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2.5  Die Religionen

Die Weltreligionen sind es, 
welche die größten historischen Krisen herbeiführen. 
Der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt

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Daß es in der Natur aus undurchschaubaren Gründen Leben gibt, konnten die Menschen von Anbeginn alle Tage beobachten. Vögel schlüpften aus Eiern, Säugetiere kamen auf die gleiche Weise zur Welt wie die Menschen; Pflanzen wuchsen und bildeten Samen, aus dem wieder neue keimten. Wie das alles sein konnte, blieb rätselhaft — bis heute! Daß es aber mit der Sonne zu tun hatte, sah man am Wuchs der Pflanzen und merkte es am eigenen Körper, der sich in der Sonnenwärme wohl fühlte, in ihrer Abwesen­heit fror.

Darum zählt die Sonne in jeder polytheistischen Religion zu den höchsten Göttern, wenn sie nicht gar der oberste Gott ist. Der Mond und die Gestirne sind im Götterhimmel meist irgendwie vertreten. Die irdischen Elemente stellt man sich auch als göttliche Wesen vor: das Wasser im allgemeinen oder den Fluß, an dem man siedelt, im besonderen; auch der Äther ist schon ein Gott, obwohl die Lebenskraft des Sauerstoffes noch bis Ende des 18. Jahrhunderts unbekannt blieb

Und eine Kraft, die Blitz und Donner auslösen kann, mußte wohl in den Händen eines Gottes liegen — wie das Feuer überhaupt. Der Regengott hat in allen meso­amerikan­ischen Kulturen einen hohen Rang, denn das Ausbleiben des Regens bedeutete Hungersnot. 

Und die Erde ist fruchtbar auf Grund einer göttlichen Lebenskraft, wie sie offenbar auch in der Frau wirkt; darum ist die Mutter Erde die "Nährerin aller Geschöpfe", wie es in einer der "Homerischen Hymnen" heißt. Der hellenische Philosoph Prodikos aus Keos faßte das bereits im fünften Jahrhundert v.Chr. klug zusammen: 

"Sonne, Mond, Flüsse und Quellen, kurz alles, was unser Leben fördert, hielt man im Altertum für Götter um des Nutzens willen, der davon ausgeht, wie die Ägypter den Nil; und deshalb sah man im Brote Demeter, im Wein Dionysos, im Wasser Poseidon, im Feuer Hephastos und so weiter, in allem brauchbaren eine Gottheit."33

Wenn wir über die Zeit der gesamten Kulturgeschichte, also der letzten 5000 Jahre, die Zahl der Götter ermitteln könnten, welche die Völker, Stämme und Städte verehrt haben, dann kämen wir sicher in den Bereich der Zehntausende. Allein in Mekka wurden vor Mohammed etwa 300 Götter verehrt, in West­afrika bei den Negerstämmen 400. 

Im großen und ganzen sind bei den verschiedenen Völkern allerdings nur die Namen unterschiedlich, während bestimmte Wesenszüge der Götter immer wiederkehren; denn sie verkörpern die Mächte, von denen der Mensch sich abhängig fühlt. Damit ist der Polytheismus durchaus ökologisch, denn die Natur ist eben voll von geheimnisvollen Kräften.

Wie weitgehend der Mensch das eigene natürliche Zusammenleben auf die Götter übertragen hat, erweist sich daran, daß auch diese in der Regel in Familien leben. Und wie in der Natur ein Wesen aus dem anderen entsteht, so entstehen auch die Götter meist durch Geburt. Da gibt es Väter, Mütter, Kinder und Verschwägerte. 

Auch in der christlichen Religion gibt es Vater und Sohn und die "Heilige Familie", in der dieser aufwuchs. Im herausgehobenen Oberhaupt der Götterfamilie zeichnete sich schon die Tendenz zum Monotheismus ab, wobei der höchste Gott in verschiedenen Religionen durch eine Frau verkörpert wurde. Untereinander tragen die Götter ihre Zwistigkeiten aus, genau wie es die Menschen oder die wetterwendischen Elemente der Natur tun. 

Die christliche unter die monotheistischen Religionen einzuordnen, fällt schon schwer. Denn bereits ihren Namen bezieht sie von Jesus, Gottes Sohn, dem "Heiland". Und dann gehört auch noch der Heilige Geist zur "Heiligen Dreieinigkeit". Überdies wird in der Katholischen Kirche die Mutter Maria angebetet, von der Toynbee - selbst Katholik - sagt, daß sie in dieser Konfession die Rolle einer Göttin innehabe. Und in den zahlreichen Heiligen lebt auch die Vielgötterei der alten Völker, besonders der Römer, fort.

Da die Götter menschenähnliche Regungen haben, müssen sie auch auf menschenähnliche Weise besänftigt und günstig gestimmt werden: durch Geschenke. Das geschieht in den meisten Religionen, indem man ihnen etwas opfert. Das kann ein Teil der Feldfrucht sein oder ein Tier, das für einen Gott geschlachtet und den Flammen übergeben wird. 

* (d-2015:)  wikipedia  Prodikos_von_Keos   ca. 450 bis 400 v.Chr.       Jacob Burckhardt bei detopia 

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An gewissen Zeichen glaubte man zu erkennen, ob Gott das Opfer huldvoll annahm oder es zurückwies. Das bezeugt die Geschichte von Kain und Abel: Aus dem einseitigen Wohlwollen des gleichen Gottes ergibt sich der Zorn des Kain mit der Folge des Brudermordes. Um wieviel stärker muß da die Feindschaft werden, wenn die Kontrahenten im Dienst verschiedener Götter stehen, so daß nicht nur der andere Mensch, sondern mit ihm auch der fremde Gott bekriegt wird.

Je überzeugter Menschen von ihrer wahren Lehre gewesen sind, um so fanatischer war schon immer ihre Bereitschaft, dafür Opfer zu bringen — auch Menschenopfer. Ursprünglich aus einem Gefühl der Schuld gegenüber den göttlichen Naturmächten, deren Segen (der oft ausbleiben konnte) man nicht ohne Gegengabe, ohne einen Tribut erwarten durfte. Bei dieser Denkweise erschien es auch keineswegs so abwegig, einem fremden Herrscher Tribut zu zollen, wenn er sich als der Stärkere erwiesen hatte; denn da mußte ihm doch ein Gott beigestanden haben.

