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3.11  Auch der Geist mutiert

 

Der Irrtum hat aus Tieren Menschen gemacht.
Der deutsche Philosoph  Friedrich Nietzsche

217-226

Wenn wir das Wirken des menschlichen Geistes über nahezu 5000 Jahre studieren und die Ergebnisse bilanz­ieren, dann müssen wir feststellen, daß sich die grundlegenden Verhaltensmuster überhaupt nicht geändert haben. Sie gleichen sich auch in vonein­ander isolierten Kulturkreisen, und die Vorstellungen unter­gegangener Kulturen tauchen später wieder auf. Die Kulturen zeigen folgende Hauptmerkmale:

  1. Die Menschen haben stets einen metaphysischen Sinn ihres Daseins gesucht.

  2. Sie haben daraufhin Glaubensinhalte festgelegt — meist durch Religionsstifter — und kultische Handlungen praktiziert.

  3. Sie haben in Kriegen ihren Lebensraum verteidigt und ab und zu benachbarte Gebiete hinzu erobert — und auch wieder verloren.

  4. Ganze Völker haben sich hin und wieder auf die Wanderung begeben, manche sind dabei zugrunde gegangen, andere zurückgekehrt. In Glücksfällen haben sie eine Hochkultur gegründet.

  5. Die Völker haben eine begrenzte Anzahl von Staatsformen wieder und wieder durchprobiert, ohne daß je eine überdauert hätte. Es wechselten: Monarchien, Autokratien, Demokratien, Aristokratien, Oligarchien, Plutokratien und Priesterherrschaften.

  6. Innerhalb der Staaten kam es zu unzähligen Umstürzen, Revolutionen, Bürgerkriegen, Bauern- und Sklavenaufständen.

  7. Es kam immer wieder zu individuellen und kollektiven Mordtaten aus politischen, religiösen und rein persönlichen Gründen.

  8. Die Völker haben wissenschaftlich und philosophisch begründete Theorien entwickelt und sich über deren Richtigkeit viel gestritten.

  9. Ab und zu versuchten einzelne Völker einen völligen Neubeginn, verbrannten ihre alten Schriften und Werke; doch nach kurzer Zeit lebten alte Werte und Spielregeln wieder auf.

In der Geschichte der 5000 Jahre, die wir überblicken können, tauchen also immer wieder die gleichen Themen und Streitpunkte auf — bis auf den heutigen Tag. Da gibt es keine Aufwärtsentwicklung, wie das die Einteilung in <Altertum>, <Mittelalter> und <Neuzeit> glauben machen wollte. 

Und auch vom moralischen Standpunkt aus gesehen gibt es keine "Besserung" des Menschen. Konflikte gehören zu jedem normalen Geschichts­verlauf, genauso wie zur Biographie jedes einzelnen Menschen. Friedenszeiten sind nur kürzere oder längere Atempausen.

Jeder, der viel von der Geschichte weiß, wird zugeben, daß sie eine Geschichte der fortwährenden Irrtümer ist, und sogar zum größten Teil immer wieder der gleichen Irrtümer. Darin herrscht "ewige Wiederkehr". Über die einzelnen Kulturkreise hinweg treten die Irrtümer in geringer Abwandlung stets aufs neue auf. Das gleiche kann man von den Wahrheiten sagen; denn sie behaupten sich stets nur auf einige Zeit. Warum wurde nie "das Richtige" gefunden, an dem man festgehalten hätte? Warum bleibt der Verlauf der Weltgeschichte voller Rätsel?

