Teil II 
Die historische
Evolution der
Hochkulturen

Kurz und selten
sind die Blüteperioden
der Kultur in der
menschlichen Geschichte.

Der deutsche Philosoph
Max Scheler

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2.1  Die Entfaltung der Kulturstaaten

 

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Wenn wir der Zählung von Arnold Toynbee folgen, dann erblühten in der Geschichte der Menschen innerhalb der letzten 5000 Jahre etwa 20 Hoch­kulturen, während Oswald Spengler nur von acht ausging.1  Jedenfalls sind alle diese Kulturen — bis auf unsere gegenwärtige, die das Hauptstück dieses Buches einnimmt — wieder verschwunden. Darum darf die Kulturzyklentheorie als bewiesen gelten. 

Wir können uns jedoch nicht mehr mit Spenglers einfacher Begründung zufrieden geben, es sei ein Natur­gesetz, daß jede Kultur erblühe, reife und dann absterbe. Wir müssen heute nach konkreten Gründen suchen, wozu uns Historiker, Archäologen, Ethnologen und Soziologen Material liefern. Inzwischen sind auch einige Kulturen mehr freigelegt und bekannte besser erforscht worden. Mit und seit Spengler ist viel deutlicher geworden, was schon Nietzsche wußte: 

"Sie ist kein Ganzes, diese Menschheit: sie ist eine unlösbare Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden Lebensprozessen — sie hat nicht eine Jugend und darauf eine Reife und endlich ein Alter ... die Schichten liegen durcheinander und übereinander."2

Es muß uns zu denken geben, daß es bisher auch nicht einer Hochkultur gelungen ist, ihre Version von Religion, Kultur und Staat am Leben zu erhalten, geschweige auf die übrige Welt auszudehnen, obwohl eine jede überzeugt gewesen ist, einen stabilen Zustand auf alle Zeiten eingerichtet zu haben. Die Hochkulturen blieben immer Inseln im Meer des einfachen, dafür aber dauerhafteren Lebens ringsum, in das sie früher oder später wieder eingeebnet worden sind.

Doch für die Geschichte zählen nur die Hochkulturen. Allein sie sind es, die uns Werke und Zeugnisse überliefert haben, während die unproduktiven Völker und Stämme im Dunkel bleiben mußten. Diese tauchen in der Historie nur auf, soweit sie Kulturstaaten bekriegt, geplündert und manchmal auch zerstört haben.

1) (d-2004:)  Vordere Innenseite des Buches: Weltkarte mit symbolischer Darstellung (Kreise) von 17 Hochkulturen. siehe Link im Inhaltsverzeichnis


Die Kulturinseln hatten zumeist keinen oder seltenen Kontakt untereinander, vor allem die mittel- und süd­amerikan­ischen Indianerkulturen hatten keine Verbindung zu den anderen Erdteilen. Einige Kulturen suchten Beziehungen, so besonders die europäischen. Die Weltgeschichte spielte sich hauptsächlich in Eurasien ab. Dort kam es zu Berührungen und Austausch oder auch zu Kriegen zwischen den nächstgelegenen Hoch­kulturen. Spengler bezeichnet die Beziehungen der einzelnen Kulturen untereinander als "ohne Bedeutung und zufällig";3) denn sie hatten unabhängig voneinander ihre Eigenheiten bereits ausgebildet, bevor sie mit anderen in Kontakt kamen. Hohe Kultur ist für ihn "Wachsen eines einzigen ungeheuren Organismus, der nicht nur Sitte, Mythos, Technik und Kunst, sondern auch die ihm einverleibten Völker und Stände zu Trägern einer einheitlichen Formensprache mit einheitlicher Geschichte macht."4

Die Hochkulturen existieren nach Mustern, die immer wiederkehren, sie haben allerdings unterschiedliche Schwerpunkte. Sie erwuchsen in aller Regel aus Bauernkulturen. Obwohl die Erde damals dünn besiedelt war, so blieben doch Gebiete mit fruchtbaren Böden sehr gefragt, weil dort die Mühe der Arbeit die besten Ernten versprach. Solch gesegnete Landstriche befanden sich in Flußtälern und an sanften Küsten, die auch die Fischerei und schließlich die Fahrt über See erlaubten. Dort häuften sich schnell die Vorräte der Agrarkulturen, so daß sie bald die Gier der umherstreifenden Nomaden weckten. Dem konnten die Seßhaften nur durch enges Zusammenrücken und mit dem Bau von Befestigungsanlagen begegnen.

