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Der Löwe

 

 

 

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"Jetzt können wir reden", sagte Aiyuk. Er setzte sich zu Eschona, nachdem Doregak, Lucuwat und Kukikatugak eingeschlafen waren. "Du hast da etwas Wichtiges", meinte Eschona und sah ihn erwartungsvoll an.

"Wenn es um den Frieden der Gemeinschaft geht, ist es immer wichtig. Deshalb bitte ich dich, mir zuzuhören und nicht böse zu sein über das, was ich sage."

"Nein, bestimmt nicht. Wenn ein Mensch ernsthaft mit einem anderen Menschen redet, meint er es nur gut und will Streit schlichten. Das habe ich auch schon getan."

"Ja. Es geht um Fagayuk."

"Das dachte ich mir."

"Ich rede um der Gemeinschaft Willen. Wir wollen nicht, daß da Streit ist zwischen zweien, die für die Gemeinschaft so wichtig sind.

Es ist so. Ich habe lange über euch nachgedacht — nicht so sehr über Fagayuk, denn ihre Angst kennt jeder, und jeder kann sie verstehen. Nein: Du hast mich viel mehr interessiert, nachdem du Fagayuk so angefahren hast. Ich fragte mich, wieso du das tust. Das ist nicht deine Art. Du bist immer besonnen, immer denkst du an die Gemeinschaft. Nie regst du dich auf, wenigstens habe ich nie dergleichen gesehen. Und da ich weiß, daß du für Fagayuk das Gefühl hast, fragte ich mich, wie das Gefühl einen ruhigen Menschen verleiten kann, den anderen zu zerstören und den

Menschenfrieden zu brechen. Da kam mir ein Gedanke. Ich verglich dich mit Fagayuk und stellte fest, daß ihr ganz ähnlich seid — nicht so unsicher wie Tore oder so verspielt wie Hikiijaut oder so unernst wie Kukikatugak. Wenn zwei Menschen ähnlich sind, denken sie ähnlich und erwarten vom anderen, daß er so handelt wie er selbst. Aber Fagayuk hat nicht so gehandelt wie du. Sie hat in deinen Augen etwas Verwerfliches getan: Um euer Kind zu retten, hätte sie einen anderen geopfert. Ich sage nicht, daß das richtig ist. Nein, es ist falsch und nicht menschengemäß. Du hast aber ebenso gefehlt, denn weil du von Fagayuk zu viel erwartet hast, bist du enttäuscht worden. Und weil du enttäuscht worden bist, hast du dich gegen sie gewandt."

Eschona schwieg. Auch einem besonnenen Mann wie ihm waren Gedanken dieser Art fremd.

"Weißt du", fuhr Aiyuk fort, "es liegt an dir und nicht an Fagayuk, denn alles ist ja gut gegangen, und alle haben ihr verziehen. Deine Erwartungen waren zu hoch. Sie ist ein Mensch, ein Mensch, der Fehler macht. Leben wir nicht alle in großer Angst?"

Eschona nickte.

"Ja, kann die Angst dann nicht verleiten? Und können zu hohe Erwartungen nicht enttäuscht werden und in Wut umschlagen? Es war nicht richtig von dir zu erwarten, daß Fagayuk sich so verhält, wie du es erwartet hast. Sie hat sich eben anders verhalten. Lerne ihr wieder zu vertrauen, aber verlange nichts Unmögliches von ihr. Erwarte nicht von ihr, was für dich selbstverständlich und gut und richtig ist. Das erwarte nur von dir selbst. Fagayuk ist so wie du, und sie ist auch anders. Was du von dir erwartest, mag für dich richtig sein, nicht jedoch für Fagayuk. Verstehst du?"

Eschona nickte und schwieg lange. Dann legte er seine große Hand auf Aiyuks kleine aber sehnige Hand und sagte, die Augen auf den Boden geheftet: "Ich danke dir. Ich werde nachdenken. Du hast Gedanken, die nur Alt-Menschen kennen."

Aiyuk ärgerte sich ein wenig und verzog den Mund.

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Darum ging es gar nicht. Aber Eschona hatte ihn verstanden. Nie waren die Menschen nachdenklicher, als wenn es sich um ihre eigenen Verfehlungen gegen die Gemeinschaft handelte. Denn die Gemeinschaft war alles, die Gemeinschaft war das Leben. Wer gegen sie verstieß, verstieß gegen das Leben.

