Teil 3

Der 200 Jahre
dauernde Siegeslauf
der technischen
Zivilisation

Wenn wir auf mehr als 100 Jahre in der Geschichte zurück­blicken, sehen wir augen­blicklich, warum sich das Zeitalter... von allen anderen in den Annalen der Menschheit unterscheidet.

Der britische Staatsmann Winston Churchill  (1932) 

 

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  3.1  Die Explosion der Erfindungen

 

145-158

Wenn wir die Entwicklung der technischen Erfindungen auf den nächsten Seiten betrachten, dann wird optisch deutlich, daß zwischen 100.000- und 10.000- etwa alle 10.000 Jahre eine wichtige Erfindung gemacht wurde. In den sechs Jahrtausenden zwischen 10.000- und 4000- wurde im Durchschnitt alle 500 Jahre eine Erfindung auf den Weg gebracht. 

Mit dem Eintritt in die Hochkulturen trat eine noch höhere Beschleunigung ein, die bis zu Christi Geburt über 30 Erfindungen erbrachte, also alle 125 Jahre eine. An dieser immer noch bedächtigen Entwicklung änderte sich nach Christi Geburt so gut wie nichts; denn bis 1600 kamen auch nur dreizehn Erfindungen hinzu. Allein von 1600 bis 1800 gab es dann schon 20 weitere, also alle zehn Jahre eine.

Dennoch äußerte der britische Philosoph Alfred Whitehead die berechtigte Meinung, daß der Stand der europäischen Technik im 18. Jahrhundert durchaus noch dem der Römer glich,1 allerdings mit durch­gehend­erer Verbreitung über die europäischen Länder. Infolgedessen konnte David Landes zu dem Ergebnis kommen, daß sich das Pro-Kopf-Einkommen zwischen den Jahren 1000 bis 1800 verdreifacht habe.2

Diese acht Jahrhunderte der europäischen Geschichte waren von Kriegen ausgefüllt wie das "Zeitalter der streitenden Reiche" in China und das der Städtekriege in Griechenland. Besonders der dreißigjährige Religions­krieg unter den Christen hatte in Mittel­europa gewütet. Doch gerade in diesen turbulenten Zeiten hat sich die natur­wissen­schaftliche Forschung entwickelt. 

"Im Verlauf dieser schicksalhaften Jahrhunderte (1200 bis 1800) erfuhr die Menschheit mehr über die Erde als bewohnbaren Planeten, über die Organismen, die sie beherbergt, und über die menschliche Kultur, als je zuvor bekannt gewesen war."3

 

Abbildung1: Die Grafik verdeutlicht den unendlich langsamen Beginn der technischen Erfindungen in den letzten 50.000 Jahren bis zu ihrer starken Zunahme in den Hochkulturen und ihrer explosiven Steigerung in unserem technischen Zeitalter. — Wir enden 1978, da sich die Bedeutung neuester Erfindungen noch nicht abschätzen läßt. 

 

Die Entwicklung der Erfindungen  größer

*detopia-2010:  Zu "1884 Fernsehen":  Gruhl bezieht sich hier auf Nipkow, also die (erste) mechanische Zerlegung eines Bildes mittels "Nipkowscheibe". Während er mit "1894 Radio" die (echte) drahtlose Übertragung von Sprache meint. -  Im März 1896 übertrug A. Popow in Petersburg über eine Strecke von 250 Metern drahtlos die Wörter "Heinrich Hertz".  Vorher patentierten sich Marconi und Tesla die Radiotechnik.   Vgl: wikipedia / Geschichte_des_Fernsehens  +  wikipedia / Geschichte_des_Hörfunks 

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Die Kugelgestalt unseres Planeten wurde bewiesen, den Fernão de Magalhães' Mannschaft 1519 bis 1522 umsegelte, während er selbst 1521 auf den Philippinen im Kampfe mit Einheimischen fiel.