Mit der Größe seines Gehirns steht dem Menschen ein Überschuß an Geist zur Verfügung. Ein Vergleich mit den Tieren zeigt, daß der Mensch weit mehr Denkfähigkeiten besitzt, als er zur Erhaltung seines Lebens und des seiner Kinder benötigt. Mumford formuliert das so: 

"Mit seinem überentwickelten und fortwährend aktiven Gehirn hatte der Mensch mehr geistige Energie zur Verfügung, als er zum Überleben in rein tierischer Form benötigte: und er war deshalb gezwungen, diese Energie nicht allein in Nahrungs­beschaffung und sexuelle Reproduktion zu kanalisieren, sondern in Lebensweisen, die diese Energie direkter und konstruktiver in angemessene kulturelle — das heißt symbolische — Formen umwandelten. Nur mit der Kultur konnte der Mensch seine eigene Natur ausschöpfen, kontrollieren und voll entwickeln."154

Geistige Vorgänge können sich immer viel schneller entwickeln als materielle, darum sind sie stets reichlich vorhanden, sogar im Überfluß. Dieser zeigt sich in folgenden Erscheinungen.

Träume. Die Träume beweisen, daß der Geist nicht einmal im Schlaf abgeschaltet ist. Das Gehirn ruht nur teilweise völlig, andere Teile sind halbwach und wieder andere vollwach und arbeiten offensichtlich weiter. Da aber wichtige Teile eben doch schlafen, kommt es zu eigenartigen, manchmal wirren und absurden Kombi­nationen der Gehirnzellen.

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Phantasien. Im wachen Zustand, also bei vollem Bewußtsein, kann der Mensch phantasieren, sich an ferne Orte und in andere Zeiten versetzen; er weiß dabei aber, daß er phantasiert, daß er in Wirklichkeit hier ist.

Spiele. Im Spiel wird Phantasie und Wirklichkeit kombiniert. Die Kinder spielen leichthin, die Erwachsenen betreiben ihre Spiele mit großem Ernst. Der Spieltrieb "ruft andere Welten ins Leben".155

Ideen. Die Ideen sind Versuche des Geistes, die aus Träumen, Phantasien und Spielen, vermischt mit Erfahrungen in vielfältigen Kombinationen entstehen. Sie unterliegen keinen exakten Gesetzmäßigkeiten; sie treten spontan auf, wandeln und wiederholen sich immer wieder.

Die Ideen haben im geistigen Bereich die gleiche Funktion wie die Mutationen im physischen: Es sind Abweichungen im Erbgang, von denen sich die meisten als untauglich, einige wenige als tauglich erweisen. Die Experimentierfreude der Natur, die ja die Grundlage der physischen Evolution bildet, findet also im geistigen Bereich (im Gehirn des Menschen) ihre Fortsetzung. Und dort herrschen auch die gleichen Ausleseprinzipien wie in der Genetik der Lebewesen; nur das Geeignete überlebt auf die Dauer. Die Ideen und Ideale führen auf der geistig-seelischen Ebene den gleichen "Kampf ums Dasein" wie die Gene im physischen. Und auch hier sind die Mutationen die Bahnbrecher des Neuen.

Ähnliche Gedankengänge fand ich bei dem hellenischen Philosophen Parmenides, der sie vor nun bald 2500 Jahren in Versform brachte:

Je nachdem sich die Mischung vollzieht in den schwanken Organen
Ist die Tätigkeit auch des menschlichen Geistes. Nichts andres
Als der Organe Natur ja ist's, was denkt in den Menschen,
Und zwar in allen und jedem. Was stärker, bestimmt den Gedanken.156

Parmenides hatte demnach schon erkannt, daß der menschliche Geist die Tätigkeit seiner Körperorgane fortsetzt. Wenn das so ist, warum sollte dann nicht das, "was denkt in den Menschen", also das Gehirn, nach den gleichen Spielregeln agieren wie die Gene? Müßten dann die geistigen Vorgänge im Gehirn nicht ebenfalls der Evolution und Mutation unterliegen?

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Friedrich Nietzsche notierte sich 1875 unter der Überschrift <Zum Darwinismus>: 

"Ungebundene, viel unsicherere und schwächere Individuen, die neues versuchen und vielerlei versuchen, sind es, an denen der Fortschritt hängt: unzählige dieser Art gehen zu Grunde ohne Wirkung, aber im Allgemeinen lockern sie auf und bringen so von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eine Schwächung bei, führen an irgend einer schwachgewordenen Stelle etwas Neues ein. Dies Neue wird von dem im Ganzen intakten Gesamtwesen allmählich assimiliert. — Die degenerierenden Naturen, die leichten Entartungen sind von höchster Bedeutung. Überall wo ein Fortschritt erfolgen soll, muß eine Schwächung vorher­gehen."157  

Mit diesen Überlegungen übertrug auch Nietzsche die Auswahlkriterien der physischen Evolution auf die geistige Evolution. Er erkennt auch, daß Gewinne und Einbußen sich immerzu kompensieren.

