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4.6  Ökologisch ist konservativ

Konservativ ist die Partnerschaft der 
Lebenden mit den Toten und den 
Ungeborenen.   --Edmund Burke-- 

  Konservativ sein heißt Bewahren  

236-244

In seiner langen vorangegangenen Geschichte hat der Mensch erfahren, daß es mit ihm selbst gar nicht so recht voranging. Seine geistige Potenz blieb über die Jahrtausende unverändert. Die Höhe der griechischen Philosophie und Kunst zum Beispiel ist später nie überboten worden. Alle Vorgänge des privaten Lebens, dessen Glück und Leid und die Sehnsüchte der Seele sind seit eh und je die gleichen geblieben. Winston Churchill ist voll zuzustimmen, wenn er vor 50 Jahren schrieb: 

»Es ist gewiß, daß die Tugenden und die Weisheit der Menschen im Verlauf der Jahrhunderte, während sie in grenzenlos wachsendem Tempo Wissen und Macht sammelten, keinerlei bemerkenswerte Besserung gezeigt haben. Das Gehirn eines modernen Menschen unterscheidet sich in seinen wesentlichen Zügen nicht von dem der Menschen, die vor Millionen Jahren hier kämpften und liebten. — Die Natur des Menschen ist bis jetzt praktisch unverändert geblieben.«359

Weil dies so ist, weil alle echten, existentiellen Anliegen des Menschen so geblieben sind, wie sie immer waren, können wir uns in diesem Buch auf Weisheiten aus zweieinhalb Jahrtausenden berufen, denn sie sind nach wie vor gültig. Dagegen werden die aufgeblasenen Plattheiten der letzten anderthalb Jahrhunderte bald vergessen sein; sie werden bestenfalls als negative Erinnerungen fortleben. 

Die größten Illusionisten der Gegenwart sind diejenigen, die das Ausmaß der wissenschaftlich-technischen Neuerungen immerzu auf Geist und Psyche des Menschen übertragen wollen. Sie halten ihn allen Ernstes wieder einmal für so veränderbar und erziehbar, daß ein »neuer Mensch« entstehen könnte. Wenn diese pädagogische Züchtung aus der Retorte Erfolg haben könnte, dann würden die neuen Exemplare mit den bisherigen Menschen wenig gemein haben.

Die einschneidendste Veränderung der Welt ging nicht von einer Religion oder von neuen Ideen aus, sondern von den vielen technischen Erfindungen und ihrer bedenkenlosen Anwendung. Diese Entwicklung ist es, welche die Welt einer Totalkatastrophe entgegentreibt, wie sie keine der vergangenen »Heilslehren« auszulösen vermochte. Die Frage liegt nahe: Hat auch das Auftreten Jesu den Menschen nicht verändert? 

Jeder Historiker wird zugeben müssen, daß das Wesen des Menschen vor und nach Christus das gleiche war und geblieben ist. Und dies, obwohl Christi Lehre sicherlich die größte geschichts­bildende Macht gewesen ist, die es überhaupt gegeben hat. Sie hat zweifellos den Gang der Geschichte über 2000 Jahre nachhaltig beeinflußt. Aber der Mensch hat — auch dort, wo er sich Christ nennt — nur die Bestandteile der Lehre aufgenommen, die seinem Wesen und dem jeweiligen Geist der Zeit entsprachen. Die Utopie eines neuen Menschen ist ein frommer Wunsch geblieben.

Um so größere Illusionisten sind diejenigen, die in der Gegenwart die wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse und Neuerungen auf Geist und Psyche des Menschen aufpfropfen wollen!

Eine Veränderung des menschlichen Wesens hat sich nicht vollzogen und wird sich künftig genausowenig vollziehen wie in den Jahrtausenden vor uns. Das mag eine Binsenweisheit sein; doch nun wird es endlich Zeit, sich auch daran zu halten. Das bedeutet, daß ganze Bibliotheken getrost der Wiederverwendung für Altpapier zugeführt werden dürfen.