So wurden also den Göttern die Früchte der Erde dargebracht, Tiere geopfert, wovon die Bibel voll ist — und auch Menschen. Abraham war entschlossen, seinen einzigen Sohn Isaak zu opfern, und das war damals gar nicht so ungewöhnlich. Noch im Jahrtausend vor Christus war es in Syrien üblich, Kinder bei lebendigem Leibe zu verbrennen, um die Götter günstig zu stimmen. Aus diesem Grund opferte König Ahab von Juda dem Gott seinen Sohn, indem er ihn lebend verbrennen ließ, und sein Nachfolger, König Manasse (687-642), tat das Gleiche.34

Der Gott Baal wurde in Syrien, Phönizien, Kanaan und zu Zeiten auch in Israel verehrt. Er ist der Gott der Sonne, des Feuers und der Fruchtbarkeit. Er fordert von allem das Erste: die erste Gerste des Jahres, das erste Brot, die ersten Lämmer und die ersten Kinder, dabei bevorzugt er die Söhne der Adeligen. Das Kind wird der Statue (dem "Moloch") in die Hand gelegt und gleitet in das Innere des Ofens. Auch die Karthager opferten Menschen.35 

In Spanien gab es die letzten Menschenopfer im Jahre 206 v. Chr. Die mittelamerikanischen Indianer­kulturen opferten ihren Göttern die Menschen massenweise in ausgeklügelten Riten und Festen. Teils waren es Jugendliche des eigenen Volkes, die zuvor eine bevorzugte Behandlung genossen, aber vorwiegend wohl im Krieg gefangene Jugendliche benachbarter Völker. Zu deren Beschaffung mußten immer wieder Kriege geführt werden; zu den Tributen unterworfener Völker gehörte die Lieferung von Knaben und Mädchen zur Opferung.36  In welcher Angst müssen diese Völker gelebt haben!

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Noch barbarischer ist wohl der Kannibalismus, den einige Forscher auch den meso­amerikanischen Kulturen unterstellen. Der Anthropologe Marvin Harris ist der Ansicht, daß die menschlichen Körper der rituellen Massenabschlachtungen zugleich der Versorgung der Bevölkerung mit dem fehlenden tierischen Protein dienten.37

 

Mit der Zunahme des Wissens und des abstrahierenden Denkens wurden die Gottesvorstellungen ebenfalls vergeistigter. Das lief auf den Monotheismus hinaus: Ein Gott lenkt die Geschicke der Welt und des Menschen. Das hieß, weg von der Vielfalt der Natur, hin zu dem einen Logos, dem Geist, der alles durchdringt. Das wird deutlich im Heiligen Geist der christlichen Religion, im Karma der buddhistischen.

Das hat aber keineswegs zu einem Gott aller Menschen geführt, sondern lediglich zur Bildung größerer Religions­gemeinschaften, im wesentlichen zu drei Weltreligionen: Buddhismus, Christentum und Islam; doch auch der Hinduismus zählt heute rund 650 Millionen Anhänger.

Die Stiftung einiger die Völker übergreifenden Religionen ist eng mit der Vollendung von Schriftsprachen verbunden. Mose schrieb seine zehn Gebote auf Steintafeln. Zarathustra zeichnete seine Glaubenssätze auf. Mohammed verfaßte den Koran. Die christliche Lehre ist mit einem ganzen Wust von Schriften an die Welt getreten; die Bibel benötigt bei normaler Druckschrift 3000 Seiten — nur wenige getaufte Christen haben sie alle gelesen. Christus selbst schrieb keine Zeile davon, wie auch Buddha nichts schrieb. Aber unzählige Generationen von Theologen hatten über Jahrhunderte genügend Stoff für strittige Auslegungen und bitterste Auseinander­setzungen.

Gemeinsam ist den drei Weltreligionen der Glaube an die Unsterblichkeit, an die Existenz einer vom Körper unabhängigen Seele und das Wirken Gottes durch den Heiligen Geist. Alle drei finden ihr Zentrum im geistigen Raum, jenseits des irdischen Lebens. Allein schon die menschliche Angst vor dem Tode war imstande, diesen Religionen die Gläubigen zuzuführen, da ihnen das Weiter­leben der Seele verkündet und versprochen wurde. Die früheren Mittler zu Gott und Transzendenz, die Mächte der Natur, sind in diesen Religionen entbehrlich.

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Der Mensch hatte zuvor in seiner Geschichte, als er sich von pantheistischen und magischen Vorstellungen entfernte, nicht mehr die außermenschliche Natur, sondern die Kollektivmacht seiner menschlichen Gemeinschaft vergöttert, meist verkörpert durch einen nahezu göttlichen Herrscher. Es ist also der Schritt vom Pantheismus zum Theismus, der noch nicht Monotheismus sein muß, welcher zunächst vollzogen wurde. Der Mensch blieb also bei "der Anbetung der Macht, wo immer er sie am stärksten fand".38  Geistig sah Toynbee darin einen Rückschritt.

Die Religionsstifter und die Philosophen um das sechste Jahrhundert vor Christi Geburt befreiten sich aus der geistigen Unterordnung ihrer jeweiligen Gemeinschaft. Sie lehnten Naturverehrung und Menschen­verehrung ab, "um eine unmittelbare Anschauung der letzten Dinge zu gewinnen".39 Als Propheten (Verkünder) behaupteten sie, daß ihnen Gott ihre Lehre eingegeben (offenbart) habe, wie seinerzeit dem Mose. Sie verurteilten die irdischen Zustände, Buddha sogar das Leben überhaupt, und wollten diese mehr oder weniger radikal ändern.