Aiyuk legte sich zurück. Eschona, der die ganze Nacht Augen-Mensch sein wollte, starrte in die Flammen und sann nach. Auch Aiyuk dachte nach, denn jetzt drehten sich seine Gedanken, und er fand keine Ruhe.

Ja Eschona, dachte er. Eschona hat mich verstanden. Die Mammut-Menschen sind alles. Wer dagegen verstößt, lädt eine Schuld auf sich, die er nicht allein tragen kann.

Da fiel ihm Tore ein und die Art, wie ihn Tore von der Seite anblickte und versuchte, ihm, nervös geworden, auszuweichen.

Ja Tore. Wenn du mir ausweichst, fühlst du dich schuldig, ob du nun etwas getan hast oder nicht. Du fühlst, du hast Unrecht getan. Weil du dich schuldig fühlst, willst du nicht darüber reden. Wenn du mich von der Seite her ansiehst, glaubst du, daß dich mein Blick anklagt ob einer Verfehlung, von der ich nichts weiß. Aber warum nur? Was hat das mit mir und Igiluk zu tun? Wie könnte ich dich anklagen? Ich klage nie Menschen an. Irgendwie muß dein Schuldgefühl mit Igiluk und mir zu tun haben. Aber wie nur?

So sehr er nachsann, eine Lösung des Geheimnisses wollte sich nicht einstellen. Und da war noch Tunulig, die offenbar auch etwas wußte, aber nichts sagte. Was waren das für alte Geschichten? Hatte seine Mutter gefehlt? Was hatte Tunulig damit zu tun? Hatte sie gefehlt und wollte Tore vielleicht ihren Fehler decken, um ihre wichtige Rolle als Alt-Mensch nicht zu gefährden?

Dieser Gedanke war ihm neu. Oder waren Igiluk, Tore und Tunulig Komplizen in einer Verfehlung, die sie verschwiegen, um der Verbannung zu entgehen?

So quälte sich Aiyuk lange mit Fragen, die immer weiter

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ausuferten und sein neu gewonnenes Verständnis verunsicherten. Dann wieder dachte er über Tore nach und stellte sich vor, wie ein Mensch reagieren würde, der einen anderen Menschen vor der Aufdeckung einer Schmach schützen will. Nein, ein solcher Mensch hat nicht den Schuld-Blick. Ja, er weicht aus. Nein, nervös wird er nicht. Ja, er gibt nur halbe Antworten. Immer wieder kam Aiyuk auf Tore zurück. Wenn es wahr ist, daß er jemanden deckt, dann kann es ja auch eine Tote sein - Igiluk. Und eine Lebende: Tunulig. Aber darüber weiß ich nichts. Ich weiß nur: Er fühlt sich schuldig und ist zumindest mitschuldig. Aber warum? Und was habe ich damit zu tun?

Noch bis zu den ersten Sonnenstrahlen dachte er nach. Dann verfiel er in einen unruhigen Schlaf ohne Träume. Es war ihm, als ob er soeben die Augen geschlossen hatte, als ihn Kukikatugak heftig wachrüttelte.

"He, Füchslein, schnell, schnell!"

Trotz seiner Schwere war Aiyuk, der Jäger, sofort hellwach. Ohne nachzudenken, verstand er die Dringlichkeit in Kukikatugaks Stimme, die Gefahr signalisierte. Von gar nicht so weit weg hörte er das Brüllen zweier Löwen.

"Wir müssen weg", sagte Eschona hastig. "Sie riechen die Kadaver. Wenn sie die Kuh sehen, ist es zu spät. Ich habe schon Ausschau gehalten. Da - ein paar hundert Schritt entfernt wird der Boden ganz feucht. Da sackt man ein, weil der Schnee in dem besonders weichen Boden alles in Morast verwandelt hat."

"Und?" fragte Aiyuk. "Was sollen wir dort?"

"Nein, nein, du verstehst nicht. Mitten im Morast gibt es ein Hügelchen, da ist es trocken. Dahin können wir uns retten und warten, bis die anderen kommen. Wenn viele Menschen beisammen sind, fliehen die Löwen - aber vier Männer und ein Kind" - und er schaute alle an und schüttelte den Kopf, "da haben wir keine Chance. Schnell - die Rene auf die Stangen und dann zum Hügelchen im Morast."

