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3.4  Der Marxismus - Die konsequenteste Ideologie des mechanistischen Zeitalters

Die ganze Gesellschaft wird ein Büro 
und eine Fabrik mit gleicher Arbeit
und gleichem Lohn sein.  -Lenin-

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In der Geschichte des 20. Jahrhunderts stellt sich immer wieder die Frage, warum die Lehre des Karl Marx stets aufs neue eine solche Faszination auf die Massen in verschiedenen Teilen der Welt und in Deutschland auf Teile der Jugend ausübt. 

Wo doch in jedem Land, in dem seine Lehre — sicher immer in abgewandelter und auch verunstalteter Form — zur Herrschaft kam, die Ergebnisse enttäuschend geblieben sind. Auf jeden Fall so entmutigend, daß sich nur sehr wenige ihrer Verfechter auf diese Länder als Vorbilder zu berufen wagen. 

Im Namen des Kommunismus wurden ja schließlich in diesem Jahrhundert eher mehr Menschen liquidiert — wie der technische Ausdruck lautet — als durch den Faschismus. Dieser erwarb sich damit zu Recht die allgemeine Verachtung und wurde auch besiegt, wieso konnte da der Kommunismus immer wieder Länder und Köpfe erobern? 

Ein unerklärliches Phänomen? Nein, ein erklärbares! Der Marxismus ist die Ideologie, die in beinahe jeder Einzelheit mit der mechanistischen Weltauffassung übereinstimmt.

  1. 

Marx schuf das erste umfassende philosophische System, das ausschließlich auf der Ökonomie basiert, von der er alles andere ableitet. Die ökonomischen Gesetze bestimmen nach seiner Theorie die Weltgeschichte, und sie allein sollen auch dafür sorgen, daß die Welt ihre Bestimmung erreicht — was immer dies sein mag.

Von einem rein ökonomischen Gesichtspunkt her gab es für Marx nur zwei Arten von Menschen, die ökonomisch Selbständigen (heute Arbeitgeber) und die ökonomisch Abhängigen (heute Arbeitnehmer), in seiner Sprache Bourgeois und Proletarier. Soweit es also Unterschiede und Gegensätze zwischen den Menschen gibt, sind es bei ihm ökonomische. Bislang war die Menschheit immer noch in Völker und Stämme geteilt, mit eigenen Kulturen und Religionen, von denen immerhin noch einige fortbestehen.

Ausdrücklich wirft Marx die vergangenen nichtökonomischen Auffassungen über Bord, in denen der Mensch als kulturelles und religiöses Wesen Zweck der ökonomischen Produktion gewesen war. Der moderne Zweck ist der Reichtum207 und die Herrschaft über die Natur, der er das abwertende Wort »sogenannte« beifügt. Die frühere Geschichte des Menschen wird als überholt abgetan. Gegen die früheren Verhältnisse wendet sich Marx mit ironischer Schärfe:

»So erscheint (zwar) die alte Anschauung, wo der Mensch, in welcher bornierten, nationalen, religiösen, politischen Bestimmung auch immer, als Zweck der Produktion erscheint, sehr erhaben zu sein gegen die moderne Welt, wo die Produktion erscheint. In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen?«208

Die früheren regionalen Kulturen sollen verschwinden, »die Walze des Fortschritts rollt tödlich ... was da so ruchlos hinwegschreitet über sie, das ist der Fortschritt«, dichtete Bert Brecht.209

  2.

Der Marxismus beansprucht, streng wissenschaftlich zu sein. Damit entspricht er völlig dem wissenschaftsgläubigen Zeitalter, das 200 Jahre früher angebrochen war. Und nichts wird heute im Ostblock so gern betont wie die These, daß man den »wissenschaftlichen Sozialismus« vertrete. Wobei unter Wissenschaft die Art der neuzeitlichen Naturwissenschaft zu verstehen ist, die wir oben beschrieben haben. »Der Marxismus ist dem Ursprung nach Erbe der Baconschen Revolution und der Selbstauffassung nach ihr berufener Vollstrecker, ein besserer... als der Kapitalismus es war.«210

  3. 