Damit brach bereits um diese Zeit — 500 v. Chr. und danach — in die Geschichte des menschlichen Geistes etwas völlig Neues ein: der Versuch, die Natur zu überwinden und den Ergebnissen des Geistes den Vorrang einzuräumen. Damals, nicht erst mit dem Erscheinen Jesu, kam die große Zwiespältigkeit in die Welt zwischen dem Reich des Geistes und dem der Natur, die ungerührt ihren unerklärlichen Gesetzen folgte, welche man zunehmend als feindlich empfand — die man also um so lieber zugunsten göttlicher Verheißungen eintauschte.

 

Der älteste bekannte Religionsstifter ist Zarathustra, der zu Anfang des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts seine Lehre mit Unterstützung des dortigen Herrschers in Persien verkündete. Er sieht in der Welt einen Krieg zwischen Licht und Dunkelheit (Gut und Böse), der mit dem Sieg des Lichts enden werde. Seine Religion geriet schon damals in heftige politische Bürgerkriege. Heute gibt es nur noch einige Zehntausend Anhänger, die einer häufig geänderten und in Sekten aufgespaltenen Lehre anhängen. Doch der ursprüngliche Glaube bleibt wichtig, weil er Nachwirkungen auf Juden, Christen und Mohammedaner gehabt hat.

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Toynbee zählt Zarathustra zu den Propheten des "syrischen Typs", die wie Jesaja II. in einer Tradition stünden, in der auch der 600 Jahre spätere Jesus und der nochmals 600 Jahre spätere Mohammed zu sehen seien. Der Prophet Jesaja II. schrieb die Kapitel 40 bis 65 des Buches Jesaja, wogegen die vorausgehenden von einem älteren Jesaja I. stammen. Der zweite Jesaja versuchte, wie viele jüdische Propheten, auch politisch in die Welt hineinzuwirken — im völligen Gegensatz zu Christus — und sah im Leiden eine positive Kraft, die fruchtbare Wirkungen haben kann, womit er Buddhas Lehre fern stand.

Zu den Religionsstiftern jener Zeit gehört auch der Inder Mahavira, der vor 477- lebte. Seinen Anhängern, den Jainas, ist alles Leben heilig. Wie die Buddhisten glauben sie an die Seelenwanderung, aus der sich befreien kann, wer die Leidenschaften zügelt und alles unterläßt, was im nächsten Leben wieder ausgeglichen werden müßte.

Siddharta Gotama, welcher Buddha (der Erleuchtete) genannt wurde, ist mit Sicherheit in Kapilawastu im heutigen Nepal geboren, seine Lebenszeit dürfte zwischen 567- und 487- gelegen haben. Von vornehmer Herkunft, entschied er sich für die Armut, wanderte viel umher, wirkte aber vor allem im heutigen indischen Staat Bihar. Das Eigentümliche, ja Abwegige an der Gestalt Buddhas ist, daß er bereits verhältnismäßig kurze Zeit, nachdem gerade erst eine höhere Kulturstufe des menschlichen Daseins errungen war, die Auslöschung des Lebens als höchstes Ziel des Lebens verkündete! Diese konsequente Verneinung hätte eigentlich zum Selbstmord führen müssen — und die Lehre wäre sofort wieder ausgestorben.

Aber dem hätte sich gemäß der Lehre der wesentliche Bestandteil des Lebens, die Seele, entzogen; denn die kann dieser Auffassung nach gar nicht umgebracht werden, da sie nicht an den Körper gebunden ist, sondern durch das Reich der Geschöpfe wandert. Um auch die Seele zum Erlöschen zu bringen, sie im Nirwana zu erlösen, bedarf es gerade enormer Anstrengungen, eines heiligen Lebens in dieser Welt. Ist also die Lehre von der Seelenwanderung ein eleganter Ausweg, um den Menschen dennoch am Leben zu erhalten? Vielleicht sogar ein "Trick der Gene"? Ich werfe diese Frage nur auf, ohne eine Antwort vorzugeben.

Unserer abendländischen Logik wird es wohl schwer verständlich bleiben, daß es das Ziel und der Sinn des Lebens sein sollte, sich selbst wieder abzuschaffen. Darum wurde diese Lehre, die ihren Ursprung bei den eurasischen Hirtenvölkern haben mag,40 in Europa nur von Pythagoras (570-490) und seinen Anhängern aufgegriffen.

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Ist das der Grund, warum Heraklit diesen seinen Zeitgenossen als "Anführer der Schwindler" bezeichnet hat?41 Leider ist uns Heraklits Begründung nicht überliefert. Jedenfalls wurde die griechische Auffassung vom Leben weit zutreffender von Diogenes Laertius charakterisiert: "Der erste Trieb eines Lebewesens ist, sich selbst zu erhalten."42 Und welche Leiden der Mensch durchzustehen vermag, hatte schon Homer in den "Irrfahrten des Odysseus" trefflich geschildert. Die Lehre von der Seelenwanderung hat im damaligen Griechenland wie auch im späteren Europa keine Resonanz gefunden.

Die buddhistische Lehre stimmt allerdings mit der christlichen und der mohammedanischen darin voll überein, daß Leib und Seele getrennte Dinge seien. Dieser Dualismus hat die europäische Geistesgeschichte bis in die Gegenwart beherrscht, und aus dem allgemein verbreiteten Volksglauben ist er bis heute nicht verschwunden. Die Auferstehung des Fleisches hingegen ist, wie Spengler meinte, ein früharabischer Gedanke,43 der von der christlichen Theologie in reichlich schillernder Form aufgenommen und erst bei Luther fester Bestandteil des Glaubensbekenntnisses wurde. Er dürfte mehr Anhänger haben, als wir vermuten.