Schnell wurden die Renkadaver an den Hufen festgebunden. Kukikatugak und Eschona trugen je zwei auf den

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Schultern, die weniger starken Doregak und Aiyuk den Jungbullen und das tote Kalb.

"Komm mit", rief Aiyuk zu Lucuwat, die ängstlich das Treiben beobachtete.

Die fünf Mammut-Menschen rannten durch die Tundra. Zuerst war der Boden noch hart, dann aber begann der Morast. Bei jedem Schritt sackten sie ein, zogen mühsam die Füße aus dem Schlick. Immer wieder verhakte sich das Geweih der Rene in den scharfkantigen Gräsern. Der Schlamm zog an den Beinen, an den Füßen der Menschen, am Oberkörper und am Kopf der Rene, die mit dem Kopf nach unten an den Stangen baumelten.

"Schnell, schnell!"

Auch Kukikatugak stöhnte vor Aufregung. Da endlich -die zwei Schritt hohe Felserhebung war erreicht. Die Renkadaver wurden hingeworfen. Eschona rief im Gehen: "Du bleibst, Lucuwat, wir kommen sofort mit der Renkuh zurück!"

"Dann bleibe ich auch", sagte Aiyuk, der Speere und Speerwerfer aus dem Gürtel zog.

"Keine Angst, Kind, keine Angst." Aber Aiyuks Versicherung schenkte dem verschreckten Kind keine Ruhe. Lucuwat klammerte sich an Aiyuk. Im selben Atemzug rief er Kukikatugak nach: "Laßt die Felle, bringt nur die Langspeere!"

Etwas näher als vorhin, nur etwas näher, klang das erneute Brüllen der Löwen. Aiyuk hörte sofort: Jetzt waren es drei Löwen. Wie sollen vier Männer gegen drei Löwen siegen?

Wo waren die Löwen nur? Es war nichts zu sehen - als ob die Löwen sie zuerst durch ihre Unsichtbarkeit in Schrek-ken versetzen wollten, um durch ihren Auftritt schließlich die Beute zu lähmen. Dabei waren die Löwen meist nicht gefährlich. Wenn alle dreizehn Mammut-Menschen wanderten, machten die Löwen einen großen Bogen um sie. Gegen dreizehn, ja gegen sechs oder sieben gut bewaffnete Menschen wußten sich die Löwen unterlegen. Längst

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hatten sie erkannt, daß sich die Menschen wehrten. Und warum einen wehrhaften Mann angreifen statt eine wehrlose Renkuh? Aber manchmal verweigerten sich die Renkühe. "Geht zu den Antilopen!" riefen sie und galoppierten davon. Da mußte der Löwe zusehen, wie er sich ernährte. Daher hatte er oft Hunger, genau wie jetzt.

Aiyuk stieg auf einen kniehohen, mit zartem grünem Moos bedeckten Felsbrocken. Es waren drei Löwen. Sie verschwanden gerade hinter einer kleinen Anhöhe und tauchten bald wieder auf. Lucuwat umklammerte Aiyuks rechtes Bein.

"Kommen die bösen Löwen?"

"Ja, sie kommen, aber nicht gleich. Sie sind nicht böse, weißt du. Sie haben nur furchtbar Hunger, so wie du gestern. Vielleicht gehen sie auch wieder und lassen uns in Ruhe. Löwen lassen die Menschen meistens in Ruhe, weil sie unsere Speere fürchten. Wir Menschen haben die längsten Arme aller Wesen, und das wissen die Löwen."

"Ja?"

Unbeirrt von den Speeren kamen die Löwen näher, hielten an, sogen die Luft ein, trabten weiter. Nun konnte es Aiyuk deutlich sehen: zwei Löwinnen und ein Löwe. Die Löwinnen, das waren die Gefährlichen. Der männliche "Reiß-auf-das-Maul" hingegen jagte nur selten mit, vertrieb die Löwinnen aber von der Beute. Daher machten sich die Menschen oft lustig über die Löwen, und wenn ein kleines Kind, das die menschlichen Gewohnheiten noch nicht gelernt hatte, für sich zu viel in Anspruch nahm, schalt man es "Reiß-auf-das-Maul".

