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3.2  Die Faszination des Unnötigen

 

Der Besitz des Erdballs oder einer begrenzten Zeit genügt nicht,
Tausend Erdbälle sollen mein sein und alle Zeit!
Der amerikanische Dichter Walt Whitman

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Der Mensch ist mehr oder weniger gierig nach allem Neuen und erpicht auf alles, was er noch nicht gesehen hat. Die Neugier ist ihm angeboren, denn sie kann schon an jedem Kleinkind beobachtet werden. Es greift nach allem, was ihm irgendwie erreichbar erscheint, und wenn es etwas außer Reichweite sieht, dann schreit es, damit man es ihm reiche. Das Begehren richtet sich auch bevorzugt auf den Gegenstand, den gerade ein anderes Kind benutzt. Da nicht für jeden einzelnen alles zu erlangen ist, kommt es zum Wettstreit — und der treibt die Welt voran, wie auch Adam Smith erkannt hatte. 

Das Habenwollen kann also nicht als negativer Charakterzug einem positiven Seinwollen entgegengesetzt werden, wie Erich Fromm das in seinem Buch "Haben oder Sein" tut; denn um überhaupt sein zu können, muß ein Lebewesen einiges haben. Zunächst Futter und ein gewisses Revier, worauf ein Besitzanspruch erhoben wird und das alle höheren Tierarten heftig verteidigen, unter Einsatz aller ihnen zur Verfügung stehenden Mittel. Nietzsche sieht im Eigentumstrieb die "Fortsetzung des Nahrungs- und Jagd-Triebs".25 Dazu kommt für viele Tiere und Menschen der Zwang, Nahrung für den Winter zu horten. Eine Auswirkung dieses Triebs ist wohl auch die Sammel­leidenschaft, von Briefmarken bis zu millionenschweren Gemälden.

Der erworbene Besitz sagt etwas über den Status aus, den das einzelne Lebewesen in seiner Gesellschaft errungen hat. Der erhöhte Besitzstand zeigt auch einen höheren Rang an.26 Schon die primitiven Völker, nicht erst solche mit beträchtlicher Kultur, haben in reichhaltigem Maße Schmuckgegenstände besessen, deren Glanz den Rang seines Besitzers widerspiegelte — bis hinauf zur Königskrone. Er demonstrierte damit, daß er sich "etwas leisten" konnte, was für die unmittelbaren Lebensbedürfnisse durchaus unnötig gewesen wäre.

Auch der Spieltrieb ist den Tieren wie den Menschen angeboren, und mit ihm entfaltet sich auch der Experimentiertrieb. Zur Entwicklung des Kindes gehört, immer mehr und immer Schwierigeres zu versuchen. Dieses Verlangen, hinter die Geheimnisse der Dinge zu kommen, ist identisch mit dem Wissenstrieb, der ja bei einigen Menschen geradezu unheimliche Intensität erreicht. Und das, obwohl dabei schon sehr früh in der Geschichte (im Gilgamesch-Epos, in der Verführungsszene des ersten Paares im Paradies, in der Prometheus-Sage) das schaudernde Gefühl aufgekommen war, etwas Verbotenes zu tun.

Es ist Goethes unsterbliche Leistung, diesen Drang des europäischen Menschen mit seiner Faust-Tragödie in eine exemplarische und zugleich höchst künstlerische Gestalt gegossen zu haben — eine zunächst persönliche Tragödie, die im zweiten Teil welthistorische Dimensionen annimmt. Dieser inzwischen sprichwörtlich gewordene "Faustische Drang" nach Erkenntnis läßt sich nicht unterdrücken. Für die Befriedigung, die er in der Erkenntnis zu finden hofft, verkauft Faust seine Seele: "Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zu Grunde gehn!"27

Der faustische Mensch hat alle Tabus, zuletzt auch die der christlichen Religion, durchbrochen. 

Dieser Drang nach höherer Erkenntnis ist es, der auch den Verfasser dieser Zeilen beflügelt, das vorliegende Buch zu schreiben, ohne nach dem Nutzen zu fragen. "Die Liebe zur Erkenntnis ist die einzige ewige Leidenschaft", schrieb der französische Philosoph Montesquieu, "die uns auch im hohen Alter nicht verläßt".28 Nietzsche sah im Erkenntnistrieb einen höheren Eigentumstrieb.29

 

Der nächste Schritt des menschlichen Geistes bestand seit altersher darin, daß er das, was er herausgefunden hatte, auch machen wollte. Schon der vorge­schicht­liche Mensch wird zu recht als homo faber, also als Handwerker bezeichnet. "Does it work?" Funktioniert es? fragt der Amerikaner wie der Europäer. Und wenn es "von alleine", also automatisch und immer schneller läuft, dann ist er schon vom Zuschauen begeistert. Nicht von ungefähr sind vorindustrielle Märchen wie das vom "Schlaraffenland", wo den Menschen die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, oder vom "Tischlein deck dich!" überliefert. "Fortschritt ist die Verwirklichung Utopias" hat Oscar Wilde irgendwo gesagt. Jedes Kind läßt sich vom automatischen Spielzeug faszinieren.