Dem Buddhismus liegt ein ökologischer Kern zugrunde, weil alle lebendigen Wesen als große Gemeinschaft betrachtet werden, in die der Mensch eingebunden ist. Im Gegensatz dazu sieht die christliche Religion nur den Menschen; allein um seinetwillen sind die übrigen Geschöpfe da. Die Lehre Buddhas bleibt sonst sehr offen, sie kennt eigentlich keinen Gott, und auch die Seele ist nur ein "Gewebe von ungleichartigen Seelen­zuständen, die von Wiedergeburt zu Wiedergeburt nur von der dynamischen Kraft der Begierde zusammen­gehalten werden. Wenn es möglich ist, die Begierde auszurotten, kann auch dieses psychische Wolkengebilde zerstreut werden, und der Weg wird frei zum Zustand des ›Ausgelöschtseins‹ (Nirwana), in dem das Leiden ein Ende findet."44

Somit dürfte der Untergang allen Lebens für den Buddhisten keine Katastrophe darstellen. Der Buddhismus ist eine im hohen Maße vergeistigte Religion. Es nimmt wunder, wie er sich überhaupt so ausgiebig in gegen­ständlichen Kunstwerken äußern konnte. So thront das unbewegliche Antlitz Buddhas zu Tausenden und Abertausenden, umgeben von vielfachem Beiwerk, in allen Ländern des mittleren und östlichen Asiens.

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Das ist das real sichtbare Ergebnis einer Religion von höchster Abstraktion. Der Drang des Menschen, sich eben doch "Bilder zu machen", ist offenbar schwer auszulöschen, denn auch die christliche Welt hat die zitierte Aufforderung völlig ignoriert. Zu Millionen sind die Bilder des Gekreuzigten, aber auch Gottes, des Vaters, und der Mutter Maria über die Welt verbreitet.

In ihrer Weltabgewandtheit ähneln sich Buddhismus und Christentum. Demzufolge haben sie auch einen besonderen Stand geschaffen, das Mönchtum. Dieses hat jedoch auch tätig in die Welt hinein gewirkt, nicht nur als Träger der Bildung, sondern auch politisch. Im Abendland ist das bekannt, aber auch in Asien ist dies der Fall gewesen.

Buddha wollte die eigene Natur überwinden (das gelang seinen Gläubigen kaum), während er der übrigen Natur ihr Recht ließ. Die christliche Lehre wollte die gesamte Natur (die eigene wie die übrige) überwinden. Die eigene zu überwinden, gelang nur Jesu selbst und den Heiligen; die übrige Natur zu "überwinden", gelang seinen christlichen Nachfolgern gründlich! Für sie heißt das allerdings nicht der Welt entsagen, sondern sie beherrschen, in den eigenen Dienst stellen, ausbeuten; aber immer in der Überzeugung, der Welt damit große Errungenschaften und gute Werke zu schenken. Schon diese erobernde Einstellung führt unausweichlich zu gewaltigen Konflikten.

Obwohl oder eben weil allen drei Religionen die göttliche Wahrheit offenbart wurde, hatten sie in ihrer Geschichte ununter­brochen interne Zwistigkeiten auszustehen. Das wird deutlich in den Sektenbildungen und Abspaltungen innerhalb jeder der drei Lehren bis hin zu blutigen internen Religionskriegen. Am stärksten wurde davon die Christenheit betroffen. Die Spaltung in römisch-katholische und griechisch-orthodoxe Christen verlief noch verhältnismäßig glimpflich; doch die Abspaltung der protestantisch-reformatorischen Kirchen verursachte eine Kette von Blutbädern. Später fächerten sich die abgespaltenen Teile nochmals in diverse Gemeinschaften auf. Im Islam tobten interne Blutbäder in der Anfangsphase, flackerten aber auch bis in die Gegenwart immer wieder auf. Die geringsten internen Kämpfe gab es naturgemäß im Buddhismus, der aber mit den konkurrierenden Religionen ebenfalls immer wieder in Kriege verwickelt wurde.

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Die Stoßrichtung des Buddhismus ging nach Osten, bis nach Java einerseits und über China bis nach Japan andererseits. In Japan blieben die Buddhisten immer eine kleine Minderheit, und in China war ihre Herrschaft nicht von Dauer. Denn dort galt seit dem Kaiser Wu-ti (141-87) die Lehre des Konfuzius als Staatskult, und daneben gab es den Taoismus. Doch der Kaiser Ming-Ti ließ im Jahre 67 buddhistische Mönche aus Indien ins Land holen, die Klöster errichteten und die heiligen Schriften des Buddhismus übersetzten. Deren Lehre wurde mit taoistischen Elementen zu einer spezifischen Form des Buddhismus entwickelt.

Im Jahre 184 entstand aus der Not der Landbevölkerung der Aufstand der "Gelben Kopftücher", der von Taoisten dirigiert wurde. Dennoch war der Buddhismus schließlich 502 zur Staatsreligion erhoben worden, bis dann zu Beginn des achten Jahrhunderts wieder eine Gegenbewegung in Gang kam, die 819 mit der Streitschrift des Gelehrten Han Yü ihren Höhepunkt erreichte und zu Plünderungen der buddhistischen Heiligtümer führte. Der Kaiser Wu Tsung ließ 844 die Einrichtungen aller nichtkonfuzischen Religionen beschlagnahmen. Von 618 bis 906 war China ein weltoffener Staat mit kultureller Blüte, besonders in Literatur und Malerei. Die buddhistische Sekte "Weißer Lotus" entwickelte sich dann im 14. Jahrhundert zum Kern des Aufstandes gegen die Mongolenherrschaft. Der Mönch Tschu Yuan (1328-1398) vertrieb den letzten Mongolenkaiser und begründete 1368 die Ming-Dynastie. Die andere Front der Auseinander­setzungen des Buddhismus war die mit dem Hinduismus.

Der Hinduismus kennt keinen Stifter, er entstand in den letzten Jahrhunderten v. Chr. und zerfällt in viele Sekten. Brahma ist der Schöpfergott, er wurde aber von dem widerstreitenden Paar Wischnu (dem Erhalter) und Schiwa (dem Zerstörer) verdrängt. Daneben gibt es viele lokale Götter, und auch Sonne, Mond und Wind sind Gottheiten. Auch die Hindus glauben an die Seelen­wanderung und an Erlösung durch Beendigung der Wiedergeburten. Die Welt ist dagegen ewig und auch das Werden und Vergehen. Die Tiere werden von den Hindus gleichfalls geschont. Der Hinduismus setzte sich in Indien bis Mitte des ersten Jahrtausends gegen den Buddhismus durch, der im zwölften Jahrhundert in Indien endgültig den Niedergang hinnehmen mußte.

