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3.3  Utopien über eine perfekte Welt

Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht!

Und mach' dann noch 'nen zweiten Plan — 

geh'n tun sie beide nicht.  Bert Brecht 

   Der Irrglaube an Endlösungen   

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Es ist gar nicht überraschend, daß sich die Vorstellungen einer perfekten Gesellschaft an dem ausrichten, was der Mensch zur höchsten Perfektion gebracht hat: an der Maschine. Dies braucht nicht die Maschine im engeren Sinn zu sein. Man kann auch eine ganze Fabrik zum Vorbild nehmen oder den Verkehr einer Stadt. Man spricht ja auch längst von der Maschinerie des Staates oder von der bürokratischen Maschinerie.

Der Traum vom Paradies hat seit dem vorigen Jahrhundert in der Regel die Gestalt einer reibungslosen, automatisch laufenden Maschinerie angenommen. Sie liefert das Vorbild für unzählige Entwürfe und Programme, die allesamt eine Gesellschaft zum Ziel haben, in der es keine Probleme mehr gibt. In ihr werde dann die große Harmonie, der ewige Friede herrschen; denn alles werde geregelt und selbstredend gerecht geregelt sein — und jeder einzelne könne dann so frei sein wie noch niemals auf dieser Erde. Es komme nur auf die richtige Organisation an! Warum soll sie nicht möglich sein, wo doch der Mensch solch hervorragende Beispiele seiner technischen und organisatorischen Fähigkeiten geliefert hat wie Besuche auf dem Mond?

Die technischen Fortschritte der letzten Jahrhunderte führten zu dem Glauben, daß alles machbar sei. So wie in der Technik alle Probleme als lösbar erscheinen, so werden auch alle Probleme der menschlichen Gesellschaft als lösbar angesehen.183) Wenn sie noch nicht gelöst seien, dann liege das keineswegs an der Andersartigkeit der menschlichen Probleme, sondern am mangel­haften Fortschritt, den vielleicht sogar böswillige dunkle Mächte aufgehalten haben. In ihnen feiert der Teufel des Mittelalters seine Auferstehung — heute heißt er »Kapitalist«, »Militarist« oder pauschal »die herrschende Klasse«. Oder die Schuld liegt ganz einfach in der »überkommenen Gesellschaftsordnung«, die infolgedessen erst einmal abgeschafft werden muß.

Eine Lieblingsbeschäftigung vieler Zeitgenossen besteht darin, die mustergültige Gesellschaft der Zukunft zu entwerfen. Die Buchläden sind voll davon. 

Und was liegt im technischen Zeitalter näher, als sie sich in Form eines Mechanismus vorzustellen. Ihre Elemente werden von den erfolggewohnten Naturwissen­schaften und technischen Disziplinen geliefert, deren simplifiziertes Kausalitätsprinzip auf das Leben der Menschen übertragen wird. Gewisse Soziologen glauben, wenn sie nur ebenso großzügig mit Forschungs­mitteln ausgestattet würden wie die Naturwissenschaftler, dann könnten sie die perfekte menschliche Gesellschaft konstruieren. Ich nenne diese neue Spezies von Gesellschafts­wissenschaftlern »Gesellschaftsingenieure«. 

Was mit den Weltentwürfen von Marx und Lenin begann, hat inzwischen unzählige mehr oder weniger bedeutende Epigonen gefunden. Zu Recht spricht auch Franz Vonessen ironisch von den »Architekten, Erbauern, Konstrukteuren, Programmierern und Erfindern der Zukunft«, welche »Modelle einer neuen Welt« entwerfen, die dann nur noch »in Auftrag gegeben« zu werden brauchen. Aber »unter einer Zukunft, die gemacht werden muß«, könne man sich entweder nichts oder nichts Gutes vorstellen; denn Zukunft ist Offenheit, Freiheit, niemals ein Rechenexempel.184 »Ein Leben, das nichts mehr verspricht, sondern nur noch abläuft und funktioniert«, müsse vielmehr unmenschlich heißen.185

