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3. Was passiert im Kriegsfall?

 

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Anfang der siebziger Jahre begann mich die Frage zu beunruhigen, daß doch die Atomkraftwerke in einem Krieg auch in die Ereignisse einbezogen würden, und das schon für den Fall eines ganz normalen — heute sagt man »konventionellen« — Krieges. 

Es mag 1974 gewesen sein, als ich den damaligen verteidigungs­politischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Manfred Wörner, darüber befragte. Er antwortete ausweichend, daß doch der Gegner seinen Beschuß auf militärische Ziele konzentrieren würde.

Die Antwort befriedigte mich gar nicht, aber ich hatte ohnehin schon viele Zweifelsfragen bezüglich unserer Politik und wußte nicht, welcher man zuerst nachgehen sollte. Später hörte ich dann von einer Kommission unter Carl Friedrich von Weizsäcker, dem Physiker, welche der Bundesregierung die Empfehlung gegeben hatte, »die Verträglichkeit der Errichtung zahlreicher Reaktoren mit unserer militärischen Strategie zu überprüfen«.

So griff ich diesen Punkt in der großen Atomdebatte am 22. Januar 1976 auf:

»Nun erlauben Sie mir noch ein Wort über die verteidigungspolitischen Aspekte der Kernkraft­werke. Diese Aspekte sind bis vor kurzem offiziell überhaupt nicht beachtet worden. Von anderen Seiten liegen aber so viele Untersuchungen vor, daß nur noch ein Blinder daran vorbeigehen kann. Ein potentieller Angreifer kann gegen die Bundesrepublik einen Atomkrieg mit konventionellen Waffen führen. 

Er braucht nur einige Kernkraftwerke durch großkalibrige Geschosse oder Bomben zu zerstören, wie es heute auch Herr Haenschke schon anführte. Damit setzt er die Radioaktivität über ganze Landstriche frei. Man wird einem solchen Gegner gar nicht vorwerfen können, daß er einen Atomkrieg führt. Ja, er wird behaupten können, daß es sich um unbeabsichtigte Treffer handle. Infolgedessen helfen auch keine internationalen Verträge, wie sie die Bundesregierung in ihrer Antwort in Aussicht stellt. [Von solchen Verträgen hat man nie etwas gehört.]

Meine Damen und Herren, ein beratender Ausschuß des Bundesministers für Forschung und Technologie hat um die Jahreswende festgestellt — ich zitiere: <Die Verträglichkeit der Errichtung zahlreicher Reaktoren mit unserer militärischen Strategie ist zu überprüfen.>

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Ich frage die Bundesregierung: 

Wann soll denn diese Überprüfung beginnen? Wenn die 50 Kern­kraftwerke gebaut sind? Und wenn die Überprüfung ergibt, daß sich diese Werke mit der militärischen Strategie nicht vertragen, sollen sie dann wieder abgerissen werden? So dicht besiedelte Räume wie die der Bundesrepublik Deutschland mit einigen Dutzend Kernanlagen zu überziehen, heißt nach meiner Ansicht, unser Land verteidigungsunfähig zu machen.«

Auf diese schwerwiegende Frage ist weder die Regierung noch eine Partei, noch die Presse eingegangen. Ich war ja 1976 schon als Außenseiter bekannt, und man wußte, daß die CDU/CSU-Fraktion nicht hinter mir stand. Ich hatte schon damals als einziger den Antrag meiner Fraktion zugunsten der Stationierung von Neutronenwaffen abgelehnt.

Ich schloß meine Ausführungen in obiger Debatte u.a. mit folgenden Sätzen:

»Das Kernenergieprogramm der Bundesregierung ist aus Gründen der Sicherheit, der Wirtschaft sowie wegen allgemeiner politischer Bedenken nicht zu verantworten und finanziell unvertretbar. Die Bundesregierung sollte dieses Programm sofort zurückziehen und während des Moratoriums neu überdenken.«

Ich bin dann am 28. Februar 1980 wieder auf dieses Thema im Bundestag eingegangen:

»Tatsache ist, daß mit der Kriegsgefahr auch die Gefährlichkeit der Atomkraftwerke in unserm Lande steigt. Dies hat sogar der nordrhein-westfälische Minister Farthmann bereits vor Jahren geäußert, als er Zweifel anmeldete, ob ein mit Atomkraftwerken bestücktes Land überhaupt verteidigungsfähig sei. Dennoch genehmigt er selbst weiterhin solche Werke. 