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Aber schon seit dem achten Jahrhundert wird der Hinduismus durch den Islam zunehmend von Nordwesten her bedrängt, der im zwölften Jahrhundert seine größte Ausdehnung erreichte. Mit der Gründung der Staaten Pakistan und Bangladesch wurde die islamische Bevölkerung von Indien abgetrennt, wo doch noch um die 90 Millionen verblieben. Aber über 80 Prozent der 800 Millionen Inder sind Hindus, ohne daß ihr Glaube Staatsreligion ist. Die blutigen Religions­kämpfe auf dem indischen Subkontinent flackern bis heute immer wieder auf.

 

In der Frühzeit des christlichen Glaubens floß im Römischen Reich das Blut der Märtyrer. Die alten Geschichtsbücher sind voll davon, wie die Christen auf vielfältige Weise umgebracht worden sind. Das beginnt schon mit den auf des Herodes Befehl getöteten Neugeborenen. Das Zentrum der Verfolgung war später die Hauptstadt Rom, bis schließlich der Kaiser Konstantin I. im Jahre 313 das Mailänder Toleranzedikt erließ, das auch in dem von ihm beherrschten Oströmischen Reich Geltung bekam. Auch die heidnischen Auffassungen wurden geduldet; nur das arianische Christentum der Westgoten wurde auf dem Konzil von Nizäa (325) verdammt.45

Waren die ersten Generationen der Christen grausam verfolgt worden, so war es dann später umgekehrt. Allein Karl der Große ließ 4500 der wiederholt aufständischen Sachsen im Jahre 782 umbringen, wenn auch wohl mehr aus Gründen der Staatsräson als aus religiösen Motiven. Schwert und Kreuz gingen schließlich in aller Welt gemeinsam gegen die Heiden vor. Das zeigte sich besonders in den insgesamt acht Kreuzzügen in das Heilige Land, die über 200 Jahre hin Europa in religiösen Kriegseifer versetzten. Zum ersten Kreuzzug rief Papst Urban II. im Jahre 1095 mit dem Schlachtruf "Gott will es" auf. 330.000 sollen es gewesen sein, die sich 1096 auf den Weg machten; doch nur 40.000 kamen in Palästina im. 1099 wurde Jerusalem schließlich erobert und unter Juden und Moslems ein Massaker angerichtet. Ein "Kreuzzug der Armen" erreichte nie das Heilige Land, plünderte und massakrierte jedoch die Judengemeinden am Rhein. 1187 eroberten die Seldschuken unter Sultan Saladin Jerusalem, was den dritten Kreuzzug auslöste. 

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Dabei fand Kaiser Barbarossa den Tod, während Richard I. Löwenherz an der Einnahme von Akko und den anschließenden Hinrichtungen beteiligt war, selbst aber auf dem Rückweg in Österreich in Gefangenschaft geriet; doch der Kreuzzug war ein Fehlschlag

Im vierten Kreuzzug auf Schiffen, die von der Stadt Venedig gegen Bezahlung gestellt wurden, wurde Konstantinopel eingenommen, gebrandschatzt und geplündert, wobei 2000 Griechen ermordet wurden. Im Jahre 1212 bricht vom Rheinland und vom Niederrhein ein Kinderkreuzzug auf. 7000 Kinder erreichten Genua, da aber die Überfahrt nicht bezahlt werden konnte, scheiterte das Unternehmen schon dort, wobei ein Teil der Kinder von den Reedern in die Sklaverei verkauft wurde (ein typisches Beispiel für das schreckliche Ende des "wohlgemeinten Guten").

Die Kirche hatte schon seit 1209 alle Hände voll zu tun, um Kreuzzüge gegen die Albigenser in Südfrankreich zu führen. Deren Forderung nach Armut und strenger Askese kostete in den Kriegen bis 1229 etwa 20.000 christlichen Albigensern das Leben, wobei auch hier politische und religiöse Ziele verquickt waren. Um aber den Bestrebungen solch strenggläubiger Sekten Rechnung zu tragen, die auch von den Katharern und Waldensern erhoben wurden, erfolgte 1220 die päpstliche Anerkennung des Dominikanerordens und 1223 auch die der Franziskaner. Beide mußten auf persönliches Eigentum verzichten und ihren Lebensunterhalt durch Betteln bestreiten. In dieser Zeit beschloß das IV. Laterankonzil wiederum einen Kreuzzug, der im Jahre 1217 starten sollte. —

Dem Stauferkaiser Friedrich II. gelang es schließlich, den fünften Kreuzzug erfolgreich zu gestalten und sich zum König von Jerusalem zu krönen; doch die Stadt fällt dann 1244 wieder in die Hände von türkischen Tartaren. Um 1250/1251 scheiterte der französische König Ludwig IX., der Fromme, mit einem sechsten Kreuzzug, was ihn nicht abhielt, sich 1270 auf den siebenten zu begeben, in dem er schon vor Tunis einer Seuche erlag. Im Jahre 1290 wird dann schließlich die letzte Kreuzfahrerbasis Akko von den Mameluken erobert, womit der Schlußpunkt hinter zwei Jahrhunderte vergeblichen Leidens und Blutvergießens gesetzt wurde.

Bald danach beginnen die Verfolgungen und Kriegszüge gegen christliche Abspaltungen in Europa. Den Dominikanern war bereits 1232 die Inquisition übertragen worden, die zunächst in der Lombardei und in Südeuropa begann.

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Der den weltlichen Gerichten anheimgestellte Strafprozeß hat von vornherein die Verurteilung des Angeklagten zum Ziel und nicht die Feststellung seiner Schuld. Verteidiger gibt es nicht. Die Namen von Denunzianten oder "Zeugen" werden geheimgehalten. Die Folter wird angewendet, denn Ziel ist das Schuldbekenntnis. (Es wird also bereits alles das praktiziert, was dann auch im 20. Jahrhundert besonders unter Stalin üblich war.)

