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    Teil 1  -  Kurze Geschichte der Nuklearzeit
von den Anfängen bis zu den Kriegen
nach dem Ende der Menschheit 
Geulen-2023

 

12-39

Mit den Experimenten von Henry Becquerel, Marie und Pierre Curie beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts das nukleare Zeitalter; ihr Vertrauen in die neue Wissenschaft ist grenzenlos. In den dreißiger Jahren fällt ihre Entdeckung unter das Diktat militärischer Interessen: deutsche Kernphysiker beginnen für ihren Führer Atombomben zu bauen. 1938 gelingt ihnen die Spaltung des Kerns. Der Weg ist bereitet für das Zeitalter nuklearer Kriege.

Nach Kriegseintritt organisieren die USA das größte Industrieprojekt der Geschichte und konstruieren innerhalb von drei Jahren einsatzbereite Atombomben, die über Berlin und anderen deutschen Städten gezündet werden sollen. Den ersten Test im Juli 1945 erleben die Physiker in der Wüste von New Mexico als gewaltig, erschreckend, göttliche Schöpfung und entsetzliche Blasphemie. Der Leiter des Projekts erkennt unter dem Eindruck des Atomblitzes die drohende Vernichtung des irdischen Lebens. Das Uran für die Nuklearwaffen wird seit den vierziger Jahren geschürft von Sklaven in Afrika und Zwangs­arbeitern in Europa, das Uran für die Atomkraftwerke, auch die deutschen, wird seit jeher abgebaut in den Siedlungsgebieten der Indigenen in Nordamerika.

Die Führung zukünftiger Kriege ist die Cyberwarfare. Ihre wichtigste Hardware sind Hypersonic-Missiles mit nuklearen Sprengköpfen, die innerhalb weniger Stunden jeden Ort der Erde zerstören können. Ihre Software ist die weltraumgesteuerte künstliche Cyberintelligenz, die alle Prozesse der Kriegsführung dominiert. Die Cyberwarfare weist über das Ende der Menschheit hinaus.

 

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aus der Leseprobe des Verlages
Vorwerk8 in Berlin

Reiner Geulen 2023

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wikipedia  Cyberkrieg   

en.wikipedia  Cyberwarfare   

warfare:
Kriegskunst, Kriegsführung

 

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    I   »Der mächtige Tod bin ich, der die Menschheit vernichtet.«       1-    2-     3-     4-     5-

 

  1-  Vom Segen des Urans  

 

Mit den Experimenten von Henry Becquerel, Marie und Pierre Curie beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts das nukleare Zeitalter. Sie extrahieren die strahlenden Elemente aus ihrem Erz, testen sie in Selbstversuchen und beschreiben die Wirkungen auf den Körper:

Würde man einige hundertstel Gramm Radiumsalz für einige Stunden in der Tasche haben, würde man nichts spüren. Aber 15 Tage später würde eine Hautrötung erscheinen und danach eine Verätzung, die schwer zu heilen wäre. Nach einiger Zeit könnte das Radium zur Lähmung und zum Tod führen.1

Ihr Vertrauen in die Segnungen der Kernphysik ist grenzenlos. Nach dem Ersten Weltkrieg fasst Marie Curie die Bedeutung der neuentdeckten Elemente für die Menschheit wie folgt zusammen:

Diese neue Strahlungsquelle wird eines Tages ihren Segen [éclat] für die Menschheit verbreiten und ihr die Heilung von Leiden bringen und andere Folgen, um das Leben zu erleichtern und friedliche, moralische und intellektuelle Auswirkungen jenseits der Physik haben. Die Auswirkungen ihrer fruchtbaren Gedanken sind unbegrenzt. Ihr Aktionsfeld übersteigt jeden bekannten Horizont. Jede Zivilisation hat die absolute Pflicht, über diesen Bereich der reinen Wissenschaft zu wachen. Nur für diesen Preis kann eine Nation wachsen und in ferner Zukunft eine harmonische Entwicklung nehmen.(2)

Schon im nächsten Jahrzehnt würde die Kernforschung ihre Unschuld, die nie eine war, verlieren, unter das Diktat militärischer Interessen fallen und irreversibel das letzte Kapitel der Waffentechnik aufschlagen.

Seit den dreißiger Jahren arbeiten die Köpfe der deutschen Kernphysik an der Spaltung des Atoms, um die enorme Energie der Kernspaltung durch eine Kettenreaktion freizusetzen. 1938 gelingt ihnen erstmals die Trennung der Isotopen. Die bekanntesten unter ihnen – Werner Heisenberg, Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker – werden im folgenden Jahr nach Berlin berufen, um gemeinsam mit der Deutschen Wehrmacht im »Uranprojekt« einsatzfähige Atombomben zu entwickeln.(3) Heisenberg erklärt in seinem Bericht vom 6. Dezember 1939, dass eine Bombe von bisher unerreichter Sprengkraft gebaut werden kann.(4) Am 17. Juli 1940 berichtet von Weizsäcker an das Heereswaffenamt von dem erfolgreichen Test, Uran 238 und 239 zu spalten und waffenfähiges Plutonium zu gewinnen,(5) kurz darauf wird den Physikern das Patent für die Herstellung einer Atombombe erteilt.(6)

Aber es fehlt noch Uranerz, um die kritische Menge anzureichern für den Bau der Bombe. Die Beschaffung des hochwertigen Rohstoffs sollte schließlich entscheiden, wer in diesem Krieg die ersten Atombomben einsetzen würde: Hitler-Deutschland oder die USA.


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Da in Deutschland keine Uranvorkommen bekannt waren, versuchte die Wehrmacht noch vor Kriegsbeginn, das Uran aus den besetzten Gebieten zu beschaffen. Zunächst requiriert sie die Gruben im Böhmischen St. Joachimsthal (das heutige Jachymow). Der Ort liegt am südlichen Hang des Erzgebirges und gehörte zum Sudetenland, das die Deutschen 1938 auch deshalb annektiert hatten, weil sie das Uran für die »Wehrkrafterhöhung« brauchten.

Hier war im 16. Jahrhundert Silber gefunden worden, und St. Joachimsthal wurde zur reichsten Stadt des Erzgebirges. Mitte des 19. Jahrhundert stieß der Bergbau auf das strahlende Erz, das »im Halbdunkel leicht zu sehen [ist]; das ausgesandte Licht kann so stark sein, dass man in der Dunkelheit lesen kann«.(7) »Das beste Radiummineral ist die Pechblende von St. Joachimsthal«, sagte Marie Curie in ihrer Rede vom 11. Dezember 1911 beim Empfang des Nobelpreises für Chemie.8 Acht Tonnen Pechblende lässt Marie Curie nach Paris schaffen in ihr kleines Labor im 5. Arrondissement, um schließlich ein Gramm des Elements Radium zu gewinnen.