Was lag näher, als diese Zentren und Fluchtburgen zu festen Städten auszubauen, die all das hinter schütz­enden Mauern bergen konnten, was sich an Gütern ansammelte. Für die Stadt und das umliegende Nährland wurde bald eine Schutztruppe nötig, deren Waffenausrüstung die Handwerker besorgten, die ohnehin in den wehrhaften Städten ihren sicheren Sitz bezogen hatten. Dort befanden sich auch die Kult- und Religions­zentren mit ihren anwachsenden Kunstschätzen. Die Städte boten auch geschützte Marktplätze, die bald mit Handelsstraßen untereinander verbunden wurden. Mit der Häufung der ökonomischen und kulturellen Werte wuchs wiederum das Bedürfnis nach größerer Sicherheit, und die angesammelten Schätze gestatteten und geboten auch den zusätzlichen Aufwand.

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Kurzum, alle bedeutenden Kulturen sind Stadtkulturen, wie schon Oswald Spengler darlegte. Aber deren Grundlage blieb immer das fruchtbare Umland, so daß jede wachsende Stadt auch nach Erweiterung ihres Landes trachten mußte, woraus sich Konflikte mit den Nachbarn ergaben. Auf dem Land sitzen oft noch die Ureinwohner, in der Stadt die Eroberer, die neuen Herren. 

Jacob Burckhardt kam zu dem Ergebnis, daß der Staat um so viel mächtiger sei, "je homogener er einem ganzen Volksstamm entspricht"; aber das ist nicht immer der Fall gewesen. Häufig wird der Staat von einem "tonangebenden Bestandteil, einem besonderen Stamm, einer besonderen sozialen Schicht repräsentiert".5

Die Gründung der Stadt vollzieht in der Regel ein kraftvoller Mensch. Sein Recht leitet er oft von einem göttlichen Auftrag ab, wenn er nicht sogar sein Geschlecht auf göttliche Ahnen zurückführt, wie das die Herrscher der sumerischen und ägyptischen Städte taten. Solche Gründer von Staaten sind oft zugleich ihre Gesetzgeber.6 Sie werden dann häufig mythisch verklärt: Urnammu von Ur, Hamurabi, Mose, Pittakos, Zaleuko, Charondas, Drakon, Solon, Lykurg, Konfuzius, Manu. Denn zu den Kennzeichen aufsteigender Kulturen gehört die Rechtssicherheit; das Zusammenleben wird zunehmend penibel geregelt.

Damit wuchs auch das Bedürfnis nach Aufzeichnungen; denn Gesetze, Verträge, Edikte sollten auch für die nachfolgenden Generationen, ja "für immer" gelten. Also entwickelte man eine Schrift und ein Zahlensystem. Letzteres konnte über die Vorräte und ihre Werte Auskunft geben, ebenso über Steuern und Tribute sowie deren Verwendung. Die wenigen, die des Schreibens, Lesens und Rechnens kundig waren, wurden hoch geschätzt, so daß es kein Wunder war, wenn sie sich als "Bürokratie" etablierten. Aber die geschilderte Entwicklung nimmt stets einige Jahrhunderte in Anspruch.

"Jede Kultur beginnt mit einem gewaltigen Thema", sie gibt einer Idee "eine lebendige historische Gestalt".7 Kultur bezeichnet Jacob Burckhardt als "Summe derjenigen Entwicklungen des Geistes, welche spontan geschehen".8 Sehr oft wird eine Religion Mutter der Kultur und ist dann mit dieser identisch; denn "eine mächtige Religion entfaltet sich in alle Dinge des Lebens hinein und färbt auf jede Regung des Geistes, auf jedes Element der Kultur ab".9

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Die erste Hochkultur in der menschlichen Geschichte war die der Sumerer im sogenannten Zweistromland des Euphrat und Tigris. Der Hauptort, die Stadt Ur, lag damals dort, wo der Euphrat in den Persischen Golf mündete, während der Fluß heute zusammen mit dem Tigris erst nach 200 Kilometern inzwischen ange­schwemmten Landes das Meer erreicht. Die natürlichen Voraussetzungen waren so glänzend, daß im Alten Testament das Paradies bekanntlich in jener Gegend angesiedelt wurde.

