Teil 5

Der Mensch als göttlicher Lenker?

 

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Sie reinigen sich, indem sie sich von neuem besudeln.
Der griechische Philosoph Heraklit

5.1  Umweltpolitik?

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Die Entdeckung der Umwelt als schutzbedürftiges System, dem der Mensch zu Hilfe kommen muß, habe ich in der Politik seit 1969 miterlebt. Obwohl in Deutschland schon immer ein tieferes, zum Teil romantisches Gefühl für die Natur vorhanden war, kam der Begriff wie die neue Bewegung aus den Vereinigten Staaten herüber. Dort hieß das nun "human environment protection", also Schutz der menschlichen Umwelt, nicht etwa Schutz der natürlichen Umwelt an sich. 

Somit blieb der Mensch im Mittelpunkt und erklärte alles übrige zu seiner <Um-Welt>. Er begriff allerdings, daß ihm selbst Gefahr drohte, wenn er die Dinge weiter so laufen ließ. Die übrigen Geschöpfe, die Tiere und die Pflanzen, interessierten nicht so sehr; denn deren Dahinschwinden bemerkt der städtische Mensch selten. Doch die schlechte Luft roch er, das schlechte Wasser schmeckte er, den Lärm hörte er, und den Müll sah er. Das erboste viele, und sie riefen nach Abhilfe. 

Aber wer sollte abhelfen, wenn nicht die Technik, die doch wohl alles vermochte. Wenn sie immer neue Mittel erfinden konnte, warum nicht auch die Gegenmittel? Damit war der technische Umweltschutz geboren, für den man auch sofort die Fachleute hatte. Folglich wurde der Umweltschutz in Fach­bereiche aufgeteilt, und andererseits wurde er selbst zu einem neuen Ressort der Politik, also der Gesetzgebung. Denn auf freiwilliger Basis geschah nichts, nur durch den Druck der Öffentlichkeit und den Zwang des Staates. Allgemein gültige Grenzwerte für zulässige Belastungen, von denen man annahm, daß sie der Mensch gerade noch vertrug, wurden verordnet. Im Ringen mit der Industrie um die "höchst zulässige" Verschmutzung machte man die beruhigende Entdeckung, daß der Mensch oft mehr vertragen kann als manche Pflanzen- und Tierart, zumal ihm notfalls immer noch Ärzte und Medikamente als letzte Rettung zur Verfügung stehen.

Da die Belastungen summiert und synergetisch wirken, lassen sie sich quantitativ und qualitativ schwer oder gar nicht erfassen — und vieles wird immer ungeklärt bleiben, wie wir schon beim Waldsterben erfahren mußten.

Die bisherige Umweltpolitik hat sich der "Schadstoffe und Umweltmedien einzeln ange­nommen; damit aber kumulative Effekte mehrerer gleichzeitig auf Mensch und Umwelt einwirkender Einflüsse zu wenig berück­sichtigen können".1

Somit waren Betroffene und Umweltschützer meist in Beweisnot, ob denn nun eine Krankheit wirklich gerade auf eine bestimmte Chemikalie zurück­zuführen sei, wo doch noch tausend andere Ursachen denkbar blieben. Aber die Medien griffen die Themen auf, und wer eine Tageszeitung von heute mit einer 20 Jahre zurückliegenden vergleicht, wird feststellen, daß sich die Berichte über Umweltprobleme mindestens verzehnfacht haben. Das konnte die Politik nicht ignorieren. Nach und nach schuf man Umwelt­ministerien und entsprechende Parlaments­ausschüsse in allen größeren Staaten und auch in Bundesländern; dazu die nötigen Fachbehörden bis herunter auf Kreis- und Stadtebene. 

Vielfältige Institute schossen aus dem Boden, Gutachter waren gefragt und natürlich Juristen, denn der Umweltkampf zwischen Wirtschaft, Staat und Bürger wurde zunehmend auch vor Gerichten ausgefochten. Teil des ganzen anwachsenden Systems waren auch die Bürgerinitiativen, die Umwelt- und Natur­schutz­verbände. Die vorwiegende Stimmung war die, daß es doch wohl gelacht wäre, wenn wir die Probleme nicht in "den Griff" bekommen sollten, wo der Mensch doch "schon ganz andere Probleme gelöst" habe. Mit der Entdeckung immer neuer Mißstände entfalteten sich neue Wachstumsbranchen zu deren Beseitigung.

