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3.  Verzweifelte und glückliche Jahre 

  Gruhl-1987

 

   Student im blockierten Berlin  

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Für den Herbst 1947 galt es dann, einen Studienplatz zu ergattern. Dafür waren in der sowjetisch besetzten Zone besondere Voraussetzungen erforderlich, die ich nicht erfüllte — ebensowenig wie ich die des <Dritten Reiches> erfüllt hätte. Nur ein unverdienter Vorteil fiel mir jetzt zu: ich zählte zu denen, die als <Arbeiter- und Bauernkinder> klassifiziert wurden. Das reichte zwar in Leipzig und in Jena auch nicht zur Immatrikulation, wohl aber an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin. Dennoch gab es auch dort noch einen Monat lang Nervenkrieg, bevor ich am 21. November meinen Namen am schwarzen Brett fand, während die Vorlesungen in den dürftig ausgebesserten Ruinen <Unter den Linden> schon Mitte Oktober begonnen hatten. 

Da man grundsätzlich Zimmer in den Westsektoren beziehen durfte, mietete ich eines im Zentrum von Neukölln. Die heute völlig unverständlichen Schwierig­keiten beschrieb ich in einem Brief: 

»Eine vorläufige Wohnberechtigung bis Ende Oktober bekam ich am Donnerstag nicht, da vor Genehmigung des Antrages der Oktober verstrichen wäre. Statt dessen bekam ich bis 31. eine sogenannte Überbrückungsverpflegung, das heißt, ich muß täglich in der Zeit von 12-15 oder 16.30-18 Uhr zu einem Gebäude hier in Neukölln, etwa eine halbe Stunde von meiner Wohnung, um dort ein Eintopf essen und ein Pfund Brot zu empfangen.

Von dem Eintopfessen gibt es drei Teller, so daß man satt wird. Es ist auch nicht schlecht. Ab und zu soll es dort auch Fett und Zucker geben, alles zusammen kostet 75 Pfennig je Tag. Alle, die die Zuzugsgenehmigung nach Berlin noch nicht haben, müssen sich damit begnügen... Meine Wirtin hat es endlich so weit gebracht, daß ich bei ihr bleiben darf, aber nur bis Mitte November, denn dann werden ihr wieder andere Leute zugewiesen. Außerdem kann ich nicht täglich von der Universität zu diesem Essen fahren, denn gerade um diese Zeit liegen die Vorlesungen, und ich benötige zwei Stunden, bis ich von dort wieder zurück bin. Mit diesem Essen komme ich auch nicht aus und muß von meinen Vorräten leben, die nur in Brot und Mehl unerschöpflich sind, es fehlen mir vor allem Kartoffeln, davon habe ich nur 800 Gramm in Marken, und die Wirtin hat ihre Einkellerungskartoffeln noch nicht erhalten. 

Aus diesen Gründen holte ich mir gestern bei der Universität eine vorläufige Bescheinigung, daraufhin beim Magistrat eine neue vorläufige Aufenthaltsgenehmigung und reichte diese mit vielen anderen Papieren beim Wohnungsamt ein, das sich nach vielem Widerstreben herbeiließ, einen Antrag auf Wohnberechtigung vom 1.-20. November entgegenzunehmen, worüber bis Mittwoch entschieden werden soll. Wird er genehmigt, bekomme ich nach einigen weiteren Bescheinigungen, wie Arbeitsamt usw., für zwei Dekaden Lebensmittel. Nach der endgültigen Zulassung wird dann die ganze Sache wiederholt. Bis 31. muß ich noch die Überbrückungsverpflegung beziehen. Wird der Antrag abgelehnt, dann muß ich bis spätestens 9. 11. in Gnaschwitz sein, um dort noch eine Lebensmittelkarte für November zu erhalten und die Lebensmittel dort kaufen zu können. Bis dahin würden auch meine Fett- und anderen Vorräte aufgebraucht sein.« 

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Es sind jedoch sicher nicht diese äußerlichen Widerwärtigkeiten gewesen, die mich im ersten und zweiten Berliner Winter oft in tiefe Nieder­geschlagenheit fallen ließen. Ich zweifelte vielmehr am Sinn des ganzen Geschehens und am Sinn des Studiums. Auf ein bestimmtes Berufsziel vermochte ich mich nicht festzulegen. Bezeichnend ist ein Brief an meine Marianne: 

"Gerade dadurch, daß ich viel mehr überblicke, kommen mir viel stärkere Zweifel, und ich kann nicht mit solcher Naivität und solchem Fleiß, der möglichst viel auswendig lernt, an die Dinge herangehen. Meine Vorzüge werden mir aber alle nichts nützen, wenn ich nicht ein eigenes Gebiet finde, in dem ich mich rückhaltlos und mit Begeisterung betätigen kann. Ich hoffe ja, dieses zu finden, aber allzuviel Zeit habe ich in meinem Leben nicht mehr. Und daß alles, was ich erreichen kann, nur einen relativen Wert hat, diese Vorstellung wird mich nie mehr verlassen, und es fragt sich, ob jemand, der schon so früh zu diesem Stadium gelangt ist, noch etwas leisten kann."

Ein Jahr später schrieb ich dann: 

"Das einzige, wozu ich noch Neigung habe, das ist die Philosophie, aber nicht, weil ich durch sie noch den Stein der Weisen zu finden hoffe, sondern um auch das Letzte und Höchste einmal durchzudenken, was über die Welt und das Leben gedacht worden ist. Leider kann man damit nicht sein Brot verdienen; ich glaube schon, ich bin zu keinem Berufe mehr fähig." 

Eine Ahnung von der damaligen Krise meines Lebens und ihren Gründen vermag auch folgender Brief zu vermitteln: 

"Ich las heute in einem Buch zu dem Thema des Schillerschen Gedichts <Das verschleierte Bild zu Sais> folgendes: 

<Welches Ziel könnte ein Sterblicher sich setzen, von dem nicht mit voller Sicherheit feststünde, daß es in kürzester Frist werde unter­gegangen sein! Und er selbst, der Ziele Setzende und Strebende — über ein kleines ist er bewußtloser Staub. Oder Sorge für die Familie, für die Kinder? Auch Kinder und Kindeskinder werden zu Staub, und das größte Vermögen von heute ist morgen ein Raub der Motten und des Rostes. 

Oder Beglückung und Verbesserung der Menschheit? Aber wozu? Das Unglück, das war, wird dadurch nicht mehr abgewendet, die Kommenden aber werden verfluchen und als Fessel zerreißen, womit die Gegenwärtigen sie zu beschenken dachten. [Genau das ist — keine zwanzig Jahre später — unter anhaltenden Tumulten an der Freien Universität Berlin geschehen.] 

Ja, Leid und Not sind seit fünftausend Jahren in der Menschheit unermeßlich gewachsen! Und wäre es selbst anders: Diese ganze Menschheit wird eines Tages nicht mehr vorhanden sein! Und mit ihr werden ausgelöscht sein alle menschlichen Meisterwerke, auch die Pyramiden, auch die Gesänge Homers, und die Tondichtungen Beethovens.  

Oder Naturschutz treiben? Man wird die Reservate in höchstens zwei Menschenaltern kapitalisieren. [Das ist jetzt im Gange.] 