Zu den abscheulichsten Kapiteln des christlichen Abendlandes gehört die sogenannte Hexenverfolgung. Im Jahre 1484 erließ Papst Innozenz VIII. die Hexenbulle "Summis deserantis". Drei Jahre später erschien in Köln ein Buch zweier Dominikaner mit dem Titel "Der Hexenhammer", angefüllt mit den Wahnvorstellungen katholischer Kleriker.

Zwischen 1258 und 1526 gab es 47 päpstliche Dekrete gegen das Zauber- und Hexenwesen. Die "Hexen" wurden für alles mögliche verantwortlich gemacht: Unwetter, Krankheiten von Mensch und Vieh, Früh­geburten, ja man bezichtigte sie des Geschlechtsverkehrs mit dem Teufel. Mit Folterungen wurden Geständnisse erpreßt. Sie umzubringen war einfach; dafür sorgte die "Wasserprobe": Man warf sie gefesselt ins Wasser. Waren sie schuldig, dann gingen sie unter und ertranken, gingen sie nicht unter, dann "nahm sie das Wasser nicht an", folglich waren sie schuldig.

Das Ergebnis war die "größte nicht kriegsbedingte Massentötung von Menschen".46  Demnach hatten Frauen, die verdächtigt wurden, kaum eine Chance des Überlebens. Nach den Forschungen von Gunnar Heinsohn und Otto Steiger soll das Hauptmotiv des Mordens die Ausrottung aller Kenntnisse über Geburten-Verhütung gewesen sein. Aber vielleicht war es doch auch der schlichte Wahn, der ab und zu über die Völker hereinbricht; denn ohne Beteiligung der "Mitmenschen" hätte die Verfolgung nicht solche Ausmaße angenommen. Die Massen suchen hin und wieder Schuldige für alle Übel dieser Welt. Im Deutschland des 20. Jahrhunderts waren es dann "die Juden", die man für alles und jedes verantwortlich zu machen versuchte.

Für eine solche Erklärung spräche auch, daß die Protestanten gegen die angeblichen Hexen nicht weniger arg wüteten als die Katholiken. Die Schätzungen über die Zahl der in Europa grausam hingerichteten Frauen beginnen bei 100.000, reichen aber bis zu einigen Millionen. Der letzte Hexenprozeß fand erst im Jahre 1793 in Posen statt.

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Die religiösen Glaubensschlächtereien in Frankreich erreichten mehrere Höhepunkte. Schon 1209 hatte der Papst Innozenz III. zu einem Kreuzzug gegen die Albigenser in Südfrankreich aufgerufen, die ein asketisches Leben forderten. Die Albigenserkriege, mit politischem Streit unlösbar verquickt, dauerten bis 1229. Noch mörderischer waren die Hugenottenkriege. Die Hugenotten, von denen viele dem hohen Adel angehörten, hatten ihr Glaubensbekenntnis 1559 im Gefolge Calvins formuliert. Das Blutbad von Vassy (1562) war das erste von acht mörderischen Gemetzeln. Die Hochzeit des Königs Heinrich von Navarra in Paris, zu der sich Tausende von Hugenotten versammelt hatten, wurde zur blutigen Bartholomäusnacht des Jahres 1572, in der 3000 ermordet wurden, darunter ihr Anführer Admiral Gaspard de Coligny. In den folgenden Tagen stieg die Zahl der Opfer auf 20.000. Die wechselnden Kämpfe, vermischt mit Politik und Thronfolge, gingen mehr als hundert Jahre weiter. Tausende von Hugenotten wanderten in verschiedene Länder aus.

Die Reformation in Europa, die Martin Luther mit seinen 95 Thesen im Jahre 1517 in Wittenberg ausgelöst hatte, war in Zürich von Zwingli 1519 und in Genf 1534 von dem Franzosen Calvin aufgegriffen worden. Beide lehnten den Katholizismus noch härter ab, und ihre asketischere Auffassung verbreitete sich nach Frankreich, den Niederlanden, bis nach Schottland und nach Amerika. Die Entwicklung zur anglikanischen Kirche in Großbritannien hatte von vornherein mehr politische und dynastische als religiöse Motive. In den Niederlanden begann der religiös begründete Abfall von Spanien 1566 mit der Zerstörung mehrerer hundert Kirchen und Klöster. Vom Herzog Alba blutig niedergeschlagen, der sich rühmte, 18.000 Ketzer der Inquisition übergeben zu haben, endete der Kampf letzten Endes in der Unabhängigkeit der Niederlande.

Der Aufstand gegen die katholische Kirche in Böhmen löste 1618 den Dreißigjährigen Krieg auf deutschem Boden aus, der ebenfalls zunehmend mit politischen Machtkämpfen verquickt wurde. Er entvölkerte ganze Landstriche, da er auch mit größter Grausamkeit geführt wurde, von denen die mündliche Überlieferung bis in unser Jahrhundert hineinreicht. Der Friede von 1648 stellte im Grunde den vorherigen Zustand des in Augsburg schon anno 1555 geschlossenen Konfessionsfriedens wieder her.

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Viele Millionen Europäer haben infolge der Glaubenskämpfe innerhalb der Christenheit in den letzten zwei Jahrtausenden den Tod gefunden. Und es sind nicht die christlichen Kirchen gewesen, welche die Opferung der Menschen beendet haben. Es war vielmehr die zunehmende Hinwendung der Menschen zu den Ergebnissen von Wissenschaft und Technik, die den blutigen Streit um den richtigen Weg ins Jenseits langsam einschlafen ließ — damit allerdings auch den Glauben selbst.

Denn um an ihrem Glauben nicht irre zu werden, müssen die Gläubigen andere Glaubensrichtungen ablehnen, als falsch und gefährlich verdammen, was dazu führt, daß sie diese schließlich verfolgen. Aus Furcht vor eigener Verunsicherung dulden sie auch in der eigenen Kirche keine Abweichungen. So haßt der wirklich Gläubige sehr leicht jeden Andersgläubigen, weniger in seiner Person, sondern weil schon die bloße Existenz des anderen Glaubens unweigerlich die eigene Überzeugung relativiert und damit unterminiert. So haßt oft der die Andersgläubigen am heftigsten, der am eigenen Glauben schon einige Zweifel hat; denn er befürchtet durch jene noch mehr verunsichert zu werden. Damit ist aber aus dem freien Feld des Geistes ein eingegrenztes und besetztes geworden; denn die Freiheit des Denkens ist dahin, sobald es sich einem Dogma unterordnen muß.

