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Das Ren

 

 

 

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Noch einen ganzen Tag zogen die Mammut-Menschen bergab. Der knurrende Magen meldete sich immer aufdringlicher. Immer öfters griffen die Menschen in den Schnee, der den Magen so kalt werden ließ, sie aber immerhin vom schlimmsten Hungerschmerz befreite. Niemand hatte Lust, ein fröhliches Lied zu singen: dafür drückte der Hunger zu sehr, dafür zitterten die Beine zu sehr beim steilen Abstieg. Stellenweise war der Schnee schon geschmolzen, so daß die Menschen sehr schnell vorankamen. Der Himmel hatte sich wieder bewölkt. Trotzdem war das kräftig-grüne Leuchten der Tundraebene nicht zu leugnen. Grün bedeutete: Beeren und Wurzeln und Knollen. Schon seit Monaten hatten die Menschen keine Pflanzen mehr essen können. Und braun bedeutete: Ren!

Nach vielen Stunden lag der schwierigste Abstieg hinter ihnen. Weil er sich nicht mehr so stark auf die Beine konzentrieren mußte, begann Kukikatugak auf seinen unersättlichen Magen zu schimpfen.

"Das hilft dem Hunger nicht", meinte Tunulig.

Lucuwat fing vor Hunger an zu weinen.

Aiyuk legte den Arm auf Kukikatugaks Schulter. Eschona nahm Lucuwat an die Hand und sagte: "Denk an das Ren morgen. Da kannst du so viel essen wie du willst." Und um Lucuwat und nicht nur Lucuwat vom Hungerschmerz abzulenken, begann er in seiner ruhigen, stillen Art zu erzählen:

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"Das Ren ist ein wunderliches Tier, weißt du. Ich erzähle dir, wie das Ren sein Geweih bekam, ja?

Es war nämlich so: Einst war die Erde grün, und die Rene ästen nicht nur die Flechten und Gräser, sondern auch von den Bäumen. Da gab es eigentümliche und hohe Bäume, höher als jetzt. Die Rene schickten eines der größten Rene auf die Höhe, um Augen-Ren zu sein, damit sich kein Löwe anschleichen sollte. Oben auf der Höhe sah das Ren einen Baum, von dem es noch nie gekostet hatte. Da schnupperte es und kostete erst ein Blatt, dann noch ein Blatt und noch ein Blatt. Der Baum schmeckte so wunderbar wie Hirschrücken oder Bärenhirn. Das Ren äste und äste von dem Baum. Jedes Mal, wenn ein Blatt aufgegessen wurde, wuchsen zwei Blätter nach, und die schmeckten noch besser, wie das Hirschkalb. 'Das ist aber ein lustiger Baum', dachte das Ren. Da merkte es auf einmal, daß der Baum noch viel lustiger war, als es sich das Ren gedacht hatte: denn wer von den nachgewachsenen Blättern aß, wurde unsichtbar! Das Ren konnte seine Hufe gar nicht mehr sehen; sein Körper war verschwunden. Da kamen Löwen daher, und Bären und Wölfe und Hyänen: sie alle schnupperten und schnupperten und rochen das Ren, aber nichts war zu sehen. Da lachte das Ren in sich hinein und äste weiter von den Blättern, die immer besser schmeckten. Längst war die Renherde in Richtung Nacht weitergezogen, und noch immer äste das Ren. Es blieb an der gleichen Stelle stehen, denn da wuchsen genug schmackhafte Blätter nach. Weil das Ren immer an der gleichen Stelle blieb, wuchs es allmählich mit dem Baum zusammen. Es konnte nicht mehr weg. Das kümmerte das Ren aber nicht; wer immer gut zu essen hat, der bleibt gern am gleichen Ort.

So verging der Sommer. Der Herbst kam. Der Baum begann, seine zarten, grünen Blätter mit Ockerfarbe anzumalen, um sie schließlich ganz abzuwerfen. Aus den Zweigen und Ästen wich der Saft. Das Ren, das nun wieder sichtbar wurde, vermochte sich loszureißen - es zerrte und zog an den trockenen Ästen und befreite sich schließlich. Doch

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einige Aste waren mit seinem Kopf zusammengewachsen. Diesen Ästen gab das Ren Saft von seinem eigenen Körper, und so wurden die Äste zum Rengeweih.

Von der Höhe herab sah das Ren, wie die Herde aus der Nacht zurückkehrte, und schloß sich ihnen wieder an. Es war Brunstzeit. Im nächsten Frühjahr kalbten die Renkühe erst zwei, im übernächsten Frühjahr vier Renkälber, denen das Geweih aus dem Kopf wuchs. So bekamen bald alle Rene das Geweih, und ähnlich erging es den Hirschen und den Saiga-Antilopen.