Doch es hilft nichts! Alle Hoffnungen richten sich immer noch auf die perfekte Planung! »Kein Regierungsprogramm, keine Jahresbotschaft des Präsidenten ohne das Versprechen, mehr und besser zu planen.«186) Der Glaube an den Plan ist ungebrochen. »Die mechanistische Weltsicht... ist zur herrschenden geworden mit der zahlenmäßigen Dominanz jener Schichten in der Wählerschaft, die immer schon zur mechanistischen Weltsicht hinneigten.«187) Gerade der einfache Staatsbürger ist es heute, der immerzu »klare Verhältnisse« fordert. Er beanstandet, daß es an Zielsetzung und Planung fehle; für ihn gibt es nur ein Entweder — Oder. Die Faszination, die von der Technik und von der perfekten Organisation ausgeht, hält in aller Welt an.

Damit sind wir bei einem grundsätzlichen Dilemma der gegenwärtigen ökologischen Bewegung. Die Personen, die sich in ihr engagieren, vor allem die jugendlichen, sind die Kinder dieser Zeit und damit der mechanistischen Denkweise.

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Es ist das alte Denkschema, das zwar neu zu sein vorgibt, aber das übliche ist. Ein Mann, der nicht nur alternativ redet, sondern auch alternativ lebt, ist der Österreicher Gerhard Schönauer. Er hat richtig erkannt: 

»In vielen Köpfen spukt der Wunschtraum einer <Alternative> nach Art des Schlaraffenlandes, die uns Komfort und Konsum ebenso beschert wie die moderne Technik, nur eben mit vermeintlich gesunden, umweltfreundlichen Mitteln. Diese Leute wollen keine Umkehr zur Natur und Einfachheit, sondern sie wollen Fortschritt und Technik, nur eben in ihrer Geschmacksrichtung, das heißt ohne Schädigung der Natur. Sie wollen Üppigkeit nach neuen Methoden. Auch die Wissenschaftler, Techniker und Manager, nur eben grün verkleidet. Ich halte diese Richtung für besser als die umwelt­feindliche der heutigen Mächte, aber dennoch für verfehlt.«188

Die skizzierte Haltung ist das Ergebnis der Tatsache, daß heute das mechanistische Denken das allgemeine Bewußtsein beherrscht. Die meisten derjenigen, die zur Zeit gegen die herrschenden Zustände anrennen, tun es mit den gleichen Denk­kategorien wie die Befürworter des »wirtschaftlichen Wachstums«, der Atom­energie und der perfekten Planung. Gerade die Jugendlichen stellen immerzu die Frage nach der anderen »Lösung«. Das geht so weit, daß viele die Kritik an den jetzigen Verhältnissen nur dann erlauben wollen, wenn der »alternative Plan« für eine neue heile Welt bereits entfaltet auf dem Tisch liegt.

»Die Überschätzung der Ratio führte zur Überbewertung von Vollzugs- und Organisationsformen. Die Verwechslung von Verfahrens­weisen zum Wertetransport mit den Werten selbst stammt direkt von der Fehleinschätzung der Ratio ab: Geblendet von den reibungslosen Abläufen geistiger und materieller Vorgänge durch rationale Organisation, zögerte man nicht, der Organisation selbst Wertcharakter zuzusprechen.«189

Es ist der alte Glaube an Formalismen. Wo immer eine Schwierigkeit sichtbar wird, erschallt dann sofort der Ruf nach gesetzlicher Regelung. 

 

   Befreiung vom Zwang der Arbeit ?  

Von der Last der Arbeit wird die perfekte Gesellschaft der Gleichen natürlich befreit sein. Die Arbeit ist ja die Strafe, die Gott im Alten Testament verhängt hatte: »Mit Mühsal sollst du dich von ihm (dem Erdboden) nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und das Kraut des Feldes sollst du essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen ...«190

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Den negativen Geruch einer Strafe ist die Arbeit bis heute nicht losgeworden. Wer es sich in früheren Zeiten leisten konnte, nicht zu arbeiten, gehörte zu den Bevorzugten. Es war aber keineswegs so, daß er gar nichts tat; er füllte seine Tage mit Jagd, Turnier und Waffenübungen aus, später mehr mit Sport, Spiel und Festen. Normal war es allerdings, übermäßige Arbeit zu meiden. 

