen sich die Augen, blinkten, öffneten sich. Der Bär, noch im Engpaß, blieb stehen. Aiyuk nutzte den Augenblick, stolperte, griff sich ans blutige Knie, stand auf, sackte kurz zusammen und spurtete dann aus der Hocke nach vorne. Das Zittern war verschwunden. Er rannte. Die Fackel wippte so laut, daß Aiyuk das Pfropf-Geräusch der Bärentatzen im Lehm nicht hören konnte. Auch das Brüllen hörte er nicht. Das Blut an seinem Knie gab es nicht.

Der Fels, da oben, da!

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Er rannte, rieb den Oberarm, dann die Hand an den Felswänden, rannte weiter. Knie, Handrücken und der aufgeschürfte Oberarm bluteten immer stärker. Der schwere Atem war wieder dicht hinter ihm. Die Krallen schlugen bisweilen gegen die Felswand, und ein hohles, hastiges Kratzen hallte durch den Gang. Eine Sekunde lang gab es kein Geräusch: der Bär war mit der Schnauze gegen den vorkragenden Fels gestoßen. Er brüllte nochmals und lief noch schneller. Aiyuk rannte nicht mehr: er sprang in großen Sätzen. Um die nächste Ecke sah er das Licht, das Sonnenlicht, noch zwei Sprünge und er rannte, dicke, rote Blutstropfen hinterlassend, auf dem Schnee. Die Fackel warf er beiseite. Licht!

Er sah Arme, Speere, sah Köpfe, deren Gesichter er nicht wahrnehmen konnte. Aiyuk rannte zu der Stelle, wo er seine Speere hingelegt hatte. Unmittelbar am Höhleneingang war der Bär, geblendet, stehen geblieben. Er schnupperte mit leichten Kopfbewegungen. Dann richtete er sich auf und breitete die Pranken aus.

Im Umdrehen hörte Aiyuk das Zischen der Speere. Drei, vier Speere drangen in die Seite und Brust des Bären ein. Er brüllte laut, dann leiser. Das letzte Brüllen war mit dem Gurgeln des Bluts, das ihm aus dem Mund schoß, vermischt. Der Bär machte einen kleinen Schritt nach vorne und rollte dann über die Schulter ab. Er blieb vor Aiyuk liegen, reckte sich mit ausgestreckten Krallen und starb.

Aiyuk sagte nichts. Er senkte den Arm mit dem Speer und der Speerschleuder und schaute den Höhlenbären an. Männer und Frauen standen auf. Hikiijaut sprang vor Freude über den Felsbrocken, hinter dem sie sich versteckt gehalten hatte. Die kleine Lucuwat sprang an ihrer Mutter Fagayuk hoch. Eschona stand daneben und sagte zwei Worte, die von Lucuwats Freudengeschrei übertönt wurden. Dann wiederholte er die Worte. In diesem Augenblick geschah es:

Hikiijaut und der eifrige Kukikatugak hatten vor Freude ihre Speere in die Höhe geworfen; Eschona rief: "Erst ab-

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warten!" und dann schoß ein zweiter Bär aus der Höhle, gerade auf Hikiijaut zu, die links von Aiyuk stand und keine Waffe hielt. Sie warf sich, rollte beiseite, stand auf und rannte davon. Der Bär war auf genau die Stelle gesprungen, an der sie gestanden hatte. In der Zeit, in der Aiyuk den Arm mit Speerschleuder und Speer hatte hochheben können, hatte er seinen Speer abgeschossen. Der Bär aber war mit einer solchen wuchtigen Schnelligkeit aus der Höhle gespurtet, daß Aiyuks Speer lediglich sein Fell streifte. Rechts von Aiyuk stand nur noch der alte Tore; auch er hatte, erfahrener in Bärenangriffen, sofort den Speer geworfen. Doch der Bär, der jetzt ganz auf der anderen Seite des Höhlenvorplatzes rannte, war zu weit weg. Der Speer klackte gegen das Gestein und splitterte entzwei. Aiyuk sah nur noch, wie Fagayuk mit einem gezückten Speer dastand, als der Bär Hikiijaut schon beinahe erreicht hatte; er sah nur noch, wie Kukikatugak beiseiterollte und schrie. Denn da geschah das für ihn Unfaßbare, da geschah, was noch keinem Mammut-Menschen seit Menschengedenken passiert war. Ein dritter Bär, eine etwas kleinere Bärin, schnupperte ganz kurz und rannte, ohne sich aufzurichten, auf Aiyuk zu.