Noch vor Kriegsbeginn hatten die Deutschen über die I.G. Farben vergeblich versucht, sogenanntes »Schweres Wasser« in Norwegen zu kaufen; das Schwere Wasser wurde produziert in der Elektrolyse-Fabrik des Kraftwerks Vemork am Songavatn-Stausee in der Provinz Telemark in Norwegen. Die Bedeutung des sogenannten Schweren Wassers als Lieferant des Isotops Deuterium war 1933 in den USA erkannt worden. 1941 überfiel Deutschland das Königreich Norwegen, besetzte die Anlagen von Vemork und forcierte die Produktion des Schweren Wassers.

Ende 1943 stehen ausreichende Mengen bereit. Der Transport nach Berlin führte über den See Tinnsja, aber der Frachter wurde von norwegischen Patrioten versenkt.


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Erst mit ihrem Abzug aus Norwegen Anfang 1945 gelang es der Wehrmacht, die Apparaturen für die Schwerwasserelektrolyse nach Deutschland zu bringen; dort fielen sie in die Hände der Roten Armee.

Große Mengen hochwertigen Urans versprach im Mai 1941 der Frankreichfeldzug, der durch Belgien geführt wurde. Im ersten Kriegsjahr war bekannt geworden, dass im Kongo hochwertiges Uranerz gefördert wird. Die Rede war von einer kleinen Mine in Katanga, der sogenannten Shinkolobwe-Mine. Der Brigadegeneral der US Army, Kenneth D. Nichols, beschrieb das Uran der Shinkolobwe-Mine später als »tremendously rich lode […]. Nothing like it has ever again been found.«(9) Das Erz bestand zu 65 Prozent aus Uran.

Der Kongo war damals eine Kolonie des Königreichs Belgien, das die Schürfrechte der Bodenschätze Katangas auf einer Fläche von 20.000 km2 der Union-Minière-du-Haut-Katanga (UMHK) überlassen hatte. In den dreißiger Jahren verfügte die Union Minière über die weltweit größten Vorräte an hochwertigem und waffenfähigem Katanga-Uran. Sie betrieb den Bau der Benguela-Eisenbahn von Katanga durch Angola zum Atlantikhafen Lobito, verschiffte das Erz nach Belgien, um es an einem Kanal östlich von Antwerpen in der kleinen Stadt Olen weiter anzureichern.

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wird die Lage in Belgien prekär, eine Invasion der Deutschen Wehrmacht steht bevor; die Union-Minière setzt die Erztransporte nach Olen aus, leitet die Fracht um nach New York und lagert dort insgesamt 1.200 Tonnen Uranerz in den Archer-Daniels-Midland-Warehouses, einem Hafengelände auf Staten Island. Das restliche Uranerz, das die Wehrmacht bei ihrem Überfall auf Belgien zum Kriegsbeginn erbeutete, reichte nicht aus zur Herstellung einer Atombombe. Dies war entscheidend für das Scheitern des deutschen Atomprogramms.


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Das gesamte Uran, das auf einem Frachtschiff in Staten Island lagert, fällt schließlich in die Hände der USA, die in den Krieg gegen die Achsenmächte eingetreten waren und für das Manhattan-Projekt große Mengen hochwertigen Uranerzes benötigten. Größere Uranvorkommen waren in den USA nicht bekannt geworden, und so kauften sie 1942 von der Union Minière für 2,3 Milliarden Dollar die gesamte Fracht aus Staten Island sowie weitere 3000 Tonnen, die in Katanga lagerten und schließlich den nuklearen Rohstoff für die Bomben von Hiroshima und Nagasaki lieferten.

 

  2-   Zwangsarbeiter, Sklaven, Indigene       ^^^^

 

Man kann die frühe Geschichte der Nuklearzeit erzählen aus dem Blick der Nationen, ihrer Nationalstaaten und ihrer Militärs, der Minenbesitzer und der Warlords, man kann sie auch erzählen aus der Sicht derer, die das Erz aus dem Berg geschlagen haben und an der Strahlenkrankheit gestorben sind.

In Afrika ist es die Geschichte von Schwarzen, die jahrzehntelang mit Spaten und Händen das strahlende Erz ausgraben mussten, die Geschichte kolonialer Gewalt, niedergebrannter Dörfer und die Geschichte der Frauen und Kinder, die vor den Schrecken des Krieges fliehen.10 Als der Kongo 1960 souverän wurde, blieb die Macht der Minenkonzerne unberührt.


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Die Bodenschätze Katangas, allen voran das Uranerz, hatten in den fünfziger und sechziger Jahren auf dem Weltmarkt enorme Preise erzielt, und als der gewählte Präsident des Kongo, Patrice Lumumba, das Monopol der Union Minière in Frage stellte und schließlich ankündigte, die Minen zu verstaatlichen, unterstützte die Union Minière gemeinsam mit ausländischen Geheimdiensten seinen Sturz und seine Ermordung.

In Europa ist es die Geschichte von massenhafter Zwangsarbeit. Um den Rohstoff für die deutsche Atombombe zu beschaffen, verbrachte die Deutsche Wehrmacht ab 1941 Kriegsgefangene aus Frankreich, Polen und der Sowjetunion in die Gruben von St. Joachimsthal. Am 11. September 1945 besetzte die Rote Armee Böhmen, requirierte Minen, Bergwerke und Lager und schloss mit der von ihr eingesetzten Regierung der Tschechoslowakei am 23. November 1945 einen Diktatvertrag, der ihr das Recht zum Abbau des gesamten Uranerzes überträgt, und zwar ohne Gegenleistung. Stalin wollte nach den Amerikanern um jeden Preis eigene Atomwaffen haben, aber die Sowjetunion verfügte ebenso wie die USA über keine bekannten Uranvorkommen. So lieferten die Gruben von St. Joachimsthal schließlich den größten Teil der Rohstoffe für das sowjetische Atombombenprogramm.11