Es kann als gesichert gelten, daß der Mensch sich im Grunde nicht ändern wird; daß wir also nur von dem ausgehen können, was der Mensch immer schon war; daß wir von den erprobten Leitbildern ausgehen müssen, denen der Mensch früher folgte.

Ich bin mit Hans Jonas der Meinung, »daß wir von der Vergangenheit lernen müssen, was der Mensch <ist>, das heißt im Positiven wie im Negativen sein kann, und diese Belehrung bietet allen nur erwünschten Stoff zu Erhebung und Schauder, zu Hoffnung und Furcht, und auch Maßstäbe zur Wertung, somit der Anforderung an sich selbst.«425  

Unser »neues Bild« vom Menschen kann darum nicht neu sein, es gründet vielmehr auf den Kernerfahrungen der Jahrtausende, die in religiösen Lehren und Schriften, in den Mythen und Symbolen überliefert sind.

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Der niederländische Soziologe Fred Polak kommt zu dem Ergebnis: »Der Aufstieg und Verfall von Leitbildern geht dem Aufstieg und Verfall von Kulturen voraus oder begleitet ihn. Solange das Bild der Gesellschaft positiv und erfolgreich ist, steht die Blume der Kultur in voller Blüte. Wenn aber erst einmal das Bild der Kultur zu verfallen beginnt und seine Lebenskraft verliert, lebt die Kultur nicht mehr lange.«426

Das ist eine konservative Weltanschauung, aber eine konservative Weltanschauung, mit der die politischen Strömungen, die man in diesem Jahrhundert üblicherweise unter konservativ einordnet, nichts zu tun haben. Wie ja auch die Parteien, die sich christlich nennen, mit der christlichen Lehre genausoviel gemein haben wie die heutige weihnachtliche Konsumorgie mit der Geburt Christi, nämlich nichts. Würden sich christliche Politiker die Mühe machen, einmal in die Bibel zu schauen, dann fänden sie dort im Matthäusevangelium 6, 24 den Satz: »Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.«

Nun darf sich eine Partei durchaus von ihren ursprünglichen Zielen ab- und neuen zuwenden, wenn die historische Notwendigkeit das verlangt. Die »konservativen« Parteien der Nachkriegszeit haben sich jedoch aus nackter Opportunität dem materialistischen Zeitgeist ergeben; schlicht und einfach darum, weil alle es taten, die Wähler inbegriffen. In den Parteien der Nachkriegszeit, ob rechts oder links, herrschte sogar eine panische Angst, nicht »auf der Höhe der Zeit« zu sein. Ihr Ziel war es, dem Fortschritt immer einen Schritt vorauszueilen und das den Wählern zu demonstrieren, die dem Wettrennen genüßlich zusahen und es mit anfeuernden Rufen begleiteten.

Damit wurde aber ein irriges Leitbild aufgestellt und propagiert: der unersättliche homo consumens. Keine Kultur der Geschichte hat ein so niedriges Leitbild geschaffen wie die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Und gerade dieses Leitbild fand weltweite Verbreitung.

Daß man in diesem allseitigen Wettrennen um die größte Progressivität einige Parteien fälschlich als konservativ einstuft, hat mehrere Gründe. Erstens konnten sie anfangs ein Stück vom christlichen Schein bewahren, da sie nicht grundsätzlich atheistisch sind. Zweitens wollten sie an den politischen und ökonomischen Methoden wie am Aufbau der Gesellschaft wenig ändern; aber das waren eben die Methoden der jüngeren Vergangenheit.