Und wäre es noch anders: Alles Leben wird dereinst auf der Erde erlöschen, die Erde selber wird vermutlich in die Sonne stürzen und dort verbrennen oder denn auf andere Weise untergehen. 

Diese Erkenntnis genügte dem Jüngling bei Schiller, um tot umzufallen. Dieses Ende wird jeder finden, der sich den Fürwitz des eigenen Verstandes zum Führer erkor, statt ihn der Gottheit zu opfern. Aber wo ist heute ein Glaube unanfechtbar und stark genug, uns zu stützen und zu führen?... Ich muß mich mit vielen Dingen beschäftigen, von denen ich weiß, daß sie mir keine neue Erkenntnis bringen werden; nur um einen Lebensunterhalt zu haben. 

Unsere Kultur ist heute so beschaffen, daß wir uns abhetzen müssen, die umfangreiche materielle Grundlage zu schaffen, die wir gewöhnt sind, vom Leben zu fordern (und die ist bei mir leider auch schon hoch und für mich fast unverzichtbar), zum wirklichen Leben kommen wir kaum noch.>"

Ich weiß nicht, in welchem Buch ich diese hellsichtigen Worte gelesen habe; jedenfalls fand ich sie so bezeichnend für meine Gedankengänge, daß ich sie meiner Braut geschrieben habe. Dann gerieten sie in Vergessenheit.

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Berlin war damals ein Ruinenfeld mit kleinen und großen Unterbrechungen, in denen viele Menschen herum­krabbelten. Woher sollte da ein frohes Lebensgefühl aufkommen? Ich litt wiederholt unter tiefer Depression. Andererseits befand ich mich voll im Einklang mit dem Verteidigungskampf der Berliner. Ich schrieb am 28. Juni 1948 an Marianne: 

»Du wirst wohl schon bemerkt haben, daß Berlin jetzt der Mittelpunkt der Weltpolitik geworden ist. Auf die getrennte Währungsreform hin wurde der Güterverkehr mit dem Westen eingestellt, die Stromlieferungen aus der Zone stark eingeschränkt. Da ich nun zufällig im amerikanischen Sektor wohne, habe ich auch kein Licht mehr. Die Nahrungsmittelvorräte für die Westsektoren reichen dreißig Tage, dann wird die Sache kritisch, wenn man sich nicht inzwischen einigt.«

Schließlich wurde Berlin über die Luftbrücke schlecht und recht versorgt. Da Neukölln im Bereich der Flugschneise lag, donnerten uns nun die Flugzeug­motoren Tag und Nacht in den Ohren. Doch niemand klagte darüber, da sie den erfolgreichen Widerstand ermöglichten. Den folgenden Blockadewinter 1948/49 mit seinen Stromsperren, kalten Räumen und dürftiger Kost überstanden die Berliner geradezu in einer Woge der Begeisterung für die noch junge Freiheit. Dabei lebten die Menschen bereits im zehnten Jahr von zugeteilten Nahrungsmitteln, wobei die Portionen immer schmäler geworden waren.

Wir Studenten gehörten überwiegend zu einer Generation, die sich nach den Strapazen des Krieges durchweg mit dankbarem Eifer auf das Studium stürzte. Schließlich gingen damit alte Träume in Erfüllung, was wir auf den Kriegsschauplätzen gar nicht mehr zu hoffen gewagt hatten. Aber gegen neue politische Zwänge reagierten wir empfindlich. Darum eskalierten die politischen Auseinandersetzungen an der Humboldt-Universität sehr bald; denn dort sollte nach dem Willen der sowjetischen Besatzungsmacht die kommunistische Gesellschaftslehre zur Grundlage jeder Wissenschaft gemacht werden.

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Der Widerstand dagegen hatte in den drei Westsektoren, aus denen viele Studenten kamen, einen weitaus festeren Rückhalt als an den Hochschulen der »Ostzone«, wie man sie damals nannte. Dennoch wurde die Durchsetzung der freien Lehre auch in Ostberlin bald aussichtslos. So wurde von Professoren und Studenten bereits im Herbst 1948 die Freie-Universität-Berlin aus dem Nichts heraus gegründet. An meinem Wechsel dorthin bestand kein Zweifel, zumal meine Prognose, daß die Sowjetunion in den von ihr besetzten Gebieten nur ihr System dulden würde, sich voll bestätigt hatte. Obwohl meine Meldung für das erste Semester der Freien Universität zu spät gekommen war, besuchte ich schon viele Vorlesungen in Dahlem. Dort ging alles sehr improvisiert vor sich, aber das war innerhalb der Ruinen der Humboldt-Universität nicht anders gewesen. 

Mit der getroffenen Entscheidung stellte sich auch mein inneres Gleichgewicht langsam wieder ein. Es nahte ja auch der Frühling, in dem ich mir vorge­nommen hatte, aus den grauen Mauern Neuköllns in einen der grünen Vororte zu flüchten. Nach langem Suchen fand ich tatsächlich ein preisgünstiges Zimmer im schönsten Teil Berlins, in Nikolassee, nahe der Rehwiese, unweit vom Wannsee und vom Schlachtensee. Dort hat die Vermieterin, Fräulein Else Schlenker, fast wie eine Mutter für mich gesorgt. In ihrem idyllischen Häuschen verlobte ich mich endlich mit Marianne am 22. Oktober 1949, meinem 28. Geburtstag. Die Erinnerung an unsere Brautzeit bleibt mit der Pracht der Gärten, dem Duft der Kiefernwälder und dem Glanz der Seen um Berlin verbunden.

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Nach ungezählten Fahrten zwischen Bautzen und Berlin kamen wir überein, trotz aller vor uns liegenden Ungewißheiten zu heiraten. Auch Mariannes Tätigkeit an der Berufsschule stand unter dem Zwang der politischen Gleichschaltung. Welche Selbstentäußerung da fortwährend verlangt wurde, kann nur begreifen, wer das einmal durchstehen mußte. Und mich freute es natürlich, daß meine Braut ihre Zukunft nur bei mir sah. So wurde denn am 2. September 1951 eine große ländliche Hochzeit in der Heimat gefeiert. Wir hatten uns diesen Tag als festlichen Höhepunkt unseres Lebens ausgedacht, und er ist es wohl auch bis heute geblieben.

In acht pferdebespannten »Landauern« fuhren wir in die sechs Kilometer entfernte Kirche zu Göda, wo meine Braut schon konfirmiert worden war. Wir hatten bereits Verspätung, als ich auf halbem Wege entdeckte, daß ich die Eheringe zu Hause liegen gelassen hatte — was nun? Ich gab einem jugendlichen Radfahrer Geld und gute Worte, damit er in Techritz anrief, um den Nachbarn zu bitten, die Ringe schnell per Fahrrad nachzubringen. Kurz vor der Kirche kam der Bote atemlos angespurtet. Zur Trauung kamen wir so mit vierzig Minuten Verspätung, während ich doch mein Leben lang zu Terminen höchst pünktlich eingetroffen bin. Dem weiteren Fest, das sich wie üblich über zwei Tage erstreckte, tat das jedoch keinen Abbruch; wir waren alle vergnügt zu einer Zeit, die noch so dürftige Lebensbedingungen bot, daß sie nur besser werden konnten. 

