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2.4  Die Schrift als dritter Erbgang

 

  Am Anfang war das Wort. 
  Evangelium Johannes 1,1. 

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Eine reiche Erbschaft mit bedeutenden Nachwirkungen haben uns einige der Hochkulturen hinterlassen: schrift­liche Aufzeichnungen. Mit der Schrift wurde sozusagen ein dritter Erbgang eingeführt. Den grund­legenden genetischen Erbgang haben wir mit allen Lebewesen gemeinsam. Allein beim Menschen kam sehr früh ein zweiter Erbgang hinzu: das gesprochene Wort, die Sprache. Damit konnte er erworbene Kenntnisse an seine Nachkommen von Generation zu Generation weitergeben.

Schon unsere Urvorfahren werden sich an den langen dunklen Winterabenden mit erlebten und erfundenen Geschichten unterhalten haben. Da lauschten sie sicher angespannt auf jedes Wort, um es wieder- und weiter­erzählen zu können. Ihr ohnehin gutes Gedächtnis wurde damit weiter trainiert. Dennoch wird vieles verloren gegangen, anderes im Laufe der Zeit verändert und auch manchmal verfälscht worden sein. Erst als die Schrift hinzu kam, konnte man die Mitteilungen und Geschichten auf Dauer und im ursprünglichen Wortlaut konservieren, solange äußere Umstände die Schreibtafeln oder Pergamente nicht zerstörten, was früher in den weitaus meisten Fällen geschehen ist.

Schon seit 20.000- gab es Aufzeichnungen von Zahlen und Mitteilungen, die man auf Tierknochen ritzte. Die erste Schriftsprache haben dann die Sumerer erfunden. Sie tauchte weit vor 3000- auf und hatte um 2000- bereits 2000 Symbole. Die dafür begabten Kinder lernten die Zeichen in anstrengendem Schulunterricht unter Prügeln.32 Sie ritzten die bildhaften Zeichen, die zum Teil auch schon Laute bezeichneten, auf Tontafeln, von denen mehr als eine Million gefunden werden konnten. Diese Schrift verbreitete sich im Vorderen Orient, wo sie von erstaunlich vielen Sprachen übernommen wurde.

Die Ägypter entwickelten ihre eigene Schrift wenig später. Sie meißelten ihre Hieroglyphen in die Stein­denk­mäler oder malten sie auf gebrannten Ton und bald auch auf Papyrusrollen, ein dem Papier ähnliches Material, das sie aus den Fasern der Papyrus­staude gewannen.

Die Elamiter, die das Gebiet des heutigen Iran bewohnten, entwickelten ab 3000- ebenfalls eine eigene Schrift, die 1961 entziffert werden konnte. Eine eigene Erfindung war auch die Schrift der ersten Induskultur um 2300-, von der wenig erhalten blieb, da sie vorwiegend auf Flächen aufgetragen wurde, deren Material die Jahrtausende nicht überstand. Die um 2000- auf Kreta auftauchende Schrift war ebenfalls eine Eigenentwicklung, die der Norweger Kjell Aartun in den letzten Jahren entschlüsseln konnte. Auch die eigenartigen Hieroglyphen der Hethiter waren erst in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts entschlüsselt worden.

Daß sich im weit entfernten China eine eigene Schrift entwickelt hat, ist weniger verwunderlich. Ihre Bildsymbole, deren es 213- um die 3300 gab, boten jedoch keine Entwicklungsmöglichkeiten. Diese auch von den Japanern übernommene Schrift kann man als Sackgasse bezeichnen.

Die erfolgreiche Schriftsprache, deren System bis heute gültig blieb, nahm ihren Anfang bei den Phöniziern und verbreitete sich zwischen 1100 und 900 rund um das Mittelmeer. Eine Buchstabengruppe entsprach nun einer Lautgruppe, obwohl die Vokale noch nicht geschrieben wurden. Man kann sagen, daß sich dieses semitische Alphabet schließlich über die ganze Welt außer Ostasien verbreitet hat.