Ängstlich schaute Aiyuk immer wieder in Richtung der anderen. Da tauchten sie endlich auf. Die Renkuh hatte offenbar Schwierigkeiten gemacht, denn anstatt sie am Geweih zu halten, wurde sie, die Hufe nach oben, auf einer Stange getragen. Die Menschen sackten bei jedem Schritt ein, während sich die Renkuh vor Angst wand. Sie hatte die Löwen gerochen.

"Sie sind noch nicht da", rief Aiyuk, sobald die Jäger in

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Hörweite kamen. Und tatsächlich waren die Löwen trotz ihres Hungers dreihundert Schritt entfernt stehengeblieben. Das war wirklich eine eigentümliche Versammlung.

Die Jägerlöwen schauen den Jägern zu, wie sie das gejagte Ren tragen, dachte Aiyuk und hätte gelacht, wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre. Der Löwe legte sich hin. Als ob sie auf dieses Zeichen gewartet hätten, begannen die Löwinnen mit einem Mal loszurennen, direkt auf den kleinen Hügel zu. Noch zehn Schritte, dann fünf, und endlich setzten Doregak, Eschona und Kukikatugak ihre schlammbedeckten Wisentfellschuhe auf festen Boden. Fünfzig Schritt entfernt hielten die Löwinnen plötzlich an, sackten in den morastigen Grund ein, dann noch zwei Schritte vor. Schließlich drehten sie um und wichen zehn Schritte zurück, bis sie ebenfalls festen Boden unter den Pranken spürten. Eine der Löwinnen wandte den Kopf, schaute kurz den bequem sich ausruhenden Löwen an, blickte dann wieder die dicht zusammengedrängten Menschen auf der Anhöhe an.

Als ob sie Menschen wären, dachte Aiyuk. Oder waren die Löwen auch einmal Menschen? Aber vielleicht nur dumme Menschen. Der faule Löwe sagte ja gar nichts.

Aiyuks Gedanken wurden von Eschonas hastigem Flüstern unterbrochen. "Schnell, das Renkalb anbinden! Die Kuh soll liegenbleiben. Du gehst dahinten hin, Lucuwat!"

"Ich will bei Aiyuk bleiben!"

"Nein, das ist zu gefährlich, falls die Löwinnen angreifen. Komm, leg dich hin."

Lucuwat umarmte das Renkalb und versuchte es zu beruhigen, so wie Aiyuk sie kurz zuvor selbst beruhigt hatte. "Es ist gut, es ist gut, mein Kleines", flüsterte sie. "Eschona beschützt dich."

Weder das Renkalb noch seine Mutter waren zu beruhigen. Der Löwengeruch war stark in ihren Nasen; beide zappelten und rissen instinktiv die kräftigen Sprungbeine zurück, um zu entfliehen. Doch auch für die Menschen gab es keine Flucht. Die Löwinnen brüllten, als die Renkuh in

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panischer Angst das Geweih hob und aufzustehen versuchte . Immer wieder ging das Geweih ruckartig auf und ab.

" Sie sehen die Renkuh und riechen die toten Renbullen", sagte Eschona. " Vielleicht kommen sie doch. Dann müssen wir die beiden Reihen machen."

Die Löwinnen setzten sich, unschlüssig, was sie tun sollten. Sechzig Schritt - zu weit, um zu werfen.

Wenn die Menschen sich wehren mußten und Zeit genug hatten, die Tiere abzuwehren, setzten sie einen oftmals geübten Plan in die Tat um: Doregak und Kukikatugak knieten mit Langspeeren, deren hinteres Ende sie in die Erde stemmten. Falls die Löwen angreifen würden, spießten sie sich auf. Drei Schritte hinter ihnen bildeten Eschona und Aiyuk die zweite Reihe mit ihren Kurzspeeren und Speerwerfern.

So warteten sie auf den Angriff.

Lange Zeit geschah nichts. Die Anspannung ließ nach, stieg dann wieder, als der Löwe vor Hunger brüllte, ließ dann nach, als sich die Löwinnen umsahen und sich wieder hinsetzten.

Stunden vergingen. Weder Falke noch Adler kreiste. Allein in der Tundra, umgeben von Morast und drei hungrigen Löwen, warteten die Menschen auf ihren Tod und erhofften das Leben.