Das Glück zeigte sich unserer jungen Ehe von der besten Seite. Wir hatten in einer schloßartigen Villa am Großen Wannsee eine möblierte kleine Mansarden­wohnung zu günstigem Mietpreis gefunden. Ein parkähnlicher Garten reichte bis zum Seeufer, und der Blick ging aus unserem Rundfenster über Wannsee und Havel hinweg. Wenn die Sonne jenseits der weiten Wasserfläche über Kladow niederging, dann warfen die gekräuselten Wellen die Sonnen­strahlen als tänzelndes Geflimmer in unsere erste gemeinsame Heimstatt. Und ich erinnere mich auch gern an den Mondesglanz im schimmernden Wasser.

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Es war so, wie ich es mir in jugendlichen Träumen ausgemalt hatte: ein Haus am See, inmitten uralter schattiger Bäume, in denen nun sogar hin und wieder eine Nachtigall schlug. Wären nicht die unablässigen Sorgen um unseren Lebensunterhalt gewesen, dann hätte man von einer seligen Insel sprechen können. Zur Insel wurde das ganze westliche Berlin zu Pfingsten des Jahres 1952 erneut. Es gab plötzlich keine Ausreise mehr in die Umgebung, die sich inzwischen <Deutsche Demokratische Republik> nannte. Und damit war uns die Heimat in der Oberlausitz verschlossen. Doch immerhin durften unsere Verwandten noch zu uns reisen, und sie unterstützten uns auch sonst, wo sie nur konnten. 

Es war die Zeit des Flüchtlingsstromes nach West-Berlin, der besonders nach der Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 anschwoll. Ich prophezeite in jenem Jahr meiner Schwester: Die DDR wird eines Tages einen Stacheldrahtzaun um West-Berlin ziehen, mit Wachtürmen und Posten, genauso wie um ein Gefangenenlager. Sie meinte nur, ich sei wohl verrückt. Nach acht Jahren war es soweit. Und nach weiteren zehn Jahren wurde dieser Zustand als »normal« durch Verträge besiegelt. 

War es schon ein Wagnis gewesen, ohne Mittel ein Studium zu beginnen, so war die Heirat ein zweites. Das Vertrauen meiner Frau zu mir muß grenzenlos gewesen sein. Sie sorgte nun auch für die materielle Seite, indem sie kurzerhand eine Arbeit in der Küche samt Reinigung bei einer großen Firma annahm, da ihre Lehrerausbildung vor Kriegsende nicht abgeschlossen werden konnte. Ich hatte mich aus reiner Neigung dem Studium der deutschen Literatur, der Geschichte und der Philosophie verschrieben. Das vage Berufsziel des Bibliothekars aber erkannte ich bald als bürokratische Sackgasse, und die vorgesehene Ausweichmöglichkeit zum Studienrat hin betrachtete ich inzwischen mit zunehmender Abneigung.

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Ich kann nicht behaupten, jemals in ein ausgesprochenes Schülerverhältnis zu einem der Professoren geraten zu sein. Am meisten mag mich wohl der Philosoph Hans Leisegang beeindruckt haben; doch er starb 1951 mit einundsechzig Lebensjahren ganz plötzlich. Als umfassend gebildeten Kenner vorhochdeutscher Literatur schätzte ich Helmut de Boor und für die neuere Literatur Hermann Kunisch, der schon zu jener Zeit all das mit abgrundtiefer Skepsis behandelte, was sich im Namen von Aufklärung und materialistischem Fortschritt breitzumachen beliebte. 

Aus reiner Lust an schwierigen Problemen war ich dann wohl auch auf das Dissertationsthema »Hugo von Hofmannsthal« verfallen. Dessen Selbstbetrachtung ad me ipsum hatte in einem Seminar eine Auslegung erfahren, die mich innerlich empörte. Was mich mit des Dichters Werk verband, war die vorwegnehmende Phantasie, die ein kommendes Ereignis schon so intensiv »erlebt«, daß dessen realer Ablauf nur als enttäuschender Nachklang empfunden wird. Ich fand mich selbst in Hofmannsthals Satz wieder: »Die Umstände haben weniger Gewalt, uns glücklich oder unglücklich zu machen, als man denkt; aber die Vorwegnahme zukünftiger Umstände in der Phantasie eine ungeheure.« 

Dahin gehört, daß ich Furcht immer nur vor einem Ereignis kannte und daß sie völlig verflog, sobald die Situation des Handelns gekommen war. Dies hatte ich gerade im Krieg viele Male beobachten können. — An meinen halbjährigen Aufenthalt bei Wien anknüpfend, hat die folgende jahrelange Vertiefung in Leben und Werk Hugo von Hofmannsthal* meine Weltanschauung bedeutend beeinflußt. 

* (OD.2013)  wikipedia / Hugo_von_Hofmannsthal  (1874-1929) 

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Leider starb mein Doktorvater, Professor Richard Newald, überraschend am 28. April 1954 an einem Herzschlag. Aber ich arbeitete unentwegt weiter an meinen Untersuchungen zum Thema »Hugo von Hofmannsthal — Die existentiellen Grundlagen und die geistesgeschichtlichen Bezüge seines Werkes«, und das Manuskript wurde immer umfangreicher. Die nächste Hürde war bei der Übernahme der Arbeit durch Professor Richard Alewyn zu überwinden. Da er sich selbst mit Hofmannsthal beschäftigt hatte, besaß er natürlich seine dezidierten Vorstellungen, die er wie die meisten Professoren im Grunde nur bestätigt sehen wollte. Die drohende Umarbeitung konnte jedoch vermieden werden. 

 

Indessen schrieben wir das Jahr 1957, und ich hatte mein fünfunddreißigstes Lebensjahr überschritten. Mein lieber Vater und einige Bekannte hatten wohl schon die Hoffnung aufgegeben, daß aus mir noch »etwas werden« würde. — Das Schicksal war uns ohnehin nicht mehr so gewogen gewesen. Unsere »Schloßherrin« am Wannsee war 1954 unerwartet gestorben, und ihre aus Amerika anreisende, exaltierte Tochter hatte uns die Idylle am See gekündigt. Als unser erstes Kind, Andreas, geboren wurde, hatten wir bereits eine kleine Mansardenwohnung im benachbarten Stadtteil Nikolassee bezogen. Von da ab oblag mir neben der Doktorarbeit tagsüber auch die Pflege des Söhnchens. Doch dazu passend hatte ich in Hofmannsthals Aufzeichnungen die Sätze gefunden: »Leben eines Dichters. Eine Art Ordensregel. Ein halb Jahr in einem Tierpark, ein halb Jahr in einer Kleinkinderbewahranstalt, ein halb Jahr bei einem Blumenzüchter, Reisen: dann missio in saeculum. Wirksamkeit.« 

Hofmannsthal wollte damit sagen, daß der Mensch die Welt an ihren lebendigen Ursprüngen kennenlernen sollte. Trotz aller Schwierigkeiten durchlebte unsere Familie schöne Jahre. Am 1. Mai 1956 war Harald geboren worden. Mit beiden Kindern gab es erfreuliche Erlebnisse, darunter viele Wanderungen durch die Wälder rund um Wannsee und Schlachtensee. 