So wurde etwa um 1500 — nach unserer verkürzten Zeitrechnung erst vor vier Stunden — die Erde in ihrer geographischen Gesamt­struktur begriffen und binnen kurzem von wagemutigen europäischen Seefahrern auch erobert. Dabei eilten Spanier und Portugiesen mit einigen Italienern voraus, bis die Holländer und Engländer folgten. Daß sie dabei pulvergeladene Gewehre und Kanonen benutzten, verschaffte ihnen eine militärische und psychologische Übermacht, der sich die übrigen Kontinente nicht entziehen konnten. Seitdem wurde es möglich, begehrte Rohstoffe aus aller Welt zu importieren. Aber die entscheid­enden Kämpfe mit gleichen Waffen spielten sich fortan zwischen den weißen Völkern selbst ab.

Die "Ehe von Naturwissenschaft und Technik", wie Toynbee das nannte,4) war geschlossen worden. Und das Kind, das daraus hervorging, war die Ideologie des ständigen technischen Fortschritts, welche die Erde den Europäern, die sich dabei auch gern als Christen sahen, total untertänig machen sollte. Der englische Philosoph und Politiker Francis Bacon (1561-1626) hat in seiner Schrift "Das neue Atlantis" seine Sicht der Dinge, die da kommen sollten, dargelegt: 

"Die Verlängerung des Lebens; die teilweise Wiederherstellung der Jugend; die Verzögerung des Alterns; die Heilung von Krankheiten, die als unheilbar galten; die Linderung von Schmerzen; Umwandlung von Körpern in andere Körper; Züchtung neuer Arten; Zerstörungsmittel wie Waffen und Gifte; Macht der Phantasie über einen anderen oder den eigenen Körper (Autosuggestion und Hypnose, wenn nicht sogar Telekinese); Beschleunigung der Reifezeit; Beschleunigung der Keimung; Erzeugung von hochwertigem Dünger für den Boden; Gewinn von Nahrung aus neuen Grundstoffen; Herstellung neuer Gewebearten für Kleidung und neuer Stoffe wie Papier, Glas und ähnliches; künstliche Minerale und Bindemittel; Gesundheitskammern, wo die Luft verbessert wird (Klimaanlagen); Verwendung von Tieren und Vögeln zum Sezieren, Gifte und andere Heilmittel; Mittel, um Geräusche durch Schächte und Rohre in alle Richtungen und Entfernungen zu übermitteln; Kriegsmaschinen, stärker und gewaltiger als unsere größten Kanonen; Ansätze zum Fliegen in der Luft; Schiffe und Boote, die unter Wasser fahren können." 5

 

*(d-2010:) Ich habe das Apostroph bei < Magalhães' Mannschaft > eingefügt. Vgl. bei wikipedia / Ferdinand_Magellan (1480-1521)

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Das Ziel der Wissenschaften ist die Erleichterung des menschlichen Daseins und die Verwirklichung aller Dinge, die möglich sind.6) Nach dem Sinn der Verwirklichung aller Dinge, der bei den Chinesen eine große Rolle spielte, wird nicht gefragt. Auch der britische Politiker und Historiker Thomas Macauly hielt es für das legitime Ziel der Wissenschaft, das menschliche Leben mit neuen Erfindungen und Reichtümern auszustatten.7)

Mit der Machtergreifung der Naturwissenschaften parallel verlief der Machtverlust der Religion, bis schließlich der Glaube an die Wissenschaft religiöse Züge annahm. Die Jenseits­orientierung des fälschlich so genannten "Mittelalters" wurde abgelöst von der Diesseits­orientierung. "Die theologische und metaphysische Sinndeutung der Weltgeschichte" wurde durch den Fortschritts­glauben ersetzt.8) Die Gewißheit Gottes tauschte der europäische Mensch gegen die Gewißheiten der Wissenschaften ein.

Um das Jahr 1800 war dann das kritische Stadium erreicht, das zu einer explosiven Kettenreaktion in der Technik führte. Die Initialzündung wird wohl die Dampfmaschine ausgelöst haben. Im 19. Jahrhundert verkürzte sich die Durchschnittszeit bis zur nächsten Neuerfindung auf 2,5 Jahre und in unserem 20. Jahr­hundert auf 1,5 Jahre! Dabei ist zu bedenken, daß hier nur die großen Erfindungen berücksichtigt werden konnten, die jedoch ihrerseits Dutzende von kleineren Neben­erfindungen nötig machten oder mit sich brachten, sozusagen die Splitter der Explosion. 