Um 800- schufen die Hellenen die erste vollendete Schriftsprache, indem sie dem Alphabet von Konsonanten die Vokale hinzufügten. Sie erweiterten den Wortschatz so, daß sich auch abstrakteste Gedankengänge darlegen ließen. Damit hatte es zur Entwicklung der Schriftsprache von den Anfängen bis zu ihrer Perfektion dreier Jahrtausende bedurft. Und seitdem sind wieder fast drei Jahrtausende vergangen, ohne daß die sprachliche Ausdrucksfähigkeit noch wesentlich verbessert wurde oder verbessert werden konnte. — Gebildete Menschen haben seitdem nicht nur die Möglichkeit der Verständigung, sondern auch der Archivierung des Wissens, das seitdem nur durch Brand und Zerstörung verloren gehen kann. Ein großer Teil ist allerdings durch die Gleich­gültigkeit nachfolgender Barbaren vernichtet worden.

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Die ersten umfangreicheren Schriften, die ihre eigene Kultur überlebten, waren die griechischen und latein­ischen. Seitdem haben wir einen ziemlich breiten Strom überkommener Texte, die eine Grundlage für die europäische Bildung legten. Erstmalig in der Geschichte der Menschen konnte damit auf einem Sprach- und Bildungs­fundament, das fertig vorlag, weiter aufgebaut werden.

Vor allem, seit sich mit der Drucktechnik die Texte vervielfältigen ließen, sitzen die Generationen der Studenten über den Büchern, um sich die von Jahrhundert zu Jahrhundert vermehrten Kenntnisse anzueignen. Seitdem verbringen die Heranwachsenden immer mehr Jahre ihres Lebens, um sich möglichst viel von diesem dritten Erbgang einzutrichtern, der ins Lawinenhafte gewachsen ist. Der Anteil des unnützen Zeugs stieg natürlich entsprechend.

Wenn man an die Gebirge von Büchern und Zeitschriften denkt, die heute in den Bibliotheken gehortet werden, dann ist leicht einzusehen, daß Quantität und Qualität kaum irgendwo so absurd auseinander­klaffen wie in diesem Bereich. 

Doch wer das Spezielle, ja das Absonderliche sucht, der findet es auch. Aber das Stückchen aus der Masse, durch das sich ein Mensch im Laufe seines Lebens noch durchfressen kann, wird immer winziger. 

Trotzdem muß betont werden, daß der einzelne damit eine enorme Erweiterung seines Wissens erreichen kann, seitdem bereits Erkanntes nicht mehr mit dem Tod des Wissensträgers verloren geht, so daß weitere Erkenntnisse darauf aufbauen können. Wäre diese Kumulation in den letzten Jahrtausenden nicht möglich geworden, dann hätte es zum Beispiel nie zum Mondflug kommen können.

 

Das Latein war die erste Schriftsprache, die von einer anderen Kultur komplett übernommen wurde. Sie blieb bis ins 18. Jahrhundert die Sprache der europä­ischen Wissenschaft. Ihre Buchstaben wurden von den Romanen, den Germanen und einem Teil der Slawen übernommen, während die übrigen Slawen die kyrillischen Buchstaben der Griechen bevorzugten. Damit erwies sich die europäische als vergangenheits­bewußte Kultur; denn keiner anderen vor ihr wäre es auch nur im Traum eingefallen, in aller Welt nach Altertümern zu graben und die alten Schriftzeichen zu deuten. Zu diesem historischen Bewußtsein hat auch die christliche Religion ihren Teil beigetragen; denn es war eine aus der Vergangenheit adaptierte Religion, die ihr eigenes historisches Bewußtsein überdies im Alten Testament bekundet. 

Dort glaubte "die Schrift" mit nichts Geringerem als mit der Entstehung der Welt beginnen zu dürfen und sich auch Gedanken über das Ende der Welt machen zu müssen. Dies war eine Betrachtungsweise, die sogar den Germanen einleuchtete, die selbst solche Mythen über die Schöpfung und deren einstigen Untergang zu ihrem Glaubensbestand zählten.

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Ein Zahlensystem, mit dem sich gut rechnen läßt, kam im Jahre 1202 mit den indisch-arabischen Ziffern nach Europa. Der indische Mathematiker und Astronom Brahmagupta hatte es schon 628 entwickelt. Es arbeitet mit der Ziffer 0 und macht den Wert einer Zahl abhängig von der Stelle, an der die Ziffern stehen. Mit nur 10 verschiedenen Zeichen lassen sich Zahlen bis ins Unendliche bilden. Ohne die Null wäre zum Beispiel auch der heutige Computer undenkbar. Es ist höchst interessant, daß — völlig unabhängig von Europa — die Mayas in Mittelamerika über die Bilderschrift hinaus abstrakte Zeichen entwickelt haben. Sie kannten auch die Null und stellten komplizierte Berechnungen an.