In einer gefährdeten Welt muß die Bevölkerung um so mehr gegen die Atomkraftwerke sein, als sich diese Werke auch in konventionellen Konflikten als Bomben [bei ihrer Zerstörung] auswirken können und ganze Landstriche hier in unserem dichtbesiedelten Mitteleuropa menschenleer zu machen drohen bzw. die Evakuierung der Bevölkerung erzwingen.«

 

In der Hauptstadt Bonn war dieses Thema auch unter der Regierung Schmidt tabu. Der einzige, der es einmal aufgegriffen hat, war der CDU-Abgeordnete Mertes, der 1985 als Minister plötzlich starb. Er hatte im September 1977 gefragt:    wikipedia  Alois_Mertes 

»Hält die Bundesregierung es für möglich, daß der Betrieb von Kernkraft­werken auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland ein Umdenken in der strategischen Planung der NATO insofern notwendig macht, als die bei einem — zwar unwahrscheinlichen, aber führbaren und insofern denkbaren — konventionellen Angriff des Warschauer Pakts drohende Vernichtung derartiger Anlagen und die damit verbundene Freisetzung atomaren Zerstörungspotentials auf jeden Fall eine Situation schaffen würde, die den Übergang zu einer Auseinander­setzung mit taktisch-nuklearen, dann strategisch-nuklearen Waffen im Ergebnis erheblich wahrscheinlicher macht, d.h. mit anderen Worten, daß ein solcher konventioneller Angriff per se nichtkonventionelle Folgen hervorrufen muß?«

Darauf hatte damals der parlamentarische Staatssekretär von Bülow u.a. geantwortet, daß ausgesuchte schwere konventionelle Waffen oder atomare Waffen so eingesetzt werden könnten, daß sie die Beton- und Stahlhüllen durchschlagen und die Werke zerstören würden. Damit würde das radioaktive Potential freigesetzt, wie von Bülow zugab.

In der Antwort der Bundesregierung hieß es dann wörtlich:

»Es muß jedoch als wenig wahrscheinlich beurteilt werden, daß der potentielle Gegner — in der Absicht, die Bundesrepublik Deutschland zu besetzen, um deren Wirtschafts­potential möglichst unbeschädigt zu nutzen — mit sehr hohem Aufwand versuchen wird, Kernkraftwerke bevorzugt anzugreifen, um durch Freisetzung radioaktiver Substanzen eine Geländeverstrahlung zu erzielen.«

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Indem ich mich auf diese Antwort bezog, fragte ich im Deutschen Bundestag am 3. Juli 1980:

»Was geschieht aber, wenn die NATO-Strategie des Roll back funktioniert und der Gegner zum Rückzug gezwungen wird? Der Gegner dürfte bei einer gescheiterten Eroberung überhaupt kein <Interesse> mehr daran haben, daß das Wirtschaftspotential der Bundesrepublik unbeschädigt bleibt. Er könnte dann beim Rückzug gerade mit konventionellen Waffen atomare Anlagen zerstören und so große Landstriche verwüsten.

In der Antwort der Bundesregierung an Mertes heißt es dann weiter: <Eine Zerstörung eines Kernkraftwerkes mit der Freisetzung radioaktiver Substanzen, die ein bestimmtes Gebiet verstrahlen würden, hätte für die militärische Führung keinen entscheidenden Einfluß auf die Auftragserfüllung, da die Streitkräfte in Ausbildung und Ausstattung ohnehin auf Bewegungen in verstrahlten Gebieten eingestellt sind.> 

Der versteckte Zynismus dieser Antwort ist unüberbietbar. Auf die Zivilbevölkerung wird nicht ein einziger Gedanke verschwendet. Andernfalls hätte man nämlich sofort feststellen müssen, daß kaum ein Bürger dieses Landes ausgebildet oder entsprechend ausgestattet ist, um sich im verstrahlten Gelände zu bewegen. Ich persönlich habe sogar große Zweifel, ob alle Truppenteile der Bundeswehr so ausgestattet sind - wie behauptet wurde -, daß sie sich in verstrahlten Gebieten bewegen können.