Es erscheint angebracht, diese früheste Hochkultur etwas eingehender zu beschreiben, zumal sie viel weniger bekannt ist als die beinahe gleichzeitige ägyptische. Das erstaunlichste Phänomen an der Kultur der Sumerer ist, daß sie ohne Vorbilder, man könnte sagen, aus dem Nichts entstand und sehr bald ein hohes Niveau erreichte.

 

Im Schwemmland jenes genannten Mündungsbeckens siedelte wohl ein aus Zentralasien eingewandertes Volk mit einheitlicher Sprache, Religion und Kunst in etwa einem Dutzend Stadtsiedlungen, die ihre eigenen Bewäss­erungssysteme von Generation zu Generation verbesserten und ausweiteten. Das wird fünf- bis sechs­hundert Jahre gedauert haben (3100-2500 v.Chr.). Erst dann stießen die Stadtstaaten, die immer größere Gebiete kultivierten, aneinander, und die Konflikte ergaben sich zum guten Teil aus den Wasserrechten für die dichter gewordenen Kanalsysteme.

Wie reich die einzelnen Stadtstaaten gewesen sein müssen, ist aus den Gräbern der Könige und den darin gefundenen Kostbarkeiten zu schließen. Ihre Wagen samt Zugochsen und die Männer und Frauen des Hofstaates wurden jeweils mitbestattet, nachdem sie ihrem Herrn mehr oder weniger freiwillig in den Tod gefolgt waren. Die Könige hatten die Aura der göttlichen Herkunft und waren zugleich oberste Priester. Im übrigen wurde der Staat von einer adeligen Aristokratie beherrscht, die zugleich die Priesterkaste sowie die hohen Beamten und Richter stellte. Jeder Stadtstaat hatte seinen eigenen religiösen Mittelpunkt, der zugleich Tempel und Verwaltungssitz des Staates war. Die Tempelbeamten betrieben auch die Schulen. 

Das Volk bestand aus freien Bürgern, zu denen auch die weniger angesehenen Ackerbauern, Viehzüchter, Gärtner, Fischer und Jäger gehörten, dazu kamen wenige Sklaven. An städtischen Berufen war bald alles vorhanden, was in den nächsten Jahr­tausenden in den kultivierten Gesellschaften üblich war:

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Müller, Bäcker, Fleischer, Bierbrauer, Weber, Lederarbeiter, Maurer, Tischler, Steinmetzen, Ziegelbrenner, Töpfer und natürlich die Schmiede, die Waffen und kunstvollen Schmuck herstellten. — Am angesehensten waren aber die Schreiber, mußten sie doch 2000 Zeichen, die später auf 600 reduziert wurden, beherrschen, wovon die ersten schon ab 3500- auf weiche Tontafeln geritzt worden sind. Über eine Million solcher Tontafeln sind gefunden worden. Ihre Entzifferung erlaubte die Rekonstruktion der Geschichte jener Kultur. Ein großer Teil der Aufzeichnungen diente der Buchhaltung der Lagerbestände, aber es gab auch schon Geldgeschäfte mit Kredit und Zins. Eine Post und ausgebaute Straßen zwischen den Städten sorgten für den Transport von Nachrichten und Waren. — Von den Wissenschaften wurden Astronomie, Mathematik und Medizin besonders intensiv betrieben.

In diesem gut funktionierenden Gemeinwesen entstand damals erstmalig, was Arnold Toynbee als "etwas Neues und Revolutionierendes" begriff: ein ökonomischer Überschuß. Zunächst wurde damit die mehr oder weniger "kulturtragende" Bevölkerung der Städte ernährt und behaust. Des weiteren ließen sich mit dem über das Existenzminimum hinaus Erwirtschafteten bessere Bewässerungsanlagen, prächtige Bauten mit Statuen und Kunstgegenständen sowie die nötigen wehrhaften Stadtmauern errichten. Damit entstanden aber auch schon die ersten gesellschaftlichen Gegensätze (wie wir heute sagen) zwischen Land und Stadt, aber auch innerhalb einer solchen Stadt bewirkte die Arbeitsteilung eine Aufspaltung der Bürger in verschiedene Stände, die sehr verschiedene Interessen entwickelten. 