Sterben, jetzt, wo ist mein Speer, weg!

Und mit dem Speer in der Linken, ohne daß er hätte werfen können, drehte er sich in rasender Eile um. Er sprang über den kniehohen, breiten Felsbrocken, hinter dem sich Tore verborgen gehalten hatte und rannte am Abhang entlang auf dem Höhlenplateau. Tore stob davon. Aiyuk sah ihn nur aus den Augenwinkeln.

Jetzt, weg, der Bär, mich nicht gehört, zu Ende schon, erste Bärenjagd, wohin, wo ist Kukikatugak, helft mir!

Er rannte um sein Leben, blutete und schwitzte und fror zugleich. Die Panik trieb ihn an; wie im Traum hörte er das Rauschen des Windes in den Ohren. Es schien ihm, als ob er lautlos schweben würde. Das kurzatmige Schnauben und Keuchen dicht hinter ihm schien so weit weg, als ob es bereits zu einem anderen Leben gehört hätte, als ob ihm das

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Keuchen nichts anhaben könnte. Er rannte und rannte, stolperte und erwartete das Keuchen in seinem Ohr, erwartete das Keuchen auf seinem Rücken, erwartete die Krallen und den kurzen Schmerz; erwartete Ruhe und Schlaf. Doch nichts geschah. Erst viele Schritte hinter ihm hörte er das Schaben der Krallen auf dem Gestein. Aiyuk stand wieder auf, rannte noch einige Schritte und blieb auf der Stelle stehen. Vor ihm endete das Plateau. Erst viele hundert Schritte tiefer fing die Tundraebene an. Auch auf der anderen Seite neben ihm stieg der Fels beinahe senkrecht nach oben. Aiyuk drehte sich um, mit dem Rücken zur Felswand. Zehn Schritte vor ihm blieb die Bärin wie angewurzelt stehen, schnupperte und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Die Bärin brüllte kurz und ging zwei Schritte vor. Aiyuk, der seit dem Fall ganz ruhig geworden war, riß mit beiden Händen den Speer über den Kopf, bereit zum Zustoßen und bereit zum Sterben.

Allein zu sein: das ist mein Tod. Komm, Bärin, komm mit mir.

Die Bärin machte noch einen Schritt vor und breitete die riesigen Pranken aus. Sie blieb stehen. In diesem Augenblick traf sie ein bärenkopfgroßer Felsbrocken genau auf die Schädeldecke. Es knackte. Die Bärin stand noch da, mit weit ausgebreiteten Pranken; sie schwankte leicht von Seite zu Seite, als ob sie ein Luftzug hin und her bewegte. Dann brach sie lautlos zusammen.

Aiyuk senkte den Speer und blickte nach oben. Er sah Tore regungslos stehen.

" Tore!" schrie Aiyuk und breitete die Arme voller Freude aus. Tore weinte, er bewegte sich nicht. Nun lachte Aiyuk. Er sprang johlend auf die Bärin und rief immer wieder, "Tore, Tore, ich lebe, ich lebe, du hast mich gerettet, ich lebe!" Erst als Eschona und Kukikatugak außer Atem bei ihm ankamen, blieb Aiyuk mit dem Rücken an die Bärin gelehnt, ruhig liegen.

"Du lebst", lachte Kukikatugak und warf sich auf ihn.