Auch hier brachte das technische Zeitalter einen Wandel. Man versuchte zwar weiterhin, die Arbeit loszuwerden, aber nicht durch weniger Arbeit, sondern durch ihre Steigerung. Die besondere Anstrengung aller menschlichen Kräfte war nötig, um die technischen Anlagen zu erstellen, die dann des Menschen Arbeit weitgehend überflüssig machen sollten. Heute sind wir soweit, daß wir das Ergebnis verbuchen können; dies geschieht, indem wir monatlich die erhöhten Arbeitslosenziffern verkündet bekommen.

Bei Marx heißt es: »Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweck­mäßigkeit bestimmt ist, aufhört ...«.191 Die Arbeit wird auch laut Marx bleiben, aber sie wird nicht den Zweck haben, menschliche Bedürfnisse mittels des Erarbeiteten zu befriedigen, sondern sie wird ohne jeden Zwang ausgeübt, aber auch ohne den Zwang, einem Zweck zu dienen. Da sich auch Marx ein Leben in der Leere des Nichtstuns nicht vorstellen konnte, meinte er, daß die Arbeit gerade dann zum »ersten Lebensbedürfnis« werden würde, wenn sie gar nicht mehr nötig sei, da die Maschinen die Aufgabe übernommen haben würden, alle Menschen mit allem zu versorgen.

Hier setzt Hans Jonas mit seiner scharfsinnigen Kritik an Marx wie auch an Ernst Bloch ein. Jonas erkennt sehr richtig, daß die Utopie einer Welt ohne Arbeit das »Problem der Muße« schaffen muß; denn es soll ja eine tätige Muße, nicht Müßiggang sein. Das werde gerade zu einem Wettrennen um die Reste von Arbeit führen, soweit solche in der Bedienung der Maschinen und ihrer Reparatur noch übrigbleiben würden, auch nach einigen nur von Personen ausübbaren Tätigkeiten, wie der des Arztes, Lehrers oder Journalisten. Die Inhaber solcher Arbeitsplätze würden dann zu den Privilegierten zählen. Dagegen müßte man für alle übrigen geeignete Hobbies suchen, mit denen sie ihre Tage aktiv ausfüllen könnten.

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(Diese Sorge teilt die neueste Veröffentlichung des Club of Rome »Auf Gedeih und Verderb«. Der marxistische Ökonom Adam Schaff befürchtet infolge der Elektronik eine beschäftigungsarme Epoche.)192

Jonas legt dar, daß die Freude an einer permanenten Steckenpferdbetätigung sehr bald dahin sein würde, da ja die Freude gerade darin liege, zeitweise einer Lieblings­beschäftigung nachzugehen, weil diese im Kontrast zur üblichen Berufsarbeit steht. Ein Hobby neben dem Beruf bringe nur so lange Befriedigung, wie beide in einer Spannung zueinander stünden. »Ein ganzer Ernst woanders muß gegenüberstehen, damit das Spielerische zur Geltung kommt.«193 Entfällt der Ausnahmecharakter der Freizeitbeschäftigung, dann geht auch die Freude daran verloren. Schon bei Shakespeare heißt es: »Wenn alle Tage im Jahr gefeiert würden, so würde das Spiel so lästig sein wie die Arbeit.«

Die Utopie von einer Menschheit, die sich mit Hobbies die Zeit vertreibt, hat so viele Fehler, daß diese sie »nicht nur ihres Traumzaubers, sondern jeder vernünftigen Wünschbarkeit entkleiden.« Jonas sieht drei Stadien der Aufdeckung:

»Verlust der Spontaneität im zur Pflicht gewordenen Steckenpferd; Verlust der Freiheit in seiner notwendigen öffentlichen Beaufsichtigung; Verlust der Wirklichkeit in seinem Fiktionscharakter. Das Verhältnis von <menschen­würdiger> und <menschenunwürdiger> Arbeit wird sich dabei seltsam umkehren. Und als Grundirrtum der ganzen Konzeption bei Marx wie bei Bloch wird sich die Trennung des Reiches der Freiheit vom Reiche der Notwendigkeit herausstellen: Die Vorstellung also, daß jenes beginnt, wo dieses aufhört, daß Freiheit jenseits der Notwendigkeit liegt, anstatt im Treffen mit ihr zu bestehen.«194

Was die meisten Menschen aus freien Stücken mit ihrer freien Zeit tun, wenn sie diese erst haben, das wissen wir inzwischen größtenteils. Sie sitzen vor dem Fernseher oder sie fahren Auto. Tibor Scitovsky berichtet:

»Aus Freizeituntersuchungen und verschiedenen soziologischen Erhebungen können wir entnehmen, daß die Haupt­quellen der Anregung in den USA das Fernsehen, Autofahren und Einkaufen sind — alles Anregungen, die keinerlei Fähigkeiten erfordern.«195

Das heißt, die Menschen verhalten sich nicht aktiv, sondern passiv. Nicht nur vor dem Bildschirm, auch unterwegs läßt man die Bilder auf sich wirken; denn die Beförderung in Verkehrsmitteln bedarf keiner eigenen Anstrengung.

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Nur wenige sind in ihrem Urlaub aktiv, und noch weniger bringen in ihrer Freizeit für sich oder andere etwas hervor, was das Leben bereichern würde. Es liegt in der menschlichen Natur, passiv zu bleiben, solange sie nicht existentiell herausgefordert wird. Nur wenige Menschen sind auch ohne Not aktiv.

Letzten Endes hat bereits Goethe die Utopie von der arbeitsfreien Gesellschaft mit seinem Gedicht <Der Schatzgräber> erledigt. Es beginnt:

Arm am Beutel, krank im Herzen, 
schleppt' ich meine langen Tage. 
Armut ist die größte Plage, 
Reichtum ist das höchste Gut! 

Darauf wird bekanntlich geschildert, wie er mit vielerlei Zauber einen Schatz auszugraben versucht — bis sich ihm ein »lichter Knabe« mit einer Schale naht:

Trinke Mut des reinen Lebens! 
Dann verstehst du die Belehrung, 
kommst, mit ängstlicher Beschwörung, 
nicht zurück an diesen Ort. 
Grabe hier nicht mehr vergebens. 
Tages Arbeit! Abends Gäste; 
saure Wochen! Frohe Feste! 
Sei dein künftig Zauberwort.

Weder für den Einzelnen noch für alle kann das Heil in einer Befreiung vom Zwang zur Arbeit liegen. Das Himmelreich der Muße bleibt eine jenseitige Angelegenheit, wofür der Mensch nicht geschaffen ist. Auch Kant hatte eine Antwort auf das Problem: »Die Frage: ob der Himmel nicht gütiger für uns würde gesorgt haben, wenn er uns alles schon bereitet hätte vorfinden lassen, so daß wir gar nicht arbeiten müßten, ist gewiß mit Nein zu beantworten; denn der Mensch verlangt Geschäfte, auch solche, die einen gewissen Zwang mit sich führen«.196) 

Darum können wir uns das Leben im (christlichen) Himmelreich auch gar nicht so recht vorstellen, sobald wir es konkret zu ergründen versuchen. Wie wäre das denn: Tag für Tag nichts zu tun — und das in Ewigkeit?

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Nach alledem, was wir vom Leben in unserer Welt wissen und jemals erfahren werden, bleibt nur die Befürchtung ewiger Langeweile, womit man bekanntlich in dieser Welt Verbrecher bestraft. Wie gesagt: Wir können nur von dieser Welt her urteilen, denn andere Erfahrungen haben wir nicht.

Dieses Wissen berechtigt uns aber, die Lächerlichkeit der Utopien über eine perfekte Gesellschaft im Diesseits - die permanent im Glücke schwimmt - aufzudecken. 