Trotz der wissenschaftlichen Nüchternheit, die der Marxismus immer betont zur Schau trug, hat er aber eine emotionale Komponente. Er verkündet die Endzeit: Der Himmel wird aus dem Jenseits hernieder geholt und auf dieser Erde errichtet werden. Und — Völker, hört die Signale! — dazu braucht man keinen Gott, sondern die Menschen werden es selber vollbringen. Gerade die Ärmsten, die Unterdrücktesten unter den Menschenkindern (wie christlich klingt das!) hat der Weltgeist auserkoren, die Menschheit zu befreien — ja man höre und staune, die Natur gleich mit. Denn angeblich wartet die Natur auf ihre Befreiung durch den Menschen.211

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Auch da scheint Gott etwas vergessen zu haben, als er die Natur schuf. Wovon soll wohl die Natur befreit werden? Diese Befreiungs­theorie gehört zum arrogantesten Unsinn, den der eitle Mensch hervor­gebracht hat. Wenn schon die Natur auf irgendeine Befreiung warten sollte, auf eine durch den Menschen bestimmt nicht, höchstens auf eine von ihm.

Da die Utopie des Marxismus einerseits älteste Menschheitsträume wieder aufnimmt und andererseits »nun in der Technik auch die Mittel zu besitzen scheint, den Traum in ein Unternehmen umzusetzen, ist der vormals müßige Utopismus zur gefährlichsten — gerade weil idealistischen — Versuchung der heutigen Menschheit geworden.«212 Im Marxismus fanden daraufhin sogar »christliche« Theologen und Seelsorger ein neues geeignetes Exerzierfeld für ihre frustrierten Jenseitserwartungen. Sie fühlen sich modern und fortschrittlich dabei.

  4. 

In einem kompletten mechanistischen Weltbild gibt es keine Lücke für einen Gott. Darum bewegen sich alle industrialisierten Völker automatisch auf den Atheismus hin. »Der säkulare Atheismus ist eng verflochten mit der technokratischen Einstellung gegenüber der Objektwelt.«213 Das hat Dostojewski in einem Romanentwurf sehr richtig vorausgesehen: »Der Kommunismus wird triumphieren, ob die Kommunisten im Recht oder im Unrecht sind, doch ihr Triumph wird die äußerste Entfernung vom Reich Gottes bezeichnen.«214

  5. 

Die Anziehungskraft des Marxismus für den heutigen Menschen wird nochmals verstärkt durch den Anthropozentrismus dieser Lehre. Es ist die schamloseste Schmeichelei der menschlichen Eitelkeit, die jemals entwickelt worden ist. Schon die christliche Lehre stellte den Menschen in den Mittelpunkt. Der Mensch soll nun nicht Herr über andere Menschen sein, wohl aber Herr über die Natur. Dostojewski schreibt über die Sozialisten in »Schuld und Sühne«: 

»Die Natur wird nicht in Betracht gezogen, die Natur wird verbannt, die Natur ist nicht vorgesehen! Sie haben ein soziales System, das irgendeinem mathematischen Kopf entspringt — er bringt die ganze Menschheit alsbald in Ordnung und macht sie im Handumdrehen gerecht und gut... Der Zukunfts­palast steht bereit, aber die Natur ist nicht für den Zukunftspalast bereit... Allein mit Logik läßt sich die Natur nicht überspringen. Die Logik kann drei Zwischenfälle vorhersehen, doch es gibt Millionen.« 

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Ein Eigenwert wird der Natur nicht zugestanden. Bei Marx wird die Natur »reiner Gegenstand für den Menschen, ein reines Nutzobjekt; sie hört auf, als Macht für sich anerkannt zu werden«; das Erkennen ihrer »Gesetze zeigt sich nur als ein Trick, um sie unter die menschlichen Bedürfnisse zu stellen, sei es als Gegenstand von Konsum, oder als Mittel von Produktion«.215

Nach christlicher Lehre ist die Natur immerhin Gottes Schöpfung und außerdem — was wichtiger ist — wird sie zusätzlich damit abgesichert, daß der Mensch voll unter Gottes Gebot steht. Da es bei Marx keinen Gott mehr gibt, ist nun der Mensch alleiniger, selbstherrlicher »Besitzer der Natur«.216 So, »daß die rastlose Umformung von Natur in Industrie auch unter den Bedingungen des Sozialismus weitergeht.«215

Die Ausbeutung der Natur durch den Kapitalismus wird also nicht abgebrochen, sondern soll ausdrücklich fortgesetzt werden. Hier können sich gemäß dem dänischen Theologen Ole Jensen »Liberalismus, klassischer Marxismus und Säkularisierungstheologie um die hominisierende Beherrschungsideologie einigen«.217

Noch deutlicher sagt das der Philosoph Reinhart Maurer:

»So wenig wie in der bürgerlichen Gesellschaft ... werden im Marxschen Sozialismus der äußeren Natur Zwecke zugestanden, die ihre eigenen seien und auf die der Mensch Rücksicht zu nehmen habe, nein, der einzige Zweck ist: die Emanzipation aller Seiten der Menschennatur.«218  

Es erfolgt zwar eine Einschränkung: der menschliche Eingriff soll rationalisiert werden. Darin könnte aber noch jeder kapitalistische Unternehmer mit Karl Marx einig gehen.