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Es war allerdings ein Spiel um alles oder nichts, als ich am 6. Juni 1957 in die mündliche Prüfung ging. Hätte ich nicht bestanden, dann wären wir mit unseren Kindern in eine fatale Lage geraten. Dennoch stand uns eine weitere aufregende Phase bevor. Und das, weil ich mir seit langem wieder etwas Neues ausgedacht hatte: Ich wollte mir eine Tätigkeit in der freien Wirtschaft suchen. Dort schien es die ergiebigsten Entfaltungs- und Verdienstmöglichkeiten zu geben, und letztere waren längst bitter nötig. Auf einen solchen Wechsel hatte ich mich schon in der kaufmännischen Abendschule Rackow mit gutem Ergebnis vorbereitet. 

Doch nun blieben meine Bewerbungen bei den unterschiedlichsten Firmen ohne Erfolg. Nachdem ich — Jahre später — begriff, wie simpel in den Personalabteilungen gedacht wird, habe ich mich nicht mehr darüber gewundert. Spezielles Fachwissen auf einem jeweils eng umgrenzten Gebiet ist gefragt, kein umfassendes Wissen. Wer nicht die Ochsentour treu und brav ausgetreten hat, paßt nicht ins Schema der Auswahlkriterien.

Ich war vor Jahren schon einmal zu der Ansicht gekommen, daß mein vielseitiger Werdegang doch gute Voraussetzungen bieten müßte, um in der Politik mitreden zu können. Über die Konkretisierung eines solchen Weges hatte ich zunächst kaum Vorstellungen. Nur in bezug auf die inhaltliche Richtung stand ich zweifellos in den Traditionen meiner bäuerlichen und religiösen Herkunft, der Geschichte im allgemeinen und wie sie sich mir in Österreich im besonderen dargestellt hatte. 

Meine Offenheit gegenüber jeder geistigen Richtung ließ sich aber durchaus auch unter dem Begriff liberal unterbringen. Sowohl meine konservative als auch meine liberale Grundhaltung hatte von vornherein jeden Gedanken an ein weiteres Leben in der sowjetischen Besatzungs­zone ausgeschlossen. Folglich ging es mir in Berlin genau wie den anderen Bewohnern um die konkrete Bewahrung von Freiheiten, die soeben erst wiedergewonnen worden waren. 

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Was die radikale Unterwerfung unter eine Totalideologie im alltäglichen Leben bedeutete, hatte ich in der damals sogenannten Ostzone zur Genüge beobachten können. Man sah auch, daß der Kommunismus nur dort vorankam, wo er militärische Gewalt anwenden konnte. Somit erschien mir die Politik Konrad Adenauers als die einzig richtige. Die SPD hatte zwar auch ihren Widerstandswillen bewiesen — in Berlin beispielhaft unter Ernst Reuter — aber ihre alten ideologischen Fesseln vermochte sie nur nach und nach zu lockern. Mentalität und Erscheinungsbilder führender Repräsentanten taten ein übriges. 

Ich hatte am 30. April und am 1. Mai 1951 in Hannover Adenauer und Schumacher gehört. Der erste präsentierte sich souverän und humorvoll, der zweite so verbissen und polemisch, worauf ich es nicht einmal bis zum Schluß aushalten konnte. Sein Kampfstil schien mir eine überlebte Fortsetzung dessen zu sein, was in der Weimarer Republik üblich gewesen war, während doch die Menschen nicht nur einen neuen Anfang, sondern auch neue Töne wünschten. Daß solche zu hören waren, dafür hat auch Ludwig Erhard gesorgt. Es erwies sich bald als vorteilhaft für die CDU, daß ihre ideologischen und parteilichen Strukturen nicht von vornherein festgelegt waren. Wie schnell Parteien dann in ihren Denkweisen erstarren können, wird inzwischen von CDU und CSU beispielhaft vorgeführt.

 

Im Jahre 1953 schien mir die Zeit reif, Geschichte nicht nur zu studieren, sondern auch einen aktuellen Beitrag in ihr zu leisten, wie unbedeutend er auch immer sein mochte. Ich wandte mich also an die CDU und besuchte eine Mitgliederversammlung des Ortsverbandes Wannsee. Es waren weniger als zehn Personen da, die in der Form eines Stammtisches tagten und ein deprimierendes Niveau darboten. Doch ich hielt durch, wenn es mich auch einige Über­windung kostete. 

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Sehr bald wurde ich als Kassenführer in den Ortsvorstand gewählt und wenig später unversehens auch in den Kreisvorstand von Zehlendorf, wo es eine Position gab, die sich »Beauftragter für Bildung und Information« nannte. Mein Mentor wurde ein älterer gebildeter Herr namens Dr. Fritz Blüthgen, der es als Unternehmer schon vor dem Krieg zu einigem Vermögen gebracht hatte. Er ist es dann gewesen, der mir 1958 eine Verbindung eröffnete, die zu einer allerdings höchst bescheiden bezahlten Anfangsstellung als Vertreter führte. Nicht in Berlin, was ich auch nicht erwartet hatte, weil dort zu jener Zeit kaum Möglichkeiten bestanden, sondern »im Westen« bei einem Büromaschinenkonzern, der durch seine rigorosen Verkaufsmethoden von sich reden machte. Die zu vertreibenden Rechen- und Buchungsmaschinen waren nach heutigen Maßstäben höchst primitive Ratterkästen. Es bedurfte schon meines vollen Einsatzes, um mich in diesem Metier eineinhalb Jahre zu behaupten. Die weiteren Stationen waren Frankfurt am Main, Köln und Hannover, wo inzwischen mein Bruder Gerhart als Lehrer lebte. Kurz vor dem Verlust dieses Arbeitsplatzes hatte ich eine Wohnung im 25 Kilometer entfernten Barsinghausen, am Nordhang des Deisters gemietet, welche die damit wiedervereinte Familie am 1. Juni 1959 bezog.

 

   Abschied und Neubeginn in Barsinghausen  

 

Tiefer als die Kündigung hat mich in jenem Jahr ein anderes Ereignis berührt, das Sterben meines Vaters. Er lebte nun bereits zwanzig Jahre als Guts­auszügler auf seinem Hof, doch die schwere Arbeit war in der Kriegs- und Nachkriegszeit ununterbrochen weitergegangen. Ein einziges Mal hatte er uns in West-Berlin besucht. Nicht einmal zu seinem 80. Geburtstag hatte ich eine Besuchsgenehmigung bekommen. 