Nun maßen sich heute die ach so aufgeklärten Menschen an, den Schöpfungsplan als höchst fehlerhaft zu kritisieren, weil Leid und Elend, Krankheit und Tod in dieser Welt ihren unbestreitbaren Platz haben. Wie könnte ein Gott solches dulden? In ihren Augen hätte der Allmächtige ein perfekter Techniker sein müssen, dem es oblag, eine Weltmaschine mit reibungslosem Lauf zu entwerfen. Dieses sein offensicht­liches Versäumnis wollen die Kritiker nun reparieren, indem sie ihren perfekten Eigenbau offerieren: eine endgültige Welt, die wie eine Maschine ohne Fehl und Tadel funktioniert. Was sie völlig übersehen, ist, daß es eben keine Maschine geben kann, die zugleich ein lebendiges Wesen ist — und daß es umgekehrt keinen Organismus gibt, der zugleich tote Maschine ist.

»Wären wir in Bezug auf Erfahrungen und materielle Subsistenz ganz auf die Maschine angewiesen, so wäre die Menschheit schon längst an Unterernährung, Langeweile und hoffnungsloser Verzweiflung gestorben.«197) 

Sollte das Schlaraffenland jemals gelingen, dann wäre der Begriff »Hoffnung« aus dem Leben des Menschen eliminiert. Im Vorgeschmack des Schlaraffen­landes steht die heutige Jugend, soweit sie von Kindheit an alle ihre Wünsche erfüllt bekam; denn die Eltern konnten sich das leisten und der Staat auch. Heute sind beide erstaunt, daß ein großer Teil der Jugendlichen (gerade der Teil, der das meiste bekam) unzufrieden ist und revoltiert. Sie haben ein Gesetz dieser Welt mißachtet, wonach das »Prinzip Hoffnung« nur solange seine Antriebskraft behält, wie die Hoffnung nicht erfüllt wurde.198) 

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  In Abstraktionen vernarrt   

Die Utopien über eine zukünftige perfekte Welt haben eine Verhängnis-Wirkung, denn sie entwerten die gegenwärtige! Wer sich für die vollkommene Zukunft ereifert, wird zum Verächter der unvollkommenen Gegenwart; sie wird in seinen Augen keine Gnade finden. Und Verneinung der Gegenwart führt letztlich zur Verneinung des Lebens. Der Mensch kann schon von seiner Veranlagung her zu einem Verneiner der konkreten Wirklichkeit werden, wie der Philosoph Max Scheler darstellte.199) Darin liegt andererseits eine Quelle seiner Religiosität wie eben auch ein Ursprung der utopischen Entwürfe, die er einmal im Jenseits und ein andermal im Diesseits ansiedelt.

Die völlige Negation der lebendigen Gegenwart zugunsten einer vorgestellten Zukunft äußert sich dann im Nihilismus und im fanatischen Kampf für eine ganz neue utopische Gesellschaftsform, für deren Errichtung kein Preis zu hoch erscheint. Auf dieser Basis konnte sich jüngst die Parole verbreiten: »Wir werden Menschen sein, oder die Welt wird dem Erdboden gleich gemacht bei dem Versuch, es zu werden!«200) Wo ist da der Unterschied zu dem im Dritten Reich gesungenen Lied: »Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«?

Verschiedentlich wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Tradition wieder aufgenommen, die der erste russische Sozialist Belinski begründet hatte, als er schrieb, daß er »die Menschheit nach der Art des Marat liebe: Um den geringsten Teil von ihr glücklich zu machen, würde ich wohl mit Feuer und Schwert den übrigen ausrotten«. Die nihilistische Tradition wurde dann von Michail Bakunin fortgesetzt. Und der Nihilist Bararow in Turgenjews Roman <Väter und Söhne> verkündete: »Verbessert die Gesellschaft, und es gibt keine (moralischen) Krankheiten mehr.«

Das sind die Auswirkungen des westlichen Nihilismus auf Rußland, die Dostojewski mit Schrecken zur Kenntnis nahm: »Wenn es Gott nicht gibt, so bedeutet das, daß dem Menschen alles erlaubt ist.« Er sah voraus, daß jene, die »Gerechtigkeit zu schaffen meinen, indem sie Christum leugnen, am Ende die Welt im Blut ertränken werden, denn Blut heischt wieder Blut«; so sprach Sosima in den <Brüdern Karamasow>.

