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1. Kreis:  Sonne, Erde, Schöpfung 

Echnaton —  Mose — Psalmen — F. von Assisi —  Die Indianer — 
Xenophanes — Parmenides — Protagoras — Empedokles — Prodikos — 
Die Edda — L. da Vinci — Goethe.

18-41

Vorstellungen über die Entstehung der Welt und der Lebewesen gab es in allen menschlichen Kulturen. Davon berichten die Mythen und die Religionen. Überall finden wir Aussagen über die Grund­elemente der Welt: über die Licht und Wärme spendende Sonne, die feste Erde und die Gewässer. Dann entstehen Pflanzen, Tiere und Menschen. Während aber die Wissenschaften in den letzten Jahrhunderten nüchterne Tatbestände aneinanderreihten, beeindrucken die Schriften der Weltliteratur durch die Macht großartiger Bilder.

Die auch sprachlich eindrucksvollste Darstellung der Schöpfung ist die des Alten Testaments. Wieweit aber der dortige Befehl Gottes an die Menschen »Macht euch die Erde untenan!«, also gewisser­maßen die Bestallung des Menschen zum Statthalter Gottes auf Erden, eine spätere christliche Mitschuld an der Zerstörung der Welt als Keim angelegt hat, wird seit Jahren diskutiert. Dennoch enthält das Alte Testament viele Zeugnisse tief empfundener Zusammengehörigkeit von Mensch und Natur, während die Natur im Neuen Testament so gut wie keine Rolle spielt; sie wird von Jesus nur in Gleichnissen herangezogen.

Bei allen Völkern kreisten vor unserer Neuzeit die Gedanken immerzu um das, was sich für ihr Dasein als erhaltend oder als todbringend erwies. Lobpreisung wie Sorge galten der Sonne und der von ihr genährten Erde mit Meer und Regen, Gras und Korn, Tier und Speise. Das klingt im Sonnengesang des ägyptischen Königs Echnaton kaum anders als in den Psalmen der Bibel oder in den Gesängen der Indianer. 

Und auch die alten Griechen fühlten sich abhängig von Sonne und Erde, Meer und Äther; denn nur der Wandel der Jahreszeiten schenkt die nährende Ernte. Überdies leuchtet bei ihnen schon künftiges Schicksal auf: Das Feuer gerät aus der Hand der Götter in die Hände der Menschen. Damit beginnt die Lawine, welche, inzwischen zu unkalkulierbarer Größe gesteigert, drohend über uns hängt. Über Jahrtausende wußte aber jedenfalls der Mensch, daß sein Leben von den Elementen der Natur abhängig bleibt.


19

Der Sonnengesang des ägyptischen Königs 

Echnaton

Du erscheinst so schön im Lichtorte des Himmels,
du lebendige Sonne, die zuerst zu leben anfing!
Du bist aufgeleuchtet im östlichen Lichtorte
und hast alle Lande mit deiner Schönheit erfüllt.

Du bist schön und groß, glänzend und hoch über allen Landen.
Deine Strahlen umfassen die Länder,
bis zum Ende alles dessen, was du geschaffen hast;
du bist die Sonne und dringst eben deshalb bis an ihr äußerstes Ende.

Du bändigst sie deinem geliebten Sohne.
Du bist fern, und doch sind deine Strahlen auf der Erde;
du bist im Angesicht der Menschen, und doch kennt man deinen Weg nicht.

Gehst du zur Rüste im westlichen Lichtorte,
so ist die Welt in Finsternis, wie im Tode.
Die Schläfer sind in der Kammer, die Häupter verhüllt,
nicht kann ein Auge das andere sehen.
Gestohlen werden alle ihre Sachen, während sie unter ihren Häuptern liegen;
sie merken es nicht.

Jedwedes Raubzeug kommt hervor aus seiner Höhle,
alles Gewürm beißt.
Die Finsternis ist für sie verlockend wie für andere Wesen eine Feuerstatt.
Die Welt liegt in Stille, denn der sie schuf,
ist zur Rüste gegangen in seinem Lichtorte.

Im Morgengrauen leuchtest du wieder auf
und glänzest aufs Neue als Sonne am Tage.
Du vertreibst die Finsternis,
sobald du deine Strahlen spendest.

Die beiden Länder sind in Festesstimmung.
Die Menschen erwachen und stellen sich auf die Füße;
du hast sie sich erheben lassen.

Gewaschen wird ihr Leib, sie nehmen die Kleidung,
ihre Arme erheben sich in Anbetung, weil du erschienen bist.
Die ganze Welt tut ihre Arbeit;
alles Vieh befriedigt sich an seinem Kraute;
Bäume und Kräuter grünen.


20

Die Vögel fliegen auf aus ihrem Neste,
ihre Flügel erheben sich in Anbetung zu dir;
alles Wild hüpft auf den Füßen;
alles, was da fleucht und kreucht,
sie leben, nachdem du ihnen wieder aufgeleuchtet bist.

Die Schiffe fahren stromab und stromauf;
jeder Weg ist wieder geöffnet, weil du erschienen bist.
Die Fische im Strome springen vor deinem Angesichte,
deine Strahlen dringen bis ins Innere des Meeres.

Der du den Samen sich entwickeln läßt in den Weibern,
der du Wasser zu Menschen machst,
der du den Sohn am Leben erhältst im Leibe seiner Mutter,
der du ihn beruhigst, so daß seine Tränen aufhören.
Amme des Kindes im Mutterleibe!
Der da Luft spendet, um am Leben zu erhalten jedes seiner Geschöpfe.

Steigt es aus dem Leibe der Mutter herab, um zu atmen, am Tage seiner Geburt, 
so öffnest du alsbald seinen Mund vollkommen und sorgst für seine Bedürfnisse.