Friedrich Engels erkannte die Gefahren dieser Naturbehandlung deutlicher als Marx

»Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet haben, aber in zweiter und dritter hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, daß sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen ...

Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht — sondern, daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehen, und daß unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug zu allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.«219

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Aus Marx' umfangreichen Werken müssen immer folgende Sätze dafür herhalten, daß er den Wert der Natur erkannt habe:

»Jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Forschritt in der Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebene Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit... Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik der Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.«220

In Marx' Gesamttheorie gewinnt jedoch die Natur erst ihren Wert durch die darauf verwandte Arbeit:

»Nur soweit der Mensch sich von vornherein als Eigentümer der Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und Gegenstände verhält, sie als ihm gehörig behandelt, wird seine Arbeit Quelle von Gebrauchswerten, also auch von Reichtum.«221

Selbst der Kapitalismus wird im <Kommunistischen Manifest> (1848) gefeiert: 

»Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktivkräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen — welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoße der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.«222

Im <Manifest> von Bert Brecht heißt es dann im Jahre 1945 entsprechend:

»Niemals zuvor ward entfesselt ein solcher Rausch der Erzeugung 
Wie ihn die Bourgeoisie in der Zeit ihrer Herrschalt entfacht hat 
Die die Natur unterwarf, die elektrische schuf und die Dampf-Kraft 
Schiffbar machte die Ströme und riesige Weltteile urbar.

Nie zuvor hat die Menschheit geahnt, daß schlummernd im Schoß ihr 
Solche Befreiungen waren und solche erzeugenden Kräfte.« 223) 

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Das ist die gleiche Begeisterung, die auch im Westen die Menschen beherrschte: Atomkraft, Überschall- und Weltraumflug ... und ganz nebenbei noch — Wohlstandsregen über alle! Der heutigen selbstgefälligen Generation geht darum der Marxismus wie Zucker herunter, und man trifft Zeitgenossen, die geradezu aufheulen, wenn ihre offensichtlich durch Geburt mitgebrachten Ansprüche auch nur in Frage gestellt werden. Niemand hat sie ihnen so theoretisch-gründlich und so naturfern-juristisch untermauert wie Karl Marx. Das ist Anthropozentrismus im Extrem. Die Erde kreist hier wieder um den Menschen.

  6. 

Über den »Kult der Technik im Marxismus« schreibt Hans Jonas, daß er inzwischen im Osten »eine im Westen so nicht gekannte Glaubensmacht genießt«. Ja, es ist »der fast religiöse Glaube an die Allmacht der Technik zum Guten«.224 Hier ist ein neues Opium für die Massen gefunden worden. »Der wichtigste Punkt ist, daß der technologische Impuls in das Grundwesen des Marxismus eingebaut ist und ihm zu widerstehen um so schwieriger wird, als er sich dort mit dem Standpunkt des extremsten Anthropo­zentrismus verbindet, dem die ganze Natur (sogar die menschliche) nichts anderes als ein Mittel für die Selbst­verfertigung des selber noch nichtfertigen Menschen ist.«225  

Der ohnehin weltweite Antrieb der Technik erscheint im Marxismus in einer »eschatologisch radikalisierten Version.«226 Lenin verkündete in den zwanziger Jahren: »Erst dann, wenn das Land elektrifiziert ist, wenn die Industrie, die Landwirtschaft und das Verkehrswesen eine moderne großindustrielle Grundlage erhalten, erst dann werden wir endgültig gesiegt haben.«

Der technische Fortschritt, der nach dem Glauben einer Milliarden-Mehrheit immer noch unaufhaltsam ist, bringt uns dem Himmelreich auf dieser Erde näher. »Rechte wie Linke bejahen uneingeschränkt die manipulierende Produktivität. Und so schließen beide eine wirksame Technik-Kritik aus der politischen Arena aus.«227

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  7. 