Daß die Europäer, selbst die unermüdlichsten Sucher, es nicht verschmähten, auf von früheren Kulturen Gefundenes zurück­zugreifen, hatte ungeahnte Folgen. Diese Überführung der geistigen Errungenschaften wäre nicht so gut gelungen, wenn dafür nicht eine Institution vorhanden gewesen wäre: die christliche Kirche. In ihren Klöstern wurde alles aufbewahrt, was aus der Antike und Palästina überkommen war, und wieder und wieder abgeschrieben. Dabei machten die Mönche wenig Unter­schied zwischen religiösen und weltlichen Texten. Somit wurde ein geistiger Evolutions­schub möglich, wie er in der Geschichte des Menschen vorher noch nicht dagewesen ist.

 

Die Sprache hat auch einen wachsenden Eigenwert bekommen, denn aus ihr entstand eine große Kunst des Menschen: die Dichtung. Alle Schrift­kulturen haben uns bedeutende Sprachkunstwerke hinterlassen: Epen und Gedichte, Dramen und Komödien. Wir beschränken uns hier auf eine kurze Betrachtung der Epen. In ihnen finden die Mythen und Sagen der Völker ihre großartige Gestaltung. Aus ihnen erfahren wir viel über die Lebensnöte und die gefeierten Feste, über Liebe, Kampf und Tod. Wir hören ihre Vorstellungen über die Natur und das Jenseits, über die Unterwelt und über die Götter. Gewisse große Themen kehren immer wieder. Eines davon ist die Sintflut. Schon im Gilgamesch-Epos ist von ihr die Rede, im Alten Testament spielte sie eine wichtige Rolle, des weiteren in den griechischen Mythen und denen der Mayas im völlig abgeschiedenen Amerika. 

*(d-2015:)  wikipedia  Brahmagupta  598-668 

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Da es weltweit über 200 solcher Berichte gibt, darf wohl angenommen werden, daß die schreckliche Erinnerung an das Ansteigen des Weltwasserspiegels um 70 Meter (!) aufgrund der zu Ende gehenden Eiszeit tiefe Spuren im Gedächtnis der Völker hinterlassen hat. Da die bevorzugten Wohnstätten zumeist an den Küsten gelegen haben, müssen viele davon nach und nach in den Fluten versunken sein — was verschiedentlich als Strafe der Götter gedeutet wurde. Wie die historisch belegten Springfluten beweisen, geht ja das Land nicht kontinuierlich verloren, sondern in periodisch auftretenden großen Sturmfluten.

Das <Gilgamesch-Epos> stammt aus der Frühzeit der ersten hohen Kultur, der von Sumer. Es beruht auf der historischen Person des Königs Gilgamesch von Uruk, der ab 2750- regierte und dem sagenhafte Abenteuer angedichtet wurden. Sie ergaben sich aus dem unstillbaren Wunsch Gilgameschs, die Unsterblichkeit zu erlangen. Sein vergeblicher Drang läßt sich mit der Tragödie des <Faust> vergleichen, womit die über­raschende Nähe jener Gedanken­welt zu der unserer Zeit deutlich wird. Gilgamesch erhält die nieder­schmett­ernde Auskunft: "Das Leben, das du suchst, wirst du sicher nicht finden! Als die Götter die Menschheit schufen, teilten den Tod sie der Menschheit zu."

In der Frühzeit der Kulturen taucht in der Regel ein großes Epos auf. Die zweitältesten literarischen Zeugnisse kommen aus Indien, wo zwischen 1500 und 1200 die Veden entstanden, eine Sammlung von Liedern und Sprüchen, die um 1000- in der Weltschöpfungshymne "Rigveda" gipfelten. Ihr Gehalt kehrt dann im 8. und 7. vorchristlichen Jahrhundert in den Upanischaden wieder, die tiefsinnige Betrachtungen über Ursprung und Wesen der Welt enthalten und bereits in der indogermanischen Sprache des Sanskrit niedergeschrieben wurden. Diese literarische Tradition setzt sich dann im Epos "Mahabharata" um 200- fort.