Weit und breit waren keine Herden zu sehen. Das war der Grund, weshalb die Löwen ausharrten. So waren eben die Löwen. Deswegen waren sie nicht gefährlich wie der Bär: Der Mensch-im-Pelz hätte sofort angegriffen oder wäre davongetrabt; die Löwen taten weder das eine noch das andere.

Mit einer letzten Anstrengung versuchte die Renkuh aufzustehen. Während der Löwe im Hintergrund gähnte, kam Bewegung in die Löwinnen. Die größere Löwin fauchte und ging rastlos auf und ab. Ihre Augen blitzten. Die Menschen fühlten, was da kommen würde. Der Hunger hatte über die Furcht gesiegt.

Obwohl sie tief, aber nicht allzu tief einsackte, sprang die

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größte Löwin erstaunlich schnell durch den Morast. Noch vierzig, noch dreißig Schritt — Aiyuk und Eschona ließen die ersten Speere los, die beide in die Brust der Löwin eindrangen. Aber Löwinnen sterben nicht leicht. Noch zwanzig Schritt, noch zehn Schritt - die nächsten zwei Speere zischten durch die Luft. Während Aiyuks Speer am Schulterblatt entlang glitt und wieder durch das Fell nach außen trat, war Eschonas Speer in den Rachen eingedrungen, genau zwischen die Zähne. Die Löwin stolperte, sprang wankend vor und kam Blut spuckend keine fünf Schritt vor Kukikatugaks Speerspitze zum Stehen. Langsam sackte sie einen halben Schritt ein und starb zuckend.

Doch die zweite Löwin war schon losgesprungen. Behender als die schwere Löwin schien sie die Morastoberfläche nur zu berühren. Sie war keine zwanzig Schritt entfernt, als Aiyuks Speer vom Speerwerfer flitzte. Als ob sie den Wurf vorausgeahnt hätte, war die Löwin kurz zur Seite gesprungen und aus dem Sprung nach vorne geschnellt. Daneben. Eschonas Speer flog schon heran, drang nur mit der Spitze in die Brust ein und brach an der vorderen Kante des Schulterblatts ab. Durch die Wucht des Aufpralls wurde die Löwin aus der Bahn geworfen. Sie machte einen großen Satz durch die Luft, streckte die vorderen Pranken aus und landete für den Bruchteil eines Augenblicks auf dem Boden. Schon stieß sie sich mit den Hinterbeinen ab und flog durch die Luft, direkt in Doregaks Speer. Noch im Sprung rammte ihr Kukikatugak seinen Langspeer in die Seite. So schnell war die Löwin gesprungen, daß Doregak sich nicht mehr beiseite werfen konnte. Von zwei Speeren tödlich durchbohrt, landete die Löwin mit ihrem ganzen Gewicht auf Doregaks Oberkörper. Die Löwin begrub ihn unter sich. Dann war alles still.

Niemand sprach. Der große Löwe war an den Rand des Morasts gerannt, traute sich aber nicht weiter. Eschona faßte sich zuerst, als er die tote Löwin direkt vor sich liegen sah: "Doregak?"

Nichts regte sich.

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Zu dritt wälzten die Jäger die Löwin von Doregak. Sein Kopf war auf eigentümliche Weise zur Seite geneigt, die Augen starrten in den Himmel. Eschona berührte Dore-gaks Kopf und schob ihn leicht zur Seite.

Doregaks Hals war gebrochen.

Eschona drückte Doregaks Augen zu. Benommen standen die Männer da. Lucuwat begann zu weinen. Zu bekannt war ihr der Tod, als daß sie nicht gewußt hätte, was vorgefallen war. Außer Lucuwat mit ihrem Schluchzen waren die Jäger so verdutzt und so geschockt, daß keiner einen Ton hervorbrachte. Langsam setzte sich Eschona und legte das Gesicht in die Hände. Er weinte. Aiyuk nahm Lucuwat in den Arm und drückte sie fest. Einzig Kukikatu-gak fiel neben dem regungslosen Doregak auf die Knie und streichelte seine Haare: Gestern selbst knapp dem Tod entronnen, mußte er schon heute einen anderen betrauern. Das bewerkstelligte der Tod, der hinter jedem Strauch, in jedem Höhlenspalt lauerte. Das war das Leben der Mammut-Menschen.