Darum soll man nie von Pflanzen und Bäumen essen, die wir nicht kennen. Denn was sollten wir Menschen schon mit einem Geweih anfangen?"

Lucuwat strahlte über das ganze Gesicht. Auch für alle anderen, die andächtig zugehört hatten, war der schlimmste Hunger zeitweilig vergessen.

Noch vor dem Abend schlugen die Menschen ihr Lager auf, am Fuß der Berge. Eschona, Aiyuk und Tunulig besprachen sich kurz, dann rief Tunulig Lucuwat herbei: " Liebes Kind", sagte sie, " du warst nun zum ersten Mal bei der Malzeremonie dabei, als wir dem Bärengeist Frieden geschenkt haben. Nun haben wir beschlossen, daß du morgen zum ersten Mal mit deinen Speeren als Renjägerin an der Jagd teilnehmen sollst; aber nur, wenn du keine Angst haben wirst."

"Nein, nein, nein", rief Lucuwat und sprang jauchzend an Tunulig hoch, "nein, nein, ich habe keine Angst, ich bin eine Jägerin, ich bin eine Jägerin!"

"Deine Mutter Fagayuk und dein Vater Eschona und dein älterer Freund Aiyuk haben mir versichert, daß du schon sehr gut triffst. Ist das wahr?"

"Ja, ja, ja, es ist wahr, ich bin jetzt eine Renjägerin!" Lucuwat sprang vor Freude im Kreis umher. Der Hunger war vergessen. Der stolze Augenblick im Leben der Lucuwat war gekommen: Nun ging sie nicht mehr nur zur Beobachtung beim Jagen mit; nun nahm sie nicht nur an den Pferdetreibjagden als Treiberin teil. Jetzt wurde sie mitver-

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antwortlich für das Fleisch. Sie hatte die erste Stufe der Jagd erreicht. Zuerst wurden die Menschen Ren-, Hirschoder Antilopenjäger, da dies die ungefährlichsten Großwildtierewaren; dann Wisent-oder Wildschweinjäger; erst zum Schluß, lange nach dem Erwachsenwerden, wenn man allein in die Höhle eindrang - Bärenjäger.

Eschona und Aiyuk streichelten Lucuwat, die nun ihren Arm um Aiyuks Hüfte gelegt hatte und deren Gesicht vor Freude glühte. Aiyuk war stolz auf seine Schülerin, die so gut ihr Ziel traf. Als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, sagte sie: "Ich zeige es euch." Obwohl das Zelt noch nicht aufgebaut worden war, versammelten sich alle und schauten Lucuwat zu. Sie ließ einen Speer nach dem anderen vom Speerwerfer schnellen. Die große Wucht, mit der Kukikatugak warf, fehlte; aber jeder Wurf traf den anvisierten, niederen Busch. Nach jedem Wurf suchte Lucuwat Tunuligs Augen als Bestätigung. Dies war ein schöner Augenblick für alle Menschen, und trotz des Hungers kam wieder das alte und gute Gefühl auf, das die Menschen zusammenschweißte.

Doch am nächsten Tag wurde das gute Gefühl vertrieben. Das geschah so: Noch bevor die Sonne aufgestanden war und die Sterne in ihren Wisentsack eingesammelt hatte, waren die Mammut-Menschen zusammengekommen. Die Jagd wurde geplant. Gukall, noch sehr schwach, blieb ebenfalls; und wo Gukall war, war nun auch Oschet. Tunulig, Oschet und Gukall würden nach Wurzeln und Knollen suchen, während die anderen jagten.

Fagayuk packte das Kleinkind, das vergnügt im Kreise umherkroch — als einziges hatte es gegessen -, und legte es in Tunuligs Schoß. Fagayuk stand auf, um sich zu bewaffnen, da zischte Eschona: "Du bleibst!" Fagayuks Gesicht wurde weiß, alle hielten den Atem an. Fagayuk machte einen Schritt auf Eschona zu, streichelte seinen Oberarm und rieb ihre Nase an seiner Schulter. Doch Eschona wandte sich ab. Zitternd setzte sich Fagayuk.