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Darum nannte sie Erhard Eppler »Strukturkonservative«, was nicht stimmt; denn durch die forcierte Industrialisierung änderten sie die Strukturen der Gesellschaft in einem bisher nie gekannten Ausmaß. So dezimierten zum Beispiel die deutschen christlichen Parteien sogar ihre Stammwähler, indem sie Millionen Landwirte und kleine Mittelständler zugunsten der Großbetriebe preisgaben. Sie zerstörten gemeinsam mit den Sozialisten die traditionellen Dorf­gemeinschaften zugunsten einer »rationellen« Verwaltung in »großen Einheiten«, was gleicherweise mit den Schulen geschah, wie oben geschildert.

Drittens konnten die Konservativen lange Zeit die Illusion nähren, die Freiheit des Menschen werde durch den Wohlstand immerzu vermehrt. So kam es zu einer freiwilligen Euphorie aller Beteiligten, die in ihrem Fortschritts­rausch gar nicht merkten, wohin die Reise letzten Endes gehen würde — und sie wissen es heute noch nicht. Somit konnte man gut und gerne jede Meinung zulassen, denn wer würde schon gegen den »Fortschritt« sein? Auf die zwangsweise Einführung des Fortschritts, wie wir ihn aus der Sowjetunion kennen, konnte hier im Westen verzichtet werden.

Wer dem eingespielten rasenden Fortschritt verhaftet bleibt und damit die Welt von Grund auf ändert, gilt seltsamerweise in allen Ländern als »Konservativer«, obwohl das nach dem Wortsinn »Bewahrender« heißt. Bewahren will er aber lediglich den »Fortschritt«, was faktisch zur Beseitigung jeder Tradition führt. Und wer aus den noch älteren Hüten des Karl Marx immer wieder neue Weltentwürfe hervorzaubert, gilt ebenfalls als fortschrittlich — vor allem bei einem Teil der Jugend, der vom organischen Denken noch nie einen Zipfel erfaßt hat. In Wirklichkeit ist auch der Marxismus in demselben Sinne »konservativ« wie die Parteien, die man hier fälschlich so nennt: Auch er ist unbeweglich in den Strukturen bei ständiger materieller Umwälzung der Welt, genauso wie Franz Josef Strauß. 

Das allgemeine Durcheinander ist nicht mehr zu überbieten: Wer unsere Erde (im christlichen Sinne »die Schöpfung«) bewahren will, gilt heute bei den Rechten als revolutionär, während er von den Linken als reaktionär verschrien wird. So dient die Verwirrung der Begriffe allen Parteien und Interessengruppen als zusätzliches taktisches Kampfmittel, von dem rücksichtslos Gebrauch gemacht wird. Dennoch: Was sich als wahr herausstellt, kann nach einem Wort Otto von Bismarcks auf die Dauer nicht niedergelogen werden!

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Der echte Konservative glaubt nicht daran, daß der Mensch sich grundsätzlich ändern werde. Darum haben die opportunistischen Konservativen aus ihrem Wunschdenken eine Tugend gemacht, das heißt, sie haben dem Menschen unterstellt, daß es zu seinen uralten Eigenschaften gehöre, begierig auf immer mehr Besitz zu sein, und sie haben weiter unterstellt, daß ihn größerer Besitz immerzu glücklicher mache. Damit befanden sie sich plötzlich in einem Boot mit allen Sozialisten und Kommunisten. Auch die Herstellungs­muster dieses Glücks waren ganz die gleichen: denn die Gesetze der mechanischen Natur­wissen­schaften und der Technik bestimmten in beiden Systemen den Kurs von Anfang an. Streit herrschte hauptsächlich darüber, wie das Ergebnis zu verteilen sei.