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Und in der Erwachsenenwelt ging die Erfindung von Spielzeugen oft der von Maschinen voraus. Es macht immer Spaß, per Knopfdruck gewaltige Kräfte in Bewegung zu setzen. Wenn diese dann auch noch gewünschte Artikel ausspeien, die Reichtum bringen, um so besser.

Der Wunsch nach schneller Fortbewegung wird auch ein Erbteil aus der Zeit sein, als der Mensch noch vor den Tieren um sein Leben laufen mußte. Das Verlangen, schnell zu sein, ist geblieben und äußert sich ebenfalls schon bei den Kindern in dem ständigen Begehren "mitzufahren", sei es auf dem Pferdewagen, dem Schlitten, dem Fahrrad, dem Motorrad und zuletzt im Auto. Schneller! Schneller! lautet dabei ihr üblicher Ruf. Aus den gleichen Urantrieben rasen nun die Skifahrer nur so zum Vergnügen zu Millionen von den Bergen hinab. Auto- und Motorradrennen locken Hunderttausende herbei, und das Flugzeug muß in die Stratosphäre aufsteigen, um noch höhere Geschwindigkeiten zu erreichen.

Die Rekorde faszinieren! Beim Sport registrieren wir: Deutsche Rekorde, Europarekorde, Weltrekorde, Jahresrekorde, olympische Rekorde. Selten erzielt ein Buch eine solche Nachfrage wie Guiness' "Buch der Rekorde". Um es immer stärker zu füllen, werden die unnötigsten, ja unsinnigsten Rekorde erfunden. Jeder will "in Führung gehen" und möglichst der Erste sein — auch dies ein Prinzip der Evolution.

Die folgenreichsten Rekorde unseres Zeitalters vollbringt aber die Technik, was keiner so großartig beschrieben hat wie Oswald Spengler:

"Der faustische Erfinder und Entdecker ist etwas Einziges. Die Urgewalt seines Wollens, die Leuchtkraft seiner Visionen, die stählerne Energie seines praktischen Nachdenkens müssen jedem, der aus fremden Kulturen herüber­blickt, unheimlich und unverständlich sein, aber sie liegen uns allen im Blute. Unsere ganze Kultur hat eine Entdeckerseele.

Ent-decken, das was man nicht sieht, in die Lichtwelt des inneren Auges ziehen, um sich seiner zu bemächtigen, das war vom ersten Tag an ihre hartnäckigste Leidenschaft. Alle ihre großen Erfindungen sind in der Tiefe langsam gereift, durch vorwegnehmende Geister verkündigt und versucht worden, um mit der Notwendigkeit eines Schicksals endlich hervorzubrechen. 

Sie waren alle schon dem seligen Grübeln frühgotischer Mönche ganz nahegerückt. Wenn irgendwo, so offenbart sich hier der religiöse Ursprung alles technischen Denkens. Diese inbrünstigen Erfinder in ihren Klosterzellen, die unter Beten und Fasten Gott sein Geheimnis abrangen, empfanden das als einen Gottesdienst. Hier ist die Gestalt Fausts entstanden, das große Sinnbild einer echten Erfinderkultur." 30 

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Die technische Erfindung ist von frühester Zeit bis ins 20. Jahrhundert hinein die Tat einzelner gewesen, und das waren in der Regel Handwerker und Techniker, keine Wissenschaftler. Sie lebten als Tüftler, oft als Einsiedler, manchmal als Abenteurer — auf jeden Fall waren es seltene Persönlichkeiten, die eine Idee, ihre Idee fanatisch verfolgten, bis sie verwirklicht war oder sie darüber starben. Der Erfinder will den Triumph über schwierige Probleme genießen. "Ob seine Erfindung nützlich oder verhängnis­voll ist, schaffend oder zerstörend, das ficht ihn nicht an, selbst wenn irgend ein Mensch imstande wäre, das von Anfang an zu wissen. Aber die Wirkung einer technischen Errungenschaft sieht niemand voraus." 31

Die breite Masse aber hat noch jede Erfindung gefeiert und sie für einen Schritt in eine "bessere Welt" gehalten; darum brauchte sich der Erfinder in der Regel keine Sorgen zu machen. Etwas anderes war es schon, jemanden zu finden, der sein Geld aufs Spiel setzte. Die begabten Kinder erlernten zunehmend technische Berufe, und das ist bis heute so geblieben. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich Europa völlig von den Philosophen ab- und den Ingenieuren zugewandt, weil diese nicht nur versprachen, die Welt zu verändern, sondern es offenkundig auch taten.