Dabei sind in der Grafik sogar noch solche Erfindungen weggelassen, die der reinen Unterhaltung oder dem Sport dienen, und auch im Bereich der Medizin sind nur die wichtigsten aufgeführt. Wenn wir uns an der Zahl der jährlich erteilten Patente orientieren wollten: diese erreichen in den letzten Jahren weltweit eine Zahl um die 20.000; beantragt wurden allein beim Europäischen Patentamt im Jahre 1990: 62.778.

Wenn wir die letzten 200 Jahre mit dem bisherigen unvorstellbar langen Anlauf der Natur- und Menschen­geschichte vergleichen, dann können wir nur von einer Explosion sprechen. Und wenn wir das Gleichnis von den 1000 Jahren gleich einer Nachtwache wieder aufnehmen, dann sind seit dem Jahr 1800, seit der Sprengsatz der Technik gezündet wurde, erst eineinhalb Stunden vergangen. Und die Ausbreitung der Explosionswelle hält immer noch an. 

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Der Schweizer Ingenieur Ernst Basler meinte 1973, daß sich die vom Menschen erzeugte Veränderung derzeit rund eine Million mal schneller vollziehe als die Evolutionsgeschwindigkeit der Natur.9) Das mag in bezug auf die Geschwindigkeit etwa stimmen; aber gehört diese Veränderung überhaupt zur Evolution der Natur? Da hat wohl eher Maurice Blin recht, der lapidar feststellt: "Die technologische Entwicklung setzt die biologische nicht fort, sondern kehrt sie um."10 Denn die biologische Evolution wurde von der Natur entfaltet, während die von Menschen gemachte technische Evolution die Natur rücksichtslos vergewaltigt.

Die Menschen wissen aber über die lebendige Natur so wenig, daß sie die Brisanz dieser Entwicklung nicht erahnen konnten. Man will heute auch nicht mehr auf die nächsten Erfindungen warten. Die Weiterent­wicklungen sind zudem immer komplizierter geworden; darum setzen die Industriestaaten Bataillone von hochbezahlten Wissenschaftlern und Technikern ein, damit diese neue Erfindungen schneller produzieren. So wurden die erfolgreichen Weltraumflüge schließlich eine Frage der Staatshaushalte, wie auch zu großen Teilen die Entwicklung der Kernfusion und der Gentechnik sowie die der immer noch erfolglosen Krebs­forschung — um nur einige der größten Posten zu nennen.

Den genialen Einzelgänger, der eine Idee hat, gibt es fast nicht mehr. Der persönliche Anteil ist in der Masse der Beteiligten kaum noch auffindbar. Damit wird zum Beispiel die Verleihung der Nobelpreise immer fragwürdiger; denn auch die Preiskomitees sind überfordert, weil sie über die umfangreichen Detailkenntnisse einfach nicht mehr verfügen können. Die salomonische Teilung der Preise ist die Folge, aber eben auch die Konsequenz daraus, daß ganz große Institute an einem Projekt gearbeitet haben. Jeder Auftrag ist inzwischen derart kostenträchtig, daß die USA immer stärker das Feld beherrschen.

Anfangs ließen sich die großen Entdecker leicht ermitteln und lokalisieren. Darum wissen wir auch, daß unser technisches Zeitalter eine ausschließlich europäische Leistung ist; die Herkunftsländer der Erfinder beweisen das. Und eine Aufstellung der Nobelpreisträger für Physik, Chemie und Medizin ergibt folgendes Bild:

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Tabelle 2:

Verteilung der naturwissenschaftlichen Nobelpreisträger 

1901-1990

 

Der Nobelpreis wurde ab 1901 mit Ausnahme verschiedener Kriegsjahre verliehen. Bis zum Zweiten Weltkrieg blieb er fast ganz in europäischen Händen, danach wurde er überwiegend eine Angelegenheit der USA. Der einfache Grund dafür liegt darin, daß die Naturwissenschaften nun umfangreiche instrumentale Einrichtungen mit hohem Finanzaufwand erforderten, wobei Europa nicht mehr ganz mithalten konnte. In beiden Kontinenten sind Erfinder jüdischer Abstammung stark vertreten. Die Aufstellung untermauert, daß die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik bis heute die Sache der Europäer und ihrer nordamerikanischen Nachkommen geblieben ist.

