Anmerk    Start    Weiter

4.3  Die Welträtsel sind biologisch

Die Gottheit ist wirksam im Lebendigen, 
aber nicht im Toten; 
sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, 
aber nicht im Gewordenen und Erstarrten. --Goethe--

   Die Wunder der Evolution  

187-196

Die Geheimnisse des Lebens gehören zu den unergründlichen Wundern, deren Vorhandensein wir unmittel­bar miterleben, da wir selbst Lebewesen sind. Dennoch »wissen« wir über den Sinn des Lebens und über die Art der Kräfte, die alles Lebendige lenken, so gut wie nichts. Und wir wissen nichts über das Ziel der biolog­ischen Evolution, die seit mehreren 1000 Millionen Jahren auf unserem Erdball voranstrebt.

Wir bewegen uns täglich im Reich der Wunder, aber ihrer sind so viele, daß wir uns als ständige Zeugen daran gewöhnt haben. Aus dem Ei des Huhnes würde nach 21 Tagen Brutzeit ein Küken entstehen, wenn wir es nicht statt dessen gedankenlos zum Frühstück verspeisten. Alle Informationen und Start­bedingungen für ein künftiges Lebewesen sind darin enthalten und wurden schon seit Millionen Jahren weitervererbt. Das Küken wird selbst die Schale aufpicken, nach einem Tag laufen und selbst das zur Nahrung Geeignete von anderem unterscheiden. 

Das alles und mehr kann es, ohne daß es ihm mühsam beigebracht worden wäre, wie das beim Menschen nötig ist. Wenn das Küken ein Wasservogel ist, wird es sofort schwimmen und tauchen, um sich so mit Nahrung zu versorgen. — Dabei ist das Ei, selbst des kleinsten Vogels, noch ein sehr großes Gebilde, wenn wir bedenken, daß die Eier der Fische zu mehreren Millionen entstehen. Und im Kopf einer Biene oder Ameise befindet sich ein so diffiziles Informations­system, daß die Chips der Elektronik, auf deren Winzigkeit der erfindende Mensch so stolz ist, sich dagegen als recht grobe und primitive Felsbrocken ausnehmen.

Was die Entstehung der Nachkommen betrifft, so arbeitet die Natur mit der Präzision eines Uhrwerks, besonders hinsichtlich der Wachstumsperiode der Tiere, während sich die Pflanzen ein wenig variabler auf die Um­welt- und Wetterbedingungen einstellen können, wobei auch sie ihren Wachstumsplan einzuhalten bestrebt sind.

Die gesamte Natur arbeitet konstant und zuverlässig über unzählige Millionen Jahre hinweg. Trotz dieser Präzision einerseits differieren andererseits die individuellen Erscheinungsbilder aller höheren Arten, wie wir das nicht nur an den Gesichtern der Menschen feststellen können. Was nun die Natur im Innersten treibt und welches Ziel sie dabei hat, wissen wir nicht. Was wissen wir aber?

Wir wissen erstens, daß der Vorgang der natürlichen Evolution schon seit nahezu 4.000.000.000 Jahren läuft und daß in dieser unvorstellbar langen Zeit fünf bis zehn Millionen unterschiedliche Lebensformen entstanden sind, die noch heute leben. Die Zahl der bereits in früheren Jahrmillionen ausgestorbenen Arten beträgt das Vielfache.

Wir wissen zweitens, daß Mutationen in den Erbanlagen auftreten. Aus der Vielfalt kann die Natur die geeignetsten Individuen zur Fortpflanzung auswählen.

Wir wissen drittens, daß das Leben in einer Form von Überschwang alle Räume unserer Erde erobert, sobald es irgendwo die minimalsten Bedingungen vorfindet. Dabei gehen gewisse Pionierarten voran.329

Was den letzten Punkt betrifft, so sprach der französische Philosoph Georges Bataille von einem »Druck des Lebens«:

»Die Erdoberfläche wird, soweit es möglich ist, vom Leben eingenommen. Die Vielfalt der Lebensformen entspricht insgesamt den vorhandenen Energiequellen, so daß letztlich nur der Raum die Grenze für das Leben ist... Unter der Voraussetzung eines konstanten Verhältnisses zwischen den Volumen der lebenden Masse und den lokalen, klimatischen und geologischen Gegebenheiten nimmt das Leben den gesamten verfügbaren Raum ein. 