Bereits 1945 begann der Bau von Straf- und Zwangsarbeiterlagern nach dem Vorbild sowjetischer Militär-Gulags. In der Folgezeit wurden in mehreren Gebieten Böhmens sogenannte Sonderlager eingerichtet. Von 1945 bis 1955 arbeiteten in den Lagern 5000 deutsche Kriegsgefangene und 7000 Sudetendeutsche, die 1945 nicht mehr fliehen konnten. Seit Ende 1948 arbeiteten in den Urangruben insgesamt über 100.000 politische Häftlinge, die vom Staatsgericht der Tschechoslowakei in stalinistischen Schauprozessen zu langjähriger Zwangsarbeit verurteilt worden waren.(12)


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Im Norden Amerikas wurden indigene Völker Opfer des Uranbergbaus. In den fünfziger Jahren waren in den USA Uranvorkommen entdeckt worden. Die reichsten lagen im »Indianerland«, den Reservaten der Navajo und Hopi im Grenzbereich der Staaten New Mexico, Arizona, Utah und Colorado. Die indigenen Völker waren vor Jahrhunderten aus dem Norden eingewandert und hatten das Land besiedelt. Als die Weißen im 18. und 19. Jahrhundert den Westen eroberten, zerstörten sie zunächst die Ackerflächen der Indigenen und vertrieben sie aus ihren fruchtbaren Siedlungsgebieten. Verträge sicherten ihnen Reservate in den Steppen des mittleren Westens zu. Dann entdeckten die Weißen das Uran, die Indigenen wurden auch um ihre Reservate gebracht und endeten als Minenarbeiter.

Zwanzig Jahre lang lieferte der Schürfboom das Uranerz für das nukleare Militärprogramm der USA. Als sich der Abbau nicht mehr lohnte, wurden die Bergwerke aufgegeben und verlassen. Dokumentiert sind 4200 inaktive Uranminen, von denen etwa 3700 in den Siedlungsgebieten der Navajo und der Hopi liegen.13 Die Besitzer der Minen haben keinen Anlass gesehen, das verstrahlte Land zu sichern, der Staat auch nicht. Weite Teile der Reservate sind nicht mehr bewohnbar, geblieben sind die offenen Adern des »Indianer­landes«.(14)

Mit dem weltweiten Bau von Atomkraftwerken steigt in den sechziger Jahren die Produktion von Uran progressiv an. Seit 1975 wird mehr Uran für Reaktoren gefördert als für Waffen.


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Bereits 1985 liegt der Anteil des zivil genutzten Urans weltweit bei über 60 Prozent, seit Ende der achtziger Jahre bis heute kontinuierlich zwischen 90 und 95 Prozent. Die absoluten Zahlen des zivil genutzten Urans steigen von 6000 Tonnen im Jahre 1965 auf 70.000 im Jahre 2000 und bleiben seither im Wesentlichen konstant.15 Das Uranerz für den weltweiten Betrieb der Atomkraftwerke wird bis heute unverändert in indigenen Siedlungsgebieten gefördert, in denen neun der zehn größten Uranminen liegen;16 auch die deutschen Atomkraftwerke wurden seit jeher mit dem Uran aus »Indianerland« betrieben. Bis heute profitieren von dem Uran der Indigenen ausschließlich große Konzerne und Shareholder aus den Staaten der nördlichen Hemisphäre: Die Kazatomprom, der weltweit größte Uranproduzent in Kasachstan, die Rosatom in Russland und die CNNC in China halten über 50 Prozent der Weltmarktanteile am Uranhandel.

 

  3-  »Einige lachten, andere weinten, die meisten schwiegen.« 
   Der 16. Juli 1945 auf der Nuclear Test Site  

In den 2000er Jahren vertrat ich vor einem Bundesgericht der USA hunderte Bomberpiloten, Kapitäne und Ingenieure, die ungeschützt der ionisierenden Strahlung militärischer Radargeräte ausgesetzt worden waren und maligne Karzinome innerer Organe erlitten hatten. Sie kamen aus verschiedenen Nationen, aber alle waren trainiert worden in Fort Bliss, dem größten Trainingsgelände der US-Air-Force in einer Prärie- und Wüstengegend der Staaten Texas und New Mexico. Es war uns gelungen, die Zuständigkeit des Federal-Court-of-El-Paso (Texas) zu begründen.(17)


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El Paso ist die heißeste Stadt der USA. Im Camino Real Hotel war jeder Raum klimatisiert, ebenso der Weg zu meinem Office in einem Hochhaus, das Taxi, die Tiefgarage und der Aufzug. In Downtown El Paso bewegen sich im Sommer die meisten Geschäftsleute in einer klimatisierten Parallelwelt. In dieser heißen, menschenleeren Präriegegend zwischen dem Rio Bravo und den Ebenen von New Mexico lassen sich die Verwerfungen der Geschichte Amerikas eindrucksvoll ablesen. El Paso war im 18. Jahrhundert von den Mexikanern auf beiden Seiten des Rio Bravo (Rio Grande) gegründet worden. Im 19. Jahrhundert annektierten die USA ein Drittel des mexikanischen Staatsgebiets und verleibten sich Texas, New Mexico und andere Staaten ein.

Über mehr als tausend Kilometer bildet der Rio Bravo seither die Grenze zwischen den reichen USA und ihrem backyard, dem Hinterhof Lateinamerika. 1959 lieferte Howard Hawks’ Film »Rio Bravo« auf 35 mm Technicolor die Bilder für den Mythos des texanischen Südens: »God’s Own Country«, geschaffen für uns, die Viehzüchter, die Landlords, die Weißen. Fred Zinnemanns »High Noon« hatte 1952 Gary Cooper noch als einsamen und anständigen Helden gefeiert, der nie als erster den Colt zieht. Der Held des »Rio Bravo« ist schon ein professioneller Sheriff, der mit einer Stange Dynamit die Gangster zur Strecke bringt.