Die Religionskriege sind darum so grausame Kriege, weil sie einen anderen Glauben ausmerzen wollen, damit der eigene unangetastet bleibe. Und die Überzeugung, daß der eigene Gott zu einem siegreichen Ende verhelfen werde, ist unerschütterlich. Das ist in der christlichen Religion nicht anders als bei den übrigen.

Christi Lehre hat die Psyche des Menschen in keiner Weise verändert. Es gab in den nun fast 2000 Jahren nach ihm gerade unter den gläubigen Christen Mord und Totschlag ohne Ende, Betrügereien und Vergiftungen bis hinein in den heiligen Vatikan; es gab Raubzüge und Versklavungen ganzer Völker. Und selbst im europäischen Kulturbereich wurden aus religiösen Motiven Unmengen von Menschen geopfert, die sämtliche Menschenopfer der amerikanischen Indianerkulturen an Zahl um das Vielfache übertreffen. Die christliche Religion ist ihrem Ursprung nach asiatisch. Und Europa war durch Christi Wirken auf den vorderasiatischen religiösen Weg geraten. Europa hätte auch den griechisch-hellenischen Weg aufnehmen können.

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Doch nicht die griechische Naturreligion wurde übernommen, sondern die christliche Geistreligion, die von einem hohen Abstraktionsgrad und einem noch höheren Verheißungs­grad erfüllt ist.

Das mußte wohl so sein! Denn gerade aus diesem Spannungsverhältnis, aus dem Widerstreit von lebender Natur und religiösem Geist bis zum schärfsten Fanatismus, ist der letzte große Kulturgipfel, der europäische, hervorgegangen. Wie wir heute wissen, wäre auch die Kultur der Hellenen ohne die gewaltigen Spannungen zwischen Apollinischen und dem Dyonisischen nicht entstanden. Das hat nicht nur Friedrich Nietzsche in seiner allseits anerkannten Studie "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" so gesehen, sondern das ist inzwischen der anerkannte Stand der historischen Wissenschaften.

Die Hellenen nahmen bereits an, "daß die Seele als Form und Sinn des Leibes irgendwie mit ihm entstehe".47 In Griechenland herrschte schon damals eine Übereinkunft über das, was die modernen Wissenschaften in den letzten Jahrzehnten klären konnten, daß nämlich Leib und Seele eins sind. Dennoch blieb für Spekulationen über die Transzendenz genügend Raum, wie die Geschichte der Kulturen und der Religionen beweist. Nachdem der Mensch die Qualen seines Daseinskampfes etwas lindern konnte, bereitete er sich geistige Qualen. Der Unterschied ist nur der, daß die vom Christentum verursachten über anderthalb Jahrtausende besonders heftig gewesen sind.

Hätte der Lauf der Geschichte die Germanen vom Nordkap bis zur Lombardei unter sich gelassen, dann würden diese wahrscheinlich weiterhin brav ihre Felder bestellt haben und auf die Jagd gegangen sein; gelegentlich wären sie vielleicht zu einem Raubzug aufgebrochen, wie das die Wikinger ja auch taten. Mit der christlichen Kreuzeslehre wurde ihnen jedoch ein andauernder Stachel in ihr Fleisch gedrückt, der ihnen das Singen und Beten beibrachte; das heißt positiv formuliert: der die Umsetzung der Schmerzen in Kunst bewirkte.

Die Kluft zwischen Welt und Religion führte zu ständigen Versuchen ihrer Bewältigung durch die Kunst und durch die Musik. Probleme ohne Ende waren aufgetürmt, die auch die Theologen und die Philosophen nun bald 2000 Jahre in Atem halten. Aber auch die Psychologie ist vornehmlich für christliche Menschen verfeinert worden, weil die sie besonders nötig hatten; das wußte schon die katholische Kirche, darum erfand sie die Beichte.

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Die Missionare hatten von Anfang an gepredigt, daß in jedem Menschen ein Teufel stecke, der sich durch die Taufe allein nicht vertreiben ließ. Dieser Zwiespalt — allein schon der zwischen Leib und Seele — versetzte den Menschen in eine Zerreißprobe, stieß ihn in Gewissensqualen. Er bereitete gerade denen ein Martyrium ohnegleichen, die als logisch denkende Menschen ihr Glaubensbekenntnis weit tiefer verinnerlichten als die südlicheren christlichen Völker. Das war ja auch der Grund des Abfalls der Protestanten von Rom: Sie nahmen die Lehre weit ernster. Die Geschichte der Ausbreitung des christlichen Glaubens war zunächst ein Martyrium für die Christen selbst, solange sie verfolgt wurden. Dann stelle man sich die seelischen Qualen der Mönche und Nonnen in ihren Klosterzellen vor.

Aber auch die Qualen der Millionen gläubiger Christen, die Christi Tod am Kreuz psychisch stets aufs Neue durchlitten. Später dann die anderen Qualen der Ketzer, die gepeinigt, selbst gekreuzigt und verbrannt wurden, weil sie gegen die Dogmen der Kirche verstießen. Luther war der erste, der dem Scheiter­haufen mit viel Glück entkam. Und man denke an die Gewissensqualen eines Blaise Pascal, eines Sören Kierkegaard. Auch die slawischen Völker haben den Zwiespalt tief durchlitten, angefangen mit dem tschechischen Reformator Huß bis zu den Dichtern Dostojewski und Tolstoi — und man denke an die alle Tiefen der Seele aufwühlende Musik der slawischen Komponisten. —

Welche Gewissenskonflikte durchlitten auch die Naturwissenschaftler, die ihre Erkenntnisse verbergen mußten, um nicht lebendigen Leibes verbrannt zu werden. Einige, wie Pascal und Leibniz, haben sich wahrscheinlich der Mathematik zugewandt, weil sie dort weniger gefährdet waren. Andere tüftelten an Erfindungen, die ihnen schwerlich als Lästerung Gottes ausgelegt werden konnten, weil dieser dabei nicht unmittelbar im Spiel zu sein brauchte.