Nun war es bei den Menschen nicht der Brauch, daß der

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Mann der Frau oder die Frau dem Mann etwas befahl. Jeder tat, was nötig war. Wenn jemand den anderen um etwas bat, dann tat das der andere, weil es sinnvoll war. Nie wurde etwas Sinnloses verlangt. Und so war Eschonas Ausruf ein Zeichen des Mißfallens mit Fagayuk, die bei ihm lag, und kein Befehl. Noch immer zürnte er ihr, weil sie aus Angst um das Kind Gukall in den Tod geschickt hätte.

"Wir haben ihr verziehen", lenkte Oschet ein. "Man soll nicht mehr darüber reden."

"Ich rede nicht darüber", erwiderte Eschona, der sich nun gefaßt hatte. Und ruhiger, beinahe so ruhig wie sonst immer, fuhr er fort: "Aber heute gehen wir ohne Fagayuk."

Das bedeutete: Mein Ärger ist noch groß, aber nicht furchtbar groß.

Für heute war entschieden, daß Fagayuk am Feuer blieb.

Eschona und Doregak entschieden sich, miteinander einen Trupp zu bilden. Sofort sagte Tore: " Ich gehe mit den beiden Frauen." Aiyuk blickte erstaunt auf. Schon wieder wich ihm Tore aus.

Es blieben nur noch Aiyuk, der wie immer mit seiner Schülerin Lucuwat ging; und wie immer ging Kukikatugak mit seinem Freund Aiyuk. Auf diese Weise wurden drei kleine Trupps von ungefähr gleicher Geschicklichkeit gebildet.

"Wer soll die Kuh fangen?" fragte Tunulig.

"Wir wollen es versuchen", sagte Hiküjaut und legte ihren Arm um ihre Freundin Teschadjuk. Zu diesem Zweck hatten sie bereits ihre Basalt-Bolas eingepackt, die um die Sprungbeine der Renkühe geworfen wurden. Renkühe im Frühjahr: das bedeutete Milch, eine große Kostbarkeit für Menschen, die immer nur Wasser tranken.

"Dann werden Doregak und ich treiben", antwortete Eschona.

Der Jagdplan war gefaßt. Zusammen brachen die drei Jagdtrupps auf, mit Tragestangen und Tragefellen schwer bepackt. Trotz des Hungers war die Aufregung gering. Schweigend gingen die Menschen über die erwachende

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Tundra, nicht jeder dachte an die Jagd. Zu bedeutsam, zu störend für den Gleichmut der Jäger war der Vorfall im Zelt gewesen. Wenn es Streit gab, und das war selten, hatte Tunulig immer gesagt: Die Menschen brauchen den Streit nicht. Einigt euch.

Dieses Mal war es aber kein Streit gewesen. Es war lediglich ein Gefühl zwischen Eschona und Fagayuk gekommen: das Gefühl des Vertrauensverlusts. Nichts war wichtiger für die kleine Gemeinschaft als Vertrauen, denn ohne Vertrauen gab es keinen Zusammenhalt, und ohne Zusammenhalt gab es nur den Tod. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen. Doch irgendwann kam die Gelegenheit, wenn jemand die Gemeinschaft hinter sich selbst zurückstellte, und alle mußten sterben. So weit dachte Aiyuk nicht. Eine solche Vorstellung war ihm noch fremd, wenn auch Tunulig die Gefahr witterte. Nein, in Aiyuk kam nur das Gefühl der Trauer auf.

Was ist das nur? dachte er. Eschona, der doch sonst so wenig Aufsehen um seine Person machte, ist auf einmal mit Fagayuk böse. Gukall und Oschet haben doch verziehen.

Er schaute Eschona von der Seite an. Eschona zeigte keine Regung. Da kam Aiyuk ein Gedanke, der ihm zum ersten Mal einen Einblick in Eschonas Seele schenkte — in die Seele eines Menschen, den er bisher so hoch geachtet hatte wie nur noch Tunulig: Ich verstehe dich, Eschona, ich sehe deine Schwäche. Du hast von Fagayuk so viel erwartet wie von dir selbst, der du dich immer für die Gemeinschaft zu opfern bereit bist. Ein einziges Mal, nur ein einziges Mal hat sie, die sonst so ruhig ist wie du, dich enttäuscht. Daher fällt es dir schwer, ihr zu verzeihen. Wer einmal einen Fehltritt begeht, dem wird nur schwerlich verziehen. Wer aber oft einen Fehltritt begeht, von dem erwartet man weniger. Arme Fagayuk: Obwohl dich alle anderen noch immer achten und lieben, hast du doch nur den enttäuscht, der zu viel von dir erwartet hat.

Ja, vielleicht habe ich auch zu viel von Eschona erwartet.