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Als ihn zu Ostern 1959 eine Lungenentzündung überfiel, beantragte meine Frau in Ost-Berlin erneut eine Reisegenehmigung für mich. Ihre Verblüffung war verständlich, als sie diesmal die Frage hörte: »Und Sie wollen nicht mit?« So fuhren wir denn, nun mit zwei Kindern, nach sieben Jahren wieder in unsere Heimat — in der einzigen Hoffnung, meinen Vater noch einmal lebend, aber in der Befürchtung, ihn sterbend wiederzusehen. Wir fanden ihn bereits außerordentlich geschwächt, mit einer Wunde im Gesicht. In einem unbewachten Augenblick hatte er das Bett verlassen, war im Haus herumgewandert und auf die Treppenstufen gestürzt. Auch an den folgenden Tagen ertappte ich ihn plötzlich draußen vor dem Haus stehend — wir konnten ihn nur mit Mühe ins Bett zurückbewegen. Es schien, als wolle er seinem Tod aufrecht entgegengehen, denn es trieb ihn immerzu von seinem Lager. Wenn wir ihn dann abzuhalten versuchten, dann beschimpfte er meine Schwester, die ihn rührend pflegte, und mich: »Was steht ihr hier herum und gafft!« 

Seine letzten Tage erinnerten mich an das großartige Sterben des alten Kammerherrn, welches Rainer Maria Rilke in <Malte Laurids Brigge> beschreibt, der seinen ihm »eigenen Tod« zu haben begehrte. — In der letzten Nacht, in der ich noch bei meinem Vater wachen konnte, hörte ich in der Stille feierlich anmutende Worte aus seinem Munde, die mir noch in den Ohren klingen, wie: »Die Frauen haben gewacht — sie haben die ganze Nacht gewacht!« Und schließlich ein tiefer Seufzer: »Mein Gott — Gott — oh, Herr!« Darauf wurde er ruhiger. — Am nächsten Tag mußte ich Abschied nehmen, denn die genehmigte Woche war abgelaufen. Ich sagte ihm noch, daß wir nun von Berlin nach Barsinghausen umziehen würden, und er antwortete leise, aber klar: »Hast du da nicht voreilig gehandelt?« Ich fühlte, daß dies eine sehr berechtigte Frage sein mochte. Doch solche Gedanken waren nichtig angesichts der Gewißheit, daß dies der letzte Händedruck sein werde. 

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Es gibt leider auch für diesen letzten aller Abschiede keine anderen Worte als das übliche »Auf Wiedersehen!«, womit sich doch in keiner Weise das ausdrücken läßt, was den Scheidenden wie den Bleibenden wirklich bewegt. Die darauffolgende Nacht verbrachten wir im Hause meiner Schwiegereltern, um des Morgens nach Berlin abzureisen, denn unsere Frist war abgelaufen. Doch in der Frühe des Sonntagmorgens, es war der 26. April 1959, kam die telefonische Nachricht, daß der Vater soeben verschieden sei. Es war nach alledem eine gnädige Fügung. 

Wieder schritten wir hinter dem Sarg die wenigen Meter von Vaters Hof zu seinem Friedhof. Diesmal fehlte mein Bruder Gerhart, wie bei unserer Mutter der Bruder Walter gefehlt hatte. Sonst waren alle Verwandten noch einmal versammelt, die zur Generation unserer Eltern gehörten, und die alle inzwischen die Erde geräumt habenund unsere, die wie die folgenden Generationen nun zu denen gehört, die nicht mehr wissen, wo ihre Gebeine einst zur Ruhe gebettet werden, ja nicht einmal, ob sie noch jemand bestatten wird. 

Meinem Vater blieb es erspart, die unmittelbar folgende Kollektivierungswelle der Bauernhöfe miterleben zu müssen, die 1959 wie eine Dampfwalze über die DDR rollte. Was wußten die Funktionäre davon, wie ein Bauer fühlte, wenn man ihn zwang, die Kette der Geschlechter auf seiner Scholle abzureißen? Alles Private durfte sich auch sonst nicht mehr öffentlich äußern. Als wir in die Todesanzeige die Worte »nach einem gesegneten Leben verschied...« setzen wollten, wurde das abgelehnt, weil es eine religiöse Formulierung sei. »Wir sind Parteipresse«, hieß es, doch eine andere Zeitung gab es nicht. Inzwischen darf man dort wieder religiöse Wendungen in Anzeigen gebrauchen. Nachgelassen hat auch die allgegenwärtige Plakatierung der roten Farben und Parolen. Wenn man von einigen schlimmen Ausnahmen absieht, dann sind in der DDR die alten Landschaften und Ortsbilder sogar besser erhalten als im »fortgeschritteneren« Westen.

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Unser nächster Abschied war der von Nikolassee und Wannsee, wo wir in den verflossenen zehn Jahren heimisch geworden waren. Der mit Grenz­schwierig­keiten belastete Umzug in den Landkreis Hannover vollzog sich mit den kümmerlichen Möbeln, die wir in Berlin gebraucht erworben hatten. Der neue Wohnort bescherte uns unter anderem den Vorteil, wieder Genehmigungen zum Besuch unserer Heimat erhalten zu können. Das erfreute besonders meine Frau, zu deren Vater bis 1969 und der Mutter bis 1978 die Brücke aufrechterhalten blieb, wie auch zu ihrem Bruder und zu meiner Schwester und deren Familien. Unsere — wenn auch nicht weitverbreitete — Erkenntnis ist, daß selbst in konträren Gesellschaftssystemen das Leben der Menschen mit den gleichen persönlichen Freuden und Leiden ausgefüllt ist. Ein Hauptunterschied scheint darin zu liegen, daß sie unter Druck näher zusammenrücken, während sie sich in der Freiheit oder im Wohlleben immer fremder werden.

 

Mein Start in Barsinghausen begann mit Arbeitslosigkeit. Also wieder Bewerbungen schreiben, wieder das tägliche Warten auf den Briefträger, wieder die üblichen Ablehnungen. Das zog sich über drei Monate dieses heißen und extrem trockenen Sommers hin. Die Pflanzen verdorrten, und die Blätter vergilbten. Nie wurde so deutlich, daß gerade das Wasser, welches selbst unaufhaltsam nach unten strebt, Voraussetzung für jedes in die Höhe strebende Wachstum ist. Für die Versorgung der Haushalte mußte die Feuerwehr die kostbaren Liter auf der Straße austeilen. Doch wir genossen die neue Weite am sanft geneigten Nordhang des Deisters mit Blicken über die norddeutsche Tiefebene und zum Weserbergland hin. Noch nie hatten wir so nah am Wald gewohnt und so prächtige Buchen gesehen.

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Nach vielen entmutigenden Bemühungen führte schließlich, wie ich später hörte, ein ausgezeichnetes graphologisches Gutachten zu einer bescheidenen Position im Außendienst für einen Büromaschinenhersteller. Doch auch dies blieb eine vierteljährige Episode. Wieder Bewerbungen, wieder... bis ich in Hannover eine gering honorierte Innendiensttätigkeit bei einer Vertriebsgesellschaft bekam. Wiederum lernte ich Intrigen und Positionskämpfe kennen, die wohl zum üblichen Firmenalltag gehören. Erst die darauf folgende Vertretertätigkeit für die Firma SIEMAG brachte ab 1961 eine Steigerung des Verdienstes, die uns nach zehn Ehejahren erstmalig der ständigen Sorge für den bescheidensten Lebensunterhalt enthob. Daß wir die kargen Jahre durchgestanden haben, verdanke ich meiner nie verlegenen Frau. Sie beherrschte auf allen Gebieten die Kunst, mit Wenigem auszukommen. Aus abgelegten Anzügen und Kleidern schneiderte sie für die Kinder wie für sich selbst und strickte für die ganze Familie.