Diese lokalen Gegebenheiten bestimmen die Intensität des Drucks, den das Leben nach allen Richtungen hin ausübt. Das heißt, wenn der vorhandene Lebensraum auf irgendeine Weise erweitert wird, so wird er sofort ebenso vom Leben eingenommen wie der benachbarte Raum...

Das deutlichste Beispiel ist eine von einem Gärtner angelegte und freigehaltene Allee: sobald sie aufgegeben wird, wird der Druck des umliegenden Lebens sie sofort wieder mit Gras und Büschen überziehen, in denen es dann auch rasch von tierischem Leben wimmelt... Wenn der Lebensraum ganz eingenommen ist und es nirgends ein Ventil gibt, so kommt es hier dennoch zu keiner Explosion. Aber der Druck ist da, das Leben erstickt sozusagen in seinen zu engen Grenzen... Bald führt der Druck zur Erschließung neuen Raumes, bald zur Vernichtung überschüssiger Möglichkeiten im verfügbaren Raum. Diese zweite Wirkung kommt in der Natur in den verschiedensten Formen vor.«330

188


Mutation und Auslese erklären die Vielfalt der Organismen, aber nicht, warum die Natur unendlich langsam, aber dennoch zielstrebig immerzu höhere Lebewesen entwickelt hat. »Der Kampf ums Dasein erklärt nicht«, sagt Whitehead, »warum es zu immer komplexeren und empfindlicheren Organismen kommt, ebensowenig, wie die Existenz von Erdbeben erklärt, warum es Städte gibt ...«.331 Auf jeden Fall sind es keineswegs nur die nützlichen Neubildungen, die Bestand haben. In der Schule versuchte man, die Eigenschaften der verschiedenen Pflanzen und Tiere mit ihrer Nützlichkeit im Lebenskampf zu begründen. Diese Erklärung versagt aber in Tausenden von Fällen.

Die Pflanzenwelt hat unerschöpflich vielfältige Blüten mit wunderbaren Farben und Düften entwickelt. In der Tierwelt kann das bunte Gefieder Tausenden von exotischen Vogelarten keineswegs den Überlebenskampf erleichtert haben. Wenn es ihnen auch erst dann ausgesprochen zum Verhängnis wurde, als der zivilisierte Mensch einen ausrottenden Handel mit ihnen begann. Und warum sind so viele Vögel musikalisch? Nicht nur die Nachtigall singt seit Jahrtausenden ihre Lieder, die auch den Menschen tief rühren, unzählige Tonfolgen stehen auch anderen Vögeln zur Verfügung. — Und wie ließe sich die unübersehbare Zahl der Schmetterlings­arten mit den prachtvollsten Farbkombinationen mit irgendeiner Zweckmäßigkeit erklären?

Und dann sind da die Wunder der Meere, die wahrscheinlich das Höchstmaß an Üppigkeit in Farben und Formen erreichen. Hier ist ein positiver Ertrag von Film und Fernsehen zu vermelden, denn ohne diese hätten weitaus die meisten Menschen nichts von diesem Reichtum erfahren. Überhaupt bringen heute Bilder die Unerschöpflichkeit der Natur in jedes Haus, Bilder, die unser Staunen und unsere Verwunderung erregen. Allerdings hätte auch das, was wir seit langem wissen, ausreichen müssen, um in der natürlichen Evolution ein gezieltes Voranstreben zu erkennen.

189


   Und Tiere haben Kultur!   

 

Es gibt eine Menge Belege dafür, daß auch Tiere Künste beherrschen, die wir beim Menschen ohne weiteres der Kultur zurechnen. Daß ihnen diese Künste angeboren sind, während sie der Mensch erst mühsam lernen muß, kann doch den betreffenden Arten nicht wertmindernd angelastet werden; es ist wohl vielmehr eine genetische Minderausstattung des Menschen. Dafür hat er allerdings den Vorteil, auf sehr vielen Gebieten lernfähig zu sein.