"Alle leben, alle sind gesund", meinte Eschona lachend.

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"Als der Bär Hikiijaut erreicht hatte, wurde er von Kukika-tugak mit einem Stein abgelenkt. Fagayuk, Teschadjuk und ich trafen ihn dann in den Rücken." Er fuhr mit der Hand über den Bärenschädel und nickte. Aiyuk machte sich von Kukikatugak frei und sprang auf. Tore war gekommen. Aiyuk umarmte ihn und streichelte seinen Rük-ken. Fagayuk und die anderen kamen bei Aiyuk an.

"Wir waren nicht vorsichtig genug", sagte Fagayuk. Ihre Worte waren die große Ernüchterung. Niemand antwortete.

"Aber jetzt kommt kein Bär mehr?" fragte Lucuwat. Kukikatugak lachte zuerst.

"Genug Bärenschinken", meinte er und schlug mit der Faust auf den Bärenpelz.

"Drei Bären", sagte Fagayuk. "Wir können nur zwei Bären tragen. Am besten vergraben wir den größten."

So war es immer auf Großjagden. Niemand widersprach ihr.

"Schnell", sagte Eschona. "Wir haben nur noch einen halben Tag bis zur Dunkelheit. Ich werde graben."

Ohne weitere Worte gingen alle an die Arbeit. Kukikatugak und Eschona fingen, wieder vor der Höhle, mit ihren schmalen Steinbeilen zu graben an, direkt neben dem ersten großen Bären. Sie mußten hinknien, um mit den kurzen Holzgriffen zu graben; in dem Holzgriff eingelassen und mit Riemen daran befestigt befand sich der schmale, genau zurecht gehämmerte Stein. Es war eher ein Hacken als ein Graben, denn der Permafrost unter der dünnen Schneedecke war noch immer hart. Wer einen Bären nicht vergrub, sah am nächsten Tag nur noch ein Gerippe.

Im späten Winter waren die Wölfe immer hungrig; wann waren sie denn nicht hungrig?

Aiyuk und Tore gingen zusammen zur Höhle zurück, um Stangen und Felle zu holen. Aiyuk klopfte Tore immer wieder auf den Rücken, streichelte seinen Oberarm: dein Arm hat meinen Arm beschützt. Ich lebe.

"Dein Knie?" fragte Tore.

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"Nur aufgeschürft", antwortete Aiyuk.

Mit langen Stangen in den Händen kamen sie wieder bei der Bärin an, die wie zusammengekauert dalag. Die langen Stangen hatten sie zu zweit, einer hinter dem anderen, auf der Schulter getragen. Nun legten sie sie auf den Schnee unmittelbar neben der Bärin und breiteten sie aus. Denn einen Bären transportierten die Menschen folgendermaßen: Zwei lange Holzstangen wurden mit dem oberen Ende überkreuz hingelegt, so daß die Stangen unten weit auseinander gingen. Über die unteren, auseinander liegenden Enden wurde eine Querstange gelegt, die mit Riemen befestigt wurde. Auf dieses spitze Dreieck wurden zur größeren Belastbarkeit zwei Wisentfelle gelegt und mittels vorher gebohrter Löcher mit Riemen an das Gestell gebunden. So entstand eine Fläche in einem Dreieck. Am oberen Ende ragten die beiden langen Stangen überkreuz hervor; das waren die Haltegriffe. Tore, Aiyuk und Hikiijaut, die hinzugekommen war, und Fagayuk rollten die Bärin auf das Dreiecksgestell und legten sie flach auf den Rücken. Auf diese Weise war ihr Gewicht gleich verteilt. Das spitze Ende des Dreiecksgestells wurde daraufhin auf Hüfthöhe angehoben. Aiyuk und Fagayuk auf der einen, Tore und Hikiijaut auf der anderen Seite zogen an den Stangen. So glitt das hintere Teil des Gestells über den Schnee.