Nun, in meinem 40. Lebensjahr, wurde die Anschaffung eines Kraftfahrzeuges möglich, von der Firma teilfinanziert. Damit bereiste ich fast die Hälfte des Landes Niedersachsen, darunter den Harz und die Lüneburger Heide. Der Weg führte zu kleinen und mittleren Firmen, Behörden und Geldinstituten. Die bunt gemischte Kundschaft zwang mich, auf ganz verschiedene Menschen einzugehen und entsprechend zu reagieren. Alles in allem war dies eine gute Übung für die Politik. In Barsinghausen wollte ich mich nun nach eineinhalbjähriger Pause wieder für die CDU betätigen. Es war leicht herauszufinden, daß es in dieser Gemeinde mit 14.000 Einwohnern kaum nennenswerte Anfänge der Partei gab. So wurde es vom Kreisverband in Hannover gern gesehen, wenn da endlich etwas auf die Beine kam, zumal Kommunalwahlen anstanden. 

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Die CDU galt hier als katholische Partei, doch diese Einschätzung konnte allmählich infolge meiner lutherischen Konfession und anderer neu eintretender Mitglieder korrigiert werden. Es gelang zunächst nur mit Mühe, acht vorwiegend parteilose Kandidaten für den Gemeinderat zu finden. Unsere Liste erhielt 1961 vier von siebzehn Ratssitzen, ich war als unbekannter »Zugezogener« gerade noch als letzter dabei.

Damit begann am 19. März 1961 meine intensive politische Tätigkeit. Sie beanspruchte hinfort die freie Zeit fast ganz. Dabei stieß ich auf die ersten handfesten Umweltprobleme. Das Trinkwasser reichte nicht mehr aus, weil der Kohleabbau zu einer Senkung des Grundwasserstandes im Deister geführt hatte, die Zahl der Einwohner hingegen und ihr Verbrauch ständig stieg. Obwohl eine Kläranlage gebaut worden war, konnte diese die stärkehaltigen Abwässer einer großen Firma nicht verkraften. Die Mülldeponie war randvoll und eine neu angelegte in wenigen Jahren ebenfalls. 

Aber nicht nur die Sitzungen des Rates, der Ausschüsse und der Fraktion waren nun zu bestreiten, auch ein Ortsverband der Partei mußte aufgebaut werden. Mitglieder waren nur in langen Gesprächen zu gewinnen, doch es ging stetig voran. Da CDU-Mitglieder im ganzen Landkreis Hannover dünn gesät waren, entwickelte sich unser Ortsverband bald zum wohl ansehnlichsten. So wagten wir bereits 1963 den ersten Angriff auf den Kreisvorsitz, der abgeschlagen wurde — aber der zweite Versuch 1965 glückte. 

Als Vorsitzender stellte ich mir im ganzen Landkreis die Aufgabe, bereitwillige Bürger davon zu überzeugen, daß die Arbeit für die Christlich Demokratische Union vonnöten sei. Wie nützlich die damit erworbenen persönlichen Bekanntschaften sein würden, erfuhr ich erst in den folgenden Jahren. Für den Außenstehenden bleibt es unvorstellbar, wie lawinenhaft die Arbeit auf dem politischen Feld zunimmt, sobald man sich ernsthaft engagiert. 

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Selbst den »Nachsitzungen« beim Bier kann man sich nicht völlig entziehen, denn irgendwie gehört auch der lockere Teil zur Politik wie zum Leben überhaupt. Dabei erwarb ich mir auch eine immerhin ausreichende Trinkfestigkeit. Es ist jedenfalls all die Jahre nicht passiert, daß ich den Punkt verpaßt hätte, an dem es Zeit war, abzubrechen.

In der Politik kamen mir nun die Fertigkeiten sehr zugute, die ich mir in meinem Vertreterdasein erworben hatte: Überredungskunst und wendiges Verhandeln. In politischer Taktik lernte ich in diesen Jahren enorm viel: Nicht zu früh sprechen und das Pulver sogleich verschießen, aber auch nicht zu spät, weil dann schon eine einseitige Stimmung die Oberhand gewonnen haben kann, die sich nicht mehr umkippen läßt. Unbeliebt macht sich auch derjenige, der zu allem und jedem redet. Es ist auch falsch, sich gegen Intrigen voreilig zu wehren, das kann sie sogar fördern, da ihre Bedeutung damit gesteigert wird. In der Regel gibt sich eher der Angreifer verwundbare Blößen, man muß ihn also »kommen lassen« und die Nerven behalten. 

An den Tag gelegter Übereifer schadet überhaupt oft, denn die meisten Mitglieder einer Partei wollen hübsch in Ruhe gelassen werden. Daher ist es auch gefährlich, in den Geruch eines Störenfriedes zu geraten, der »unserer gemeinsamen Sache« Schaden zufügt. Auf der anderen Seite wird die völlige Untätigkeit auch wieder nicht geschätzt, denn die Mitglieder wollen Erfolge sehen, zumal diejenigen unter ihnen, die selbst keine zustande bringen. Ein großer Fehler ist es, unvorbereitet in eine Entscheidung zu gehen. Persönliche Kontakte müssen hergestellt und Koalitionen geschmiedet werden, wenn etwas durchgesetzt werden soll. Wer Politik ohne wirtschaftliche Absicherung betreibt, nimmt — nach dem Einbrecher — das größte Risiko auf sich. Und Politik bleibt vor allem dann eine Herkulesarbeit, wenn man seine Unabhängigkeit bewahren will. 

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Die ständigen Neuwahlen in allen Parteigremien, die unaufhörliche Fallenstellerei derjenigen, die sich selbst für geeigneter halten, und die Wetter­wendigkeit von Parteiversammlungen über längere Zeit durchzustehen, erfordert äußerste Anspannung aller Nerven. Dabei geht leider der größere Teil der Energien, die sinnvoller für sachliche Ziele einzusetzen wären, verloren. Wer allerdings die innerparteiliche Plackerei durchsteht, ohne seine Kräfte bereits verschlissen zu haben, der hat auch seine Feuerprobe hinter sich, die ihn für weitere Aufgaben befähigt.

Ich hatte mir in der Politik schon deshalb keine konkreten Ziele gesetzt, weil ich aus der Ferne eine sehr hohe Meinung von den Kenntnissen und Fähigkeiten der Politiker hegte. Allerdings merkte ich auf der unteren Ebene schon bald, daß da nur mit Wasser gekocht wurde, oft mit gar trübem. Und wo ich mir zutraute, etwas besser zu machen, dort bewarb ich mich auch — und das passierte zu meiner Überraschung immer öfter. So erwies sich, daß erworbenes Wissen und Erfahrungen aus mehreren Berufen und Tätigkeiten zur Überlegenheit gegenüber einseitig beschlagenen Mitbewerbern führen. 

Damit verlor ich von Stufe zu Stufe die Hochachtung vor »hohen Tieren« und die scheue Zurückhaltung. Auch im juristischen Bereich konnte ich praktische Erfahrungen sammeln, denn von 1961 bis 1969 übte ich die Tätigkeit eines ehrenamtlichen Richters beim Verwaltungsgericht in Hannover aus. Sie erlaubte interessante Einblicke in die Arbeitsweise von Gerichten.

Überall setzte ich auf das, was die Vernunft zu gebieten schien und hatte damit im großen und ganzen Erfolg. Meinen Neigungen folgend verbündete ich mich oft mit der Jungen Union und den Sozialausschüssen. Andererseits verboten mir meine wirtschaftlichen Kenntnisse, die Realitäten in den Wind zu schlagen. Der wirtschaftspolitische Kurs Ludwig Erhards gehörte zu meinen stärksten Motiven, für die CDU tätig zu sein. 