Ich hatte mich mit Henry Millers Buch »The Air-Conditioned Nightmare« versorgt. Miller hatte in den dreißiger Jahren Brooklyn verlassen, war nach Paris gezogen und weltbekannt geworden. Kurz vor Kriegsbeginn kam er in die USA zurück, bereiste New Mexico, erlebte die upper class in klimatisierten Bungalows, die pauperisierten Hispanics und die homeless people in ihren Blechhütten. Millers Buch endet mit dem Satz:


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Es ist jetzt alles vorbei, ein neuer Süden wird geboren, der alte Süden ist untergepflügt worden. Aber die Asche ist noch warm.(18)

Heute ist Millers Alptraum der Traum der Hispanics. In immer neuen Wellen drängen Tausende aus den Ländern Lateinamerikas, dem backyard der USA über den Grenzfluss nach Texas. Seit den sechziger Jahren wurde die Grenze zwischen El Paso und ihrer mexikanischen Schwesterstadt Ciudad Juárez auf der anderen Seite des Flusses mit hohen Zäunen gesichert. Ciudad Juárez ist seit Langem ein Ort der Gewalt, der Schwerkriminalität und des Drogenhandels. Anfang 2019 haben die USA begonnen, Abschiebelager zu bauen für mehrere zehntausend Menschen, denen der Hinterhof Amerikas zu einem Gefängnis geworden ist. Heute strahlen die Bilder des Rio Bravo nicht mehr in Technicolor; sie zeigen die angeschwemmten Leichen der Hispanics, die auf der Flucht vor Elend und Gewalt in ihrer Heimat ertrunken sind.

Zwischen El Paso und Los Alamos erstreckt sich über 580 Kilometer die menschenleere Prärie New Mexicos. Hier wurde in den vierziger Jahren der Mythos geboren, der den Aufstieg der USA zur stärksten Militärmacht der Welt begleitete: Atomwaffen, Missiles, die Bomber der US Air Force. Nördlich von Fort Bliss liegt die White-Sands-Missile-Range, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs das Raketentestgelände der US Air Force. Etwa zehn Meilen weiter, auf der Holloman-Air-Force-Base, wurden die Stealth-Flugzeuge des Typs Nighthawk stationiert, heute ist es ein Ausbildungszentrum für den militärischen Einsatz von Drohnen.

Etwas weiter nördlich liegt die Kirtland-Air-Force-Base, von der die meisten Komponenten der Bomben für Hiroshima und Nagasaki aus Los Alamos zum


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Luftwaffenstützpunkt Tinian im Guam Archipel gebracht wurden; heute findet sich hier unweit von Albuquerque das National-Atomic-Museum, das die größte Sammlung nuklearer Hardware des frühen Atomzeitalters zeigt.

Und natürlich gehört zu diesem Mythos auch das International-UFO-Museum von Roswell, ein Pilgerort der großen Community amerikanischer und europäischer Okkultisten. Hier soll 1947 ein Ufo gelandet sein. Auch in den USA sind die Visionen, den Weltraum mit Raketen zu erobern, eng verbunden mit der Angst vor den Aliens, die zu uns kommen, um uns zu vernichten.

Auf einer Mesa liegt nördlich des Tularosabeckens die Nuclear Test Site. Ein kleiner Obelisk erinnert an die nukleare Zündung am 16. Juli 1945, die das Zeitalter der atomaren Vernichtungswaffen eröffnete. Mit dem Test wurde das bis dahin größte militärische Projekt der Menschheit beendet: der Bau der Atombombe. Der deutsche Nobelpreisträger Albert Einstein hatte kurz vor Kriegsbeginn den amerikanischen Präsidenten Theodor W. Roosevelt in einem Brief vor den Risiken einer deutschen Atombombe gewarnt.19 Einstein wusste von der erfolgreichen Kernspaltung in Berlin und von den Plänen der Wehrmacht, aus den Kriegsgebieten Uranerz für den Bau der deutschen Atombombe zu beschaffen.

Auf dem Höhepunkt – von Ende 1944 bis Juli 1945 – arbeiten am Manhattan-Projekt 190.000 Techniker und Wissenschaftler. Die finanziellen Ressourcen sind unbegrenzt. Die Gesamtkosten wurden später mit umgerechnet etwa 24 Milliarden Dollar beziffert.(20) Die Arbeiten konzentrieren sich auf drei Orte: Oak Ridge, Hanford und Los Alamos.


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 In Oak Ridge (Tennessee) werden ab Februar 1943 Anlagen gebaut zur Trennung der Uranisotope U-235 und U-238 durch Gasdiffusion (K-25-Anlage). Die Isotopen-Trennung ist der schwierigste und aufwendigste Teil des Projekts. Ein vierstöckiger Bau wird errichtet, in U-Form und mit einer Seitenlänge von jeweils 800 Metern. Anfang 1945, auf dem Höhepunkt des Manhattan-Projekts, arbeiteten in der K-25-Anlage 150.000 Mitarbeiter. In Hanford (Washington State) werden ab März 1943 sechs Plutoniumfabriken gebaut. Am Columbia River wird ein Gelände von mehreren hundert Quadratkilometern requiriert. Nach einem Jahr leben und arbeiten dort 50.000 Techniker und Ingenieure, 1200 Gebäude sind errichtet worden und Hunderte Kilometer neuer Straßen. Insgesamt kostet allein dieser Komplex rund 2,3 Milliarden Dollar. Im Februar 1945 liefert die Hanford-Anlage bereits das erste Gramm eines fast reinen Plutoniumdioxids nach Los Alamos. Heute gilt Hanford als der verstrahlteste Ort der westlichen Hemisphäre.

Das Gehirn des Manhattan-Projekts liegt im Omega-Canyon in Los Alamos im Nordwesten New Mexicos. Leiter dieses Projekts ist ein junger Star der theoretischen Physik, Robert Oppenheimer, damals 38 Jahre alt. Anfang 1945 arbeiten in Los Alamos 2500 Physiker daran, aus dem in Oak Ridge angereicherten U-235 und dem Plutonium aus Hanford die kritische Masse für eine nukleare Kettenreaktion zu gewinnen.

Das Projekt steht kurz vor dem Abschluss, als das Deutsche Reich am 8. Mai 1945 kapituliert; ein Abwurf auf Berlin ist nun nicht mehr möglich. Auch das Japanische Kaiserreich steht vor der Kapitulation: Die Kriegs­wirtschaft ist zusammengebrochen, die Luftwaffe weitgehend zerstört, die japanische Armee zieht sich an allen Fronten zurück.

Angesichts der vielen Milliarden Dollar, die das Manhattan-Projekt gefordert hat, drängt Truman darauf, die Kettenreaktion zu testen, bevor die Konferenz der Siegermächte am 17. Juli 1945 in Potsdam beginnt.


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In der Nacht zum 16. Juli 1945 steigt Oppenheimer ein letztes Mal auf das Stahlgerüst zu seinem »gadget«, seinem Spielzeug, einer Metallkugel von etwa zwei Metern Durchmesser, verschnürt mit Elektrokabeln und Zündkapseln. Dann lässt er sich zum Beobachtungsstand fahren, in neun Kilometern Entfernung von Ground Zero. Die Mesa ist jetzt vollständig geräumt, Lautsprecher übertragen den Countdown. Uns interessiert dieser Augenblick, die letzten Sekunden: Oppenheimer sieht den Blitz, der »durch die Augenlider« dringt, dann hört er die Schallwelle »im weit entfernten Gebirge donnern«.