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Er ist nicht nur der ruhige Jäger, der Besonnene, sondern vor allem ein Mensch.

Und da dachte er an Tore: Ja, Tore. Vielleicht habe ich auch von dir zu viel erwartet, du mein älterer Freund. Wenn du mir ausweichst, hast du wohl einen Grund dazu, der mich vielleicht schützen soll. Vielleicht soll ich dich nicht mehr mit meinen Fragen plagen. Welches Recht habe ich, einen alten Mann, den Arthritis und Rheuma quälen, auch noch mit Fragen zu belästigen?

Und er nahm sich vor, wieder liebevoller zu Tore zu sein, und ihn, wenn er es nur aushalten konnte, nicht länger mit dem fragenden Blick zu prüfen.

Der Trauer folgten die Gedanken über Eschona und Fagayuk, die plötzlich Menschen geworden waren, und über Tore den Geplagten. In den frühen Morgenstunden, in denen die Menschen über die Tundra gingen, betrat Aiyuk unbemerkt von den anderen die Erwachsenenwelt. Das Tor zur Erwachsenenwelt bildete nicht die erste Bärenjagd, sondern das Verständnis und die Menschenliebe. Aiyuk lächelte über seine Wut auf die Wölfe und verstand sich selbst nicht mehr. Wie kann man sich über Tiere ärgern, die doch nichts anderes tun als das, was ihnen der Hunger vorgibt? Da hatte Eschona Recht gehabt. In diesem hatte Eschona einen tieferen Einblick in die Tiere gehabt als er. Aber nun hatte er, Aiyuk, Eschonas Fehler durchschaut und ihn als Menschen schätzen gelernt.

"Eschona", sagte er leise. "Ich möchte nach der Jagd mit dir sprechen - wenn du willst", fügte er bescheiden hinzu, denn in seiner Erkenntnis lag kein Triumph, sondern der Wunsch, den Menschenfrieden wiederherzustellen.

Eschona, aus den eigenen Gedanken aufgeschreckt, schaute ihn zuerst fragend an. Noch nie hatte Aiyuk so sicher und so ernst mit ihm gesprochen. Die Rollen waren vertauscht.

"Ja, es ist gut. Wenn es wichtig ist."

"Es ist wichtig."

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Kukikatugak löste die Spannung: "Das Füchslein hat nachgedacht, jetzt will es ausspucken."

Aiyuk lächelte nur. Die Zeit, wo Kukikatugak gutmütige Puffe in die Seite oder Farn ins Gesicht bekam, war mit einem Mal vorüber. Alle fühlten, daß sich etwas geändert hatte, sogar Lucuwat.

"Bist du böse auf Eschona?" fragte sie Aiyuk.

"Nein, Kind, nein. Ich bin auf niemanden böse", und er warf einen wohlmeinenden Blick auf Tore, der zuerst fragend, dann unsicher und doch erleichtert Aiyuks Gesicht musterte. Aber Aiyuk ließ sich nichts anmerken, und schweigend gingen die Jäger weiter.

Kukikatugak warf einen trockenen Grasbüschel in die Höhe, um den Wind zu prüfen. Die Grashalme kamen wieder zu den Menschen zurück, und das war gut so.

Hinter der nächsten kleinen Anhöhe erblickten die Menschen die erste große Renherde. Alle legten sich flach auf den Boden, um die Tiere zu beobachten. Sie waren noch zwei Stunden Wegs entfernt und ästen ruhig. Ja, das war gut: Einige Kühe hatten schon gekalbt. Die Leittiere merkten nichts von den Menschen. Aiyuks Gedanken wandten sich den Tieren zu; der Hunger nagte so stark wie noch nie in ihm, und in Kukikatugaks Mund hörte er das verhaltene Schmatzen des Hungerspeichels. Auch Eschonas besorgte Miene war verwandelt in die angespannte Miene des Jägers, bei dem die Jagd um Leben oder Tod ging. Wenn er unvorsichtig war, würden die Tiere etwas riechen und in Panik fliehen, ehe auch nur ein einziger Jäger zum Wurf gelangte.

"Wartet, bis die Sonne an dem Weißbaum da angekommen sein wird", flüsterte er und zeigte auf eine alleinstehende Birke. "Wir warten noch die Zeit, die eine Mahlzeit dauert. Dann seid ihr fast an der Herde, und wir beginnen, ja?"