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Daß Konrad Adenauer aus Opportunität den verschiedensten Interessengruppen gegenüber oft allzuschnell nachzugeben bereit war, hatte ich wohl bemerkt. Ebenso, daß die CDU den Mittelstand großenteils zugunsten der Großbetriebe opferte. Das heißt aber nicht, daß ich gegen jeden Großunternehmer gewesen wäre. Ich wußte viel zu gut, welche Leistung dazu gehört, eine Firma stets über die Runden zu bringen. Auf einem anderen Blatt steht die heutige Erkenntnis, daß gerade die großen Unternehmen unbewußt den Weg in die Katastrophe um so kräftiger beschleunigen, je erfolgreicher sie sind, ja, daß sie sozusagen am eigenen Grab schaufeln. Unter den Unternehmern habe ich höchst gebildete Persönlichkeiten gefunden. Einige von ihnen haben immerhin den Club of Rome gegründet. 

Von den Gewerkschaften dagegen hat man bis heute noch herzlich wenig vernommen, was über den Tag hinausreicht. — Jedenfalls habe ich mich nie als einseitiger Exponent von Interessengruppen gefühlt und mich auch gehütet, in die Abhängigkeit einer solchen zu geraten. Es erschien mir stets anrüchig, wenn Abgeordnete in den Parlamenten ihre Aufgabe nicht zum Wohl aller Bürger ausübten. Inzwischen weiß ich längst, daß eine solche Erwartung zumeist ein schönes Märchen bleiben wird. Das ist allerdings auch eine der Ursachen, an denen die Gemeinwesen zugrunde gehen. Die Interessengruppen organisieren sich laufend perfekter, und die Drähte ihrer Einflüsse werden im Gestrüpp der technisierten Zivilisation immer undurchsichtiger. Die Bürokratien verfilzen sich mit den Parteien derart, daß Politiker, welche die schlichten Interessen Jedermanns vertreten wollen, in den dichten Maschen hängenbleiben.

Der berechtigte Verdacht, ich könnte mich nicht entschieden genug auf die Seite der Wirtschaftslobby schlagen, verdarb mir bei der niedersächsischen Landtagswahl am 4. Juni 1967 einen aussichtsreichen Listenplatz. 

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Am Wahlabend zeigte sich meine Frau sehr beeindruckt, als ich kurzerhand erklärte: »Macht nichts, ich kandidiere doch lieber für den Bundestag.« Ich wußte schon, daß im Landtag nur die »kleine Politik« gemacht werden konnte, während alle weltbewegenden Fragen in die Kompetenz des Bundes fallen. Physisch war ich allerdings nach der Landtagswahl etwas mitgenommen. Während meine Familie die Heimat in Sachsen besuchte, ging ich auf Alpenfahrt. Über den Reschenpaß rheinaufwärts nach Chur mit zweitägigem Abstecher nach Arosa, wo riesige Hänge voller Alpenblumen leuchteten und dufteten. Dann über Oberalp- und Furkapaß, am Rhonegletscher vorbei hinunter ins Wallis, wovon mir zwei strahlende und leider ebenso heiße Sommertage in der Erinnerung geblieben sind. Selbstverständlich besuchte ich Rainer Maria Rilkes letztes Domizil in Muzot bei Sion und sein Grab an der Mauer der hochaufragenden Kirche von Raron.

Bei der brütenden Hitze fuhr ich dann unbedacht zum Lago Maggiore hinunter, um einmal unseren geliebten Frühlingsort im Sommer aufzusuchen. Diese südlich milde Landschaft hatte uns im Jahre 1965 den ersten vollkommenen Urlaub unseres Lebens geschenkt. Wir fuhren damals vor Ostern in der lauen Luft des Abends in das Tessin hinunter, wo die aufblühende Pracht zunehmend bunter wurde. Als wir in der casa mira lago in Magadino Wohnung nahmen, leuchteten bereits die Lichter von Locarno herüber, verdoppelt durch ihr Spiegelbild im stillen See. Diese Landschaft hat uns so gefangengenommen, daß wir den Frühling wiederholt in diesem Haus am Ufer erwarteten, bis uns der zunehmende Straßenlärm weitere Aufenthalte verleidete. — Aber jetzt, im Hochsommer, in einem anderen Haus, wurde es eine schlimme schlaflose Nacht, in der mir die stickig heiße Luft die Brust zusammenschnürte. Fluchtartig startete ich hinauf ins Engadin, das mir vom Hörensagen als höchstes Kleinod der Bergwelt vorschwebte.

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Zudem war hier Nietzsche manchen Sommer gewandert, dessen karge Wohnung in Sils zu besuchen ich nicht versäumte. Doch die verzehrende Unruhe überfiel mich wie schon so oft in den auserlesenen Landschaften der Welt. In Barsinghausen eröffneten wir bald darauf einen furiosen Kommunalwahlkampf. Die Eingemeindung von Egestorf und Kirchdorf hatte die heimatbewußten Bürger dieser Orte so stark in Wallung gebracht, daß wir mit ihrer Hilfe endlich einmal die SPD-Mehrheit in Barsinghausen brechen wollten. Gerade die sozialdemokratische Kommunalpolitik wütete damals in der Richtung auf »immer größer, immer höher, immer schneller«. Selbst die Dörfer mußten Hochhäuser und breite Schnellstraßen bekommen, jede Gemeinde gierte nach Industrie­ansiedlungen. Der neu gegründete <Verband Großraum Hannover> entwarf Pläne, wie zwei Millionen Menschen in seinem Bereich anzusiedeln seien. 

Meine Frage, woher diese zusätzlichen Bewohner kommen sollten, während sich doch die deutsche Bevölkerung eher rückläufig entwickelte, hielt man nicht einmal einer Antwort wert. Doch auch die CDU wurde in jenen sechziger Jahren zunehmend von einer panischen Angst erfaßt, den Anschluß an den sogenannten »Fortschritt« zu verlieren. Auch sie erstrebte Großgemeinden, Mammutschulen, Industrieansiedlungen. So hatten wir in Barsinghausen zum Teil auch gegen die eigene Landtagsfraktion und die im Kreistag zu kämpfen. Dennoch zogen wir bei der Wahl am 3. Oktober 1968 mit Hilfe einer kleinen Wählergemeinschaft mit der SPD gleich. Die FDP erreichte nur ein Mandat, doch dieses entschied über die Mehrheit. 

Allerlei hintergründige Interessen drohten eine klare Linie auch in unseren Reihen zu desavouieren. Doch die Mitglieder unseres Ortsverbandes wußten sehr wohl, von wem die Initiative für diesen Wahlerfolg gekommen war, und stellten sich hinter mich. Die SPD behielt allerdings mit Hilfe des einen FDP-Mannes die Mehrheit. — Als mit der Eingemeindung weiterer fünfzehn Dörfer die Einwohnerzahl auf über 30.000 gestiegen war, erhielt Barsinghausen die Stadtrechte.