Wir wussten, dass die Welt nicht mehr dieselbe sein würde, einige lachten, andere weinten, die meisten schwiegen. Ich erinnere mich an die Verse aus der Bhagavadgitä, der heiligen Schrift der Hindus. Vishnu versucht, den Prinz zu überzeugen, seine Pflicht zu tun, und er erscheint ihm mit seinen vielen Armen, um ihn zu beeindrucken und sagt: »Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.« Ich glaube, dass wir das alle dachten auf irgendeine Weise.21

Oppenheimer hatte die Bhagavadgitä gelesen, und er war in der Lage, diesen Augenblick in seiner mythologischen Bedeutung wahrzunehmen. Die Mythologien des frühen Hinduismus basieren auf den elementaren Prinzipien der Schöpfung und der Vernichtung.

Der Erzähler sieht Vishnu, den Herrn des Alls, »mit vielen Armen, Bäuchen, Munden und Augen [...] dessen Gestalt von allen Seiten unbegrenzt ist, kein Ende, keine Mitte, auch keinen Anfang«22 hat. Vishnu ist der ewige Schöpfer und Vernichter, der »alles dahinraffende Tod und der Ursprung des Zukünftigen«23, und Vishnu sagt:

»Der mächtige Tod bin ich, der die Menschheit vernichtet und habe mich hierher begeben, um die Menschheit zu vertilgen.«24

 


  4-   Der Kriegsheld als crybaby:  
  Robert Oppenheimer und der Mythos des Prometheus 

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Der Bau der Bombe war die Sache der Physiker, ihr Einsatz ist der Job des Militärs. Die kritische Menge Uran ist angereichert, der Kern gespalten, die Kettenreaktion gelungen, die Vernichtungswaffe ist in der Welt und folgt ihren eigenen Gesetzen. Aus dem persönlichen Schicksal Oppenheimers nach dem 16. Juni 1945 lässt sich lernen, dass die Geschichte der Kriegsführung und der Waffentechnik nicht revozierbar ist: Waffen, die in der Welt sind, werden eingesetzt.  

Oppenheimer stammt aus einer jüdischen Familie, die Ende des 19. Jahrhunderts von Hanau in Hessen nach New York ausgewandert war. Ende der dreißiger Jahre hatte er sich entschlossen, sein Genie einzubringen gegen die Kriege und Völkermorde Nazi-Deutschlands. Nun war er Vishnu geworden: Antifaschist und Weltenerhalter, Kernphysiker und Weltenzerstörer. In den Wochen nach dem Einsatz der Bombe verfällt Oppenheimer in Depressionen.


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Schon nach wenigen Wochen berichtet seine Frau, dass er kaum noch ansprechbar ist;25 in einem Dossier des FBI vom 9. August 1945 heißt es, er sei ein »Nervenwrack«.26 Im Oktober 1945, zwei Monate nach Trinity und Hiroshima, lädt ihn die amerikanische Regierung ein, an der Entwicklung neuer Nuklearwaffen mitzuwirken.

Der Vizepräsident unter Roosevelt, Henry A. Wallace, jetzt Wirtschaftsminister Trumans, hält nach seinem Gespräch mit Oppenheimer am 18. Oktober 1945 in seinem Tagebuch fest: Noch nie habe ich einen Menschen in einem so extrem nervösen Zustand erlebt wie Oppenheimer. Offenbar hat er das Gefühl, dass die Vernichtung der ganzen Menschheit bevorsteht.27

Am 25. Oktober 1945 kommt es zu einem Gespräch mit dem Präsidenten. Gefragt nach seinem Befinden, sagt Oppenheimer den denkwürdigen Satz: »Herr Präsident, ich glaube, ich habe Blut an meinen Händen.«28

Truman bemerkt zu seinen Mitarbeitern, Oppenheimer sei ein »crybaby-scientist« (ein »Heulsusen-Wissenschaftler«), der geklagt habe, er trage Blut an seinen Händen »wegen der Entdeckung der Atomenergie«, und schließlich sagte er: »Ich möchte diesen Kerl nicht noch einmal in meinem Büro sehen.«29

Zum Ende seines Lebens gilt Oppenheimers ganzes Engagement dem Kampf gegen den militärischen Einsatz der Bombe. In den folgenden Jahren tritt er gemeinsam mit Albert Einstein auf, um vor einem Atomkrieg zu warnen.


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Auch diese Geschichte der Nuklearzeit hat ihre Legenden. Die deutsche Rezeption Oppenheimers ist bis heute geprägt durch das Theaterstück »In der Sache J. Robert Oppenheimer«, das Heinar Kipphardt Anfang der sechziger Jahre im Geist der Adenauerzeit geschrieben hat. In seinem Schlussplädoyer werden Oppenheimer die Worte in den Mund gelegt: »Wir haben die Arbeit des Teufels getan.«30 Der »Teufel« des Vatikans ist ein Anti-Christ, der Gegenspieler jedes Gottes einer Offenbarungsreligion, Oppenheimer aber hatte in dem Atomblitz die Gestalt Vishnus gesehen, der die extremsten Pole des Seins -Schöpfung und Vernichtung - vereint, und nichts war Oppenheimer ferner als eine Konnotation mit den Mythen des Christentums.

Oppenheimers Biographen Kai Bird und Martin J. Sherwin überschreiben ihr Buch mit »American Prometheus. The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppenheimer«. Mit dem »Triumph« meinen sie die Schaffung der nuklearen Vernichtungswaffe und mit der »Tragödie« die Anklagen in der McCarthy-Ära.