Alle nickten, auch Lucuwat, die aufgeregt ihren Speerwerfer umklammerte. Aiyuk streichelte ihre Haare. "Gute Jagd, Renjägerin", sagte Eschona zu ihr und lächelte. Dann

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setzte er die Renkappe auf, und er und Doregak banden sich zwei Renfelle auf den Rücken. Gebückt, manchmal kniend, wenn es keine Büsche zur Deckung gab, schlichen sie sich davon, um hinter der Herde einen weiten Bogen zu schlagen und sie den beiden anderen Trupps zuzutreiben. Wer weiß — vielleicht hatten sie sogar besonderes Glück und begannen die Treibjagd mit einem Speerwurf, der ihnen schon ein saftiges Ren sicherte.

Eine Stunde verging. Die Sonne erreichte die Birke. Nun schlichen sich die beiden Trupps an die Herde heran — zuerst gebückt und vereint, nach einer halben Stunde auf den Knien und getrennt.

Aiyuk beobachtete jede Bewegung der Tiere. Jetzt waren die einzelnen Tiere, die Kühe und die kleinen Kälber zu sehen. Immer wieder hoben die Tiere den Kopf, immer wieder hielten die Jäger an. Jede Nuance, jedes Sich-Lecken, Kauen oder Schwanzwedeln, um die immer lästigeren Stechmücken abzuwehren, war den Menschen vertraut; die Art, wie das Bein gehoben wurde, wie das Ren den Kopf plötzlich in die Höhe warf, um zu schnuppern -all das war wohl vertraut.

Allmählich spürten auch die Menschen die Stechmük-ken. Nur liegend konnten sie sich ihrer erwehren. Eine klatschende Bewegung im Knien — und schon war die Jagd vorbei, wegen einer einzigen Stechmücke. So lernte Lucu-wat die Sommerqual des Jägers beim Anschleichen kennen: Wer Ren essen wollte, mußte den Stechmücken, die trotz der Bärensalbe zustachen, ein wenig Blut schenken.

Nur ruhig, dachte Aiyuk. Rene: Gebt uns euer Leben und ich will euer Bild malen. Wir haben so Hunger. Ich verspreche es euch: Wir werden malen.

Die beiden Trupps waren nur noch wenige hundert Schritt von der Herde entfernt. Ihre Körper klebten an der Erde. Jede Deckung eines jeden Strauchs wurde ausgenutzt. Jeder trockene Grasbüschel, derein Geräusch verursacht hätte, wurde vermieden. Schritt um Schritt, immer langsamer, kam die Herde näher.

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Nicht mehr lang, nicht mehr lang, ruhig, ruhig. Wenn sie jetzt etwas merken, ist es vorbei. Ruhig, ganz ruhig, ganz ruhig.

Vorsichtig, ganz vorsichtig kroch Lucuwat hinter Kuki-katugak und Aiyuk drein. Sie hatte viel bei Aiyuk gelernt. Nicht ein Laut war zu hören.

Plötzlich hob eines der Leittiere den Kopf und schnupperte. Noch zweimal fünfundzwanzig Schritt - das war noch zu weit. Aiyuk hielt an und schloß die Augen. Manchmal ist ein leuchtendes Auge sichtbarer als ein Haarbüschel, auch bei Tag.

Die Rene ästen ruhig weiter. Noch lange schnupperten die Leittiere, ästen ganz kurz und schnupperten nochmals, die Nase nach oben gereckt.

Wie eine Schlange schob sich Aiyuk vor. Nur noch dreißig Schritte. Aiyuk schwitzte vor Aufregung. Der Hunger war wie weggeblasen. Deutlich sah Aiyuk, wie ein Kalb bei seiner Mutter trank, indem es bei der Renkuh heftig nach oben stieß. Zwei noch trächtige Kühe rannten auf und ab. Das taten sie immer vor der Geburt, weil die Kälber in ihnen treten und ausschlagen. Das war gut: Wenn einige Kühe noch trächtig waren, konnten die Kälber, die jetzt gesäugt wurden, erst wenige Tage alt sein, denn die Kühe warfen immer zur gleichen Zeit. Renkühe und Kälber: Das bedeutet - vielleicht - Milch.

Oben kreiste ein Adlerpaar. Drei Kühe begannen zu brüllen. Außer dem Bär, dem Wolf und dem Fuchs war der Adler der Feind des neugeborenen Kalbes.

Noch zwanzig Schritt.

Unruhe durchlief die Herde, angefangen bei den brüllenden Kühen. Die Leittiere reckten die Hälse nach oben, brüllten laut, als ob sie die Adler warnen wollten.

Jetzt, jetzt muß es geschehen, Eschona.

Noch fünfzehn Schritt bis zum ersten Ren, ein junger Bulle.