Es ist sicher schwer — und in der menschlichen Geistesgeschichte vielleicht sogar unstatthaft — zu beurteilen, was vorteilhaft oder nachteilig, positiv oder negativ, fortschrittlich oder rückschrittlich ist. Auch das ist eine Ursache dafür, daß der Kampf der Geister unentwegt weitergeht. Die Menschen können nur beurteilen, was in ihrer Kultur und zu ihrer Zeit jeweils der einen oder der anderen Kategorie zuzuordnen ist; denn auch die Urteile sind einem ständigen Wandel und wechselnden Mehrheiten unterworfen. Und ein Bereich läßt sich in dieses Entweder-Oder-Schema überhaupt nicht einordnen, nämlich die Kunst. Und auch im religiösen Bereich sind Beurteilungen wie: diese Religion sei vorteilhafter als jene, völlig sinnlos.

Die Mutationen im geistigen Bereich sind es also, die die Ideengeschichte der menschlichen Kulturen beherrschen. Sie setzen die Kräfte in Bewegung, die sich zu Weltanschauungen, Philosophien und Religionen verdichten und sich auch wieder zersplittern. Es sind geistige Kräfte, die sich gegenseitig bekriegen, die allerdings auch oft zur physischen Waffengewalt greifen. Da die geistige Evolution immateriell, das heißt hier ohne die Gene, abläuft, gelten die Vererbungsregeln hier nicht. Untaugliche geistige Mutationen können demnach nicht (wie im Erbgang der Gene) durch Tod ihres Trägers ausgeschieden werden; sie können auf vielerlei Weise "weiterleben": durch sprachliche Weitergabe, vor allem seit die Schrift in Gebrauch gekommen ist.

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Die Aussonderung irriger Ideen erfolgt dadurch, daß sie keinen Anklang finden oder indem die Ausführung der Idee scheitert. Das kann ein sehr schneller oder auch ein sehr langsamer Vorgang sein. Es ist durchaus möglich, daß die gleiche falsche Idee in anderen Köpfen erneut auftaucht, ja im Laufe der Geschichte immer mal wiederkehrt. Heute sind wir in der Lage, jede abgetane Idee in Bibliotheken noch lange schlummern zu lassen, bis sie jemand wiederentdeckt und vielleicht zu neuem Leben erweckt. Ein ganz Geschickter gibt sie dann als seine eigene aus.

Somit geistern irrige Ideen in Fülle in der Welt herum — entsprechend der Fülle abweichender Gene, von denen nur die wenigsten geeignet waren, die Evolution des Menschen voranzubringen.158 Wäre aber die Fülle der Ideen überhaupt nicht vorhanden, so gäbe es auch kein Reservoir, aus dem sich richtige Ideen herauskristallisieren könnten. Nur sehr selten gewinnt eine "richtige Idee" die Oberhand; denn sie kann unbeachtet bleiben oder von falschen Ideen überwuchert oder auch bekämpft und besiegt werden. 

Auf den geistigen Schlachtfeldern können auch falsche Ideen siegen, einige Zeit lang an der Herrschaft bleiben — vor allem dann, wenn nicht genügend Gegenkräfte auftreten oder wenn die falsche Idee sich nicht selbst vernichtet. Im geistigen Raum darf jeder Unsinn Blüten treiben, so abwegig er auch sei. Selbst Genialität und Dummheit schließen sich keineswegs aus. Der französische Schriftsteller Henry de Montherlant sagte richtig: "Die Dummheit besteht nicht darin, daß man keine Ideen hat. ... Die menschliche Dummheit besteht vielmehr darin, daß man eine Menge Ideen, aber eben dumme Ideen hat."159"Je größer die Bemühung ist, um so stärker wird die Albernheit", schrieb sein moderner französischer Kollege Charles Richet.160