Seit 2350- gab es offenbar auch Privatbesitz.

Schon in der ersten hochkultivierten Gesellschaft der menschlichen Geschichte tauchten also die Phänomene auf, die dann über 5000 Jahre bis heute immerzu wiederkehren. Aber auch die Konflikte mit anderen Völkern durchziehen die gesamte Geschichte Sumers, ohne daß dies der ökonomischen und kulturellen Blüte der Städte groß Abbruch tat! Die Kunde dieser neuen Lebens­weise und der Glanz dieser Kultur verbreitete sich natürlich in den umliegenden Ländern.

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Der Reichtum dieser ersten Städte reizte Nachbarn zu gewaltsamen Raubzügen; denn was hatten die Nomaden schon zu verlieren, und überdies galt jenen Menschen ihr eigenes Leben nicht gar so viel. Damit wird für jede Stadt eine gute Bewaffnung zwingend; dennoch sind die sumerischen Städte wiederholt geplündert worden. Manchmal haben sich die Eroberer auf Jahrzehnte und schließlich für immer als neue Herren eingenistet. Um die Abwehrkraft zu erhöhen, wurden größere Staatsgebilde vorteilhafter. So wuchsen die sechs Städte Sumers um 2340- zu einem Staat zusammen; doch der wurde schon zehn Jahre später vom König Sargon I. von Akkad in dessen Großreich einverleibt. Da dieses nun bis zum Mittelmeer reichte, bezeichnete er sich als "König der vier Weltgegenden". Die Akkader waren kriegerische Halbbarbaren, während Toynbee die kultiv­ierten Sumerer als "gottesfürchtig und geschäftstüchtig" charakterisiert.10

Das Großreich hielt 200 Jahre, bis es 2160- von den kriegerischen Gutäern überrannt wurde, die erst im Jahre 2070- wieder vertrieben werden konnten. Eine weitere Blütezeit, diesmal unter der Herrschaft von Ur und seiner 3. Dynastie, folgte, bis um 2000- die Elamiter aus dem Osten das Reich überfluteten, die wiederum von den aus Syrien kommenden Amoritern vertrieben wurden, die Babylon am Euphrat zu ihrer Hauptstadt erhoben, bis schließlich um 1500- das sumerische Zeitalter unter barbarischer Herrschaft zu Ende ging. Politisch trat Sumer noch ab und zu in Erscheinung, bis es um 500- aus der Geschichte vollends verschwand.

 

Die erste Kultur am Indus mit der Stadt Mohendscho Daro als Zentrum bestand von 2500 bis 1500-, ohne daß wir viel über sie und über ihr Ende wissen. Die zweite folgte sofort anschließend und hielt 1700 Jahre.

Die ägyptische Hochkultur, gleichaltrig mit der sumerischen, ist die älteste, von der wir schon sehr viel wissen. Ihr Staat ist wohl derjenige, in dem die Alleinherrschaft einer Person an der Spitze am dauerhaftesten blieb. Der Staat, das war der König (Pharao). Ihm gehörte alles Land und alles Vermögen oder wiederholt auch einer Königin, wie überhaupt die Frauen in Ägypten gleichberechtigt waren. Die Landbewirtschaftung besorgten die Staatsgüter mit Landarbeitern. Während der Arbeitspausen, die im Vegetationsjahr entstehen, widmeten sie sich dem Pyramidenbau. Erst nach 2000- gab es auch einige Sklaven, die sich aus Kriegs­gefangenen rekrutierten; doch diese waren nicht rechtlos. Die Verwaltung des Staates besorgten Beamte und Priester, wozu jeder aufsteigen konnte.