Bei den anderen angekommen hielten sie an. Der andere Bär, der Hikiijaut erschlagen wollte, war bereits aufgeladen. Nun grub auch Gukall mit seinem Beil. Bald war das Loch hüft-, beinahe brusthoch. Es durfte nicht zu schmal sein, denn dann konnten die Wölfe den Bären über Nacht ausgraben; es durfte jedoch auch nicht zu tief sein: wie sollten die Menschen ansonsten den Bären wieder aus dem Loch holen? Kukikatugak, Gukall und Eschona rollten den Bären in das Loch und begruben ihn mit erstarrter Erde, Steinen und Schnee; über Nacht würde der Schnee zufrieren.

Viele Stunden lang zogen die Mammut-Menschen die beiden Bären. Die Sonne ging unter. Die Anstrengung

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wurde immer größer; die Euphorie nach der gelungenen Jagd trug sie über die Tundraebene, am Rande ihrer Kräfte.

Weit entfernt sahen sie ein winziges Licht. Es war die Höhle, wo Tunulig, Oschet und das Kleinkind warteten.

Aiyuk zog zusammen mit Tore an einer Stange.

"Tore", sagte Aiyuk plötzlich, "ich muß mit dir sprechen, allein, später."

Tore schaute ihn kurz an, blickte dann zu Boden und errötete.

"Später", sagte er leise.

Das Licht kam immer näher. Lucuwat lief voran, und bald hörte man das Geschrei der beiden Kinder. Doregak, Tunulig und Oschet standen vor dem Feuer.

Fagayuk umarmte sie: "Alle gesund, es waren drei Bären. " Tunulig nickte. Wie alle anderen warf sich auch Kuki-katugak vor Erschöpfung auf sein Lager. Aiyuk keuchte und rieb sich das pochende Knie. Tunulig kam zu ihm und sagte: "Laß mich sehen." Dann sagte sie: "Es ist nicht schlimm. Schmiere diese Gallensalbe auf Knie, Hände und Schulter." Nach dem Einreiben döste Aiyuk. Tunulig und Oschet nahmen die Innereien der Bären aus und trugen sie hinaus in die Dunkelheit. Nur die Galle behielten die Menschen, die gut für Wunden war.

"Gukall", sagte Oschet leise, noch immer mit geschwollener Wange.

"Du hast recht", antwortete er und stand mühsam auf. "Die Wölfe werden bald kommen." Gukall nahm Speere und Speerwerfer, ging aber nur kurz vor die Höhle. In der Nacht wo die Wölfe kommen würden, um die Innereien zu essen, ging der Augen-Mensch nur wenige Schritte vor die Höhle.

Oschet, Doregak und Tunulig lösten das Fell von den Bärenschenkeln und schnitten das Muskelfleisch heraus. Eschona war aufgestanden und half ihnen. Sie schnitten dünne Scheiben ab, die aufgespießt über dem Feuer angebraten und nach kurzem Abkühlen vom Stock gebissen wurden. Dabei half das Faustkeilmesser, das an den Zäh-

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nen entlang geführt wurde und das Fleisch durchtrennte. Auch Aiyuk war nun aufgestanden. Das Feuer loderte so hoch wie ein Bär, alle aßen und aßen. Aus den Steinbockschläuchen tranken die Mammut-Menschen Wasser, indem sie den Kopf nach hinten legten und aus einem kleinen Loch das Wasser in den Mund drückten. Immer wieder spritzten sie sich das fettglänzende Gesicht voll.

Noch immer aßen die Mammut-Menschen; das Fasten der letzten Tage, das Fasten mit dem alten Renfleisch war vergessen. Es gab nur Bären und Bärenfleisch.

Ich lebe, ich lebe, es ist gut, alles ist gut, das Fleisch!

Und Aiyuk sagte nichts, und Kukikatugak sagte nichts und schmatzte nur. Lange aßen die Mammut-Menschen und aßen nur. Kukikatugak hörte erst auf, als er Bauchschmerzen bekam und sich hinlegen mußte. Die Kinder schliefen bereits, dann legten sich Eschona, Fagayuk und die anderen schlafen.