Das Vöglein im Ei spricht ja schon im Stein;
du gibst ihm Luft in seinem Innern, um es am Leben zu erhalten.
Du hast ihm im Ei seine Frist gesetzt, es zu zerbrechen.
Es kommt hervor aus dem Ei, um zu sprechen, zu seiner Frist,
es geht auf seinen Füßen, sobald es aus ihm hervorkommt.

Wie zahlreich sind doch deine Werke;
sie sind verborgen dem Gesichte der Menschen,
du einziger Gott, außer dem es keinen andern gibt!
Du hast die Erde geschaffen nach deinem Herzen, du einzig und allein,
mit Menschen, Rinderherden und allem andern Getier. 

Alles was da ist auf der Erde, gehend auf Füßen, was da ist in der Höhe, 
fliegend mit ihren Flügeln, die Gebirgsländer Syrien und Nubien,
und das Flachland Ägypten.

Du setzest jeden Mann an seine Stelle;
du sorgst für ihre Bedürfnisse;
ein jeder hat sein Essen,
berechnet ist seine Lebenszeit.


21

Die Zungen der Menschen sind geschieden im Sprechen,
ihre Art desgleichen;
ihre Haut ist unterschieden.

Unterschieden hast du auch sonst die Völker:
Du schaffst den Nil in der Unterwelt,
du holst ihn herbei nach deinem Belieben,
um das Volk der Ägypter am Leben zu erhalten,
wie du sie dir geschaffen hast,
du, ihrer aller Herr,
der sich abmühte an ihnen.

Du Herr aller Lande,
der ihnen wieder aufleuchtet am Morgen.
Du Sonne des Tages, groß an Ansehen.

Alle Gebirgsländer in der Ferne, 
du sorgst für ihren Lebensunterhalt:
Du gabst einen Nil an den Himmel;
er steigt ihnen herab
und schafft Wasserfluten auf den Bergen, 
um ihre Felder zu netzen mit ihrem Gebührenden.

Wie wohltätig sind doch deine Pläne, du Herr der Ewigkeit!
Der Nil am Himmel, er ist deine (Gabe) für die fremden Völker
und alles Wild im Gebirge, so da auf Füßen geht;
Der wahre Nil aber, er kommt aus der Unterwelt für Ägypten.
Deine Strahlen ernähren nach Ammen Weise alle Pflanzungen.
Wenn du aufleuchtest, so leben und wachsen sie für dich.
Du machst die Jahreszeiten, um sich entwickeln zu lassen alle deine Geschöpfe,
den Winter, um sie zu kühlen,
die Glut des Sommers, damit sie dich kosten.

Du hast den Himmel gemacht fern von der Erde, um an ihm aufzuleuchten,
um alles was du, einzig und allein du, geschaffen hast, zu sehen,
wenn du aufgeleuchtet bist in deiner Gestalt als lebendige Sonne,
erschienen und glänzend, fern und doch nah.

Du machst Millionen von Gestalten aus dir, dem Einen,
Städte, Dörfer, Äcker, Weg und Strom.

Alle Augen erblicken dich sich gegenüber, 
indem du die Sonne des Tages bist über der Erde. 

Wenn du davon gegangen bist, und wenn alle Augen, 
deren Gesicht du geschaffen hast, damit du nicht mehr allein (dich) selbst sähest, (schlummern),
(und nicht) Einer mehr (sieht), was du geschaffen hast,
so bist du doch noch in meinem Herzen.


22

Es gibt keinen andern, der dich wirklich kennte, außer deinem Sohne König Nefercheprure-Wanre;
du läßt ihn kundig sein deiner Pläne und deiner Macht.

Die Welt befindet sich auf deiner Hand,
wie du sie geschaffen hast.
Wenn du aufgeleuchtet bist, leben sie;
wenn du zur Rüste gehst, sterben sie.

Du bist die Lebenszeit selbst, man lebt in dir.
Die Augen schauen Schönheit, bis du zur Rüste gehst.
Niedergelegt werden alle Arbeiten, sobald du zur Rüste gehst zur Rechten. 

Wenn du wieder aufleuchtest, so läßt (du jeden Arm) sich rühren für den König, 
und (Eile) ist in jedem Beine, 
seit du die Welt gegründet hast. 

Du erhebst sie wieder für deinen Sohn,
der aus deinem Leibe hervorgekommen ist,
König Echnaton und die Königin Nefernefruaton-Nofretete.

*

 

Die Schöpfung der Welt 

 

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erden. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe. Und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: »Es werde Licht!« Und es ward Licht. 

Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Schöpfungstag.

Und Gott sprach: »Es werde eine Feste zwischen den Wassern, und die sei die Unterscheidung zwischen den Wassern!« Da machte Gott die Feste und schied das Wasser unter der Festen von dem Wasser über der Festen, und es geschah also. Und Gott nannte die Feste den Himmel. Da ward aus Abend und Morgen der zweite Schöpfungstag.

Und Gott sprach: »Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Orte, daß man das Trockene sehe!« Und es geschah also. Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Sammlung der Wasser nannte er Meer.


23

Und Gott sah, daß es gut war. 

Und Gott sprach: „Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das sich besame, und fruchtbare Bäume, da ein jeder nach seiner Art Frucht trage und seinen eigenen Samen bei sich selbst habe auf Erden!« Und es geschah also. Und die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut, das sich besamet, ein jegliches nach seiner Art, und Bäume, die da Frucht trugen und ihren eigenen Samen bei sich selbst hatten, ein jeglicher nach seiner Art. Und Gott sah, daß es gut war. Da ward aus Abend und Morgen der dritte Schöpfungstag.

Und Gott sprach: »Es werden Lichter an der Feste des Himmels, und die sollen Tag und Nacht scheiden und Zeichen geben, Zeiten, Tage und Jahre, und es seien Lichter an der Feste des Himmels, daß sie auf die Erde herabscheinen!« Und es geschah also. Und Gott machte zwei große Lichter, ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch Sterne. Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, daß sie schienen auf die Erde und den Tag und die Nacht regierten und Licht und Finsternis schieden. Und Gott sah, daß es gut war. Da ward aus Abend und Morgen der vierte Schöpfungstag.