Daß der Mensch voller Irrtümer steckt, wurde in den Hochkulturen anerkannt. Daraus entstand schon bei den Griechen eine besondere Gattung von Dichtungen, die Komödien. Ihre Tradition setzte sich über Rom dann im ganzen Abendland fort. Dazu kam die Ironie in Romanen und Gedichten, in Sprichwörtern und Karikaturen. Auf verschiedene Weise vermag es der Mensch, Abstand zu sich selbst zu gewinnen und sich über seine eigenen Fehler zu belustigen. Was ist das anderes als die freundliche Anerkennung der Tatsache, daß viele seiner Ideen und Handlungen falsch, ja komisch sind.

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Darin unterscheidet er sich sicherlich vom Tier, was auch äußerlich zum Ausdruck kommt, da er das Lachen kennt. Im Gegensatz dazu allerdings auch das Weinen. Beides kann man als untrügliche Kennzeichen eines höheren Bewußtseins ansehen, das den Tieren fehlt.

An der Ideengeschichte sind nun nicht nur einzelne Gehirne, sondern auch Menschenmassen beteiligt. Das hat Le Bon in seiner "Psychologie der Massen", Ortega y Gasset im "Aufstand der Massen" und schon Machiavelli in seinem Werk "Der Fürst" dargestellt. Mit der Macht der Massen greift die Ideengeschichte zunehmend stärker in die reale Geschichte ein, im Guten wie im Bösen. Solange sich die Ideen im rein geistigen Raum bewegen, bleiben sie unschädlich oder richten nur geringen Schaden an; doch auch ihr Nutzen bleibt gering. Das war es ja gerade, was Karl Marx den Philosophen vorwarf, daß sie die Welt nur interpretiert hätten, während es doch darauf ankomme, sie zu verändern, also Nutzen aus den Erkenntnissen zu ziehen. Heute wissen wir, wohin die Veränderungen geführt haben, die er für die einzig richtigen hielt.

 

Doch bleiben wir zunächst noch im geistigen Raum der Ideen! Gibt es in der geistigen Welt überhaupt Fortschritt, also Evolution? 

Wenn wir die Zunahme der bloßen Zahl der Ideen als Fortschritt einstufen dürften, dann wäre der Fortschritt phantastisch. Wenn wir aber wissen, daß die Zahl der dummen Ideen — analog den Mutationen — stets stärker zunimmt als die der klugen, dann ist der Fortschritt höchst fraglich. Sicher ist auch, daß mit der Zunahme beider das Schlachtfeld der Ideen immer unübersichtlicher, immer verwirrender wird — und das ist der heutige Weltzustand, der sich mit ständig erhöhter Geschwindigkeit noch weiter verkompliziert. Schon vor hundert Jahren sagte Nietzsche darüber: "Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus."161 In der zahlenmäßigen Zunahme der Ideen kann also der geistige Fortschritt nicht liegen, also nur in der Auslese. Doch wie geschieht diese? Was ist im Wettstreit der Geister positiv und was negativ? Wer befindet darüber? In der Natur ist die Entscheidung klar: das Negative stirbt; denn: "Was fruchtbar ist, allein ist wahr!"162

In der Natur werden die ungeeigneten Gene selbsttätig ausgemerzt, weil sie nicht lebensfähig sind. In der geistigen Welt verschwinden sie aber nicht auf diese Weise; denn die Gedanken leben lustig weiter, solange sie keine Probe auf Überlebens­fähigkeit durchstehen mußten. Also bleiben auch die negativen Mutationen geistig lebendig und führen im Reich der Ideen einen immerwährenden Kampf mit den wenigen positiven. Letztere sind zwar überzeugender und damit stärker, aber eben weniger an Zahl, so daß sie gegen die Masse der dummen Ideen häufig unterliegen.