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Dies ist der Punkt, den der aus der Sowjetunion emigrierte Germanist Hermann Fein in einem Essay über Dostojewski herausgearbeitet hat: 

»Wenn der Mensch zu der Überzeugung gelangt, daß er die Wahrheit, die ganze Wahrheit wisse, wenn er sich somit die Funktion Gottes anmaßt, gerät er in eine ausweglos feindselige Beziehung zu allen anderen Menschen, die sich ja schließlich ebenfalls für Gott halten können. Hier stößt Dostojewski auf den Kern des Problems... Die Welt ist gespalten, die Kultur verfällt, das Menschen­leben wird abgewertet durch Entstehung <universalgültiger>, <einzig richtiger> Gesellschafts­theorien.«201

So geschieht es, daß die Fanatiker der Perfektion immer wieder als Heilsbringer auftreten, die anderen ihre unfehlbare »Endlösung« aufzuzwingen versuchen. Jeder Perfektionismus endet im Fanatismus. Die von den Diesseits-Fanatikern ausgehende Gefahr war zu Zeiten der religiösen Bindungen nicht akut. Seit sich jedoch der Mensch selbst zum Herrn der Schöpfung aufgeschwungen hat, ist er bereit, ohne alle Hemmungen zu verwirklichen, was ihm seine mechanistische Logik als das einzig Wahre erscheinen läßt. Was sich den Fanatikern entgegenstellt, verdient in ihren Augen nur, liquidiert zu werden.

Und das läuft sogar weitgehend unter der Flagge des Humanismus! Allerdings handelt es sich dabei um keinen konkreten, natürlichen Humanismus, sondern um eine höchst abstrakte Menschheitsliebe. Diese ist eine Rechengröße, die man überall gern einsetzt, in der Wirtschaft, in der Technik und selbst in Haushaltsplänen.202) Mishan sagt von der heutigen Jugend, daß sie eine wahllose Menschenfreundlichkeit widerspiegele, »die nichts gemein hat mit dem Aufbau dauerhafter Freundschaften, ja ihnen feindlich gegenübersteht, denn wahre Freundschaft kann nur durch Zeit, Liebe und Verzicht wachsen.«203)

Warum ereifern sich Teile der heutigen Jugend so für die Menschheit, während sie für das eigene Volk, für das Heimat- oder Vaterland nur Gleichgültigkeit, oft sogar Verachtung zeigen? Weil die weltweite Solidarität genügend abstrakt ist. »Die Menschheit? Das ist ein Abstraktum«, sagte Goethe zu Luden.

Weltweit kann man sich ganz beliebig in humanitären Theorien ergehen, ohne persönlich gefordert zu werden. Der Frage »Und was tust du selbst dafür?« kann man bei diesen Dimensionen leicht ausweichen, während die Frage »Was tust du für deine Gemeinde?« oder »Was tust du für deine Familie?« eine höchst peinliche Direktheit hätte.

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Statt Nächstenliebe gilt also Fernstenliebe, die aber gar keine echte Liebe sein kann; sie dient nur als »General-Alibi der Liebe zum Guten.«204 Es handelt sich bestenfalls um eine Forderung nach Gerechtigkeit. Weltweite »Gerechtigkeit« ist insofern ein genügend abstrakter Begriff, um dahinter in Deckung gehen zu können.