Und Gott sprach: »Es errege sich das Wasser mit webenden und lebendigen Tieren und mit Gevögel, das auf Erden unter der Feste des Himmels fliegt. Und Gott schuf große Walfische und allerlei Getier, das da lebt und webt und vom Wasser erregt ward, ein jegliches nach seiner Art, und allerlei gefiedertes Gevögel, ein jegliches nach seiner Art!« Und Gott sah, daß es gut war. 

Und Gott segnete sie und sprach: »Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet das Wasser im Meer, und das Gevögel mehre sich auf Erden!« Da ward aus Abend und Morgen der fünfte Schöpfungstag.

Und Gott sprach: »Laßt uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kreucht!« Und Gott schuf den Menschen, ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn, und er schuf sie als Mann und Frau. 

Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: »Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und macht sie euch Untertan. Und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kreucht.« 

Und Gott sprach: »Sehet da, ich habe euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamet auf der ganzen Erde, und allerlei fruchtbare Bäume und Bäume, die sich besamen, zu eurer Speise, und allem Getier auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das Leben hat auf Erden, daß sie allerlei grün Kraut essen!« Und es geschah also. 

Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte. Und siehe da, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der sechste Schöpfungstag.

 

1. Buch Mose 1, 1-31

*


24

In der folgenden anderen Erzählung von der Schöpfung wird die Anlegung des Gartens Eden geschildert, wo es heißt:

Und Gott der Herr nahm den Menschen 
und setzte ihn in den Garten Eden, 
daß er ihn bebaue und bewahre.
1. Buch Mose 2,15

*

 

Nach der Sintflut

 

Da redete Gott mit Noah und sprach: »Gehe aus dem Kasten, du und dein Weib, deine Söhne und deiner Söhne Weiber mit dir. Allerlei Getier, das bei dir ist, von allerlei Fleisch, an Vögeln, an Vieh und an allerlei Gewürm, das auf Erden kreucht, das gehe hinaus mit dir. Und reget euch auf Erden und seid fruchtbar und mehret euch auf Erden!«   
1. Buch Mose 8, 16-17

*

Und der Herr ... sprach in seinem Herzen: »Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen, denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, sollen nicht aufhören Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.«  
1. Buch Mose 8, 20-22

*


25

Und Gott segnete Noah und seine Söhne und sprach: »Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde. Furcht und Schrecken sei bei allen Tieren auf Erden, bei allen Vögeln unter dem Himmel und bei allem, was auf dem Erdboden kreucht, und alle Fische im Meer seien in eure Hände gegeben. Alles, was sich reget und lebet, das sei eure Speise, wie das grüne Kraut hab ich euch alles gegeben.«  
 
1. Buch Mose 9, 1-3

*

Und Gott sagte zu Noah und seinen Söhnen, die bei ihm waren: »Siehe, ich richte mit euch einen Bund auf und mit eurem Samen nach euch und mit allem lebendigen Getier bei euch, den Vögeln, dem Vieh und allen Tieren bei euch auf Erden, mit allem, das aus dem Kasten der Arche gegangen ist, welcherlei Getier es auch sei auf Erden. Und ich richte meinen Bund also mit euch auf, daß hinfort nicht mehr alles Fleisch soll verderbet werden mit dem Wasser der Sintflut, und es soll hinfort keine Sintflut mehr kommen, die die Erde verderbe.«

Und Gott sprach: »Das ist das Zeichen des Bundes, den ich gemacht habe zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier bei euch hinfort ewiglich: Meinen Bogen hab ich gesetzt in die Wolken, der soll das Zeichen des Bundes sein zwischen mir und der Erde. Und wenn es kommt, daß ich Wolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken. Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier in allerlei Fleisch, daß nicht mehr hinfort eine Sintflut komme, die alles Fleisch verderbe. Darum soll mein Bogen in den Wolken sein, daß ich ihn ansehe und gedenke an den ewigen Bund zwischen Gott und allem lebendigen Getier in allem Fleisch, das auf Erden ist.«   1. Buch Mose 9, 8-16

*

 

Aus den Psalmen Davids

 

Die Erde ist des Herrn und was drinnen ist, der Erdboden und was darauf wohnet.
Denn er hat ihn an die Meere gegründet und an den Wassern bereitet.
  Psalm 24,1-2

Du machst fröhlich, was da webt des Morgens und abends.
Du suchst das Land heim und wässerst es und machst es sehr reich. Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle. Du lassest ihr Getreide wohl geraten, denn also bauest du das Land.


26

Du tränkest seine Furchen und feuchtest sein Gepflügtes. 
Mit Regen machst du es weich und segnest sein Gewächse. 
Du krönst das Jahr mit deinem Gut, und deine Fußstapfen triefen von Fett. 

Die Wohnungen in der Wüste sind auch fett, daß sie triefen. Und die Hügel sind umher lustig.

Die Anger sind voll Schafe, und die Auen stehen dick mit Korn, daß man jauchzet und singet. 

Psalm 6), 9—14

Du lassest Brunnen quellen in den Gründen, daß die Wasser zwischen den Bergen hinfließen,

daß alle Tiere auf dem Felde trinken und das Wild seinen Durst lösche.

An denselben sitzen die Vögel des Himmels und singen unter den Zweigen.

Du feuchtest die Berge von oben her. Du machst das Land voll Früchte, die du schaffest.

Du lassest Gras wachsen für das Vieh und Saat zu nutz den Menschen, daß du Brot aus den Erden bringest.

Und daß der Wein erfreue des Menschen Herz und seine Gestalt schön werde vom Öl und daß Brot des Menschen Herz stärke.

Daß die Bäume des Herrn voll Saftes stehen, die Zedern im Libanon, die er gepflanzt hat.