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Die Schulen hatten allgemeine Lebenslehren, die auswendig zu lernen waren, und vor allem die Schrift mit mehreren tausend Zeichen sowie ihre richtige Schreibung zu vermitteln. Das und auch die strenge Zucht erinnert an die Sumerer. Geschrieben wurde auf Papyrusrollen und Kalksteinscherben. Erhalten sind Briefe, Protokolle, Urkunden, einige literarische Werke, sogar solche mit Humor bis zur bissigen Satire. Vorherrsch­ende Wissenschaften waren Mathematik und Medizin. Die Ägypter rechneten in Dekaden und gingen schon vom Stellenwert der Ziffern aus, kannten aber noch nicht die Null. Medizinische Rezepte sind in großer Zahl über­liefert. Einige verdiente Persönlichkeiten sind namentlich bekannt, so der als Weiser verehrte Baumeister von Luxor, Amenophis, der um 2400- wirkte. Außer in den bekannten Monumentalbauten äußerte sich die Kunst der Ägypter in Plastik, Relief und Malerei. Wie die Musik geklungen haben mag, ist nicht zu ermitteln. An Instrumenten waren bekannt: Harfen, Leiern, Trommeln, Flöten, Oboen, Trompeten, ab 2000- auch die Laute.

Die Geselligkeit wurde sehr gepflegt. Es gab Lieder für alle Anlässe wie Arbeit, Jubel und Trauer sowie Liebeslieder. Erzählt wurden Märchen, Mythen, Anekdoten und Tiergeschichten; auch kultische Spiele kamen zur Aufführung. Hymnen über die Vergänglichkeit des Lebens spielten der Religion gemäß eine bedeutende Rolle.

Der Tod beherrschte alles Denken und Tun der Ägypter mehr als in jeder anderen Kultur. Sie glaubten an ein physisches Weiterleben nach dem Tode. Vor dem Totengericht würde sich jeder, auch der König, verantworten müssen. Dessen Urteil könnte dann lauten: Weiterleben oder zweiter, endgültiger Tod im Höllenrachen der "Fresserin". Obwohl die Gebote, nach denen zu leben war, nicht einer Offenbarung, sondern der Beobachtung der Natur entsprangen, war ein "Abfall" von ihnen wie im Alten Testament eine stets drohende Gefahr. Aus dem Schöpfungsvorgang ergeben sich die Lebensnormen der Welt. Der Schöpfergott Atum oder Re hatte mit seiner Person auch die Zweigeschlechtlichkeit begründet. Die Hauptgötter und Göttinnen verkörpern verschiedene Naturbereiche und wurden teils in menschlicher, teils in tierischer Gestalt dargestellt.

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Der Gegensatz zwischen dem fruchtbaren Land, verkörpert durch die Göttin Osiris, und der dürren Wüste, verkörpert durch den Gott Seth, bestimmte das Lebensgefühl der Nilanwohner. Seit 1200- gab es drei oberste Götter, von denen der höchste stets unsichtbar bleibt. Nebenbei gab es eine unbegrenzte Zahl von Lokalgöttern. Die zentralen Götter aber, die für die verschiedenen Naturkräfte zuständig sind, tauchen später auch im griechischen Götterhimmel wieder auf. Im Gegensatz zu den antiken Göttern, die selbst dem Schicksal ausgeliefert sind, hatten die ägyptischen die Macht, das Schicksal zu ändern.

Das Schicksal der ägyptischen Kultur konnten ihre Götter offensichtlich nicht abwenden, sie siechte dahin, und nur ihre kolossalen Monumente blieben. Der Staat verlor seine Selbständigkeit durch Alexander den Großen 332-, nach dessen Tod und Dreiteilung seines Imperiums bildete Ägypten das Zentrum des Teiles, den die Ptolemäer beherrschten.

Die prächtige Minoische Kultur auf der Insel Kreta gehört auch zu den älteren (2600 bis 1400) und dürfte ihr abruptes Ende durch ein Erdbeben gefunden haben. Die ihr nahe verwandte Mykenische Kultur brachte es auf 800 Jahre. Als sie um 1000- auslief, waren bereits die Dorier ab 1250- in Hellas eingewandert. Diese nannten sich Hellenen und hatten für ihre Höchstkultur rund 1400 Jahre Zeit, bis sie um 150 n. Chr. von den Römern unterworfen wurden. Danach wirkte ihre Kultur allerdings noch im gesamten Mittelmeerraum bis weit nach Asien hinein fort — und damit natürlich auch im Römischen Reich und schließlich in ganz Europa.