Daß die Vögel stundenlang nichts tun, als ihre arteigene Melodie von sich zu geben, ist ihre Art von Kultur. Einige Arten bauen kunstvolle Nester, wie zum Beispiel die Schwalben, der Webervogel und unzählige weitere. Im Wasser ist der Biber ein wahrer Baumeister. Die eindrucksvollsten Leistungen vollbringen die Korallen, die ganze Inseln in tropischen Gewässern errichten. Daß so winzige Tiere wie Ameisen, Bienen und Termiten332 nicht nur Ingenieure sind, sondern komplizierte Staatsorganisationen besitzen, ist bekannt. Viele Tierarten haben eine derart kultivierte Form der Brautwerbung, daß sich gerade die Menschen heutiger Zivilisationen ihres rüden Verhaltens auf diesem Gebiet schämen müßten.

Die unübersehbaren Erscheinungsformen des Lebens beweisen, daß hier steuernde Kräfte am Werke sind, deren Wesen und Ziel der Mensch mit seinem Verstand nicht erfassen kann. Der <élan vital> im Sinne von Henri Bergson treibt die Entwicklung der organischen Welt nach uns unbekannten Prinzipien voran, nicht allein nach dem Kausalitätsprinzip, das wir in der anorganischen Welt vorfinden. Bataille sagt es mit wenigen Worten: »Die Geschichte des Lebens auf der Erde ist vor allem die Wirkung eines wahnwitzigen Überschwangs: das beherrschende Ereignis ist die Entwicklung des Luxus, die Erzeugung immer kostspieligerer Lebensformen.«333

»Es ist schwer zu begreifen«, schrieb Alfred Weber 1953, 

»wie man jemals den mit künstlerischer Phantasie geladenen, übervitalen Gestaltungswillen der <Natur> hat übersehen können und die unüberseh­bare Vielfältigkeit der Formen- und Farbwelt, die da entgegentritt, als Folge des Kampfs ums Dasein und der Notwendig­keit etwa von Anpassung und Auslese hat deuten wollen. Es existiert hier eine mit vitalen Fortsetzungszwecken nur lose zusammenhängende Produktivitäts­exuberanz, die im Schönen, im Häßlichen, in den Ausdrucksformen des Gutmütigen, des Bösen, des Hinterlistigen alles menschlicher Phantasie Mögliche weit übersteigt und die unendlich variierte Chiffre des beabsichtigten überzweckmäßigen Ausdrucks mit absoluter Sicherheit zeichnet. Im Reichtum der Farbenkomposition, in der Präzision und Fülle der linearen Gestaltung ist diese Produktivität schlechthin unerreichbar. Ja, gelegentlich ist sie bis ins Kapriziöse gesteigert.«334

190


Neben dem Kampf ums Dasein sind beim Menschen wie bei den Tieren »bis zur Selbstaufopferung gehende altruistische <Instinktfaktoren> wirksam: das Verhalten der Eltern für ihre Jungen, das Verhalten zwischen <Genossen>. Wobei in den bekannten Ameisen- und Bienenstaaten die Selbstopferung ... von einem überindividuellen Gesamtwillen« zeugt.334

Wir können den Sinn des Weltalls nicht ergründen; denn wir können uns weder den Anfang des Kosmos erklären noch dessen Ende.335 Das Gleiche gilt für das Leben auf unserem kleinen Planeten. Wir können uns dessen Anfang nicht erdenken noch das Prinzip der Teleologie, wonach nicht nur alles Leben nach Leben drängt (warum eigentlich?), sondern auch eine ständige Entwicklung zu komplizierteren Arten auf dieser Erde stattgefunden hat (auf welches Ziel hin eigentlich?)