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Entsprechend ihrem Ursprung erfolgte natürlich auch die Umsetzung der Erfindungen in industrielle Produktionen zunächst ausschließlich und dann vorwiegend in den gleichen Ländern. Großbritannien war dabei sehr früh in Führung gegangen, was über sein Weltreich globale Auswirkungen hatte. Als Deutschland und dann auch die anderen Länder etwas später folgten, entwickelten sich daraus die Zweikämpfe Deutschland-Großbritannien einerseits und Deutschland-Frankreich andererseits. Da die ausgewanderten Europäer in Nordamerika einen ganzen neuen Kontinent zur freien Verfügung bekamen, konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis sie das alte Europa überholt haben würden. (Diese Entwicklung hat David Landes in seinem Buch "Der entfesselte Prometheus" ausgezeichnet dargestellt.)

Als letzte industrielle Großmacht mit freier Wirtschaftsform traten die Japaner auf den Kampfplatz. Sie begannen als geschickte Nachahmer, bis sie in superhektischen Steigerungen Konkurrenten auf allen Weltmärkten wurden.

Mit der Fertigstellung der einsatzreifen Dampfmaschinen (1777) fiel zweifellos eine der bedeutendsten Entscheidungen darüber, wie es mit der europäischen Kultur weitergehen würde. Es war ein Sprung ins Ungewisse, über dessen Folgen uns erst jetzt die Augen aufgehen. Nur ein Genie, vielleicht das größte, das jemals gelebt hat, Leonardo da Vinci, hat die Entwicklung voraus­gesehen und die entsprechenden Prophezeiungen niedergeschrieben, die bis heute unbeachtet blieben. 

Entscheidend für die Entwicklung auf diesem Planeten waren nicht die Erfindungen, sondern deren Umsetzung in Massenproduktionen sowie deren Nutzung und Verschleiß. Eine führende Rolle übernahmen dabei die Verkehrsmittel.

Das Fahrrad, das um die gleiche Zeit in Gebrauch kam wie die ersten Autos, erreichte zwar mit zur Zeit 800 Millionen eine höhere Weltstückzahl als das Auto; doch wenn man den geringen Materialverbrauch bedenkt, fällt dieses billige Gefährt in der volkswirtschaftlichen Rechnung kaum ins Gewicht. Während seiner Benutzung benötigt das Trittrad zudem keine Fremdenergie.

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Somit ist es das ideale Fahrzeug für arme Völker. In China kommen auf ein Auto 540 Fahrräder; die Autoproduktion soll erst beginnen. In den USA dagegen werden jährlich acht Millionen Autos produziert und nur sechs Millionen Fahrräder.

Die Eisenbahnen kamen schon mit der Dampfmaschine, die in der Lokomotive sozusagen auf Räder montiert wurde. Damit hat die Bahn die Menschheit ins industrielle Zeitalter gezogen, bis sie vom Auto verdrängt wurde. Das heutige Eisenbahnnetz unseres Planeten hat, trotz Abbau in einigen Wohlstands­ländern, immer noch eine Länge von rund 1,2 Millionen Kilometern. Während es ein Jahrhundert lang den Fernverkehr der Personen und Güter über Land fast allein bewältigt hatte, trägt es heute in den Industrie­ländern nur noch einen Bruchteil der Transporte. In der Bundesrepublik Deutschland waren das zuletzt sieben Prozent der Personen und 23 Prozent der Güter.

Das erste Auto startete im Jahre 1885 und war bald des Menschen liebstes Kind. Es brachte es in unge­schlecht­licher Vermehrung innerhalb von 105 Jahren von einem Exemplar auf rund 500 Millionen Personen- und 120 Millionen Lastwagen einschließlich Busse, die zur Zeit die Erde bevölkern. Die UNO rechnet im Jahre 2030 mit einem weltweiten Bestand von 1.000 Millionen Kraftfahrzeugen!11 Schon jetzt fallen jährlich über 30 Millionen Autowracks an. Würde man die hintereinander stellen, dann ergäbe das jährlich eine Schlange, die viermal um den Erdball reichte.*

Das erste Motorflugzeug startete im Jahre 1902. Heute dürften mehr als 100.000 Stück davon existieren. Ziemlich genau wissen wir, daß sich im Jahre 1989 weltweit 1.120 Millionen Passagiere das leisten konnten, was noch vor 100 Jahren ein Traum gewesen ist. Die gesamte germanische Völkerwanderung hat über die Jahrhunderte hinweg nicht so viele Menschen bewegt, wie heute an einem Tag durch die Luft fliegen.