Jetzt!

Von Eschona und Doregak war nichts zu sehen. Aber auf

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einmal, ohne daß die Adler ihre Kreise enger gezogen hatten, pflanzte sich von der anderen Seite der Herde eine panikartige Bewegung fort. In Bruchteilen von Sekunden hatte sie die Tiere erfaßt, die wenige Schritt von den beiden Trupps ästen. Die Rene begannen mit einem wilden ersten Satz auf Aiyuk zuzurennen.

Noch zehn Schritt.

Den Speer schon im Speerwerfer, stemmte sich Aiyuk von der Erde ab, um nicht überrannt zu werden. Noch im Aufstehen warf er und traf den jungen Bullen mitten in die Brust. Lautlos brach er zusammen. Die anderen Rene sahen die Gefahr und drehten mitten im Sprung ab, fünf Schritt an Aiyuks Trupp vorbei. Da Aiyuk im Weg stand, war Kukika-tugak an Lucuwat und dann an Aiyuk seitlich vorbeigesprungen. Kukikatugak stolperte über einen Grasbüschel, und noch im Stolpern schnellte sein Speer vom Speerwerfer. Nein - diesen riesigen Bullen wollte er nicht vorbeilassen, das erlaubte sein Magen nicht!

Aber der Wurf war fehlgeleitet und traf den großen Bullen seitlich an der Schulter. Erstaunt bockte der Bulle, schlug aus, sah Kukikatugak und rannte mit gesenkten Hörnern auf ihn zu. Aiyuks zweiter Speer flog auf den Leib des Rens zu - doch in diesem Augenblick schlug das Ren aus, mitten im Lauf, so daß sein Körper in einem Bogen vorflitzte. Aiyuks Speer sauste unter das Ren hindurch, riß die Magenwand auf und ließ einen Teil der Innereien blaugräulich hervorquellen. Es war, als ob der Wurf nicht getroffen hätte - ohne anzuhalten, ohne zu zucken, rannte der Bulle weiter. Kukikatugak, der wie gebannt einige Schritte rückwärts ging, stolperte nochmals über denselben Grasbüschel. Aber dieses Mal fiel er hin und schlug hart mit dem Hinterkopf auf. Das Ren war keine zwei Schritt von ihm entfernt, Aiyuk war vor Entsetzen gelähmt, ohne Waffe, ohne Gedanken, ohne Hoffung. Das Ren senkte sein mächtiges Geweih noch tiefer, um Kukikatugak zu durchbohren.

Kukikatugak!

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Ohne daß Aiyuk es überhaupt wahrnahm, flitzte hinter ihm ein Speer vorbei und drang in die Seite des Rens ein, direkt zwischen zwei Rippen. Der Bulle wirbelte seitlich durch die Luft und blieb zitternd vor Kukikatugaks linkem Bein liegen. Noch einmal, dann noch einmal zitterte das Tier, wie im Schüttelfrost, hob noch einmal den Kopf und verdrehte dann die Augen. Ein Seufzer ging durch den Körper. Die Magenwand platzte ganz auf und entließ die Gedärme. Das Ren war tot.

Aiyuk wandte den Kopf ungläubig, wie in Trance. Schräg hinter ihm stand Lucuwat. Den rechten Arm mit dem Speerwerfer hielt sie noch in die Höhe.

Während viele hundert Schritt entfernt die Renherde vorbeidonnerte, fiel Aiyuk vor Lucuwat auf die Knie und umarmte sie.

"Du - Kind — du, liebes Kind - du hast unseren Freund gerettet!" rief er lachend unter Freundentränen. "Du, Kind, du liebes Jägerkind!"

Halb vor Schreck schluchzte auch Lucuwat und umschlang Aiyuks Kopf.

So blieben sie noch lange.

Allmählich faßte sich Aiyuk und stand auf, die Augen noch immer auf Lucuwat geheftet.

"Ich bin stolz auf dich", sagte er liebevoll und streichelte ihre langen Kinderhaare. "Verstehst du, was du da getan hast?"

Und wie benommen antwortete Lucuwat: "Was?"

"Heute bist du wirklich Jägerin geworden, eine große Jägerin. Du hast den höchsten Dienst am Menschen geleistet: Du hast auf deiner ersten Jagd einem Menschen das Leben gerettet. Heute ist der Tag der Lucuwat."