»Das große Problem, vor das uns die biologische Evolutionslehre stellt, ist die Frage, wie es überhaupt zur Entstehung komplexer Organismen mit einer derart mangelhaften Überlebensfähigkeit kommen konnte — ganz gewiß nicht deshalb, weil sie sich besser auf das Überdauern verstanden hätten als die Felsen in ihrer Umwelt.«336

»Wir können daher den Begriff der Zweckmäßigkeit auf Menschen, Tiere, Pflanzen, auf ein Erschaffenes also, das nicht von uns erschaffen wurde, nur mit Einschränkung anwenden, denn welchem Zwecke Menschen, Tiere, Pflanzen zuletzt dienen, wissen wir nicht und vermögen es durch den Verstand nicht zu ermitteln. Was immer uns an ihnen zweckmäßig erscheinen mag, wir können aus der Anpassung ihrer Organisation an gewisse Verrichtungen nicht auf Grund- und Endzwecke schließen. Wenn wir aus den Wirkungen, die wir vor Augen haben, auf Zwecke schließen, dann liegt die Gefahr stets nahe, daß wir uns betrügen.«337

Da dem menschlichen Verstand also die großen und wichtigsten Fragen des Kosmos ein Rätsel bleiben, warum ist er dann so sicher, daß ihm seine Wissenschaften im einzelnen richtige Ergebnisse bringen? Ist diese partielle Gewißheit nicht eher ein Beweis für unsere Blindheit im Ganzen? Ist der Mensch nicht genauso ein Maulwurf im Universum wie der blinde Maulwurf, der in der Erde wühlt?

191


Welche rätselhafte Macht ist es wohl, die unsere Erde in jedem Frühling erneut zur Blüte und im Herbst zur Frucht treibt? In der Bibel ist es der Befehl Gottes: »Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.« Der dieses Kapitel einleitende Text Goethes »Die Gottheit ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten«, lautet in der Fortsetzung: »Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu tun; der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, daß er es nutze.«338 Das Feld der Vernunft ist also die organische Natur. Im Gegensatz zum Verstand, der sich mit den abgeschlossenen Erkenntnissen (in der Mathematik und Physik) befaßt, wendet sich die Vernunft dem niemals abgeschlossenen Reich des Werdens in der Natur zu.

»Die Tatsache der Evolution«, schließt Hoimar v. Ditfurth, »hat uns die Augen dafür geöffnet, daß die Realität dort nicht enden kann, wo die von uns erlebte Wirklichkeit zu Ende ist. Nicht die Philosophie, nicht die klassische Erkenntnistheorie, die Evolution erst zwingt uns zur Anerkennung einer den Erkenntnishorizont unserer Entwicklungsstufe unermeßlich übersteigenden <weltimmanenten Transzendenz>.«339

 

    Die biologische Vernunft und die Religion   

 

»Wir bemerken in unserem Erleben Strebungen, die zu Zweckursachen führen, die auf ideale, außerhalb des Bereichs der physikalischen Entwicklung liegende Zwecke ausgerichtet sind. ... Und ebenso liegt das Streben nach ästhetischer Befriedigung durch den Genuß des Schönen außerhalb der rein physikalischen Naturordnung.«340 Dies kann, so folgert Whitehead dann, kein blindes Streben sein, denn dies könnte uns nicht weiterbringen. Wir Menschen verfügen über eine »spekulative Vernunft, die alle methodischen Schranken überschreitet.«

192


»Was den Menschen vom Tier (und einige Menschen von anderen) unterscheidet, ist ein undeutlich aufflack­erndes Moment der Unruhe, etwas, das ihn zum Unerreichbaren hinzieht. In dieser Unruhe manifestiert sich gleichsam der Fingerzeig des Unendlichen, der die Geschlechter der Menschheit voran — und manchmal auch in den Untergang — getrieben hat. ... Die spekulative Vernunft wendet sich nach Osten und nach Westen, dem Ursprung und dem Ende zu, die beide hinter dem Horizont des Sichtbaren liegen.« Whitehead sieht einen »Zusammenhang zwischen der Betätigung der spekulativen Vernunft und unseren religiösen Intuitionen.«341

Die Vernunft verbindet den Menschen mit jenem Bereich, den der Schweizer Psychologe Balthasar Staehelin »die zweite Wirklichkeit« nennt. Diese ist »naturwissenschaftlich ebenso feststellbar, kann definiert werden als derjenige Teil vom Menschen, der dem Absoluten, dem Unbedingten, dem Ewigen, der Unendlichkeit, der Unbegrenztheit, der Ungeteiltheit, der Großen Ordnung, theologisch Gott zugehörig, und zwar auch biologisch zugehörig ist.«342