Spengler irrte, als er dann schon 1931 den Beginn einer "Flucht der geborenen Führer vor der Maschine" feststellen zu dürfen glaubte, die weiter zunehmen werde.32

Und auch Lewis Mumford hat das Ende des <Mythos der Maschine>, das er bereits 1964 ankündigte, nicht mehr erlebt, obwohl er erst 1989, im 94. Lebens­jahr starb.

Im Gegenteil, dieser Mythos ist inzwischen weiter bis zu den letzten Völkern vorgedrungen und feiert noch immer neue Triumphe. Keines der politischen Systeme konnte oder wollte diesen Mythos seines Zaubers entkleiden, sondern der "Wettkampf der Systeme" ging darum, die Spitze des Fortschritts zu gewinnen oder möglichst weit vorn dabei zu sein. Dazu genügte es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, auf die Erfindungen zu warten.

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Die Staaten schufen Ministerien für Forschung und Technologie, die mit Milliardenetats ausgestattet wurden, und die Konzerne gaben noch mehr dafür aus. Seitdem wird im Kollektiv das gesucht, was man finden will, dabei explodieren die Kosten, während die Ergebnisse immer bescheidener werden. Aber jede Erfindung eröffnet eben die Möglichkeit zu Hunderten weiterer, so daß für die Wissenschaftsbetriebe und für die Produktionsbetriebe, die jenen die Ergebnisse aus den Händen reißen, gleichermaßen an Beschäftigung kein Mangel herrscht. Die Naturwissenschaften sind in die Wirtschaft integriert, arbeiten für diese und leben von ihr nicht schlecht. Die größeren Kader der Industriegesellschaft stellen die Manager, Techniker und Meister in den Betrieben, dazu kommt das Heer der Arbeiter, obgleich gerade dieses laufend kleiner wurde und man es weiter zu reduzieren trachtet.

Riesige Geräte und kleinste Artikel zu Zehntausenden, die vor 100 Jahren noch kein Mensch kannte, befinden sich heute in jedem Haushalt. Und solche, von denen man vor 30 Jahren noch nichts wußte, befinden sich heute bereits in der Hand von Kindern: Taschenrechner, Digitaluhren, Walkman. Nietzsche schrieb im Jahre 1880: "Vielleicht wird man sich besinnen, daß man an viele Bedürfnisse sich erst seitdem gewöhnt hat, als es so leicht wurde, sie zu befriedigen."33) In unserem Jahrhundert ist es um ein Mehrfaches leichter geworden, Bedürfnisse zu befriedigen, die sich damit ihrerseits vervielfacht haben; aber besonnen hat sich fast niemand. Die Besinnungs- und Bedenkenlosigkeit wohnt offensichtlich allem Leben inne, ohne sie hätte es keine Evolution gegeben. Es ist keinem Lebewesen gegeben, die Folgen zu bedenken. "Denn der Sinn des Menschen auf Erden ist immer nur so wie der Tag, den der Vater der Götter und Menschen heraufführt", urteilte schon Homer. 34)

Die neuen Machtmittel der Europäer zwangen alle Völker, sie auch einzusetzen, um sich zu behaupten. "Wo der Wille zum Leben sich durchsetzt, und zwar in immer größerem Umfange, mit immer größerem Wissen und immer größerer Macht, da geschieht es, weil Leben und Wissen und Macht für uns von Nutzen sind. Wir sind die natürlichen Empfänger dieser Gaben."35)  

Sind die Güter produziert, dann muß die Begehrlichkeit geweckt, ja die Unzufriedenheit geschürt werden, um sie auch abzusetzen. Nur in der Steigerung des Kreislaufs scheint die Erfüllung zu liegen, die doch nie eintreten darf.

Dafür sorgt auch der Nachahmungstrieb, der wohl auch zu den Urtrieben des Menschen gehört. Er sorgt für die Verbreitung der Konsumartikel; denn was Nachbars besitzen, müssen wir auch haben. Und die Völker der Welt begehren nun ebenso, was andere besitzen. Als die intelligentesten Nacheiferer haben sich die Japaner erwiesen; ja, es gelingt ihnen sogar, ihre Vorbilder hier und da zu übertreffen. Die meisten anderen Völker haben viel geringeren Erfolg dabei.

Alle Grenzen, die früher die Götter setzten oder auch die Gewalten der Natur, sind nun überall von den Menschen durchbrochen worden und durften offen­sichtlich durchbrochen werden; der Erfolg beweist es!

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Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992