Daselbst nisten die Vögel, und die Reiher wohnen auf den Tannen.

Die hohen Berge sind der Gemsen Zuflucht, und die Steinkluft den Kaninchen.

Du machest den Mond, das Jahr danach zu teilen, die Sonne weiß ihren Niedergang.

Du machst Finsternis, daß Nacht wird, da regen sich alle wilden Tiere,

die jungen Löwen, die da brüllen nach dem Raub und ihre Speise suchen von Gott.

Wenn aber die Sonne aufgehet, heben sie sich davon und legen sich in ihre Löcher.

So gehet denn der Mensch aus an seine Arbeit und an sein Ackerwerk bis an den Abend.

Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weislich geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter.

Das Meer, das so groß und weit ist, da wimmelt's ohne Zahl.


27

Daselbst gehen die Schiffe. Da sind Walfische, die du gemacht hast, daß sie drinnen scherzen.
Es wartet alles auf dich, daß du ihnen Speise gebest zu seiner Zeit.
Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie. Wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gut gesättigt.
Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie.

Du nimmst weg ihren Atem, so vergehen sie und werden wieder zu Staub.
Du lassest ausgehen deinen Atem, so werden sie geschaffen, und du erneuerst die Gestalt der Erde.

Psalm 104, 10-30

*

 

Der Sonnengesang des Franz von Assisi

 

Höchster, allmächtiger, gütiger Herr!
Dir gebührt alles Lob, der Ruhm, die Ehre und jegliches
Benedeien. Dir allein, o Höchster, gebührt der Triumph, und keiner ist
würdig, ihn zu bereiten. Es rühmen Dich, Herr, alle Kreaturen!
Es rühme Dich vor allem Schwester Sonne, die mit funkelnder
Hand auf den Fluren den Menschen die Spuren

Deiner Güte weist und mit lichtem Odem die Erde speist
Und den Tag erweckt mit Schöpferkraft wie Du!
Es rühmen Dich, Herr, unser Bruder Mond und die Sterne am Himmel, die Schwesterlein, Deiner Krone Edelgestein, Das Himmelsgewölbe, das Du gebaut, die Luft, die über der Erde blaut,

Der trübe und der helle Tag und Bruder Wind, die Deiner Schöpfung Segen sind,

Sie rühmen Dich, Herr!

Und Schwesterlein Quelle springt frisch und helle aus der Felsenzelle und hastet zu Tal und träumt mit dienender Seele, daß sie der Mensch zum Dienst erwähle — Dich rühme das köstliche Wasser, Herr!


28

Es rühme Dich, Herr, unser Bruder, das Feuer!
Das leuchtet so schön durch die schwarze Nacht,
das flackert so heiter, will immer weiter, ist stark und kühn. '

Es rühme Dich, Herr, Mutter Erde, die Schwester mein!

Sie trägt und nähret die Kinder Dein und wirft ihnen lächelnd die Früchte vor und webt mit Geschick am Blumenflor.

Es rühmen Dich, Herr, die dem Feinde verzeihen aus Liebe zu Dir!

Die Krankheit tragen mit Not und Geduld!

Selig, die den Frieden sich wahren.

Denn Du, o Herr, auf dem höchsten Throne, hast ihnen

hinterlegt die Krone Des Lebens.

Es rühme Dich, Herr, unser Bruder, der leibliche Tod, dem keiner entrinnt von den Lebenden.

Wehe, wenn er ein sündiges Leben knickt und eine schwarze Seele hinüberschickt.

Aber selig, an denen Dein Wille vollbracht, die entronnen der

Nacht Eines zweiten Todes.

Rühmet den Herrn, ihr Geschöpfe. Singet, danket, dienet ihm, neigt euch in den Staub!

*

 

Eine Weltschöpfungserzählung der Indianer

 

Als Erdmacher im Ur-Anfang erwachte, da fand er sich auf einem Sitz im Raum, und es gab sonst nichts. Er begann zu überlegen, was er tun könnte. Schließlich fing er an zu weinen. Tränen flössen aus seinen Augen und fielen hinab in den Raum unter ihm. Nach einer Weile schaute er hinunter und sah etwas schimmern. Es waren die Tränen, die nach unten flössen und die Gewässer bildeten, so wie sie heute sind. Die Tränen wurden zu den heutigen Meeren.


29

Erdmacher begann zu überlegen: Es entsteht so, wie ich es wünsche; es wird genau so, wie ich es wünsche; auch meine Tränen sind zu Meeren geworden. So überlegte er.

Nun wünschte er Licht, und es wurde Licht. Dann überlegte er: Es ist tatsächlich so, wie ich vermutete; wenn ich etwas wünsche, dann tritt es so ins Dasein, wie ich es verlange.

Dann überlegte er wieder und wünschte sich die Erde, und diese Erde entstand. Erdmacher schaute sie an, und sie gefiel ihm. Aber sie war nicht ruhig, sie wogte auf und nieder wie die Wellen der See. Dann machte er Bäume, und er sah, daß sie gut waren. Allein, sie beruhigten die Erde nicht . . . Dann ließ er Gras wachsen, aber noch immer wurde die Erde nicht ruhig. Dann machte er Felsen und Steine, aber noch immer beruhigte die Erde sich nicht. Doch sie war schon beinahe ruhig.

Dann machte er die vier Weltrichtungen und die vier Winde. Er setzte sie an die vier Ecken der Erde als große und mächtige Wesen; sie sollten als Inselgewichte dienen. Doch die Erde wurde nicht ruhig.

Danach machte er vier weitere große Wesen und warf sie hinunter auf die Erde. Sie bohrten sich mit ihren Köpfen durch die Erde. Es waren Schlangen. Da wurde die Erde ganz ruhig und still.