Dass seine Biographen Oppenheimer als »Prometheus« sahen, mag daran liegen, dass amerikanische Intellektuelle mit den Mythen der alten Griechen wenig vertraut sind: Der Vergleich von Bird und Sherwin aber verkennt die Person und das Wirken Oppenheimers grundlegend. Für die Evolution der Menschheit stellte die Domestizierung des Feuers einen gigantischen Sprung dar. Der Mythos schildert Prometheus als Helden, der sich gegen die Götter auflehnte und das Feuer auf die Erde brachte. Die Strafe der Götter war furchtbar: Zeus beauftragte Pandora, den Menschen eine Büchse zu schenken, die sie niemals öffnen dürften. Natürlich öffnete Pandora die Büchse selbst und setzte Laster und Verbrechen frei,


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Krankheiten, Tod und alle Übel, die die Menschen bis dahin nicht gekannt hatten. Doch Zeus ließ Pandora den Deckel wieder auf das Fass schlagen, bevor das letzte Übel entweichen konnte, die Hoffnung - sie sollte die Menschen glauben machen, ihre Leiden würden einmal enden. Nietzsche sagt:

Zeus wollte nämlich, dass der Mensch, auch noch so sehr durch die anderen Uebel gequält, doch das Leben nicht wegwerfe, sondern fortfahre, sich immer von neuem quälen zu lassen. Dazu giebt er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das Übelste der Uebel, weil sie die Qual der Menschen verlängert.31

Oppenheimer war kein Prometheus. Wenn wir für ihn eine Gestalt aus den Mythen der Griechen bemühen wollen, dann kann es nur Pandora selbst sein, die im Auftrag der Götter zur Strafe für den Frevel des Prometheus den Menschen endloses Leid brachte. Und Oppenheimer beglaubigte durch seinen vergeblichen Kampf für eine Welt ohne Kernwaffen die Wahrheit des letzten Übels aus Pandoras Büchse: die törichte Hoffnung der Menschen, den drohenden Kriegen der Zukunft entgehen zu können.

 

   5-  »Als wir die Atombombe hatten, haben wir sie eingesetzt.«  

 

Wenige Tage nach dem Test in New Mexico unterschreibt Truman, noch in Potsdam, am 25. Juli 1945 den Befehl zum Einsatz der Bombe auf eine Großstadt.(32)


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Alle Macht liegt nun bei den Militärs, nichts kann den Abwurf verhindern. Innerhalb weniger Tage müssen einsatzfähige Bomben über 10.700 Kilometer transportiert werden von Los Alamos zum Luftwaffenstützpunkt Tinian auf dem Guam Archipel. Vor dem Einsatz muss das »gadget« nachgerüstet werden; beim Test war es auf einem Stahlgerüst am Boden gezündet worden, als Kriegswaffe muss es aus 11.000 Metern Höhe abgeworfen werden und in 800 Metern über Ground Zero explodieren. Welche Stadt in Japan die Bombe zerstören soll, würde vom Wetter abhängen, da ein gezielter Abwurf nur unter Sichtflugverhältnissen möglich war.

Truman schifft sich am 2. August 1945 - die Verträge in Potsdam sind unterzeichnet - in Plymouth auf der »Augus-ta« ein. Kurz vor der Ankunft im Hafen von New York erreicht ihn beim Lunch die Nachricht von der erfolg­reichen Zündung der Bombe über Hiroshima. Teilnehmer des Essens auf der »Augusta« berichten, dass der Präsident strahlte, aufsprang, seinen Beratern die Hände schüttelte und sagte: »Das ist die größte Sache der bisherigen Geschichte.«33

Zur Rechtfertigung des Einsatzes dient von Anfang an das Argument, die Japaner hätten auf die deutlichen Ultimaten der USA nicht reagiert. Die neuere zeitgeschichtliche Forschung spricht eine andere Sprache. Wer in den Tagen vor dem 6. August 1945 in Japan über Kenntnisse und Macht verfügte, auf ein Ultimatum zu reagieren, ist historisch nicht geklärt. In Japan herrschte ein fanatisches und gnadenloses Militär, das seit Jahr­hunderten dem Leitbild des Samurai folgte, des heldenhaften Kriegers, der seine Ehre bis zuletzt verteidigt und sich im Akt des Harakiri in sein Schwert stürzt. Über allem thronte ein gottgleicher, unnahbarer Kaiser, der Tenno.


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Am 9. August 1945, wenige Stunden vor dem Abwurf der zweiten Bombe, melden amerikanische Radiosender, es sei ein weiterer schwerer Schlag »gegen die japanische Kriegsindustrie« geplant, militärische und industrielle Anlagen sollten geräumt werden. Die Menschen in den Großstädten - überwiegend Frauen und Kinder - erfahren hiervon nichts. Das japanische Militär hatte jede Meldung über die neue Bombe untersagt, von der Zerstörung Hiroshimas erfuhr das japanische Volk erst Tage später. Die erste Bombe war »Little Boy« getauft worden, die zweite heißt »Fat Man«. Sie soll Kokura zerstören, eine alte Festungsstadt an der westlichen Spitze der Insel Honshü. Aber Kokura liegt unter Wolken. Der Pilot muss entscheiden, nach Tinian zurückzukehren oder eine andere Stadt zu zerstören. Er dreht ab und wirft die Bombe auf Nagasaki.34

Wer die Logik eines Nuklearkrieges verstehen will, kann aus der Erklärung, die Präsident Truman danach vor den Kameras der Wochenschauen abgab, viel lernen. Truman war in Missouri Textilhändler gewesen, später Senator. Im Schatten des übermächtigen Präsidenten Franklin D. Roosevelt wurde er 1944 Vizepräsident und nach dessen Tod im April 1945 unversehens Präsident der USA. Wie immer mit randloser Brille und verkniffenem Mund ordnet Truman die Blätter des Manuskripts, rückt seine Krawatte zurecht, versucht zu lächeln und verliest sein Statement:


32

Vor 16 Stunden hat ein amerikanisches Flugzeug über Hiroshima, einer wichtigen japanischen Militärbasis, eine Bombe abgeworfen. Sie hatte die Sprengkraft von mehr als 20.000 Tonnen TNT. Es handelt sich um eine Atombombe. Sie verkörpert die Nutzbarmachung der elementaren Kräfte des Universums.35

Truman erklärt, dass die erste Bombe auf Hiroshima, eine Militärbasis (»a military base«) geworfen wurde, »weil wir bei diesem ersten Angriff den Tod von Zivilisten soweit möglich vermeiden wollten«. Und zum ersten Mal erfährt die Welt von dem Manhattan-Projekt, an dem bis zu 190.000 Menschen gearbeitet hatten:

Bis 1939 glaubten die Wissenschaftler, dass es theoretisch möglich sei, die atomare Energie auszulösen [release]. Aber niemand kannte eine praktische Methode, dies auch zu tun. 1942 jedoch erfuhren wir, dass die Deutschen fieberhaft daran arbeiteten, einen Weg zu finden, die Atomenergie in Kriegswaffen einzusetzen, mit denen sie die Welt zu versklaven hofften. [...] Wir haben zwei Milliarden Dollar auf das größte wissenschaftliche Glücksspiel [gamble] der Geschichte gesetzt - und gewonnen.36