Schließlich begriff auch die gewerbliche Wirtschaft, die sich lange gegen die "wettbewerbs­schädlichen Einschränkungen" gesperrt hatte, daß sie ihre Strategie ändern mußte. Es dauerte nicht lange, und nirgendwo grünte es nun so grün wie in den Werbeanzeigen der Industrie bis hin zur chemischen. Beinahe alles, was heute produziert wird, ist nun ökologisch! Auf diese Weise überspringt man mit Schlagworten elegant das große Dilemma, daß nämlich die moderne Ökonomie die altmodischen Natursysteme zerstört. Aber auch Wissenschaftler hatten für die Überlebensprobleme Sprüche anzubieten: Ökonomie und Ökologie bildeten keinen Gegensatz, ergänzten vielmehr einander und könnten sogar harmonisch ineinander gefügt werden.

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Das hörten sowohl die Unternehmer wie auch die Gewerkschaften gern; denn nun war ihre Interessen­gemein­schaft wieder gesichert. Es darf, ja es muß sogar mehr produziert werden, denn die Erhaltung der Umwelt kostet Geld, das erst einmal verdient werden muß. Erst wenn man es hat, kann auch etwas für die Umwelt abgezweigt werden. Somit erschien weiteres wirtschaftliches Wachstum geradezu geboten. Auch die Wähler waren zufrieden, denn es wird ja schon soviel für die Umwelt getan! Und das Erfreulichste dabei: Keiner braucht Einschränkungen hinzunehmen, im Gegenteil, nach der Ölkrise wurden größere Autos gekauft, man flog zu noch entfernteren Urlaubsorten und kämpft tapfer weiter gegen das Übergewicht.

Der technische Umweltschutz steigert nun auch das Bruttosozialprodukt. Gerade die erforderlichen Großanlagen sind teuer: Kläranlagen, Müllver­brennungs­anlagen, Filtersysteme für Großkraftwerke. Und ein Massen­bedarf entsteht bei Katalysatoren, Lärmschutzwänden und -fenstern, um einiges zu nennen. Das Wissenschaftszentrum Berlin ermittelte, daß von 1970 bis 1988 der Anteil des Bruttosozialprodukts, der für die Beseitigung von Umweltschäden aufgewendet wurde, von sieben auf zwölf Prozent gestiegen ist. Diese müßten vom Bruttosozialprodukt abgezogen werden; denn ihr Wert liegt nur darin, daß eine weit größere Verschlechterung der Umwelt vermieden wurde.

Das Bruttosozialprodukt wächst also umso kräftiger, je höher die Schäden sind, die behoben werden müssen! Ökologisch betrachtet heißt das jedoch, daß jeder technische Umweltschutz einen zusätzlichen Energieeinsatz erfordert. Kraftwerke mit Filter und Autos mit Katalysator benötigen nicht nur die Energie zur Herstellung der Geräte, sondern auch für deren Betrieb. Das gilt auch für Klärwerke und eigentlich für alles. 

 

Jeder technische Vorgang verbraucht weit mehr Energie, als er an Leistung erbringt. Außerdem sind für den Bau der Anlagen mineralische Rohstoffe nötig, die auch nicht nachwachsen. Und alle Energie­erzeugung und jeder Rohstoffverbrauch (sogar die Wiederverwendung) ist auch wieder mit unvermeidlichen Umwelt­belastungen verbunden, somit kann die ökologische Bilanz gar nicht so viel besser werden — selbst dann nicht, wenn der perfekteste Umweltschutz betrieben würde.2 Hundertprozentig wird die Umwelt nur entlastet, wenn die jeweilige Produktion ganz eingestellt wird.

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Über das Verursacherprinzip ist man sich einig. Doch wer ist der Verursacher? Der Autoproduzent oder der -fahrer? Wenn keine Autos gekauft würden, dann könnten die Fabriken keine herstellen, und auch die Tankstellen wären überflüssig. Also ist der primäre Verursacher der, welcher sich ein entsprechendes Gut anschafft. Der sogenannte Normalbürger, der in aller Unschuld kauft, was ihm angeboten wird, ist der eigentliche Verursacher der Umweltmisere, ob er das nun wahrhaben will oder nicht. Eine Umfrage ergab, daß zwei Drittel aller Bundesbürger der Ansicht sind, in ihrer Freizeit und im Urlaub die Umwelt überhaupt nicht zu beeinträchtigen!3

Bisher wurde noch nicht einmal den besser Gebildeten klar, daß die Umweltschäden mit der Dichte der Besiedelung und dem Lebensstandard unweigerlich steigen, und daß damit eine Umkehr immer aussichts­loser wird. Und das, obwohl die Berechnungen von Forrester und Meadows schon vor 20 Jahren die Verknüpfung und gegenseitige Verschlimmerung der Faktoren Bevölkerung, Nahrung, Verschmutzung, Energie und Rohstoffe dargestellt hatten.     