Die Beispiele mögen an dieser Stelle genügen, um die absolute Unvergleichbarkeit unserer Zivilisation mit sämtlichen vorher­gehenden deutlich zu machen. Um diesen Höhenflug in derart kurzer Zeit zu erreichen, war allerdings die Vorarbeit der antiken Kulturen nötig gewesen, und dann bedurfte es noch Tausender einzelner Schritte über das sogenannte Mittelalter hinweg, wovon in unserer Abbildung 1 nur die großen Sprünge vermerkt werden.

* (d-2011:) Eine UPI-Studie rechnet mit 2,3 Milliarden Fahrzeugen bis 2030. (UPI: Umwelt-Prognose-Institut, 2001)

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Gerade als nach 1800 die europäische Kultur zu ermüden begann (nach Spengler, mit dem ich hier voll übereinstimme, vollzieht sich der Übergang von der Kultur zur Zivilisation im Abendland im 19. Jahrhundert), hatte sich — erstmalig in der Weltgeschichte — in Europa und Nordamerika etwas zusammengebraut, was ich "Zivilisation des Zweiten Schubes" nenne. Diese zweite Stufe entzündete nochmals ein Feuer, welches bald gewaltiger brannte als alle vorhergehenden. 

"Nichts scheint diesem Triumph zu gleichen, der nur einer Kultur geglückt ist", schrieb Oswald Spengler nach dem Ersten Weltkrieg,12) und er erkannte schon damals, "was sich im Laufe kaum eines Jahrhunderts entfaltet, ist ein Schauspiel von solcher Größe, daß den Menschen ... das Gefühl überkommen muß, als sei die Natur ins Wanken geraten".13) Selbst der geniale Spengler konnte sich vor 70 Jahren noch nicht ausdenken, daß sich die Entwicklung exponentiell und global im 20. Jahrhundert derart beschleunigen würde, wie wir es nun erlebt haben.

Damals, als die Krisis der alten europäischen Kultur, seit 1815 gewaltig vorwärtsschreitend, sich ausbreitete (wie Jacob Burckhardt den gleichen Vorgang auffaßte),14 die ja auch als Krisis der tragenden christlichen Religion aufgefaßt werden muß, geschah ein Wunder. Eine neue Religion keimte auf, keine esoterische, sondern eine sehr handfeste, die anstelle vager Hoffnungen Ergebnisse vorzuweisen hatte. Ergebnisse, an deren segensreiche Wirkungen all die verschiedenen Völker und Rassen glaubten, Ergebnisse, die zählbar und meßbar, ja verzehrbar sind. Die universale Maßeinheit für alle Ergebnisse ist nun das Geld. Die Währung erfaßte ganze Erdteile, sie soll demnächst ganz Europa umfassen und letzten Endes zu einer Weltwährung führen.

Eine im Grunde unkalkulierbare Macht, bedrucktes Papier, beherrscht und reguliert die Welt jetzt schon in Form von Geldscheinen, Wechseln, Aktien, Pfandbriefen. Damit wurde der phantastische Welthandel erst möglich, ebenso der Weltverkehr und die Vorfinanzierung des Fortschritts durch Investitionen. Damit wurde aber eine zweite Realität geschaffen, und zwar eine, die mit der grundlegenden Realität nicht immer übereinstimmt, aber dennoch durchweg gültig ist, weil die Regierungen wie die Bürger damit rechnen. Ihr Wert ist künstlich, der wirkliche bleibt in der Regel verborgen. Daß es bloß ein Papierwert ist, wird nur offenkundig in Inflationen, Bankenkrächen, Konkursen, Entwertungen. Die Natur aber bleibt in diesem phantastisch erfolgreichen Geldsystem unbewertet.