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   Politischer Kampf   

Die Bundestagskandidatur mußte nun sehr gründlich vorbereitet werden, zumal mir die nicht ganz gelungene Eroberung der Mehrheit in Barsinghausen einen kleinen Rückschlag eingebracht hatte. Es kam zunächst darauf an, dafür zu sorgen, daß in der Kreismitgliederversammlung Hannover-Land solche Delegierte gewählt wurden, die bereit schienen, meine Kandidatur zu unterstützen. 

Wir hatten rechtzeitig Wind davon bekommen, daß die Gegner aus der Wirtschaftslobby eine Delegiertenliste zusammengestellt hatten, die sie auf der Mitgliederversammlung verteilten. »Es wird empfohlen, folgende Wahlmänner zu wählen: ...« stand darüber, ohne daß gesagt wurde, für welchen Kandidaten diese dann stimmen würden. 

Das war eine vom Unternehmerflügel der Partei eingefädelte Aktion für ihren ehrgeizigen Favoriten Dr. Hess, welcher Angestellter der Industrie- und Handelskammer Hannover/Hildesheim und dort Redakteur der Zeitung Niedersächsische Wirtschaft war. Auf der Empfehlungsliste befanden sich — beabsichtigt oder nicht — auch einige Namen, die mir ihre Unterstützung versprochen hatten. Jedenfalls trugen die Namensüberschneidungen zur Verwirrung bei. Wir reagierten mit handgeschriebenen Zetteln, auf denen meine Unterstützer aufgeführt waren. Es ging sehr turbulent zu, und mit Gehässigkeiten wurde nicht gespart. Eine angestrebte Empfehlung der Versammlung für meine Kandidatur konnte von deren Gegnern an diesem Abend verhindert werden.

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Nach meiner Einschätzung verfügte ich zwar über eine gute Mehrheit unter den zwanzig gewählten Männern und Frauen, aber so sicher konnte man nicht sein. Überdies hatte das Teilgebiet der Stadt Hannover noch acht Delegierte zu stellen. Welche würden dort gewählt werden? In den drei betreffenden Ortsverbänden wurden dann vorwiegend Vertreter des Arbeitnehmerflügels gewählt, und der Kreisverband Hannover-Stadt stellte sich auf den Standpunkt, daß die Auswahl des Kandidaten für den Wahlkreis Hannover III eigentlich dem Kreisverband Hannover-Land überlassen bleiben sollte. Es wurde dann noch sechs Wochen lang mit allen psychischen Mitteln um die Gunst der 28 Delegierten gerungen.  

Als das Gremium schließlich am 11. März 1969 zusammentrat, hatten noch zwei weitere Kandidaten ihre Bewerbung angemeldet. Ein Beamter aus dem Wirtschaftsministerium wurde vorgeschickt, und ein Major der Bundeswehr hatte sich selbst brieflich beworben; doch beide waren in der Partei so gut wie nie in Erscheinung getreten. Die Aktion verfolgte auch nur den Zweck, zunächst die erforderliche Mehrheit von über 50% der Delegiertenstimmen im ersten Wahlgang zu vereiteln. Dennoch lautete das Ergebnis des ersten Wahlganges: 16 Stimmen für Gruhl, 7 Stimmen für Hess, 4 für den dritten und 0 Stimmen für den vierten Kandidaten.

Ein solcher Ausgang zu meinen Gunsten wäre nie möglich gewesen, wenn nicht die CDU gerade in jenen Jahren die Wandlung von der Honoratiorenpartei zur Mitgliederpartei durchgemacht hätte. Früher war es in der Regel so gewesen, daß einflußreiche oder angesehene Personen, die selbst oft nicht einmal Mitglied der Partei waren, einen Kandidaten präsentierten, der dann von den Mitgliedern anstandslos akzeptiert wurde. Ich selbst hatte eine solche Farce noch 1961 unmittelbar miterlebt. Meine Gegner in der Partei irrten nun, als sie annahmen, im Landkreis Hannover den Kandidaten auch noch im Jahre 1969 nach altem Muster aufstellen zu können. 

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Die Mitglieder erwarteten inzwischen Leistungen in der Parteiarbeit als Voraussetzung für die Kür zum Kandidaten — auch dann, wenn es aussichtslos erschien, den Wahlkreis direkt zu erobern; denn alle Wahlkreise in Hannover samt Umland waren sichere SPD-Domänen. Das hieß im vorliegenden Fall, daß mit der Aufstellung zum Wahlkreiskandidaten lediglich die Voraussetzungen geschaffen waren, überhaupt auf die Landesliste zu kommen. Um dort einen aussichtsreichen Platz zu erhalten, setzte ein noch härteres Ringen ein. Dabei waren meine persönlichen Einflußmöglichkeiten weit geringer, weil sich dabei noch viel mehr hinter den Kulissen abspielte. Immerhin war es mit viel Vorarbeit gelungen, einen Freund und Mitstreiter in das <Gremium der 39>, welches die Landesliste aufstellte, zu bekommen. Das war Dietrich Leiding, der in Wennigsen am Deister in der vorhergehenden Kommunalwahl die SPD-Mehrheit gebrochen hatte und Bürgermeister geworden war. Er mühte sich nun wochenlang auf der Landesebene ab. Enttäuscht rief er mich am 12. April an, daß es ihm lediglich gelungen sei, mich auf Platz 19 zu bringen, während doch nur die Plätze bis 15 oder 16 als aussichtsreich gelten konnten.

Trotzdem kämpften wir vor der Wahl mit größtem Einsatz. Jeder der 100.000 Haushalte bekam einen Kandidaten­prospekt, der mich mit dem damaligen Bundeskanzler Kiesinger auf der Titelseite zeigte. Meine ganze Familie kuvertierte und adressierte wochenlang, ebenso zahlreiche Helfer. Ich mußte auch Spenden sammeln und unzählige Veranstaltungen abhalten. Ich hatte mich auf ein großes Risiko eingelassen und war in meinem Beruf schon etwas ins Hinter­treffen geraten. Dennoch war nach Lage der Dinge höchstens mit einem Nachrücken während der Legislaturperiode zu rechnen.

Als unser Ortsverband am Wahlabend vor dem Fernseher saß, wurden alle von den bundesweit enttäuschenden Ergebnissen schockiert. Die CDU verlor viele Wahlkreise — auch in Niedersachsen —, die sie früher direkt gewonnen hatte. Mir war klar, daß meine persönlichen Chancen gerade damit beständig stiegen, während die Mitglieder das Lokal nach und nach enttäuscht verließen. Meine Frau blickte mich ungläubig an, als ich ihr leise sagte, »nach meiner Berechnung muß ich drin sein« — und dies stimmte. 

Frühmorgens kam ein Telegramm des damaligen Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel mit dem Glückwunsch zum Einzug in den Bundestag. Sogar der Listenplatz 20 hatte noch gezogen. — Das war der Lohn für zehnjährige, angespannte Arbeit. Ungezählte Abende und Wochenenden hatte ich geopfert, über lange Zeiten war es mir nicht einmal möglich gewesen, ein Buch zu lesen! Dennoch hätte alles sehr leicht in die Binsen gehen können! Ich hatte mit höchstem Einsatz gespielt und mit Hilfe vieler Freunde gewonnen. Es war das erste Mal, daß mein politisches Mühen, das ich ohne Aussicht auf Dank 1954 aufge­nommen hatte, in eine Belohnung mündete.

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