Aiyuk lag auf dem Rücken unter seinem Wisentfell. Neben ihm schnarchte Kukikatugak.

Es ist gut, es ist gut. Ich werde das nächste Mal vorsichtiger sein. Es ist gut. Nein. Es ist nicht alles gut, ich muß noch mit Tore sprechen. Er muß es mir sagen. Warum redet niemand mit mir darüber? Ist es wahr, daß ich von den Pferde-Menschen komme? Und wenn es wahr ist, warum reden Tunulig und Tore, die Alten, nicht davon? Was ist Schlechtes an den Pferde-Menschen? Kukikatugak sagte einmal, sie würden nicht so gut jagen wie wir, aber ich glaube es nicht. Wir sind keine fünfzehn Mammut-Menschen, doch die Pferde-Menschen sind zweimal zwanzig. Also müssen sie gut jagen, um so viele Menschen zu ernähren. Woher komme ich?

Er begann einzuschlafen. Das vertraute Flackern der Flamme an den Steinwänden beruhigte ihn und ließ ihn die Zweifel vergessen.

In weiter Ferne heulten die Wölfe. Doch da knackte es neben ihm. Er fuhr auf, die Augen weit aufgerissen. Es war Oschet.

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"Laß mich bei dir liegen", sagte sie leise und schlüpfte unter sein Wisentfell. "Wenn ich bei dir bin, geht es meinem Zahn besser. Und du läßt dich quälen von der Jagd, ich habe dich beobachtet."

Aiyuk lächelte und nahm sie in den Arm. Früher, einen Sommer und einen Winter lang, waren sie miteinander gelegen. Es war viele Sommer her, da hatte sie Brüste bekommen. Sie beschlossen, zusammen zu liegen, um es zu machen wie die Großen. Aber bald verflog der erste Rausch. Sie hatten viel Spaß miteinander, und alle hatten mit Freude ihr Zusammenliegen gesehen, auch wenn sie beide nur dreizehn Sommer zählten. Die Mammut-Menschen brauchten Kinder. Aiyuk hatte ihr aus Elfenbein eine Furchtbarkeitsfigur mit besonders großen Brüsten und Hüften geschnitzt; aber sie blieb kinderlos, und das war gut so, denn nach dieser Zeit stellten Aiyuk und Oschet gemeinsam fest, daß sie füreinander nicht das Gefühl, wie es die Mammut-Menschen nannten, bekommen hatten. Eschona und Fagayuk besaßen dieses Gefühl schon seit vielen Sommern, und so blieben sie beieinander liegen. Doch Aiyuk und Oschet bekamen das Gefühl nicht. Gewiß, das kleine Gefühl, das behielten sie immer bei. So lagen sie nur noch selten miteinander. Wenn Gukall öfters mit ihr lag, kümmerte das Aiyuk nicht. Doch manchmal, da war die alte Vertrautheit da — wenn sie, wie häufig, Zahnschmerzen hatte oder wie heute, an dem Tag, an dem Aiyuk Bärenjäger geworden war.

Sie rieben die Nasen miteinander und öffneten den Mund gegeneinander. Oschet streichelte Aiyuks Gesicht und seinen Körper und sein Glied, und ließ es steif werden in ihrer festen kleinen Hand.

" Komm auf mich, ich bin müde", flüsterte er, indem er seine Nase an ihrem Hals rieb.

Aiyuk blieb lange in ihr. Als er ihr seinen Samen gegeben hatte, glitt sie von ihm herab und schlief in seinem Arm ein. Aiyuk schloß die Augen. Die Erschöpfung trug ihn langsam in den Schlaf. Er fühlte nur die Schwere, die große Schwere. Doch als er, zufrieden und ermattet, einschlief, hallte noch die eine Frage in ihm nach: Woher komme ich?

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