Nur aus den schmerzlichen seelischen Spannungen konnten die großen christlichen Kunstwerke geboren werden: die Leidens­kantaten der Passionszeit und die Jubelhymnen der Auferstehung. Noch keine Religion schwelgte derart in rauschenden Tönen der Orgel, begleitet vom ganzen Chor der Gemeinde. Keine andere Religion hat die Künstler so reich mit Motiven versorgt wie die christliche.

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Beginnend mit Maria und ihrem Kindlein in der Krippe über viele, viele Stationen des Lebens bis hinauf auf den Berg Golgatha, Auferstehung und Fahrt gen Himmel. Mit solchen Bildern sind Millionen von Kirchen und Kapellen ausgeschmückt worden, in deren heiligen Hallen die Musik der größten Tondichter von der Ewigkeit kündet — Leid und Trost zugleich verklärend. Der auftönende Kirchengesang bewahrt Faust vor dem Selbstmord! Auch unsere Museen sind gefüllt mit Gemälden über Leben und Sterben des Gottessohnes, aber auch von solchen über die Schöpfung. Denn auch das Alte Testament bietet Motive in Fülle über das Leben und die Kämpfe der Menschen.

Das Leben und das Sterben beherrscht das Denken der Völker, seit sie über die Natur dieser Welt nachsinnen. Daraus entstanden ihre religiösen Kulte, an denen sie festhielten, weil sie den nötigen Halt versprachen.

 

Öfters wurden in den Hochkulturen Versuche unternommen, die religiöse und auch die geistige Tradition völlig abzubrechen und ganz neu zu beginnen. Um diesen Bruch als endgültig zu dokumentieren, wurden Bücher und Bilder verbrannt, geweihte Stätten zerstört; manchmal wurde sogar eine neue Zeitrechnung begonnen. Doch es hat nie lange gedauert, und das betreffende Volk kehrte zu seiner Tradition zurück.

Das erste derartige Ereignis, das uns überliefert ist, stammt aus dem Jahre 1361 v. Chr. Der durch seinen "Sonnengesang" unsterblich gewordene König Amenophis IV., genannt Echnaton, erhebt seinen Gott Aton zum einzigen Staatsgott Ägyptens und läßt alle Darstellungen des bisherigen Gottes Amun (Re) samt allen Tontafeln mit Hinweisen auf ihn vernichten. Doch mit seinem Tode 1348- war die Episode beendet, und die Ägypter wandten sich wieder den alten Göttern zu.

In China ließ der erste Kaiser Shih Huang-ti (221-210) mit den Büchern des Konfuzius auch alle sonstigen Schriften mit wenigen Ausnahmen vernichten. Wer sie privat besaß oder die alten Lehren verbreitete, wurde hingerichtet oder zum Bau der "Großen Mauer" deportiert. Der tyrannische Kaiser wollte der erste einer Dynastie sein, die 10.000 Nachfolger haben sollte. Das war seine Version, den Tod zu besiegen. Doch schon fünf Jahre nach seinem Tod begründete der Rebell Liu-Pang die Han-Dynastie, die immerhin 400 Jahre hielt.

Huang-ti war auch der Kaiser, welcher 7000 Krieger um sein Grabmal stellen ließ, die noch heute bewundert werden können. Eine ähnliche Formation, allerdings von 1000 Säulen gebildet, steht um den Kriegertempel der Maya in Chichén Itzá auf der Halbinsel Yukatan.

Als Mohammed 630 Mekka erobert hatte, ließ er in der Kaaba die vielen Götterbilder restlos vernichten. 

Der oströmische Kaiser Leon III., der Syrer, erließ 730 ein Edikt, das jegliche religiöse Bilderverehrung untersagte und die Zerstörung der Bilder in allen Kirchen anordnete. Der Bilderstreit führte zur Abtrennung der byzantinisch-orthodoxen Kirche, da der römische Papst Gregor III. die Bilderfeindlichkeit verdammte. Unter Leons Nachfolger Konstantin V. kam es 787 zum Kompromiß.

Der Fürst Wladimir, "der Heilige", von Kiew ließ sich 988 nach orthodoxem Ritus taufen und alle Götzenbilder und Kultstätten im Herr­schafts­gebiet zerstören. Kiew wird Ausgangspunkt der Christian­isierung Rußlands. Solche Aktionen waren natürlich bei den Germanen schon früher durchgeführt worden. 

Der aztekische Herrscher Itzcoatl (†1440) ließ alle historischen Bilderhand­schriften aus der Zeit vor seiner Herrschaft verbrennen. Eine 1494 von Spanien ausgehende Judenverfolgung führte zum Verbot jüdischer Schriften und zur Vernichtung ihrer Kulturgüter. In der Reformationszeit kam es in Mitteleuropa zu ausgedehnten Bilderstürmereien, die 1522 von Wittenberg ausgingen und die Kirchen der Kunstschätze beraubten, wie auch in den Bauernkriegen.

Die Katholische Kirche setzte Bücher auf den Index, die zu lesen ihren Gläubigen verboten war. Doch je stärker sich Bücher und Schriften verbreiteten, um so geringere Wirkungen hatten diese Indizierungen. Auch die Bücher­verbrennung nach 1933 vermochte die privaten Bestände nicht zu erfassen, zumal ihr Besitz keinem Verbot unterlag. 

Bis in die achtziger Jahre war im kommunistischen Ostblock zumindest die Einfuhr vieler Bücher verboten. Gerade die Revolutionäre, die der Welt eine herrliche Zukunft versprachen — die noch nirgendwo eingetreten ist —, haben oft versucht, die Zeugnisse der Vergangenheit zu tilgen, letztlich immer vergeblich.

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Himmelfahrt ins Nichts  von Herbert Gruhl 1992