Wenn erst etwas als das Richtige angesehen wird, dann erhält derjenige den Vorzug, der es am konsequentesten und planmäßigsten verfolgt. Fast jeder Techniker und leitende Angestellte muß heute in seinem Beruf planen. Die Firmen planen ihre Investitionen und damit die zukünftige Produktion sowie zwangsläufig auch deren Verkauf. Auch die westlichen Staaten planen auf vielerlei Weise. Während sie von Marktwirtschaft reden, stellen sie fleißig Programme auf: Energieprogramme, Konjunktur­programme und Wachstumsprogramme. Dazu Raumordnungspläne, Bebauungspläne, Wohnungsbaupläne, Verkehrs­pläne, Sozialpläne, Rentenpläne, Gesundheitspläne, Steuerpläne und natürlich auch Haushaltspläne. Damit ist zwar über deren Realisierung noch nicht viel ausgesagt. Aber das ist es gerade — die normale Logik fragt: Wäre es da nicht besser, der Staat würde auch gleich selbst die Durchführung solcher Pläne übernehmen?

Offen gesagt, man findet heute kaum einen Menschen, der nicht von der Notwendigkeit der Planung überzeugt ist. Der Verfasser dieser Zeilen erlebt fast keine Diskussion, in der nicht jemand mit der Frage aufsteht: »Was ist Ihr Plan?« oder »Was ist nun Ihr Programm?« Man hat oft den Eindruck, daß allein schon vom »Programm« eine Heilswirkung ausgeht, gleichgültig, ob es je eine Chance der Verwirklichung hat. Somit rennt doch jeder Sozialismus mit seiner Programmgläubigkeit im Westen offene Türen ein.

  8.

Der Marxismus zielt auf eine Weltregierung, auf weltweite Planung und somit auf Zentralismus. Auch darin hat die Bourgeoisie vorgearbeitet: »Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird. Durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten, lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.

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Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nation werden Allgemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.«228

Mit größerer Begeisterung, als sie sich in diesen Sätzen Karl Marx' offenbart, könnte kein Kapitalist die Entwicklung feiern. Der gelobte Zustand wurde hundert Jahre später, nach dem II. Weltkrieg, in der beschriebenen Form erreicht. Aber es geht noch weiter: »Ein bedeutender Teil der Bevölkerung wird dem Idiotismus des Landlebens (!) entrissen«, und so wie die Bourgeoisie das Land von der Stadt abhängig gemacht hat, so werden jetzt »die barbarischen und halbbarbarischen Länder (!) von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Bourgeoisievölkern, der Orient vom Okzident« abhängig.«229 Iring Fetscher schreibt in seiner Darstellung, daß Marx diese Auffassung von der welthistorischen und zivilisatorischen Mission des Industrie­kapitalismus in seinen späteren Schriften keineswegs aufgegeben hat.230

9. 
Das Wort vom Idiotismus des Landlebens sagt deutlich genug, was Marx von der Landwirtschaft hielt. Sie bleibt außerhalb seines Gesichtskreises. So konnte seine Lehre auch nie Anklang bei den Bauern finden. Dieser Stand wurde in der Regel dort, wo der Kommunismus an die Macht kam, mit Gewalt ausgerottet oder in Proletariat umgewandelt. Die Mißachtung der Natur und ihrer Vorgänge ist der eigentliche Grund, warum die Geschichte des Kommunismus von ständigen Mißerfolgen in der Nahrungs­mittel­erzeugung begleitet ist. Erst nachdem man die Bauern zu Proletariern gemacht hatte, wurden sie etwas schamhaft in der Theorie berücksichtigt; »Arbeiter und Bauern« heißt es seitdem. Doch die Ehre, eine »Klasse« zu sein, wurde ihnen nie zuteil, denn sie paßten ebensowenig ins Konzept wie die Handwerker, die den Bauern vergleichbar sind, da sie wie diese Besitz haben und doch selbst mit der Hand arbeiten müssen. Im Westen hat man die Bauern und Handwerker zwar nicht mit Gewalt beseitigt, aber großen politischen Einfluß haben sie auch hier nicht mehr.