»Wir haben ein humanitäres Großflächenethos entwickelt, mit dem wir weltweit Beglückung planen; auch mit dieser kosmischen Umarmung begründen wir erfolgreich unsere Verweigerung vor hautnahen Einsätzen. Diese ganz persönlichen Einsätze sind so undramatisch und so wenig publikums­wirksam.... Der theatralische Einsatz für fremde Hungernde fordert weniger reale Zuwendung von uns — fast gar keine — und viel weniger von unserer kostbaren Konsumzeit.«205  

So lautet die treffende Analyse von Gertrud Höhler.

Es gibt eine eindrucksvolle Geschichte des chinesischen Philosophen und Dichters Chuangtse. Er schildert darin (um 350 vor Christi Geburt) eine Begegnung der chinesischen Philosophen Kungfutse und Laotse. Als ihm Kungfutse seine zwölf klassischen Bücher mit beredten Worten vorlegt und von Nächstenliebe und Gerechtigkeit spricht, fragt Laotse nur:

»Was verstehst du unter Nächstenliebe und Gerechtigkeit?« - »Gleiches Glück allen Menschen zu bieten und alle Menschen ohne Unterschied und ungeteilt zu lieben: das ist die Essenz von Nächstenliebe und Gerechtigkeit.« - »Du redest, wie man heutzutage so redet«, sagte der Alte. »Du sagst: >ohne Unterschied< und >ungeteilt< und setzest damit >geteilt< und >Unterschied< voraus. Wer war es denn, der Unterschiede schuf und zerteilte?

Wenn du die Menschen lehren willst, ihren verlorenen Hirten wiederzufinden, erinnere dich bitte daran, daß das Universum bereits ein ungeteiltes Ganzes ist. Sonne und Mond scheinen gerecht und unterschiedslos für alle, ihre Bahn verläuft regelmäßig und am vorgezeichneten Platz. Die Tiere leben schon immer in Herden beieinander oder auch einzeln. Die Bäume wachsen an dem für sie geeigneten Ort, und niemand braucht ihnen zu sagen, wie sie es richtig und gerecht machen sollen. Warum siehst du dir nicht einfach dieses Leben (Tao) und diese Gerechtigkeit (Te) an?

Du schwenkst deine Fahne von Nächstenliebe und Gerechtigkeit und verwirrst damit alles nur noch mehr. Du kommst mir vor wie ein Mann, dessen Sohn gestorben ist, und nun geht er herum und schlägt ungeduldig die Trommel in der Hoffnung, ihn dadurch wiederzufinden. Ach lehre doch lieber die Menschen, zu ihrer eigenen vollkommenen Einfachheit zurückzufinden. Das ist nämlich schon das höchste Tao.

Der Schwan ist weiß, ohne daß ihn jemand künstlich reinigt. Der Rabe ist schwarz, ohne daß ihn jemand >angeschwärzt< hat. Hell und Dunkel, Weiß und Schwarz, alles ist von selbst an seinem natürlichen Platz. Das ist gut.

All dieses Streben der Menschen nach gutem Ruf und organisierter Gerechtigkeit ist hoffnungslos. Weißt du, an was mich das erinnert? Wenn ein Teich ausgetrocknet ist und die Fische auf dem Trockenen liegen, versuchen sie sich gegenseitig mit ihren Mäulern zu befeuchten. Aber was ihnen wirklich helfen würde, wäre einzig und allein, wenn jemand sie zurückwürfe in die Flüsse und Meere.«

Kungfutse ging nach Hause und konnte drei Monate nicht reden, in tiefes Nachdenken versunken. Dann besuchte er den Alten noch einmal. Sie saßen lange schweigend beieinander, vielleicht tranken sie Tee oder kochten sich Reis. Sie betrachteten die Pflanzen des Gartens, sahen die Sonne kommen und gehen, die Tiere aufstehen und sich schlafenlegen. Es war alles sehr still, sehr einfach und in seiner Ordnung, sehr liebevoll und sehr gerecht. Laotse lächelte, und Kungfutse sagte: »Jetzt verstehe ich es.« (206)

Diese Erzählung markiert die extreme Gegenposition organischen Denkens zum mechanistischen Denken und zugleich die alte östliche Weltauffassung im Gegensatz zur westlich-europäischen.

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