Das Wesentliche an dieser Auffassung ist, daß hier nicht zwischen Körper und Geist, zwischen Leib und Seele unterschieden wird, sondern daß diese eine Einheit bilden. Darum ist für Staehelin der angeborene Drang des Menschen zur Religion »primärste Biologie«.343

Die biologische Natur des Menschen ragt demnach in die zweite Wirklichkeit, in die unbedingte, dem Ewigen zugehörige Wesenheit hinein.344 Die Psyche ist für Staehelin nicht nur die Schaltstelle zwischen den zwei Wirklichkeiten, sondern sie faßt diese zusammen, »und zwar biologisch!«345

Balthasar Staehelins Erkenntnisse führen zu folgendem Ergebnis: »Jeder Mensch, zu jeder Zeitepoche, in jeder Konfession, in irgendeiner Politik, ist unausweichlich sowohl individuelle, endliche Geschichte als auch Zugehörigkeit zu und Kollektivität mit dem Ewigen, also zugehörig zu und eins mit Gott, mit dem Absoluten, und dieses Ewige findet sich als das gemeinsame Unbedingte in jedem Du dieser Welt. - Jedes Menschen Natur ist also auch Mystik.«346

Diese Auffassung deckt sich mit der Ortega y Gassets, »daß die geschichtliche Wirklichkeit in einer früheren und tieferen Schicht eine biologische Potenz ist, die reine Lebenskraft, der Vorrat kosmischer Energie im Menschen; nicht die gleiche Kraft, die das Meer bewegt, das Tier befruchtet, die Blüte treibt, aber ihr schwesterlich verwandt.«347

193


Eine solche Betrachtungsweise steht nicht im Gegensatz zur christlichen Auffassung. Der evangelische Theologe Günter Altner zieht in einem Aufsatz »Mensch und Natur — Die Trennung der Liebenden?« die gleichen Verbindungslinien.348 »Letztlich geht es bei der Frage nach Leben und Tod... um das menschliche Verständnis der Natur als Schöpfung Gottes und damit auch um das Verhältnis des Menschen zur Natur als Mitgeschöpf. Solches alles kann aber in seiner kreatürlichen Breite wie in seiner historischen Tiefe nur dargelegt werden, wenn ich mich selbst in meiner Befangenheit zwischen Leben und Tod in den größeren Kontext des Lebens einzubringen vermag. Alles andere wäre eine höchst abstrakte und objektivierende Betrachtung von Natur und Geschichte, wie sie uns seit Descartes nur zu geläufig ist und uns weiter und weiter von der Erfahrung des Lebens entfernt.«349

Von katholischer Seite wurde der Gedanke der Schöpfung, die zu bewahren sei, erst in den Jahren 1979 und 1980 in zwei höchst offiziellen Dokumenten herausgestellt. In der Enzyklika »Redemptor Hominis« des Papstes Johannes Paul II. ist die Rede davon, daß die modernen Entwicklungen »oft eine Bedrohung der natürlichen Umgebung des Menschen« sind, »sie entfremden ihn in seiner Beziehung zur Natur, sie trennen ihn von ihr ab. Der Mensch scheint oft keine andere Bedeutung seiner natürlichen Umwelt wahrzunehmen als allein jene, die den Zwecken des unmittelbaren Gebrauchs und Verbrauchs dient. Dagegen war es der Wille des Schöpfers, daß der Mensch der Natur als >Herr< und besonnener und weiser >Hüter< und nicht als >Ausbeuter< und skrupelloser >Zerstörer< gegenübertritt.«

Die deutsche Bischofskonferenz hat im Jahre 1980 eine Erklärung mit dem Titel »Zukunft der Schöpfung — Zukunft der Menschheit« veröffentlicht. Dort heißt es über den Menschen: »Nur in der Solidarität mit der anderen Schöpfung, nur im verantwortlichen Umgang mit Tier-, Pflanzen- und Sachwelt kann er sich auf Dauer als Herr der Schöpfung erfahren, wird er nicht zum aus der Schöpfung ausgetriebenen Sklaven seines Herrenwahns. ... Die Menschheit hat nur Zukunft, wenn die Schöpfung Zukunft hat.«350

 