Das verhängnisvollste an der Entwicklung ist, daß die angeblich Konservativen damit den Anspruch des Menschen verrieten, primär ein kulturelles und religiöses Wesen zu sein. Eben dies war es, was Churchill bereits 1932 erkannte, als er schrieb: »Kein materieller Fortschritt, welche von uns nicht erfaßbaren Gestalten er auch annehmen oder wie immer er die Fähigkeiten des Menschen entwickeln möge, kann seiner Seele Ruhe bringen.«359 Und vierzig Jahre später schrieb sein Landsmann Arnold Toynbee:

»Mehr und mehr Leute beginnen zu begreifen, daß die Zunahme des materiellen Reichtums, welche die britische industrielle Revolution in Gang setzte und welche die moderne in Britannien geborene Ideologie als das überragende menschheitsgemäße Ziel dargeboten hat, in Wahrheit nicht der Zug der Zukunft sein kann. Die Natur ist im Begriff, die Nachwelt zu zwingen, zu einem Gleichgewichtszustand in der materiellen Planung zurückzukehren und sich dem Reich des Geistes zuzuwenden, um des Menschen Hunger nach Unendlichkeit zu befriedigen.«427  

Ebenso äußerte sich später Erich Fromm: »Ob wir glücklich oder unglücklich sind, unser Körper drängt uns, nach Unsterblichkeit zu streben.«428

Konservativ sein bedeutet auch, sich mit den Gegebenheiten dieser Erde abzufinden — sich der Relativität allen Geschehens bewußt zu sein, welches sich im Auf und Ab der Zeiten abspielt. Konservativ sein heißt, das langsame Wachstum der Hektik des eiligen Machens vorzuziehen.

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  Die ökologische Ethik  

 

Albert Schweitzers philosophisches und theologisches Zentralanliegen war seit 1915 die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. »Ethisch ist der Mensch nur, wenn ihm das Leben als solches, das der Pflanze und das des Tieres wie das des Menschen, heilig ist, und er sich dem Leben, das in Not ist, helfend hingibt.«429

Seine Auffassung weicht von der bisherigen christlichen insoweit ab, als er uns allen nicht nur die Verantwortung gegenüber den Mitmenschen, sondern sämtlichen Lebewesen gegenüber auferlegt. Die Verantwortung entspringt der natürlichen Ehrfurcht, die dem Menschen angeboren ist und durch sein tieferes Nachdenken bestätigt wird. Albert Schweitzer war überzeugt, daß diese Ethik sich durchsetzen werde, wenn auch erst nach seinem Tode.

Doch es geht nicht nur um die gesamte lebendige Mitwelt im Raum, die Dimension der Zeit ist ebenfalls einzubeziehen. Damit ist die Frage gestellt, inwieweit eine lebende Generation das Recht hat, unwiderruflich Entwicklungen in Gang zu setzen, die kommende Generationen in ihrer gesamten Existenz gefährden und ihnen andere Entscheidungen unmöglich machen.430) In der bisherigen Geschichte des Menschen gab es diese Gefahr nicht. Die extreme Fernwirkung ergibt sich derzeit automatisch auf Grund der Strukturen heutiger Technik. Die Entscheidung für die Kernenergie zum Beispiel ist eine Entscheidung für unzählige Generationen; diese werden keinen Nutzen mehr aus dem Atomstrom haben, aber die radioaktiven Abfälle mit allen Komplikationen »erben«, ob sie wollen oder nicht.

Dies ist leider nicht der einzige gravierende Bereich. Die im Stile der Industrie arbeitende Landwirtschaft beutet heute die Böden kurzfristig aus, indem sie Chemikalien aller Art einsetzt und damit das Bodenleben abtötet. Die letzten Urwälder der Erde werden in einem atemberaubenden Tempo für einige wenige Ernten geopfert, das Klima wird dadurch langfristig geschädigt, so daß künftige Ernten in noch viel größeren Gebieten ausfallen werden. Die Gewässer bis hin zu den Weltmeeren werden verschmutzt und vergiftet (auch durch Versenken radioaktiver Abfälle), so daß künftige Generationen kaum noch Nahrung aus dem Meer gewinnen werden. Die heutige Energieerzeugung und noch mehr ihre Steigerung entscheidet über Klima und Luft­zusammensetzung künftiger Jahrzehnte.