Überliefert von den Winnebagos,
einem Siouxstamm

*

 

Indianer-Gebet

O Herr der Welt,
dir singe ich.
Alles blüht um mich her
und die Welt ist gesegnet und voll Freude.

Dir singe ich!
Wie glänzt jetzt der Tau!
Wie jubeln alle die bunten Vögel,
der Gesang der Zwitschernden tönt überall.

Alle singen dir zu Ehren,
dem Erschaffer des Alls, dir, der Gott ist.


30

Du allein
bist die Quelle des Gesanges,
denn das Lied wurde im Himmel geboren.
Im Himmel läßt seine Stimme strahlen
der liebliche Vogel der Götter,
und die heiligen Vögel jubeln im Wechselgesang
zum Preise des, der die Welt geschaffen.

Mein Herz hört die Stimmen, 
und ich will alle dunklen Schleier 
der Vergangenheit den Winden geben, 
damit auch mein Seufzen aufsteigt 
in den unendlich leuchtenden Himmel, 
hoch hinauf, und mitklingt, 
wo die gelben Kolibris singen 
zum Preise des Gottes im Himmel.

Ach, ich will nicht weinen auf Erden. 
Ach, ich weiß, was immer die Erde trägt, 
muß enden, wie hier unser Leben endet. 
Laß mich singen zu dir, du Grund des Alls, 
im Himmel möge meine Seele zu dir singen, 
daß du sie freundlich ansiehst, 
du, durch den wir leben.

(Aus Mexiko)

*

 

Ein Morgengebet der Indianer

Die Morgenröte kleidet 
sich in ihr Lichtgewand. 
Sie will Ehre erweisen 
dem Schöpfer der Menschen.

Der hohe Himmel
legt die Decke seiner Wolken
von sich. Er beugt sich
vor dem Schöpfer der Menschen.


31

Die Sonne,
die Königin unter den Sternen,
breitet ihre Strahlen aus
wie goldenes Haar.

Der Wind,
der über die Erde geht,
streichelt auf seinem Wege
die Wipfel der Bäume,
und wir hören ihn reden
in den Zweigen.

In den Bäumen
singen die Vögel
und bringen ihr Lied dar
dem Herrn der Erde.

Die Blumen
breiten ihre Farben aus
und ihren Duft.
Es ist herrlich, sie zu sehen.

So rühmt auch mein Herz
dich, meinen Vater,
bei jeder Morgenröte
aufs neue,
du, mein Schöpfer.

*

 

An die Allmutter Erde

 

Erde, du aller Mutter, du festgegründete, singen
Will ich von dir, uralte Nährerin aller Geschöpfe,
Die du alles, was im Meer und auf heiligem Boden,
Was in den Lüften lebt, ernährst mit quellendem Segen;
Du nur läßt sie gedeihen so reich an Kindern und Früchten.

Heilige Göttin, es steht bei dir, den sterblichen Menschen 
Leben zu geben, zu nehmen. O selig, wem du in Güte 
Segnend gewogen, in üppiger Fülle wird alles ihm blühen, 
Schwellende Saat bedeckt ihm alle Felder und reiche


32

Herden beweiden sein Land, sein Haus birgt Schätze in Menge. 
Und so herrschen sie denn in der Stadt voll lieblicher Frauen 
Mild nach rechtem Gesetz, begleitet von Segen und Reichtum. 
Jünglinge schreiten stolz in junger, blühender Freude, 
Jungfrauen spielen fröhlich in blütenumschlungenem Reigen 
Tanzbeseligt dahin auf den weichen Blumen der Wiese: 
Alle, die du gesegnet, du spendende, heilige Göttin.

Heil dir, Mutter der Götter, du Gattin des sternübersäten 
Himmels. Für meinen Gesang gewähre mir glückliches Dasein. 
Ich aber werde deiner und andrer Gesänge gedenken.

(Eine der »Homerischen Hymnen«)

*

 

Aus der Erde stammt alles und alles wird schließlich zu Erde.

Alles, was wird und wächst, aus Erde besteht es und Wasser.

Und aus Erde und Wasser sind wir auch alle geworden.

Quelle des Wassers ist die See und Quelle des Windes. 
Nie ja erhüb' sich der Hauch des wehenden Winds in den Wolken 
Ohne das Meer, das große; noch wären strömende Flüsse 
Noch der Regen des Himmels. Die Wolken, Winde und Ströme, 
Kinder sind sie des großen Meers, des mächt'gen Erzeugers.

Über die Erde schwingt sich empor die erwärmende Sonne.

(Xenophanes)

*

 

Über des Äthers Natur

 

Kennen wirst du des Äthers Natur und im Äther der Sterne 
Sämtliche Bilder, der Sonnenleuchte, der heiligen, reinen 
Sengende Wirkung und wie und woraus das alles geworden. 

Des rundäugigen wandelnden Mondes Natur und Verrichtung 
Wirst du verstehn und erfahren vom allumfassenden Himmel, 
Wie er entstand und wie der Notwendigkeit festes Gesetz ihn 
Zwang, den Lauf der Gestirne in sicheren Schranken zu halten.


33

Wie die Erde zu werden begann und der Mond und die Sonne,
Wie des Äthers Gewölbe und hoch am Himmel die Milchstraß',
Wie der fernste Olymp und die glühende Kraft der Gestirne.

Immer schaut er sich um, der Mond, nach den Strahlen der Sonne.

Erdumwandelnd erhellt er die Nacht mit geliehenem Lichte.

Je nachdem sich die Mischung vollzieht in den schwanken Organen,
Ist die Tätigkeit auch des menschlichen Geistes. Nichts andres 
Als der Organe Natur ja ist's, was denkt in den Menschen, 
Und zwar in allen und jedem. Was stärker, bestimmt den Gedanken.

Also entstand die Welt dem Wahne nach und so besteht sie 
Und wird fernerhin wachsen, um schließlich ein Ende zu nehmen.
Allen Erscheinungen gab der Mensch die bezeichnenden Namen.