Das Römische Reich brachte es nur auf 1000 Jahre, wobei die aufsteigende Hälfte bis in die Zeit Christi reichte, wonach der Niedergang folgte. Die römische Kultur mit der griechischen unter dem Namen Antike zusammenzufassen, wie das auch Oswald Spengler tut, halte ich für unberechtigt. Allerdings entstand aus diesen beiden erstmalig eine Folgekultur, die Kultur Europas. Diese nutzte die Vorteile, sogleich an ein solch hohes Niveau anknüpfen zu können, was früher noch keine Kultur in derartigem Umfang getan hatte. Die Ergebnisse der beiden antiken Kulturen waren nicht nur in der Technik in den Bau- und Kunstwerken erhalten, sondern auch in vollendeten Sprachen aufgezeichnet und aufbewahrt worden wie noch nie in der bisherigen Geschichte des Menschen.

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Neben der erwiesenen Gleichartigkeit der Kulturzyklen gibt es viele überraschende Übereinstimmungen in ihren gesellschaftlichen Ordnungen. Alle Völker und Staaten waren über die weitaus längste Zeit ihrer Geschichte hierarchisch gegliedert, teils in straffer, teils in weniger straffer Form. Die Pyramide kann vom König bis zum leibeigenen Sklaven reichen, sie kann radikal die Kasten von den Brahmanen bis zu den Unberührbaren in Stufen trennen; in Indien stieß ein bescheidener Versuch der Auflockerung auch im Jahre 1990 noch auf heftigen Widerstand. Abstufungen sind dort die Regel, wo sich verschiedene Völker übereinander oder zueinander gefügt haben. Andererseits gibt es homogene Gesellschaften freier Menschen, die sich einen König wählten wie die Germanen (auch das nur in Kriegszeiten), oder solche, die ihren Dynastien das Recht der erblichen Herrschaft zubilligten, zumal wenn deren göttliches Geblüt nicht in Zweifel gezogen wurde.

Da gerade Staaten mit hoher Kultur fruchtbares Umland nötig hatten, mußte dieses verwaltet und kontrolliert werden, was fast überall zum Lehensprinzip führte. Die Geschichte beweist auch, daß dies die dauerhafteste Form der Staatsorganisation gewesen ist, die sich gerade in den Hochkulturen die längste Zeit behauptet hat. Der Belehnte hat sein Land und Volk wie persönliches Eigentum seiner Familie betrachtet, und das veranlaßte ihn, es so zu pflegen, daß auch seine Nachkommen gut oder besser damit leben konnten. Der vorübergehend eingesetzte Beamte hat dagegen keine innere Bindung an das Land, lediglich das Interesse an schneller Ausbeutung.

Hier zeigen sich Parallelen zur Wirtschaft der Gegenwart, wo sich jetzt auch, am Ende des 20. Jahr­hunderts, die Überlegenheit des Privatbesitzes über die Kollektiv­verwaltung erwiesen hat. Mißbräuche auf der einen und rühmliche Ausnahmen auf der anderen Seite sind in allen Systemen immer wieder vorgekommen, ändern aber nichts an den grundsätzlichen Erfahrungen, die in Jahrtausenden gewonnen wurden. Zwangsläufig waren die Feudalherren darauf bedacht, ihre Macht- und Rechtsstellung auf Kosten der monarchischen Zentral­gewalt auszubauen. Daraus ergaben sich ständige Konflikte, die alle Lehenssysteme begleitet haben.

Eine andere Konfliktquelle entsteht bei der monarchischen Spitze aus dem Verhältnis des Herrschers zur Religion. Der von der Staatsräson her günstigste Fall liegt vor, wenn zwischen weltlichem und religiösem Oberhaupt eine Personalunion existiert.