Das Medienecho in den USA war keineswegs euphorisch. »We have created a Frankenstein!« lautete der erste Ausruf des Chefkommentators der NBC wenige Stunden nach Trumans Erklärung.37

Und da der Befehl zum Abwurf der zweiten Bombe bereits erteilt war, rechtfertigte Truman den Abwurf auf Nagasaki mit dem Satz: »Als wir die Bombe hatten, haben wir sie eingesetzt.«38


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Der amerikanische General Dwight D. Eisenhower, der Supreme-Commander der amerikanischen Armee in Europa gewesen war, berichtet später, die Entscheidung zum Einsatz der beiden Bomben habe mit dem erfolgreichen Test festgestanden, obwohl die Japaner ihre Bereitschaft signalisiert hätten zu kapitulieren. Churchill, der an den meisten Sitzungen der Potsdamer Konferenz teilgenommen hatte, schrieb in seinem Rückblick 1953, nach dem erfolgreichen Test sei der militärische Einsatz der Bombe für die Politiker der Siegermächte in Potsdam keine Frage mehr gewesen:

The historical fact remains [...], that the decision whether or not to use the atomic bomb was [...] never an issue. There was unanimous, automatic, unques-tioned agreement around our table; nor did I ever hear the slightest Suggestion that we should do oth-erwise.39

Die wenigen Tage Anfang August 1945 markieren den technisch ersten und politisch letzten Zeitpunkt, zu dem die Bombe in diesem Krieg noch eingesetzt werden konnte. Bereit zur Verladung in den B-29-Bomber in Tinian war die Bombe nach dem Trinity-Test genau 13 Tage später, am 29. Juli. Der Einsatz musste unter Sichtflugbedingungen erfolgen und verzögerte sich wegen des schlechten Wetters um mehrere Tage bis zum 5. August 1945. Bis zur absehbaren Kapitulation Japans gab es nur noch ein Zeitfenster von wenigen Tagen, das die USA sofort nutzten. Und es dürften jene Historiker Recht haben, die nicht Japan als Adressaten der Bombe ansahen, sondern jeden to whom it may concern.40 Hiroshima demonstrierte vor aller Welt die militärische Macht der USA im kommenden Zeitalter nuklearer Kriege.


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   6   Menschen nach dem Atomschlag: »Sie waren ganz still.« 

 

Der Krieg scheint fern, als Dr. Michihiko Hachiya, der Direktor des Hiroshima-Communications-Hospital, am frühen Morgen des 6. August 1945 auf dem Weg ist zu seiner Arbeit. In diesem Sommer leben in Hiroshima Frauen und Kinder, die Männer liegen an den Fronten des Krieges, und Hiroshima war von den Bomben der US-Air-Force weitgehend verschont geblieben. Dr. Hachiya weiß nichts von der Vernichtungswaffe, die die Amerikaner zwanzig Tage zuvor getestet hatten, und er weiß nichts von Ultimaten, die seinem Kaiser gestellt worden waren. Er kann die Flugzeuge nicht hören, da der Schall ihrer Maschinen den Boden erst Sekunden nach dem Atomblitz erreichen wird, und es gab keinen Bombenalarm. Die US Air Force hatte die japanischen Städte im konventionellen Luftkrieg mit großen Verbänden angegriffen; als sich lediglich drei amerikanische Maschinen nähern, löst die japanische Radarüberwachung keinen Alarm aus.

Der Bomber des Typs B-29 Superfortress war in Tinian, einem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt auf dem Guam-Archipel, beladen worden mit der Uranbombe »Little Boy«. Der Pilot Paul Tibbets hatte auf den Rumpf der B-29 den Namen seiner Mutter geschrieben, Enola Gay. Tibbets überfliegt zunächst den Stützpunkt Ihoa Iwojima zwischen Guam und Honshu. Hier schließen sich zwei weitere B-29-Maschinen an, um mit Messgeräten die Druckwellen der Explosion zu ermitteln und den Atompilz zu photografieren.


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Vier Kilometer vor dem Zentrum Hiroshimas wird »Little Boy« aus einer Höhe von 11.000 Metern ausgeklinkt. Die Flugbahn war vorher mit Attrappen (pumpkin bombs) getestet worden; die Bombe soll in einer ballistischen Kurve auf das Zentrum Hiroshimas fallen und nach 43 Sekunden 800 Meter über dem Ziel zünden. Nach dem Abwurf dreht die Enola Gay in einem Winkel von 155 Grad ab und umkreist in einer horizontalen Entfernung von 19 Kilometern und einer Höhe von 10 Kilometern den Stadtrand von Hiroshima. »Jeder zählte bis 43«, berichtet die Besatzung später.41

»Little Boy« zündet die Kettenreaktion um 8 Uhr, 16 Minuten, und 2 Sekunden Ortszeit. Niemals zuvor hat es auf der Erde eine vergleichbare menschengemachte Zündung gegeben. Die Temperatur im Fokus der Explosion wird mit einer Million Grad Celsius ermittelt, auf Ground Zero beträgt sie noch mehrere tausend Grad Celsius. Die Druck- und Hitzewelle breitet sich mit einer Geschwindigkeit von 1500 km/h aus und vernichtet innerhalb von fünf Sekunden etwa 80.000 Menschen in einem Radius von fünf Kilometern um Ground Zero. Nichts bleibt übrig, kein Blut, keine Knochen; die Organe werden in der Hitze verdampft. Es gibt keine Bilder der Opfer, nur Täterbilder, die zwölf Kilometer hohe Rauchsäule, die Zerstörung der Stadt. Aber es gibt das »Hiroshima-Tagebuch« von Dr. Hachiya, die wichtigste authentische Beschreibung der Stunden und Tage nach dem Atomblitz:42 Er beschreibt, wie ihn die Druckwelle etwa zwei Kilometer entfernt vom Epizentrum traf, wie er das Bewusstsein verlor und sich mit anderen Opfern, die die Zündung überlebt hatten, nackt wiederfand.