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Zu den beliebtesten Verkaufsschlagern des Marxismus gehört aber wohl die Theorie von der Gleichheit aller Menschen, die — wie ausgeführt — schon im Diesseits hergestellt werden soll. Und das ist ein Ziel, das im Zeitalter der gut versorgten Massen eher noch attraktiver geworden ist. Hier wird immer wieder Glaubenskraft investiert, so oft auch dem Rausch die Ernüchterung folgt.

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Der einzige schwerwiegende Unterschied zwischen dem Marxismus und der westlichen Auffassung betrifft die Besitz­verhältnisse. Darum wurde dieser kontroverse Punkt wahrscheinlich das Kernstück der Lehre. Aber gerade darin hat sich Karl Marx am gründlichsten geirrt. Es hat sich inzwischen als ziemlich gleichgültig erwiesen, wer Besitzer der Produktions­mittel ist. Wichtiger ist, wer faktisch darüber verfügt. Das sind im Osten die Funktionärs­bürokratien des Staates und der Staatspartei und im Westen die Vorstände der Gesellschaften, deren Handlungsspielraum jedoch durch die verschiedenen Mitsprache­rechte laufend eingeengt wurde. 

Viel wichtiger als die Besitzverhältnisse sind für den Arbeiter die Arbeitsbedingungen, die Höhe seiner Bezahlung und wie er seinen Arbeitsplatz erreicht. Sein Status und vor allem seine Zufriedenheit hängen keineswegs davon ab, ob er zu irgendeinem Zehntausendstel nomineller Mitbesitzer »seiner« Fabrik ist oder nicht. Dieses angebliche Kernproblem hat sich als ziemlich bedeutungslos erwiesen, darum locken auch westliche Politiker mit ihren gutgemeinten Plänen zur Kapitalbeteiligung der Belegschaft kaum einen Hund hinter dem Ofen hervor.

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Bis auf den letzten Punkt ist und bleibt der Marxismus die vollendetste Lehre des technischen Zeitalters. Sie wird erst dann ihre Anziehungskraft ganz verlieren, wenn sich die organische Weltauffassung durchgesetzt haben wird. Mit der derzeitigen mechanistischen Ideologie kann sich der Westen gegen den Marxismus nicht behaupten, weil dieser in allen wesentlichen Punkten der konsequentere Vollstrecker der mechanistischen Weltauffassung ist. Wenn alle Irrtümer dieser Auffassung aufgedeckt werden, dann hat auch das gegenwärtig praktizierte westliche System seine theoretische Grundlage verloren.

Der Sozialismus kann ebenfalls nur in der Form weiter existieren, die er im Osten angenommen hat. Die Vertreter einer »reinen« sozialistischen Lehre hier im Westen haben offensichtlich einen »idealen Sozialismus« vor Augen, der mit dem östlichen (den sie den »real existierenden Sozialismus« nennen) nichts gemein hat. Was sie dabei übersehen, ist die Tatsache, daß eben jeder Sozialismus in der Realität nur so existieren kann wie in den sozialistischen Staaten, und nicht anders.

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Denn der Sozialismus muß auf Grund seiner Lehre alles das sein: Totalökonomisch — Wissenschafts- und Technologiegläubig — Atheistisch — Anthropozentrisch — Städtisch und Naturfeindlich — Gleichmacher­isch — Planungsbesessen — Zentralistisch — Eschatologisch. Wenn man prüft, mit welchen der zehn Begriffe sich die Freiheit vereinbaren läßt, dann wird man genau zu dem Ergebnis kommen, das heute in den sozialistischen Ländern besichtigt werden kann.

Eduard Heimann kommt zu dem Schluß: »Wohlfahrt ist ein großes Gut, und ein gewisses Maß von Wohlfahrt ist notwendig für die Freiheit. Aber Wohlfahrt ist nicht Freiheit; sogar das >Absterben des Staats< bedeutet nichts, wenn dieser Staat vor seinem Absterben es sich zur Aufgabe setzt, den Sinn für die schöpferische Spontaneität in den Menschen zu töten, um das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft als einer großen Maschine zu sichern, das Lenins Ideal war.231 [ wikipedia  Eduard_Heimann  1889 in Berlin bis 1967 in Hamburg]

Im Gegensatz dazu sei der Westen zwar blind für Geschichte, aber fähig umzudenken. Die westliche Menschheit habe sich im zweiten Jahrtausend zu immer neuen Reformen fähig erwiesen; das sei auch Trost und Hoffnung für die Zukunft. 