Parmenides

*

 

Es war einmal

 

Es war einmal eine Zeit, da es zwar Götter gab, die Gattungen der lebenden Wesen jedoch noch nicht existierten. Als aber auch für diese die vom Schicksal bestimmte Zeit ihrer Entstehung gekommen war, da bildeten sie die Götter im Innern der Erde aus einer Mischung von Erde und Feuer und den Stoffen, die sich mit Feuer und Erde verbinden. 

Als sie dieselben nun ans Licht führen wollten, trugen sie dem Prometheus und Epimetheus auf, sie auszustatten und den Einzelnen ihre Fähigkeiten zuzuteilen, wie es sich gebührt. Epimetheus aber bat den Prometheus, diese selbst austeilen zu dürfen. »Wenn ich sie dann ausgeteilt habe«, sagte er, »so sieh nach!« Dieser gab seine Einwilligung, und Epimetheus teilte die verschiedenen Fähigkeiten aus. Dabei verlieh er den einen Geschöpfen Stärke, aber keine Schnelligkeit, die schwächeren dagegen stattete er mit Schnelligkeit aus; die einen rüstete er mit Waffen aus, für die anderen, deren Natur er wehrlos gemacht hatte, ersann er sonst ein Mittel, sich zu erhalten. 


34

Den Tieren, denen er eine kleine Gestalt geliehen hatte, teilte er Flügel zu, damit sie sich flüchten können, oder eine unterirdische Behausung; denjenigen aber, die er durch Größe bevorzugt hatte, gab er eben in dieser Eigenschaft das Mittel, sich zu erhalten. So suchte er auch sonst bei der Verteilung eine Ausgleichung herbeizuführen. Diese Maßregeln traf er in der Absicht, die gänzliche Vertilgung irgendeiner Art zu verhüten. Nachdem er die Gefahr gegenseitiger Ausrottung bei ihnen beseitigt hatte, gewährte er ihnen Schutzmittel gegen die Witterung der Jahreszeiten, indem er sie mit dichten Haaren und dicken Fellen bekleidete, die geeignet waren, die Kälte von ihnen abzuwehren, aber auch imstande, die Hitze von ihnen abzuhalten, und die zugleich jedem als seine eigene und natürliche Decke dienen sollten, wenn sie ihr Lager aufsuchten. Auch versah er an den Füßen die einen mit Hufen, die ändern mit harten, blutlosen Häuten. Ferner beschaffte er für jede Gattung wieder eine andere Art von Nahrung: für die eine Gras auf dem Felde, für die andere Früchte auf den Bäumen, für eine dritte Wurzeln; einigen wies er aber auch das Verzehren anderer Tiere als Nahrung an. Die einen richtete er so ein, daß sie nur wenige Junge zur Welt bringen, die ändern, die von diesen gefressen werden, so, daß sie zahlreiche Junge bekommen, wodurch er die Erhaltung der Gattung sicherte.

Da nun aber Epimetheus nicht eben sehr klug war, so merkte er nicht, daß er alle Fähigkeiten für die Tiere aufgebraucht hatte, während doch die Gattung des Menschen noch nicht ausgestattet war, und er wußte nicht, was er damit anfangen sollte. In dieser Verlegenheit traf ihn Prometheus, der kam, um nach der Austeilung zu sehen, und fand die übrigen Geschöpfe mit allem versorgt, den Menschen aber noch nackt und bloß, ohne Schuhe, ohne Lager, ohne jeglichen Schutz. Schon aber war der bestimmte Tag angebrochen, an dem auch der Mensch aus der Erde ans Licht treten sollte. Ratlos, welches Mittel man für die Erhaltung des Menschen erfinden könnte, stahl Prometheus die Kunstfertigkeit des Hephästos und der Athene samt dem Feuer — denn ohne Feuer konnte man sie sich unmöglich aneignen und sie nutzbar machen — und schenkte beides dem Menschen. So hatte nun der Mensch die für seinen Lebensunterhalt notwendige Kunstfertigkeit bekommen; die gesellschaftliche Organisation aber besaß er noch nicht. 


35

Denn diese war noch bei Zeus, und es war dem Prometheus nicht mehr möglich gewesen, in die Burg, die Zeus bewohnte, hineinzugelangen. Denn dort standen die schrecklichen Wachen des Zeus. In die gemeinsame Wohnung der Athene und des Hephästos aber, wo sie beide mit Liebe ihre Kunst betrieben, gelangte er unbemerkt, entwendete die mit dem Feuer arbeitende Kunst des Hephästos sowie die andere der Athene und verlieh sie dem Menschen. Infolgedessen gewann nun der Mensch die Möglichkeit, sein Leben vorteilhafter einzurichten; den Prometheus aber ereilte, wie es heißt, später die Strafe für seinen Diebstahl.

Nachdem der Mensch am göttlichen Eigentum Teil bekommen hatte, kam er fürs erste allein von allen lebenden Wesen auf den Glauben an Götter und begann Altäre und Götterbilder zu errichten; alsdann brachte er vermöge seiner Kunstfertigkeit bald die artikulierte Sprache und Wörter hervor und erfand Häuser, Kleider, Schuhe, Betten und die Herstellung seiner Nahrung aus den Erzeugnissen des Bodens. 

So ausgerüstet wohnten die Menschen anfangs zerstreut und hatten noch keine Städte. Sie wurden daher die Beute der wilden Tiere, weil sie durchweg schwächer als diese waren. Die handwerksmäßige Kunstfertigkeit genügte ihnen wohl zur Beschaffung ihrer Nahrung, zum Kampf gegen die wilden Tiere aber reichte sie nicht aus; denn noch kannten sie nicht die gesellschaftliche Organisation, von der die Kriegskunst ein Bestandteil ist. Sie suchten sich nun zu vereinigen und sich durch Gründung von Städten zu erhalten. Wenn sie sich aber vereinigten, fügten sie allemal einander Unrecht zu, da sie noch keine gesellschaftliche Organisation hatten, so daß sie sich abermals zerstreuten und dem Untergang entgegengingen. 