Lange regten sich die Menschen nicht. An den Tod gewöhnt, war sein Kommen noch jedes Mal schrecklich und unangekündigt. Vor dem Tod verstummten alle Menschen. Da gab es keinen Trost und keine Hoffnung. Die kleinen Fragen des Lebens und das eitle Geschwätz des Tages erstarben vor der Todesnacht. Nun begannen auch Aiyuk und Kukikatugak zu weinen: Auf diese Weise ließen die Menschen den Schock und den Schmerz aus sich herausfließen, auf diese Weise erleichterten sie sich.

Auf den Löwen, der sich am Morastrand wieder gesetzt hatte, achtete niemand. Es war klar, daß er allein keinen Angriff wagen würde.

Nach langer Zeit dachte Aiyuk: Das ist deine Strafe, Löwe, daß du die Frauen für dich jagen läßt. Nun bist du allein. Auch für dich bedeutet das Alleinsein den Tod.

Als Aiyuk an den Tod dachte, sah er wieder Doregak vor sich liegen, und die Trauer ergriff ihn wieder. Dann blickte er nach oben zu den fetten, weißen Wölkchen, die schnell

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über das Blau zogen, und er fühlte Doregaks Geist hoch oben in der Luft, voller Angst, auf einmal allein zu sein.

"Wir müssen bald seinen Geist malen", sagte er mit gebrochener Stimme.

Niemand antwortete. Was gab es noch zu sagen?

Die Mittagszeit kam und ging. Beklommen saßen die Jäger um Doregaks Leichnam herum. Der Löwe, der sich hingelegt hatte, war vergessen. Auf einmal sprang er hoch, trottete unentschlossen hin und her und begann, sich immer wieder umsehend, davon zu rennen. Da hob Eschona den Kopf und sagte: " Die anderen kommen." Und dann fiel ihm ein: "Wenn der Löwe weg ist, werde ich zuerst mit Teschadjuk sprechen."

Vor langer Zeit lagen Teschadjuk und Doregak zusammen, und daher kamen auch Teschadjuks zwei Totgeburten. Doregak und Teschadjuk hatten nicht das Gefühl füreinander gehabt, daher war Doregaks Tod für Teschadjuk keine Katastrophe; aber der Tod eines Menschen, dem man einmal ganz nahe gewesen war, war trotzdem voller Trauer.

Der Löwe war verschwunden. Langsam kamen die Mammut-Menschen näher. Eschona und Kukikatugak nahmen ihre Speere in die Hand und wateten mit der Trauerbotschaft durch den Morast.

Als der Frühling mit der Gewalt des gestauten Lebens aufbrach, wurde Doregak beerdigt. Schweigend standen die Mammut-Menschen an der Vertiefung, in die Doregak nun gelegt wurde. Hikiijaut, Teschadjuk und Lucuwat schluchzten unkontrolliert. Langsam, wie in einem Traum, hatte Tunulig zarte Schneeglöckchen und frisches Heidekraut gesammelt. Beides streute sie sorgfältig über den Toten. Eschona legte Doregaks Speer, Speerwerfer, Messer und Feuerhölzer neben den Leichnam. Aiyuk und Kukikatugak hatten die Ockerfarbe mit Bärenfett vermischt. Sie gössen die Flüssigkeit über den Toten; Ocker war die Todesfarbe, mit der die Tier- und Menschengeister gemalt wurden. Ocker sollte den Geist beruhigen. Die Blumen jedoch bedeuteten Leben — das ruhige Leben, das der Geist nun haben würde. Blumen bedeuteten auch: hier ist das Leben, das dich grüßt. Wir vergessen dich nicht.

Wer nicht weinte, bedeckte den Toten mit flachen Steinen und dann mit Erde. Als von ihm nichts mehr zu sehen war, stimmten die Mammut-Menschen das Abschiedslied an:

Geh jetzt, unruhiger Geist, Und finde bald den Frieden. Du warst ein Mensch, Ein guter Mensch. Aia, aia, aia.

Geh jetzt, unruhiger Geist, Und finde bald den Frieden. Du fehlst uns sehr, Du guter Mensch. Aia, aia, aia.

Geh jetzt, unruhiger Geist, Und finde bald den Frieden. Wir vergessen dich nicht, Du lieber Mensch. Aia, aia, aia.

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