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Viel wichtiger als diese strategischen Überlegungen ist aber die bleibende radioaktive Verseuchung des Landes auch nach der Beendigung von Kampfhandlungen, und zwar auf eine nicht abschätzbare Zahl von Jahren

Erwähnen möchte ich noch, daß der sowjetische Marschall Gretschko in einer Studie, die vom US-Senatskomitee für Justiz veröffentlicht wurde, Nuklearreaktoren in Deutschland als dritte von fünf Zielkategorien für sowjetische Raketen angibt. 

Nun kann sich diese Zielprojektion geändert haben; sie kann sich auch künftig ändern. 

Das eine aber dürfte feststehen: Daß eine von atomaren Anlagen überzogene Bundesrepublik Deutschland verteidigungsunfähig ist, selbst in einem begrenzten Krieg mit konventionellen Waffen.

Es war sicherlich nicht die Aufgabe der Enquete-Kommission, auch die verteidigungspolitischen Aspekte ihrer Vorschläge zu untersuchen.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Kommt noch!) 

Aber es ist die Aufgabe der Bundesregierung und des Bundestags, alle und somit auch diese gefährlichsten Aspekte einer deutschen Energiepolitik voll in Rechnung zu stellen.

Ich stehe nicht allein mit der Auffassung, daß bereits die Gefahr der langfristigen Unbewohnbarkeit unseres Landes genügt, das vorliegende Kernenergieprogramm abzulehnen, in diesem Falle den Pfad 1 und den Pfad 2.

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(Breidbach [CDU/CSU]: Schlimm, daß hier solche Horrorgeschichten erzählt werden können!)

Wir sind längst noch nicht am Ende der Auseinandersetzung über die Kernenergie und über die Zukunft dieses Landes angelangt, eher am Anfang.

Ich habe in diesem Hause meine Beiträge dazu zu leisten versucht. 

Da dies voraussichtlich meine letzte Rede von dieser Stelle ist, bedanke ich mich bei den Präsidentinnen und Präsidenten dafür, daß ich als fraktionsloser Abgeordneter eine faire Behandlung erfahren habe. 

Ich bedanke mich auch bei den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen dafür. Ich verabschiede mich mit einem Wort des von mir verehrten Dichters Rainer Maria Rilke: >Sei allem Abschied voran!<«

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Das war der letzte Warnruf, den ich im Deutschen Bundestag vorbringen konnte. Meine längst gehegte Befürchtung war eingetroffen und die Bundesrepublik zu einem immer dichteren atomaren Minenfeld geworden.

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In meinem Kampf erhielt ich später Schützenhilfe von ganz unerwarteter Seite. Im November 1981 erklärte der Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IEAO), Sigvard Eklund, vor der UNO in New York, daß man »die schreckliche Möglichkeit« nicht ausschließen sollte, daß ein bewaffneter Konflikt zivile Nukleareinrichtungen erfassen könnte; er schaudere allein bei dem Gedanken an die Konsequenzen von Angriffen auf nur einen der gegenwärtig vorhandenen 260 Kernkraftreaktoren oder einen der 300 atomaren Forschungsreaktoren.

Letzten Endes bestätigte der Präsident der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften Anfang März 1985 diese Horrorvision, als er unverblümt darauf hinwies, daß unsere Kernkraftwerke leicht durch sowjetische Raketen zerstört werden könnten. Er wollte mit dieser Drohung ausdrücklich sagen, daß die Sowjetunion damit sehr wohl auf die amerikanischen Weltraumwaffen reagieren könne, indem sie Europa mittels unserer eigenen Atomanlagen verwüste. 

Das bezieht sich auch auf Frankreich, wo inzwischen ein Wahnsinnsprogramm erfüllt worden ist. Der Herr Präsident Mitterrand braucht nur einen Sprengkopf auf die Sowjetunion abzufeuern, und sein Land verschwindet im atomaren Dampf mit Mann und Maus als erstes und danach die übrigen Länder Europas mit.

Die Bundesrepublik Deutschland kann in eine solche Versuchung nicht kommen, aber mit Atomreaktoren ist unser Land auch längst überdicht vermint

Doch das scheint unserer Selbstmordgesellschaft offensichtlich noch nicht zu genügen ...

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Karte Nordamerika   ....40-41    

Karte  Sowjetunion (Rußland)  ....42-43

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Herbert Gruhl Der atomare Selbstmord Mit 10 Abbildungen und Karten