In der Befürchtung, unsere Gattung möchte ganz zugrunde gehen, sandte nun Zeus den Hermes, der den Menschen das sittliche Bewußtsein und das Rechtsgefühl brachte, damit geordnete Gemeinwesen entstünden und Bande der Freundschaft sie verknüpften. Hermes fragte den Zeus, in welcher Weise er sittliches Bewußtsein und Rechtsgefühl den Menschen verleihen solle. »Soll ich diese ebenso verteilen, wie die übrigen Fertigkeiten verteilt sind? Diese sind nämlich so verteilt, daß z. B. ein Mensch, der sich auf Medizin versteht, für viele Laien genügt, und so ist es auch bei den ändern Berufen. Soll ich nun das sittliche Bewußtsein und das Rechtsgefühl auch in dieser Weise unter die Menschen bringen oder es auf alle verteilen?« »Auf alle«, erwiderte Zeus, »alle sollen daran teilhaben; denn wenn, wie an den ändern Fertigkeiten, nur wenige Menschen daran teilhätten, so könnten keine Gemeinwesen bestehen. Ja gib in meinem Namen das Gesetz, daß man einen Menschen, der nicht fähig ist, das sittliche Bewußtsein und das Rechtsgefühl zu teilen, als einen Krebsschaden des Gemeinwesens vernichten soll.«

Protagoras

*


36

Über die Natur

 

Wieder anhebend betret' ich den früheren Pfad des Gesanges,
Den ich beschrieb; aus einem Satz leit' ab ich den andern.

Wenn in die unterste Tiefe des Wirbels der Haß sich gesenkt hat
Und in die Mitte des Strudels die Kraft der Liebe getreten,
Dann tritt alles in dieser zur Einheitsbildung zusammen,
Nicht zugleich; wie jegliches will, so erfolgt die Verbindung.

Während sich diese vollzog, entwich der Haß an die Grenze, 
Doch blieb vieles noch unvermengt inmitten der Mischung, 
Das dort schwebend der Haß festhielt; denn noch war er restlos 
Nicht entwichen und ganz an der Rundung äußerste Enden, 
Sondern er steckte noch teils in den Gliedern, teils war er entflohen.

Aber je mehr er enteilte, um so viel rückte der Liebe 
Sanfte, vollkommene Kraft vorwärts in göttlichem Drange. 
Rasch ward Vergängliches nun aus unvergänglichen Stoffen 
Und, was lauter zuvor, vermischte sich kreuzend die Pfade. 
Zahllos aus dem Gemenge ergossen sich irdischer Wesen 
Scharen in mancherlei Form und Gestalt, ein Wunder zu schauen.

 

Lass dir nun nennen die ersten und gleich ursprünglichen Stoffe, 
Draus dies alles ans Licht sich rang, was jetzt wir erblicken: 
Erde und wogende See, das Luftmeer feucht und der Äther, 
Der den gesamten Kreis der Welt, ein Titane, umklammert.

Wechselnd nun herrschen die Stoffe im Schwung des beständigen Kreislaufs. 
Und sie schwinden und wachsen im Wechsel nach fester Bestimmung.


37

Immerdar sind sie sie selbst. Doch durcheinander sich mengend
Lassen sie Menschen entsteh'n und Gattungen anderer Tiere,
Bald sich in Liebe vermählend zu einem geordneten Ganzen,
Bald wieder einzeln sich trennend, getrieben vom haß vollen Streite,

Bis zum All-Einen verwachsen sie wieder aufs neu unterliegen. 
Also, sofern sie aus Einem zu Mehrerem pflegen zu werden 
Und nach der Spaltung des Einen sich wieder in Mehreres teilen, 
Gibt es für sie ein Werden und ist nicht dauernd ihr Leben; 
Aber, indem sie sich fortgesetzt ändern, was nimmermehr aufhört, 
Bleiben unwandelbar doch sie im immerwährenden Kreislauf.

Sonne und Erde und Himmel und Meer; sie halten zusammen, 
Freundlich verbunden ein jedes in seinen verschiedenen Teilen, 
Ob sie gleich fern voneinander im irdischen Weltall erwuchsen. 
Ebenso ist, was irgend aus glücklicher Mischung entstammt ist, 
Liebend vereint, aneinander gepaßt von der Macht Aphrodites. 
Feindlich dagegen erscheint, was am weitsten getrennt voneinander 
Ist durch Ursprung und Mischung und ausdrucksvolle Gestaltung
Nimmer gewohnt, mit anderem sich zu verbinden, und elend 
Auf des Hasses Geheiß, der seine Entstehung bewirkt hat.

 

Komm, die Zeugen schau an, ob wahr, was ich bisher gesungen, 
Oder ob irgendwo sich ein Mangel an Formen ergeben! 
Sieh, wie die wärmende Sonne versendet die leuchtenden
Strahlen 
Und die unsterblichen Sterne erglüh'n in schimmerndem Glanze,
Wie das Gewässer dunkel und kühl in allem erscheinet 
Und aus der Erde sich drängen die festen, gediegenen Stoffe. 

All dies wogt noch im Zwist zwiespältig in wirren Gestalten, 
Doch in der Liebe dann zieht es sich an und wächst ineinander. 
Alles entsteht ja daraus, was war und was ist und was sein wird, 
Dinge verschiedenster Art: so bunt ist der Wechsel der Mischung.

Empedokles 

*


38

Sonne und Mond, Flüsse und Quellen, kurz alles, was unser Leben fördert, hielt man im Altertum für Götter um des Nutzens willen, der davon ausgeht, wie die Ägypter den Nil; und deshalb sah man im Brote Demeter, im Wein Dionysos, im Wasser Poseidon, im Feuer Hephästos und so weiter in allem brauchbaren eine Gottheit.