Damit wird der Glaube des Heiligen Franz von Assisi (1181-1226) aufgenommen, der auch im Jahre 1980 zum Schutzpatron der Umwelt ausgerufen wurde. Sein »Sonnengesang« ist das einzige christliche Zeugnis, das der Natur vor Gott den gleichen Rang zuerkennt, den der Mensch sonst immer für sich allein beansprucht:

194/195


Gelobt seist Du, o Herr mein Gott, mit allen Deinen Geschöpfen,
Besonders mit der Frau Schwester Sonne,
Welche den Tag bringt, und Du gibst uns durch sie das Licht,
Und schön ist sie und strahlend mit großem Glanz.
Von Dir, o Höchster, ist sie das Gleichnis.

Gelobt seist Du, o Herr mein Gott, um des Bruders Mond willen,
und der Sterne,
An den Himmel hast Du sie gestellt leuchtend und köstlich und schön.

Gelobt seist Du, o Herr mein Gott, um des Bruders Wind willen,
Und der Luft und der Wolken und des heiteren und wechselnden Wetters,
Durch welche Du allen Deinen Geschöpfen Bestand schenkst.

Gelobt seist Du, o Herr mein Gott, um der Schwester Wasser willen,
Die da ist sehr notwendig und demütig und köstlich und keusch.

Gelobt seist Du, o Herr mein Gott, um des Bruders Feuer willen,
Durch welches Du die Nacht erhellest,
Und es ist schön und freudig und stark und wild.

Gelobt seist Du, o Herr mein Gott, um unserer Schwester willen,
Der mütterlichen Erde,
Welche uns hält und nährt,
Und sie gebiert viele Früchte und bunte Blumen und Kräuter.

Gelobt seist Du, o Herr mein Gott, um jener willen, die Verzeihen
üben aus Liebe zu Dir,
Und die Schwäche und Trübsal erdulden,
Selig, die ausharren bis ans Ende in Frieden,
Denn von Dir, o Höchster, werden sie die Krone empfangen.

Gelobt seist Du, o Herr mein Gott, um unseres Bruders willen, des leiblichen Todes,
Dem kein Mensch, der da lebt, entrinnen kann.
Wehe denjenigen, die in tödlicher Sünde sterben.
Selig, die Deinen allerheiligsten Willen erfüllen,
Denn der andere Tod wird nicht über sie kommen.

Lobet und preiset den Herrn und saget Ihm Dank,
Und dienet Ihm in großer Demut.351

 

Im Rückblick muß leider gesagt werden: »Die Gleichgültigkeit gegenüber der Natur bleibt ein trauriges Kapitel der christlichen Geschichte«, wie der evangelische Theologe Hans Jürgen Baden feststellt.352

Erst mit der Gefährdung unserer Welt begann in jüngster Zeit die Auseinandersetzung mit den zwei Stellen der Genesis. In dem einen Schöpfungsbericht heißt es: 

»Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen nach unserem Bilde, uns ähnlich; die sollen herrschen über die Fische im Meer und die Vögel des Himmels, über das Vieh und alles Wild des Feldes und über alles Kriechende, das auf der Erde sich regt. Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn; als Mann und Weib schuf er sie. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch Untertan, und herrschet über die Fische im Meer und die Vögel des Himmels, über das Vieh und alle Tiere, die auf der Erde sich regen!« 

In der anderen »Erzählung von der Schöpfung« heißt es: »Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn bebaue und bewahre.«353

Die Streitfrage kann wohl inzwischen als entschieden gelten. Indem hier der Mensch an Gottes Statt als Herr der Erde eingesetzt wird, kann das nur heißen, daß er auch die ganze Verantwortung für Gottes Schöpfung trägt. 

Damit kann es keinen Zweifel mehr geben, daß gerade den Christen heute eine Aufgabe gestellt ist, worin sie sich mit den neuen ökologischen Erfordernissen treffen: die Erhaltung dieser Erde — in christlicher Sprachweise »der Schöpfung« — um Gottes und des Menschen willen.

195-196

 # 

 wikipedia  Hans_Jürgen_Baden  (1911-1986)  "Das Wort zum Sonntag"

 

www.detopia.de     ^^^^ 
Herbert Gruhl   Das irdische Gleichgewicht  Ökologie unseres Daseins