Vor Scham und vor Stolz glühte Lucuwats rundes Kindergesicht. Damit sie aber nicht zu stolz wurde, sagte Aiyuk: "Halte nach den anderen Ausschau", denn es war ihm erst da eingefallen, nach Kukikatugak zu sehen. Der lag noch, alle viere von sich gestreckt, auf der Erde. Schnell kniete Aiyuk neben seinen Freund und nahm seinen Kopf

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in die Hände. Da sah er Blut an seinen Fingern und im selben Augenblick den Stein, auf dem Kukikatugaks Hinterkopf beim Fall aufgeschlagen war. Voller Angst legte Aiyuk sein Ohr an Kukikatugaks Brust. Das Herz schlug langsam aber regelmäßig. Kukikatugak war nur bewußtlos.

Beruhigt stand Aiyuk auf, kniete wieder hin. Mit den Fingern klatschte er leicht auf Kukikatugaks Wangen. Der Kopf rollte etwas zur Seite, doch Kukikatugak erwachte nicht. Noch einmal horchte Aiyuk an Kukikatugaks Brust. Das Herz klopfte etwas schneller als vorhin. Aiyuk legte sein Wisentfell unter und auf Kukikatugak.

Gut, so ist es gut, dachte er. Bald wirst du erwachen und das liebe Kind sehen.

Lucuwat ging zu dem jungen Renbullen und schaute, wie Tore, Hikiijaut und Teschadjuk, alle drei an einer Renkuh zerrend, näherkamen.

Aiyuk stand bei dem jungen Renbullen und untersuchte die Wunden, indem er Lucuwats kleinen Speer aus dem Körper zog. Die Wunde war nicht tief. Die geplatzte Magenwand hatte das Tier getötet - aber nicht schnell genug. Doch das sagte er Lucuwat nicht. Ihr Speer war gerade tief genug eingedrungen, um den Bullen umzuwerfen, und das hatte genügt, um Kukikatugak zu retten. Alles andere zählte nicht. Dankbar legte er den Arm um die kleine Lucuwat, die freudig zu ihm heraufschaute. Sie lachte: aber nicht wegen ihres Speerwurfs, sondern weil hinter der Kuh, die Hikiijaut und Teschadjak mit allen Kräften hielten, ein Renkalb hintendrein trottete, in vorsichtiger Entfernung. Dann sah sie Kukikatugak, und bevor sie fragen konnte, sagte Aiyuk: "Er schläft nur, keine Angst. Geh zu dem Kalb, aber langsam."

Lucuwat rannte los. Im selben Augenblick rief Hikiijaut: "Aiyuk hilf uns, die Kuh bricht aus! "

Sofort sprang Aiyuk hinzu, denn nun waren die Jägerinnen keine hundert Schritt mehr entfernt. Mit starken Händen packte er das Geweih von vorne, und zu viert zwangen

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sie die Kuh auf den Boden. Schnell umwickelten Hikiijaut und Teschadjuk die Beine der zappelnden Kuh mit den Lederriemen, an denen die Basalt-Bolas festgebunden waren. Wahrscheinlich hatte Hikiijaut geworfen, den Riemen in der Mitte haltend, indem sie die beiden kleine Basaltkugeln über dem Kopf zwirbelte. Das konnte sie besonders gut. Dann wirbelten die Kugeln durch die Luft und umwanden die Sprungbeine der Kuh, die sofort zu Boden fiel.

Nun kam auch Lucuwat mit dem Kalb herbei. Ohne zu zögern legte es sich neben die Kuh und versuchte zu trinken.

" Ist Kukikatugak gesund?" fragte Tore besorgt.

"Ja, nur bewußtlos, er hat den Kopf angeschlagen. Es ist nicht schlimm."

Trotzdem untersuchte ihn Tore und nickte dann zustimmend.

Schon lange waren Aiyuk und Hikiijaut damit beschäftigt, den großen Bullen vollends auszuweiden, als Eschona und Doregak am Horizont sichtbar wurden. Langsam, außerordentlich langsam, kamen sie näher. Nach einer langen Zeit wurde der Grund klar: jeweils auf der rechten Schulter trugen Doregak und Eschona eine Stange, an der ein großes Ren an den Hufen hing. Auf der linken Schulter trugen sie, fast ebenso mühsam, ein Renkalb, dessen Hufe auf der Stange zusammengebunden waren. Hikiijaut und Teschadjuk sprangen vor Freude in die Höhe und eilten, den beiden zu helfen. Tore blieb bei der Kuh und hielt sie mit seinem Gewicht am Boden, während Lucuwat entzückt das Renkalb streichelte. Tore nickte Aiyuk freudig zu, und auch Aiyuk freute sich sehr. Ja, das war eine gute Jagd, sogar eine sehr gute. Insgesamt drei Renbullen und ein Renkalb, dazu eine lebende Renkuh mit ihrem Kalb. Für die Mammut-Menschen bedeutete das Fleisch für viele, viele Tage. Endlich sich wieder satt essen können. Nur Kukikatugak, ausgerechnet Kukikatugak, wußte nichts von ihrem Jagdglück.