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Die lange Kette unserer Vorfahren hat niemals das Leben der Nachfahren so unwiderruflich vorbelastet, wie wir das in wenigen Jahren tun. Ob sie das damals mit Bedacht oder unwissentlich vermieden, bleibt unwichtig. Wir wissen heute, daß wir Unwiderrufliches tun, was die die Wälder rodenden Mittelmeervölker seinerzeit noch nicht wissen konnten. Für uns gilt deshalb das Wort des Philosophen Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799): »Nicht bloß wissen, sondern auch für die Nachwelt tun, was die Vorwelt für uns getan hat, heißt ein Mensch sein.«431 Das Wesentliche, was wir heute für die Nachwelt tun können und tun müssen, besteht im Unterlassen.

Eine konservative Ethik muß sich heute nach den künftigen Erfordernissen richten - und das werden wieder die gleichen sein, denen der Mensch in seiner ganzen Geschichte nachkommen mußte. Wir müssen einer ökologischen Ethik folgen. Ich verstehe mit Willis Harman unter ökologischer Ethik: 

»Wenn der Mensch sich mit dem Ganzen der Natur identifiziert, wenn er einsieht, daß er ein Teil der riesigen Gemeinschaft ist, die der Planet und alle seine Lebensformen darstellen, und daß er ein Teil der riesigen evolutionären Prozesse im Ablauf der Zeit ist, dann wird er von einer ökologischen Ethik ergriffen, die sein eigenes Selbst­interesse mit dem der Mitlebenden und der künftigen Generationen und mit allem Leben auf dem Planeten in Verbindung bringt.

Eine solche ökologische Ethik erkennt die Grenzen der verfügbaren Naturschätze einschließlich des Lebensraums und begreift, daß der Mensch ein integraler Bestandteil der Natur ist, untrennbar von ihr und den Gesetzen, die sie regieren. Diese Ethik ruft den Menschen auf, in Übereinstimmung mit der Natur zu handeln, indem er die komplexen lebenserhaltenden Systeme des Planeten beschützt, die Rohstoffe haushälterisch verbraucht... Eine solche Ethik ist mehrmals in der Vergangenheit sowohl von alten und modernen Philosophen, von Laotse bis zum Heiligen Franziskus und Mahatma Gandhi gefordert worden. Ihre grundlegenden Aussagen entsprechen den vorwissenschaftlichen Anschauungen vieler sogenannter primitiver Völker. Es ist eine Ethik, die nicht nur durch die modernen wissenschaftlichen Einsichten in die Voraussetzungen eines weiteren menschlichen Lebens auf Erden, sondern auch durch die meisten bekannten kulturellen und religiösen Systeme gestützt wird.«432)

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Dies stimmt mit dem Satz des französischen Philosophen Henri Bergson (1849-1941) überein: »Wir wollen also dem Wort Biologie den sehr weiten Sinn geben, den es haben sollte, den es vielleicht einmal erhalten wird, und abschließend sagen: alle Ethik ist biologischer Natur.«433

Im krassen Gegensatz zu diesen Notwendigkeiten stehen die gegenwärtig herrschenden Systeme in Ost und West. Sie haben die Welt in einen solch hohen Grad der Gefährdung hineingeführt, daß jetzt eine Ethik der Bewahrung und Vorbeugung statt des Fortschritts und der Vervollkommnung dringend notwendig geworden ist.

Der Philosoph Hermann Lübbe sieht neue Verpflichtungen der Politik: »Konservativ ist, der Katastrophenvorbeugung Priorität gegenüber einer Politik der Verwirklichung von Utopien einzuräumen ... Konservativ ist schließlich die Kultur der Trauer über schätzenswerte Unwiederbringlichkeiten. Hier wird die Borniertheit zersetzt, die Verluste zu Gewinnen verklärt ...«434