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In der Frühzeit haben sich die Herrscher sehr oft auf einen unmittelbaren göttlichen Auftrag berufen, wenn sie nicht sogar behaupteten, selbst göttlicher Abstammung zu sein. Bei den Ägyptern galt ab der 5. Dynastie der Pharao als einer, der von einem göttlichen Wort statt von einem Vater abstammt, allerdings Sohn einer menschlichen Mutter ist. Von der gleichen Überzeugung gingen die Anhänger Jesu in bezug auf dessen Herkunft aus.11 Den Anspruch, legitime Nachfahren der fleischgewordenen göttlichen Pharaonen zu sein, erhoben auch noch die römischen Kaiser, was erst Mark Aurel (121-180) ablehnte. 12) 

In Europa kam es über Jahrhunderte zum Streit zwischen Kaisertum und Papsttum um den vorrangigen göttlichen Auftrag, den der Papst als "Nachfolger Christi" für sich in Anspruch nahm, während der Kaiser seine Krone von den römischen Cäsaren ableitete. Ein Rest des göttlichen Auftrags blieb in der Formel "Wir, von Gottes Gnaden ..." noch bis ins 20. Jahrhundert erhalten. Der Dalai Lama, der letzte Herrscher, der zugleich geistlich-religiöses Oberhaupt ist, verlor sein Land durch die chinesische Besetzung.

In China war der König oder Kaiser in seiner Person nicht von göttlicher Abstammung, besaß aber göttergleiche Ahnen und einen Auftrag als "Abgesandter des Himmels". Bei den Indianerkulturen Mittel- und Südamerikas war die Göttlichkeit der Herrscher selbstverständlich. — Völlig fremd waren dagegen solche Vorstellungen den Griechen; sie vergöttlichten nicht ihre Herrscher, sie vermenschlichten vielmehr ihre Götter.

Überall dort, wo die Priesterschaft ein eigenständiger Faktor war, kam es auch zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen ihr und der weltlichen Herrschaft, sowohl auf oberster Ebene als auch im regionalen Bereich. Jahrhundertelang waren im christlichen Europa die Kaiser als auch die Päpste bestrebt, die Fürsten auf ihre Seite zu ziehen. Das Gerangel endete erst mit dem Dreißigjährigen Krieg. Die Priesterschaft war im allgemeinen, insbesondere in der katholischen Kirche, der besser organisierte Faktor. Sie hatte im weltlichen Bereich nur dort einen ebenbürtigen Widerpart, wo es eine gut organisierte Beamtenschaft gab.

Eine solche kann ihre längste Tradition in China aufweisen. Sie hatte dort eine hohe geistige Bildung und war auch Träger der Kultur. Sie unterhielt eigene Akademien, wo sie ab 165- Staatsprüfungen abnahm. Da die Beamten sich aber zugleich immer mehr Land aneigneten, wurden sie zu Großgrundbesitzern, womit sie auch politische Macht gleich dem Landadel bekamen.

In Europa konnte die Beamtenschaft erst dort zum Zuge kommen, wo der Kircheneinfluß zurückgedrängt wurde, also in den einzelnen Ländern zu unterschied­lichen Zeiten. In Deutschland geschah das in der Epoche des Absolutismus, wobei die Entwicklung in Preußen eine Art Mustercharakter annahm.

Demokratisch konstituierte Gesellschaften existieren in der gesamten Weltgeschichte selten und auf relativ kurze Fristen. Würden wir ihre Dauer und regionale Verbreitung addieren, so kämen wir auf ein mageres Ergebnis. Ihr Schwerpunkt liegt seit jeher und heute ganz besonders im indogermanischen Siedlungsraum. Nur weil die euroamerikanischen Völker aufgrund ihrer überragenden Technik gewisse Vorbildfunktionen erlangt haben, konnte sich die demokratische Staatsform etwas weiter verbreiten, wobei manche formelle Übernahme allerdings als Farce eingestuft werden muß. Die Demokratie schafft nicht den höheren Bildungs­grad und den Wohlstand, sondern erst dort, wo sie erreicht worden sind, kann dann auch die Demokratie funktionieren.

Mit jeder Hochkultur entsteht eine differenzierte Gesellschaft, die der Organisation bedarf und damit auch den Staat vor immerzu neue Probleme stellt. Erstaunlicherweise sind in allen Kulturen immer wieder mit wechselndem Erfolg die gleichen Staatsformen durchprobiert worden, ohne daß es jemals zu einer endgültigen gekommen ist.

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Himmelfahrt ins Nichts  von Herbert Gruhl 1992