Eschona und Doregak waren angekommen. Keuchend vor Erschöpfung warfen sie die Stange mit dem großen

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Renbullen auf die Erde und setzten sich. Ohne zu grüßen fragte Eschona, noch bevor er einen Schluck aus dem Trinkschlauch genommen hatte: " Ist Kukikatugak verletzt?"

"Nein", erwiderte Aiyuk, "nur bewußtlos. Es ist nicht schlimm."

Und um Eschonas besorgte Miene zu glätten, erzählte er die Geschichte von Kukikatugaks Rettung durch Eschonas Tochter.

"Komm, Lucuwat", sagte Eschona sanft. Er nahm ihre Händchen in seine großen Hände und schaute ihr lang in die Augen. "Du wirst eine große Jägerin", meinte er schließlich. "Wir sind alle sehr stolz auf dich."

Vor Scham begrub sie ihren Kopf in seinem Wisentfell.

"Was sollen wir jetzt machen?" fragte Hikiijaut. "Wir können doch nicht all die Rene und auch noch die aufgeregte Kuh ins Lager zurückbringen."

Eschona schaute zum Himmel. Es war erst Mittag. Kukikatugak schlief noch immer.

"Wegen Kukikatugak müssen wir heute nacht hierbleiben", warf Aiyuk ein.

"Ja, ja, sicher." Dann hatte Eschona eine Idee. "Wir könnten es so machen, aber sagt, was ihr denkt: Wenn Hikiijaut, Teschadjuk und Tore jetzt sofort zurückkehren, kommt ihr noch vor Abend ins Lager. Dann müssen die anderen nicht hungern. Wir bleiben hier bei Kukikatugak, bis er wieder gut gehen kann, und inzwischen kommt ihr drei mit Gukall, Oschet, Tunulig und Fagayuk zu uns."

"Das ist ein guter Plan", stimmte Tore zu. "Als ich jung war, haben wir es auch einmal so gemacht, als es so viele Tiere bei der Jagd gab. Warum soll das Zeltlager nicht auch zu uns kommen?"

Alle stimmten zu. Es war wirklich ein hervorragender Plan. Sofort machten sich Hikiijaut und Teschadjuk daran, dem großen Renbullen die beiden Sprungbeine abzutrennen. Mit seinem Messer öffnete Doregak die Schädeldecke und schälte das Gehirn heraus.

"Nehmt das mit, für den Weg", meinte er.

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Tore, Hikiij aut und Teschadjuk brachen auf, nur mit zwei Tragesäcken bepackt, aus denen je das untere Ende eines Rensprungbeins hervorschaute.

"Da drüben, wo die Stangen noch liegen, an dem Hügelchen, da können wir übernachten. Da ist es windstill", schlug Aiyuk vor.

Die zitternde Renkuh wurde zum Hügel getragen und mit dem Geweih an eine im Boden verankerte Stange gebunden. So konnte sie wieder stehen, und sofort begann ihr Kalb, noch immer von Lucuwat gestreichelt, zu säugen.

Die Tragefelle auf den Stangen gaben immerhin ein Dach über dem Kopf ab. Zu dritt hievten die Jäger den schweren Kukikatugak unter das Dach. Bald loderte ein hohes Feuer aus Büschen.

Mit dem ersten Renbissen, den ihm Aiyuk unter die Nase hielt, wachte Kukikatugak auf. Wenige Minuten später saß er schon aufrecht und aß gierig. Zuerst kam das Gehirn daran, Arznei für den Magen, dann Leber und Rücken. Morgen als zweite Mahlzeit das Beinfleisch, den Kopf und das leckere Knochenmark.

Nach dem Ausnehmen der drei Bullen und des von Dore-gak erlegten Kalbs aßen die Mammut-Menschen weiter. Es wurde Nacht. Kukikatugak war jetzt, noch zitternd, aufgestanden und hatte Lucuwat auf den Schoß genommen.

Lange blickte Aiyuk in die hohen Flammen. Es war ein guter Tag gewesen, so gut wie selten ein Tag. Mit einem Wohlgefühl am Körper aß er weiter.

Draußen aber, weit, weit weg, brüllte der hungrige Löwe.

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