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Im Hiroshima Communications Hospital, das 1500 Meter von Ground Zero entfernt liegt, befinden sich zum Zeitpunkt der Explosion am frühen Morgen mehrere hundert Patienten; etwa zwei Sekunden später steht von dem Krankenhaus nur noch das Betongerüst des Rohbaus:(43)

Allmählich erst begann die Umgebung für mich deutlich zu werden. Schattenhaft sah ich Menschengestalten. Manche wirkten wie wandelnde Gespenster, andere bewegten sich gekrümmt vor Schmerzen, Vogel­scheuchen gleich, indem sie die Arme so vom Körper abspreizten, daß die Unterarme und Hände baumelnd herabhingen. Mir waren diese Menschen ein Rätsel, bis ich plötzlich erkannte, daß sie verbrannt waren und die Arme so hielten, damit nicht die Stellen mit dem geplatzten Fleisch aneinander rieben. Eine nackte Frau mit einem nackten Säugling kam in mein Gesichtsfeld. Ich wandte den Blick ab, vielleicht waren sie im Bade gewesen, aber dann sah ich auch einen nackten Mann, und nun mußte ich mir sagen, daß eine unbekannte Gewalt ihnen, wie mir, die Kleidung geraubt hatte. Nahe bei mir lag eine alte Frau, deren Gesicht zeigte, daß sie litt, doch sie gab keinen Laut von sich. Ja, wirklich, eins hatten alle, die ich sah, gemeinsam: Sie waren ganz still.(44)

In den folgenden Tagen irren Tausende Todgeweihter durch die Straßen und versuchen aus der Stadt zu fliehen:

Es war ein grauenhafter Anblick, Hunderte von Verletzten, die in die Berge zu fliehen versuchten, kamen an unserem Hause vorbei. Ein fast unerträgliches Bild: Verbrannte mit geschwollenen Gesichtern, denen große Hautfetzen, vom Gewebe losgerissen, am Körper hingen wie Lumpen an einer Vogelscheuche. Die Menschen bewegten sich in den Reihen wie Ameisen. Die ganze Nacht hindurch zogen sie am Haus vorbei, doch heute Morgen war es mit der Prozession zu Ende. Ich sah sie dann zu beiden Seiten der Straße liegen, so eng beieinander, daß es unmöglich war, zu gehen, ohne auf sie zu treten [...].
Ich traf viele, wie viele weiß ich nicht, die von den Hüften aufwärts verbrannt waren. Die Haut hatte sich abgeschält, ihr Fleisch war naß und schwammig. Sie mußten die Mützen aufgehabt haben; denn ihr schwarzes Kopfhaar war nicht angesengt, sodass es aussah, als trügen sie Schüsseln von schwarzem Lack auf den Köpfen. Und - sie hatten keine Gesichter! Ihre Augen, Nasen und Münder waren weggebrannt und die Ohren schienen förmlich abgeschmolzen zu sein. Kaum konnte ich die Vorderseiten vom Rücken unterscheiden.(45)

Berichte von Augenzeugen finden sich auch in der umfangreichen Veröffentlichung von Tsuyoshi Hasegawa. Er beschreibt die gespenstische Ruhe in der Stadt und die brennenden Menschen, die wie Fackeln durch die Straßen laufen:

Menschen liefen ziellos herum in unheimlichem Schweigen [eerie silence], manche schwarz verbrannt, ihre Haut schälte sich von ihren Körpern. Andere liefen verzweifelt [frantically], um nach ihren verschwund­enen Verwandten zu suchen. Tausende toter Körper schwammen im Fluss. Überall Leiden und Schrecken, unaussprechbar, beispiellos.(46)

In den Tagen und Wochen nach dem 6. August 1945 werden immer mehr Menschen in die Krankenhäuser eingeliefert mit Symptomen, die zunächst als Hautkrankheiten oder Masern diagnostiziert werden:

Es gab keine Verbrennungen auf der Haut, aber es bildeten sich rote Flecken, die sich schließlich zu Beulen auswuchsen. Dann folgten Symptome wie Haematemesis (blutiges Erbrechen) und schließlich Blutungen aus allen Körperöffnungen.(47)

Patienten mit blutigem Brechdurchfall werden isoliert, weil Ärzte eine ansteckende Durchfallkrankheit diagnostizieren. Als die epidemischen Ausmaße der Erkrankungen sich nicht eindämmen lassen, nehmen die Ärzte an, es müsse sich um eine biologische oder chemische Waffe gehandelt haben. Die Leichen können lange nicht obduziert werden, weil das Sezierbesteck zerschmolzen ist. Erste Autopsien ergeben, dass die Organe durch schwere innere Blutungen zerstört worden waren; die Vernichtung roter Blutkörperchen war derart stark fortgeschritten, dass das Blut auch viele Stunden nach Eintritt des Todes noch flüssig war und nicht gerinnen konnte. Die Ärzte vermuten, dass es sich um eine bisher völlig unbekannte Krankheit handeln müsse. Die Opfer erleben ihr Sterben bei vollem Bewusstsein. Es gibt für ihr Leiden keine Diagnose, keine Therapie und keine Hoffnung.

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Die Stadt Hiroshima hat in einem Bericht an die Vereinten Nationen die Zahl der Opfer, die bis Dezember 1945 gestorben waren, auf etwa 140.000 geschätzt; für Nagasaki wurden die Zahlen mit 70.000 bis 80.000 angegeben. Die Zahl derer, die das Jahr 1945 überlebten, aber in den folgenden Jahren Opfer der Verstrahlung wurden, wird für Hiroshima auf 300.000 bis 350.000 beziffert und für Nagasaki auf 270.000.(48)

Unter den Opfern sind etwa 20.000 koreanische Zwangsarbeiter, die im Hafen von Hiroshima in Munitionsfabriken arbeiten mussten, um die Waffen zu produzieren für den Krieg gegen ihre Heimat, aus der sie von den Japanern verschleppt worden waren. Über ihr Schicksal ist die Geschichte hinweggegangen. Für die USA ist es wichtig, die koreanischen Kriegsgefangenen als japanische Militärs darzustellen, um den Abwurf der Hiroshima­bombe völkerrechtlich als Kriegshandlung zu rechtfertigen. Die japanische Geschichtsschreibung verschweigt den Einsatz der Gefangenen als Zwangsarbeiter, um den historischen Opfermythos nicht zu beflecken. Bis heute liegt die Stätte, die in Hiroshima an sie erinnert, abgelegen neben dem Gedenkort am Dom. Für die Menschen Japans wäre Hiroshima der Ort, sich angesichts des Leidens und Sterbens der Koreaner auch mit der eigenen Geschichte als gnadenloser und aggressiver Kriegsmacht zu konfrontieren.

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