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Goethe sprach am 16. Dezember 1828 zu Eckermann: 

"Man muß das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird, und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrtum obenauf, und es ist ihm wohl und behaglich im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist."163

Im ständigen Streit der vielen alten und neuen Irrtümer untereinander und gegen die wenigen Wahrheiten, die auch untereinander streiten, sehe ich eine Analogie zum Wirken der Gene in ihren Mutationen. Wie es in der physischen Evolution nur in riesigen Zeiträumen Verbesserungen gegeben hat, so ist es auch im geistigen Bereich. Nur hier und da schälte sich aus den Irrtümern etwas Brauchbares, dem Leben Dienliches heraus. Das meint Nietzsche, wenn er vom Wert des Irrtums spricht, der den Menschen erzogen habe; 

"er sah sich erstens immer nur unvollständig, zweitens legte er sich erdichtete Eigenschaften bei, drittens fühlte er sich in einer falschen Rangordnung zu Tier und Natur, viertens fand er immer neue Gütertafeln und nahm sie eine Zeit lang als ewig und unbedingt, so daß bald dieser, bald jener menschliche Trieb und Zustand an der ersten Stelle stand und in Folge dieser Schätzung veredelt wurde."164

Im geistigen Bereich ist die menschliche Geschichte immer ein Schlachtfeld geblieben. Niemals konnten Probleme "endgültig" entschieden werden. Nur in der Technik wurde stets offenkundig, ob eine Maschine lief oder nicht. Hier herrscht Einigkeit, darum entschieden sich alle für die Maschine. Sie ist der Sieger. Aber sie hat einen solchen Energiehunger, daß sie die Erde kahlfrißt.

Es gibt jede Menge Beispiele für erwiesenermaßen ungeeignete Mutationen, von denen nur einige aufgeführt werden können.

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Die Schriftzeichen der Chinesen haben sich als ungeeignete geistige Mutation erwiesen, denn sie führten in eine nicht entwicklungsfähige Sackgasse. Dennoch blieben sie in China und Japan bis heute in Gebrauch, obwohl das aus dem Mittelmeerraum stammende Alphabet seine Überlegenheit längst bewiesen hat; denn es kann mit 25 Buchstaben eine praktisch unbegrenzte Zahl von Wörtern bilden, die noch dazu leichter zu schreiben sind. Jede europäische Sprache hat daraufhin einige hunderttausend Wörter.

Mit der lateinischen Ziffernschreibung kann man zwar jede Zahl darstellen, es wäre aber wohl unmöglich gewesen, die heutige Mathematik und die Computer damit zu betreiben.

Wie furchtbar sich Irrtümer auswirken können, zeigen andere Ergebnisse. Es mußten erst unzählige "Hexen" verbrannt werden, bis man merkte, daß dies wohl keine gute Idee war. Die amerikanischen Indianer­kulturen opferten sicherlich insgesamt einige zehntausend wenn nicht hunderttausend Menschen den Göttern, damit diese unter anderem Regen schickten, und haben bis zu ihrem eigenen bitteren Ende wohl nie bemerkt, daß dies eine absurde Idee war. Wer zweifelt da noch an der Richtigkeit von Nietzsches Schlußfolgerungen: 

"Oh über diese wahnsinnige traurige Bestie Mensch! Welche Einfälle kommen ihr, welche Widernatur, welche Paroxysmen des Unsinns, welche Bestialität der Idee bricht sofort heraus, wenn sie nur ein wenig verhindert wird, Bestie der Tat zu sein! ... Hier ist Krankheit, es ist kein Zweifel, die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewütet hat ... Im Menschen ist so viel Entsetzliches! ... Die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus!"165

Die großen und schrecklichen Beispiele aus sehr vielen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Weltgeschichte von unzähligen kleinen Irrtümern in Bewegung gehalten wird — natürlich auch von unzähligen richtigen Schlußfolgerungen, sonst hätte es die Entwicklung vom Einzeller zum Menschen nicht gegeben. Die Geschichte der letzten Jahrtausende, dieses faszinierende Wogen der Ideen und Kräfte, konnte nur geschehen, weil der Mensch in das neue unermeßliche Reich des Bewußtseins eingetreten war.