Um die Belastung der Natur durch die Menschen grob berechnen zu können, hat der Ingenieur Wolfram Ziegler den menschlichen Energieeinsatz je Flächen­einheit als Indikator eingeführt. Da alle technisch-ökonom­ischen Betätigungen des Menschen mit von ihm selbst produzierter Energie ausgeführt werden, läßt sich schon an deren Einsatzhöhe die Belastung der ökologischen Systeme abschätzen. Demnach ist in Deutschland der auf die Fläche bezogene Energieverbrauch zehnmal höher, als er in einem stabilen Ökosystem sein dürfte.

Seit meiner Gesamtdarstellung in <Ein Planet wird geplündert> sind die folgenden globalen Gefahren­komplexe hinzugekommen: Waldsterben, Treibhauseffekt, Ozonschwund in der oberen Atmosphäre. Und die aus der Atomspaltung resultierenden Gefahren haben sich konkretisiert. Wären diese neuen Gefahren nicht hinzugekommen, dann hätte man pauschal von gleich­bleibenden Umwelt­belastungen auf dem schon völlig untragbaren Niveau der siebziger Jahre sprechen können. Aber eben nur, wenn allein die konventionellen Emissionen berücksichtigt werden. Der "Erfolg" bisheriger Umweltpolitik liegt allein darin, daß es in den damals bekannten Bereichen nicht noch viel schlimmer geworden ist.

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Die Umweltpolitik ist in allen Staaten eine mit viel Propagandageschrei begleitete Symptom­bekämpfung. Man kann sie auch als halbherzige Defensivpolitik bezeichnen. Von Umweltvorsorge, die von der Gesamt­regierung betrieben werden müßte, kann keine Rede sein. Der Ressortminister für die Umwelt hat in allen Regierungen hauptsächlich eine Alibifunktion, aber keinen entscheidenden Einfluß. Die ökonomische Weiterentwicklung wird von der Ökologie nur am Rande ein klein wenig berührt. Wenn zum Beispiel der deutsche Bundeskanzler beim Weltwirtschaftsgipfel 1989 darauf "drängte", einige Phrasen über die Umwelt in das Kommunique aufzunehmen, dann bleibt das erwiesenermaßen folgenlos.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) legte Anfang 1991 den dritten Bericht über die Umwelt in den dort vertretenen 24 Ländern vor. (Außer den EG-Ländern gehören noch dazu: USA, Kanada, Japan, Australien, Neuseeland, Türkei, Österreich, Schweden, Finnland, Island und Jugoslawien.) Diese Länder mit 950 Millionen Einwohnern "produzieren" jährlich zwei Milliarden Tonnen Abfälle und tragen zur Kohlendioxydbelastung der Welt über 40 Prozent bei. Die Abwässer von 330 Millionen Einwohnern gehen ungeklärt in Flüsse und Meere.

Die Aufwendungen für die Umwelt schwanken in diesen Staaten zwischen 0,8 und 1,5 Prozent ihres Brutto­sozial­produkts; Deutschland 1,52 Prozent, USA 1,47 Prozent, am geringsten waren sie in Frankreich und Italien. Das sind überall lächerlich geringe Sätze. Damit können nur die schlimmsten Schäden gemildert werden, und das oft nur nachträglich, während die Gesamtbelastung weiter zunimmt. Die steigenden wirt­schaft­lichen Aktivitäten fressen die umweltpolitischen Erfolge bei weitem wieder auf. 

Der Bericht spricht von Fortschritten, gibt aber zu, daß sie unzureichend sind, und fordert ein "gewichtiges Programm". Die Bodenerosion sei in den USA, Australien und Spanien ein wachsendes Problem, wie überhaupt die Bodenqualität abnehme; Wüsten breiteten sich in Kanada, Spanien und der Türkei weiter aus. Eigenartigerweise ist der Bericht mit dem Zustand der Wälder zufrieden. Und das, wo doch der Straßen­verkehr seit 1970 um 86 Prozent zugenommen hat, während das Brutto­sozial­produkt um 72 Prozent stieg.

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Der Bericht beklagt auch, daß trotz Verbesserung der Motoren die Belastung der Atmosphäre konstant weiter steigt, und fordert die Dämpfung des Straßenverkehrs. Doch das erklärte Ziel des Europäischen Binnen­marktes ist gerade dessen Erhöhung. Auch der Konsum der immer kleiner werdenden Familien schnellt weiter hoch.