Prodikos

*

 

Germanische Göttersage

 

1

Gehör heisch' ich 
heil'ger Sippen,
hoher und niedrer 
Heimdallssöhne:
Du willst, Walvater, 
daß wohl ich künde,
was alter Mären 
der Menschen ich weiß.

2

Weiß von Riesen, 
weiland gebornen,
die einstmals mich 
auferzogen;
weiß neun Heime, 
neun Weltreiche,
des hehren Weltbaums 
Wurzeltiefen.

3

Urzeit war es, 
da Ymir hauste: 
nicht war Sand noch See noch 
Salzwogen, 
nicht Erde unten 
noch oben Himmel, 
Gähnung grundlos, 
doch Gras nirgend.

 

4

Bis Burs Söhne
den Boden hoben,
sie, die Midgard,
den mächtgen, schufen:
von Süden schien Sonne
aufs Saalgestein;
grüne Gräser
im Grund wuchsen.

5

Von Süden die Sonne,
des Monds Gesell,
schlang die Rechte
um den Rand des Himmels:
die Sonne kannte
ihre Säle nicht;
die Sterne kannten
ihre Stätte nicht;
der Mond kannte
seine Macht noch nicht. 

6

Zum Richtstuhl gingen
die Rater alle,
heil'ge Götter,
und hielten Rat:
für Nacht und Neumond
wählten sie Namen,
benannten Morgen 
und Mittag auch, 
Zwielicht und Abend, 
die Zeit zu messen.

 

7

Die Asen eilten 
zum Idafeld, 
die Heiligtümer 
hoch erbauten; 
sie setzten Herde, 
hämmerten Erz; 
sie schlugen Zangen, 
schufen Gerät. 

8

Sie pflogen heiter 
im Hof des Brettspiels — 
nichts aus Golde 
den Göttern fehlte —, 
bis drei gewaltge 
Weiber kamen, 
Töchter der Riesen, 
aus Thursenheim. 

9

Zum Richtstuhl gingen die Rater alle, heiige Götter, und hielten Rat, wer der Zwerge Schar schaffen sollte aus Brimirs Blut und Blains Knochen.

 

10 Motsognir ward der mächtigste da aller Zwerge, der zweite Durin; die machten manche menschenähnlich, wie Durin es hieß, die Höhlenzwerge.

11  Bis drei Äsen aus dieser Schar, stark und gnädig, zum Strand kamen: sie fanden am Land, ledig der Kraft, Ask und Embla, ohne Schicksal.

12  Nicht hatten sie Seele, nicht hatten sie Sinn, nicht Lebenswärme noch lichte Farbe; Seele gab Odin, Sinn gab Hönir, Leben gab Lodur und lichte Farbe.

13  Eine Esche weiß ich,
sie heißt Yggdrasil,
die hohe, benetzt
mit hellem Naß:
von dort kommt der Tau,
der in Täler fällt;
immergrün steht sie
am Urdbrunnen.

Aus der Edda

*

39


40

Die Bewegung der Elemente kommt von der Sonne.
Die Wärme des Weltalls wird erzeugt durch die Sonne.
Das Licht und die Wärme des Weltalls kommen von der Sonne,
seine Kälte und Finsternis von der Entziehung der Sonne.
Jede Bewegung der Elemente kommt von der Wärme und Kälte.
Schwere und Leichtigkeit werden erzeugt in den Elementen.

Leonardo da Vinci

*

Was machst du an der Welt? Sie ist schon gemacht,
Der Herr der Schöpfung hat alles bedacht.
Dein Los ist gefallen, verfolge die Weise,
Der Weg ist begonnen, vollende die Reise:
Denn Sorgen und Kummer verändern es nicht,
Sie schleudern dich ewig aus gleichem Gewicht.

Johann Wolfgang von Goethe
Aus dem West-östlichen Divan

*

 

Weltseele

Verteilet euch nach allen Regionen
Von diesem heil'gen Schmaus!
Begeistert reißt euch durch die nächsten Zonen
Ins All und füllt es aus!

Schon schwebet ihr in ungemeßnen Fernen
Den sel'gen Göttertraum
Und leuchtet neu, gesellig, unter Sternen
Im lichtbesäten Raum.

Dann treibt ihr euch, gewaltige Kometen, Ins Weit' und Wehr* hinan.
Das Labyrinth der Sonnen und Planeten Durchschneidet eure Bahn.

Ihr greifet rasch nach ungeformten Erden
Und wirket schöpfrisch jung,
Daß sie belebt und stets belebter werden,
Im abgemeßnen Schwung.


41

Und kreisend führt ihr in bewegten Lüften
Den wandelbaren Flor
Und schreibt dem Stein in allen seinen Grüften
Die festen Formen vor.

Nun alles sich mit göttlichem Erkühnen Zu übertreffen strebt;
Das Wasser will, das unfruchtbare, grünen, Und jedes Stäubchen lebt.

Und so verdrängt mit liebevollem Steiten
Der feuchten Qualme Nacht!
Nun glühen schon des Paradieses Weiten
In überbunter Pracht.

Wie regt sich bald, ein holdes Licht zu schauen,
Gestaltenreiche Schar,
Und ihr erstaunt auf den beglückten Auen
Nun als das erste Paar,

Und bald verlischt ein unbegrenztes Streben
Im sel'gen Wechselblick.
Und so empfangt mit Dank das schönste Leben
Vom All ins All zurück.

Johann Wolfgang von Goethe

*

Was wär ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,
So daß was in Ihm lebt und webt und ist,
Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt.

Johann Wolfgang von Goethe

41

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  Herbert Gruhl (Herausgeber) Glücklich werden die sein....  Zeugnisse ökologischer Weltsicht  aus vier Jahrtausenden