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Sichtbar wird die Wirksamkeit von Technik und Wirtschaft in den sich drehenden Rädern, stampfenden Kolben und ratternden Gestängen. Ein neuer Kult entsteht. Lewis Mumford nennt ihn den "Mythos der Maschine". Der belgische Künstler Henry van de Velde schrieb bereits: "Ich liebe die Maschinen, sie sind wie Geschöpfe einer höheren Stufe."15 Friedrich Georg Jünger schreibt dazu: "Warum ist die Betrachtung der Maschine so genußreich? Weil die Urform menschlicher Intelligenz an ihr sichtbar wird und weil diese konstruktive, zusammensetzende Intelligenz sich vor unseren Augen Macht erzwingt und anhäuft, weil sie einen rastlosen Triumph über die Elemente erficht, die von ihr geschlagen, gepreßt und geschmiedet werden."16

Der all diesen Vorgängen zugrundeliegende technisch-ökonomische Rationalismus ist eine schon von den Römern erfolgreich angewandte Geisteshaltung, die Hegel als deren "Religion der Zweckmäßigkeit" bezeichnete.17 "Die Rationalität läßt sich als die Anpassung der Mittel an die Ziele definieren."18 Der laufend rationellere Einsatz von Energie und Maschinen erlaubte die ständige Erhöhung der Ziele. Ob allerdings die Ziele selbst rationell waren, ist bis heute selten Gegenstand des Nachdenkens.

Ein neuer Glaube, eine neue Religion braucht nicht begründet zu werden. Und die moderne Technik ist eine "materialistische" Religion: "Die Technik ist ewig und unvergänglich wie Gott Vater; sie erlöst die Menschheit wie der Sohn; sie erleuchtet uns wie der Heilige Geist", ironisiert Oswald Spengler in seinem 1931 erschienenen Buch "Der Mensch und die Technik".19 Auch Lewis Mumford sprach 1967 in seinem Werk von der neuen Religion, die vom 19. Jahr­hundert an Denker ohne Unterschied des Temperaments, der Herkunft und der sonstigen Überzeugung wie Marx, Ricardo, Carlyle, Mill, Comte und Spencer vereint habe; auch er mißt der "Forderung nach technischem Fortschritt die Wirkung eines göttlichen Befehls" bei.20  

Den genannten Bahn­brechern sind unbedingt noch die Namen Descartes, Kepler, Galilei, Kopernikus, Hobbes und Lamettrie vorauszuschicken, die das mathematisch-geometrische Weltbild maßgeblich entwarfen.21 Sechs der genannten Großen stammen aus England, drei aus Deutschland, zwei aus Frankreich und einer aus Italien. Die theoretischen Patente sind also west- und mitteleuropäisch.

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Wir legten schon dar, daß die Hochkultur-Religionen auch wichtige ökonomische Funktionen erfüllten: sie hatten die Überschüsse der Wirtschaft zu absorbieren, um sowohl das Tun der einzelnen Menschen als auch deren Gesamtverhältnis zur Natur bewußt oder unbewußt im Gleichgewicht zu halten. Die Überschüsse müssen unproduktiv (darauf kommt es an!) vernichtet werden. Dies erkannt und dargelegt zu haben, ist das Verdienst des französischen Philosophen Georges Bataille ("Die Aufhebung der Ökonomie"). Die große Entdeckung der rationellen abendländischen Ökonomie war die, daß die "Gaben für die Götter" pure Vergeudung von Rohstoffen, Energie und Arbeitskraft bedeuten. Seitdem setzt man die Überschüsse der Wirtschaft nicht mehr religiös, sondern ökonomisch ein: für erneute und gesteigerte Produktionen, die wiederum höhere Überschüsse zur Folge haben. Und das Ganze nennt man Wachstums­wirtschaft.