Der Philosoph Robert Spaemann treibt den Gedanken weiter: »Nur wenn der Mensch heute die anthropozentrische Perspektive überschreitet und den Reichtum des Lebendigen als einen Wert an sich zu respektieren lernt, nur in einem wie immer begründeten religiösen Verhältnis zur Natur wird er imstande sein, auf lange Sicht die Basis <seiner Existenz zu sichern>. Der anthropozentrische Funktionalismus zerstört am Ende den Menschen selbst.«435

Daß sich die Verantwortung des Menschen jetzt auf den Zustand der gesamten Biosphäre auszudehnen hat, ergibt sich schlicht und einfach aus der Ausweitung seiner Macht, die sich als Macht der, Zerstörung manifestiert. Angesichts dieser absoluten Forderungen erweisen sich die angeblich »konservativen« und »christlichen« Parteien der Nachkriegszeit als verantwortungslos. Sie sind bar jeder Ethik, von Religion ganz zu schweigen, es sei denn, man lasse die Ökonomie als Religion gelten. Sie führen ein gespenstisches Spektakel auf, das sich jetzt seinem Ende zuneigt, wenn es auch hier und da noch einmal auflebt. Obwohl die Wachstumstheorie, welche dieser Politik zugrunde liegt, gegen die Naturgesetze verstößt, sind noch alle Regierungen von diesem Wahn besessen, ob in Washington, Moskau, Tokio, Paris oder Bonn. China scheint weiterhin zu experimentieren. Die politischen Kräfte in den meisten Ländern der Welt dienen weiterhin der mechanistischen Weltauffassung.

Überall wird am babylonischen Turm weitergearbeitet, wenn auch teilweise nur noch aus Angst vor den Folgen einer Baueinstellung. »So kommt es zu den Lähmungen, die gerade unsere Meinungsführer und Politiker produzieren. Nirgends wird ein solcher Verdrängungsdruck von den Menschen ausgeübt, wie bei Entscheidungen, die fundamentale Veränderungen bewirken.« Dies schrieb der protestantische Bischof Hans-Otto Wölber zur Weihnacht 1979 und führte weiter aus:

»Wenn wir also die alten Geschichten richtig verstehen, dann müßten wir in Richtung auf die Arche handeln (und nicht in Richtung auf den Turmbau). Das heißt: Unser Forschen und unsere Technik müßten der Idee der Bewahrung und nicht der Idee der Ermöglichung unterworfen werden; solange jemand etwas bewirkt und nicht übersieht, ob es schützt, bewahrt, fördert, schont ... soll er moralisch disqualifiziert sein. Es bedarf eines neuen kategorischen Imperativs. ... -- Das Mysterium der Schöpfung verlangt von uns eine neue Ethik im Rahmen des technisch-wissen­schaftlichen Wahrheits­bewußt­seins. Niemals soll der funktionale Fortschritt unser höchster Wert sein. Partiell wird es wohl um eine asketische Kultur gehen, also um Übereinkünfte angesichts von Grenzen. -- Unsere Sympathie für diese Erde sollte jedenfalls unsere Demut und unsere Verzichte einschließen. Auch müßte etwas dabei sein vom franziskan­ischen Ideal: Alle Kreatur ist Bruder und Schwester.«436

Unter den Gesichtspunkten der Ökologie und der Ethik angesichts der biologischen und psychologischen Folgen für den Menschen ergibt sich für die derzeitige Wirtschaftsweise des Menschen ein verheerendes Urteil. Wenn man auch noch ihren höchst mangelhaften ökonomischen Nutzen in die Bewertung einbezieht, dann dürfte das bevorstehende Ende des totalitären ökonomischen Zeitalters keinen Schrecken verbreiten. Katastrophal ist vielmehr die Tatsache, daß die fatale Politik des ökonomischen Überflusses mit aller Gewalt weiterbetrieben wird.

243-244

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* wikipedia  Hans-Otto_Wölber   1913-1989, Hamburg 

 

www.detopia.de      ^^^^ 
Gruhl-1982 - Das irdische Gleichgewicht