"Die Bewußtheit ist die letzte und späteste Entwicklung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewußtheit stammen unzählige Fehlgriffe, welche machen, daß ein Tier, ein Mensch zu Grunde geht, früher als es nötig wäre ... Wäre nicht der erhaltende Verband der Instinkte so überaus viel mächtiger, diente er nicht im Ganzen als Regulator: an ihren verkehrten Urteilen und Phantasiren mit offenen Augen, an ihrer Ungründlichkeit und Leichtgläubigkeit, kurz eben an ihrer Bewußtheit müßte die Menschheit zu Grunde gehen ..."166

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Das Neue an der europäischen Zivilisation war und ist, daß all die Ideen überhand nahmen, die sich materialisieren ließen. Das sind die technischen Erfindungen. Diese kann man als geistige Mutationen bezeichnen, die in der physischen Welt ihre Realisierung fanden. Diese haben im Kampf der Ideen einen riesigen Vorteil auf ihrer Seite: sie können handgreiflich und augenfällig beweisen, daß sie sich "machen lassen", daß sie funktionieren. Also mußten sie doch vorteilhaft, positiv und fortschrittlich sein! Nichts förderte weitere technische Erfindungen so sehr wie das Gelingen bisheriger. Während es in den reinen Geisteswissenschaften keine einwandfrei definierbaren Fortschritte gab, konnten die exakten Naturwissenschaften solche in Physik, Chemie, Medizin und in deren technischer Anwendung sichtbar vorweisen. Auch die Gesamtergebnisse liegen vor:

— Der Mensch lebt länger,
— er wohnt komfortabel bis luxuriös,
— läßt Maschinen für sich arbeiten
— und hat eine nahezu unbegrenzte Mobilität erreicht.

Die Landwirtschaft erzeugt mehr Nahrung auf gleicher Anbaufläche. Noch spektakulärer ist die Verbess­erung der Waffen. Schon in der Vorgeschichte war dies ein wichtiges Kriterium des Fortschritts gewesen. Doch in den letzten 500 Jahren wurde die Entwicklung immer rasanter: Vom Schießgewehr zum Ferngeschütz, zum Panzer, zum Bombenflugzeug und zur Rakete, ausgerüstet mit Sprengbomben, Uranbomben, Wasserstoff­bomben und Neutronenbomben — und die Unterseeboote ebenso.

Kein Zweifel, daß zum Beispiel die höheren Erträge in der Landwirtschaft oder die Zerstörungskräfte der Waffen meßbar sind, genauso die zunehmende Geschwindigkeit oder das höhere Lebensalter. Daraus ergeben sich Erfolgserlebnisse, und es ist nicht verwunderlich, daß sich der Mensch zunehmend dem Erfolg dort hingegeben hat, wo er leicht war, daß er sich bevorzugt auf das stürzte, was ihm gelang. Das habe ich schon in <Ein Planet wird geplündert> dargelegt.

Im Zentrum der Darlegungen dieses Buches steht der folgenreichste und darum letzte große Irrtum des Menschen, nämlich daß diese gesamte Erde mit allem, was auf ihr ist, sein Spielzeug sei. Diesem Irrtum durfte er sich gefahrlos hingeben, solange er ein Traum blieb. Seit er aber mit technischen Mitteln seine wirren Träume materialisieren kann, werden sie tödlich. 

Oder, um das Eingangszitat Nietzsches wieder aufzugreifen: "Der Irrtum hat aus Tieren Menschen gemacht; sollte die Wahrheit im Stande sein, aus dem Menschen wieder ein Tier zu machen?" Unmittelbar nach diesem Satz notierte Nietzsche: "Wir gehören einer Zeit an, deren Kultur in Gefahr ist, an den Mitteln der Kultur zu Grunde zu gehen."167

In dieser letzten und explosiven Phase der geistigen Mutationen befinden wir uns. Sie wurden in derart gewaltigem Ausmaß realisiert, daß die Folgen nicht mehr zu tilgen sind.

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Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992