Das Alte Testament mit seinen 39 Büchern kann man als zusammengetragenes Epos des jüdisch-israel­ischen Volkes in Prosa bezeichnen. Auch diese Texte wurden zu Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. aufgezeichnet, bringen aber eindrucksvolle Schilderungen von Ereignissen, deren Sage bis auf 4000- zurückreicht. — Für die Ägypter hatte "Die Geschichte des Sinuhe" große Bedeutung. Sie erzählt von einem Beamten, der aus politischen Gründen nach Asien flieht und nach Abenteuern schließ­lich heimkehrt. 

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Zu den gewaltigsten Epen der ganzen Menschheitsgeschichte gehören zweifellos die dem Homer zugeschriebenen Bücher <Ilias> und <Odyssee>. Sie bilden gleichsam die Ouvertüre der reich­haltigen hellenischen Dichtung, die später kaum noch in irgendeinem Land überboten werden konnte. Wenigstens genannt müssen hier werden: Hesiod und Pindar, die Dramatiker Aeschylos, Euripides und Sophokles sowie der Komödiendichter Aristophanes.

Das Nationalepos der Römer, die <Aeneis>, steht allerdings nicht am Anfang der Geschichte Roms; Vergil brachte die 12 Bücher unter Kaiser Augustus nicht ganz zu Ende, als er im Jahre 19- starb. Horaz und Ovid lebten um die gleiche Zeit.

Die arabische Sprache lieferte zur Weltliteratur kein Epos, sondern <Die Geschichten aus 1001 Nacht>.

Die Germanen traten ähnlich den Hellenen mit Heldenepen in die Weltliteratur ein, die in den Jahrhunderten nach der Völker­wanderung entstanden waren. Das fränkische <Rolandslied> ist wohl das um 1100 zuerst aufgezeichnete, dem die Sagen um den König Artus folgten. Das <Nibelungenlied> von nach wie vor ungeklärter Herkunft kann sich mit Homers Heldendichtung messen. Der <Parsifal> des Wolfram von Eschenbach bildet gleichsam den Übergang zum Liebesepos <Tristan und Isolde> des Gottfried von Straßburg.

In diese Richtung geht eine der edelsten Gefühlsbewegungen, die Menschen jemals in Dichtung umgesetzt haben, der Minnesang, von der französischen Provence herkommend. Mag sein, daß nur durch die vergeistigte christliche Religion, die ja auch die Mystik hervorbrachte, jene Sublimierung der Geschlechter­liebe entstehen konnte. In der Spannung zwischen Himmel und Erde wurden die edelsten Regungen in den Himmel verlegt; denn der Verzicht steht höher als die Erfüllung.

Die überirdische Liebe ist auch der Hintergrund des einzigartigen christlichen Epos, das zugleich am Beginn der italienischen Renaissance steht: der <Göttlichen Komödie> von Dante Alighieri, die er in seinem Todesjahr 1321 vollendete. Im kulturell damals vorauseilenden Spanien war schon um 1140 das Nationalepos <Der Cid> entstanden, das den Kampf gegen die Araber schildert. Die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit ist wieder die Grundlage des <Don Quijote> von Miguel de Cervantes kurz nach 1600. Er starb an dem Tag, als Shakespeare geboren wurde, am 23.4.1616.

Es war das Jahrhundert der großen Dramen des Lope de Vega und Calderon und das der spanischen Komödien. Molières Komödien eroberten Frankreich, wo Pierre Corneille und Jean Racine das Zeitalter des klassischen Dramas begründeten. 

Das folgende 18. Jahrhundert wurde das der weitwirkenden französischen Schriftsteller, deren Mittelpunkt Paris war. In den anderen europäischen Ländern gab es dagegen viele örtliche Glanzlichter. Weimar bildete ein deutsches Zentrum während der Goethezeit. Die hervorragenden Geister, die mit der Klassik und Romantik verbunden sind, konnten denen Griechenlands noch einmal nahekommen, sie vielleicht hier und da auch übertreffen. 

Während die große Dichtung in der Biedermeierzeit auslief, wurden im 19. Jahrhundert die Erfinder und die abenteuerlichen Entdecker ferner Länder zum Gegenstand der realistischen und romanhaft beschreibenden Literatur. 

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Himmelfahrt ins Nichts  Literatur  (402) von Herbert Gruhl 1992