Um den ständig steigenden Produktionsausstoß absetzen zu können, benötigt man natürlich laufend neuartige Produkte. Die zu erfinden war kein Problem mehr; denn wie wir oben sahen, waren die Erfinder rastlos tätig, und heute werden sie zu hektischer Tätigkeit angespornt, damit sie neben vielem anderen auch neue Arbeitsplätze schaffen, um den Menschen (möglichst noch höhere) Einkommen zu verschaffen. An dieser Stelle zeichnet sich in einem rational denkenden Kopf schon ab, daß ein solches System das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur stören muß. Die alte Vergeudung für "die Überirdischen" und für die Toten in Form von Pyramiden, Grabdenkmälern, Tempeln, Domen entfiel nun. So waren zum Beispiel in Frankreich zwischen 1050 und 1350 gebaut worden: 80 Kathedralen, 50 große Kirchen, zehntausende kleiner Kirchen, außerdem noch Klöster.22 Und dazu kamen die "vergeudeten" Arbeitszeiten für die vielen Feiern und Feste samt deren Vorbereitung. All das fiel nach und nach weg. Welch eine Entfesselung bisher verschwendeter Produktionskräfte war daraufhin möglich! 

Die neue und rationale Verwendung der Überschüsse führte zu einer eindrucksvollen Eskalation der Stoff- und Energieumsätze, die nun als Maßstäbe für den "Wohlstand der Nationen" dienten. So lautete der Titel des berühmten Buches des ökonomischen Theoretikers Adam Smith.

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Mit der Vermehrung der ökonomischen Produktivität wurde die Beseitigung der Überschüsse in Europa immer dringlicher, aber nie zum Problem; denn auch die unzähligen Kriegszüge brauchten bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen guten Teil davon auf. Nach dem Sieg über Napoleon begann in Europa ein hundertjähriger Friede; denn die Kriege von 1866 und 1870/71 fielen ökonomisch kaum ins Gewicht. Was sich aber in den hundert Jahren technisch und ökonomisch tat, zeigt die Abbildung 1.

Alle freien Menschenkräfte wurden für die Kriegsschauplätze der Produktionen mobilisiert. Sie kosteten jede Menge Schweiß, auch Tränen, doch selten Blut. Aber Opfer waren damit auch verbunden; noch nie in der Geschichte ist es ohne Opfer abgegangen. Die Unerschöpflichkeit des Planeten und seiner natürlichen Systeme wurde als selbstverständlich vorausgesetzt. Hier trafen sich die Rationalisten mit den Anhängern der Religion; denn beide handeln im blinden Glauben. Welcher blinde Glaube der gefährlichere ist, wird sich in den folgenden Teilen des Buches herausstellen.

Alle Völker der Welt haben sich in kurzer Zeit freiwillig den neuen Lehren Europas gebeugt. Auch "alle unentwickelten Länder haben sich mit einem Glauben, der den ihrer Lehrer übertrifft, zu den Religionen der Industrie und des Wohlstandes bekehren lassen. Niemals in all den Jahrtausenden der Berührung von Zivilisationen holte eine Religion einen solchen Erfolg gehabt."23  

Die industrielle Religion ist heute das verbindende Element der Völker der Welt, so wie die englische Sprache das allgemeine Verständigungs­mittel geworden ist.

Die kühnsten Träume des Roger Bacon und anderer Mönche in ihren Klosterzellen sowie des britischen Staatsmannes Francis Bacon haben sich erfüllt. Wie konnte das geschehen? Wie konnte diese Revolution von Anhängern einer Religion ausgehen, die eineinhalb Jahrtausende Demut und Bescheidenheit gepredigt hatte! Hatten nicht schon die Griechen die Hybris des Menschen gefürchtet? Hatte nicht schon Heraklit gesagt: "Man muß den Übermut löschen mehr als eine Feuersbrunst."

Und auch der Gott der Juden und Christen war doch schon herniedergefahren, als die Menschen den Turm zu Babel zu bauen versuchten, 

"um die Stadt zu besehen und den Turm, den die Menschenkinder gebaut hatten. Und der Herr sprach: Siehe, sie sind ein Volk und haben alle eine Sprache. Und dies ist erst der Anfang ihres Tuns; nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen. Wohlan, laßt uns hinabfahren und daselbst ihre Sprache verwirren, daß keiner mehr des anderen Sprache verstehe. Also zerstreute sie der Herr von dort über die ganze Erde, und sie ließen ab, die Stadt zu bauen."24

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  Literatur  (402)      www.detopia.de      ^^^^ 

Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992