Daß auch die Entwicklung armer Regionen der dortigen Umwelt schadet, wagte ein Bericht des World-Wildlife-Found auszu­sprechen. Schon die erhöhten Mittel der EG für die "rückständigen Regionen" in Griechenland, Spanien, Portugal und Island sowie für die französischen Überseegebiete gefährden dortige ohnehin ökologisch labile Räume und zerstören Fauna und Flora.4)

Im ehemaligen Ostblock mit seiner beträchtlichen Industrialisierung stellt sich die Lage am verheerendsten dar. Das ganze Ausmaß der Umwelt­verderbnis wurde mit der Perestroika und der Demokratisierung der einzelnen Nationen nach und nach deutlich. Man darf wohl sagen, daß es dort überhaupt keinen Umwelt­schutz gegeben hat. Die Aussichten auf Verbesserung bleiben düster, da die ausgebrochene Wirtschafts­misere alle Kräfte binden wird. Der über 450 Millionen Menschen umfassende Raum — bisher als "Zweite Welt" bezeichnet — hat einen weit geringeren Lebens­standard, doch einen höheren Energieeinsatz pro Kopf und viel höheren Verschmutzungs­grad aufzuweisen.

Ganze Landschaften kann man als geschädigt oder sogar als vergiftet einstufen. Angefangen beim Erzgebirgsraum deutscher- und tschechischerseits, über Oberschlesien bis in die vielen großen Industrie­anballungen der Sowjetunion, quer durch Sibirien bis zum Pazifik. Am Amur ist das Industrie­gebiet um Komsomolsk auf 10.000 Quadratkilometern so vergiftet, daß vielerorts kein Gras mehr wächst. "Den Nachkommen bleibt nur die Wüste", durfte jetzt ein Abgeordneter einem deutschen Fernsehteam sagen.

Der sowjetische Umweltminister Nikolai Worontsow erklärte Anfang September 1991, daß 20 Prozent der Sowjetunion verseucht seien, auf weiteren 35 Prozent seien schwere Schäden zu registrieren; die restlichen 45 Prozent des gesamten Territoriums seien unberührt. Dazu gehören jedoch gerade die zum großen Teil unbewohnten Gebiete um den Polarkreis. Am gründlichsten wurde die Natur durch die atomaren Anlagen ruiniert. 

Zu dem großen atomar verseuchten Raum um Tschernobyl kommen die Produktions- und Versuchs­anlagen der Atomwaffen. Ihre Zentren lagen am Ural, in Kasachstan und auf der Insel Nowaja Semlja im Nordmeer. Die Uran­gewinnung hinterläßt auch in Sachsen und Thüringen riesige radioaktiv verseuchte Flächen. Im eigenen Land benutzte die Sowjetunion atomare Sprengsätze für Erdbewegungen; selbst jetzt, im Jahr 1991, gibt es noch Pläne, die chemischen Waffen mittels atomarer Explosionen zu vernichten! 5)

Zur Kohlendioxydbelastung der Welt trugen die ehemaligen Ostblockstaaten 25 Prozent bei, obwohl sie nur acht Prozent der Bevölkerung stellten. Die starke Belastung Osteuropas wirkt sich über die Luft und die Gewässer auch auf das übrige Europa aus, besonders durch die Flüsse, die ins Schwarze Meer und in die Ostsee münden.

Im Rückblick stellt sich heraus, daß es verhängnisvoll war, die Umwelt nicht unter dem umfassenden Begriff der Ökologie, sondern unter dem begrenzten von Emissionen und Immissionen zu betrachten. Durch deren Minderung glaubte man daraufhin die Welt retten zu können, ja sogar eine höhere Lebens­qualität zu gewinnen. Daß es jedoch um das Leben auf dieser Erde und damit um die Existenz des Menschen geht, haben bis heute nur verschwindend kleine Minderheiten begriffen. 

Nach und nach ist zwar neben dem Begriff Umwelt auch der umfassendere der Ökologie aufgetaucht, aber dessen Tragweite erfaßten ganz wenige. In den komplexen Systemen der Natur zu denken, überfordert das menschliche Gehirn. Darum hat der Mensch auch keine Ahnung, welchen Schaden er in ihnen anrichtet. Die Probleme der heutigen Welt auf den Begriff "Umweltschutz" zu reduzieren, heißt sie verniedlichen. Und selbst das, was in der Umweltpolitik geschieht, könnte man in der Formel zusammenfassen: über Altlasten diskutieren und Neulasten produzieren.

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Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992