»Wir haben Hoffnung, wenn wir auch keine Gewißheit haben; wir behaupten nicht, daß wir wissen, und niemand kann wissen. Denn es ist genauso möglich, daß die westliche Menschheit am Ende ihrer Kraft angekommen ist.... Ihr Materialismus, wichtiger Bestandteil des biblischen Realismus, mag sich von diesem Muttergrund zu weit emanzipiert haben. Oder ihre beiden Wirtschaftssysteme, nahe verwandt, aber um so feindlicher gegeneinander, mögen die entsetzlichsten Erfindungen ihres Materialismus benutzen, um sich gegenseitig in die Luft zu sprengen. Wir leben zwischen Hoffnung und Zittern.«232

Warum der Westen noch nicht kapitulieren mußte, hat zwei Gründe. Erstens hatte er einen technisch-ökonomischen Vorsprung, so daß er auf diesem Feld nicht geschlagen werden konnte, auch militärisch (bisher) nicht. Zweitens ließ der Westen dem lebendigen Engagement, dem organischen Denken immerhin noch begrenzte Chancen233 seine theoretische Inkonsequenz erweist sich damit als Vorteil.

Das mechanistische Zeitalter führte zu den verschiedensten Perversionen der natürlichen Ordnung auf diesem Planeten. Darum ist es kein Wunder, wenn auch viele Vorschläge zur Beendigung dieses Zeitalters ebenfalls pervers sind.

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Die neue ökologische Bewegung würde sich selbst den Garaus machen, wenn sie ausgerechnet mit Hilfe marxistischer Gedankengänge das mechanistische Zeitalter überwinden wollte; denn gerade hier liegt der historische Gegensatz. Ein größerer Abstand als der zwischen Marxismus und Ökologie ist nicht denkbar. Die Natur ist nicht mechanisch und sie ist nicht sozialistisch organisiert; sie ist organisch, und das heißt, sie ist altruistisch und egoistisch zugleich. Ihre Geschichte ist ein ständiges Ringen zwischen diesen beiden Tendenzen.

Der Marxismus hat auf dieser Erde nicht gesiegt, weil die einzel-menschliche Natur und die Gemeinschaft in der kleinen Gruppe von ihm nicht sollständig vergewaltigt werden konnten, nicht einmal in den sozialistischen Ländern. Er wird in Zukunft erst recht nicht siegen, weil nicht nur die organisch denkenden Menschen, sondern auch die Mächte der organischen Welt gegen ihn arbeiten. Die organischen Kräfte dieser Erde sammeln sich zur Zeit im Namen des Lebens. Es liegt auf der Hand, daß sie im demokratischen Teil der Welt mehr Freiheiten haben, woraufhin sie sich schneller entfalten können als in den von marxistischen Doktrinen beherrschten Gebieten. Eines bleibt sicher:

Der Marxismus wird niemals von der herrschenden mechanistischen Weltauffassung des Westens überwunden werden. Nur die zu unserem eigenen Überleben ohnehin notwendige organische Weltauffassung kann auch den Marxismus für immer besiegen.

Indessen bleibt der Ausgang des Ringens offen. Die letzten zwei Sätze des Buches von Lewis Mumford lauten:

»Hält die Menschheit sich an die von der technokratischen Gesellschaft gestellten Bedingungen, dann bleibt ihr nichts anderes übrig, als deren Pläne für einen beschleunigten technischen Fortschritt mitzumachen, auch wenn alle lebens­wichtigen Organe des Menschen ausgeschlachtet werden, um die sinnlose Existenz der Megamaschine zu verlängern. Doch an denen von uns, die den Mythos der Megamaschine abgeschüttelt haben, liegt es, den nächsten Schritt zu tun: Denn die Tore des technokratischen Gefängnisses werden sich trotz ihrer verrosteten alten Angeln automatisch öffnen, sobald wir uns entschließen, hinauszugehen.«234

Das technokratische Gefängnis zu verlassen heißt aber nicht, eine andere »Lösung« anzubieten. Die Erwartung einer Lösung entspricht der mechanistischen Weltauffassung, nicht der organischen. Dies ist auf den nächsten Seiten klarzustellen. Außerdem ist noch zu verdeutlichen, daß die mechanistische Weltauffassung nicht nur das Leben verdrängt, sondern auch den Tod, gegen den allerdings alle ihre Mittel versagen.

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Herbert Gruhl   Das irdische Gleichgewicht  Ökologie unseres Daseins