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5.2  Qualitatives Wachstum?

Wir müßten Engel werden, um vom himmlischen 
Bruttosozialprodukt leben zu können.
Der amerikanische Ökonom Herman Daly

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Das weitere wirtschaftliche Wachstum werde ein qualitatives Wachstum sein, sagen seine Befürworter, wenn sie die Grenzen nicht mehr abstreiten können. Was jedoch unter qualitativem Wachstum zu verstehen sei, bleibt noch immer der Phantasie jedes einzelnen überlassen. Auf jeden Fall sollte es allerdings die "Lebensqualität" erhöhen, worüber sich auch ein jeder seine eigenen Vorstellungen bilden darf. 

In einem materialistischen Zeitalter wie dem unseren wird die Qualität weitestgehend von der Quantität abgeleitet, und alles Trachten konzentriert sich auf die Erhöhung der Besitzstände. Das manifestiert sich alle Jahre in den Lohn­kämpfen. Das Jahreseinkommen pro Kopf ist der Indikator des <Lebensstandards>, und für die Nationen ist es das Bruttosozial­produkt.

Daß im letzteren wesentliche Leistungen nicht enthalten sind, weil sie sich schwer oder gar nicht in Geld umrechnen lassen, ist ein bekanntes Thema. So sind vor allem die Arbeitsleistungen der Hausfrauen für ihre Familien in dieser Statistik nicht enthalten. Und wie soll man saubere Luft, sauberes Wasser und eine saubere Landschaft berechnen? Abgesehen von dem Umweg über die Krankheitskosten, aber der kann auch nicht zu eindeutigen Beträgen führen. Da sich der Kapitalwert einer schönen Landschaft der Berechnung entzieht, kann die Urlaubswerbung beträchtlich mogeln, denn die angepriesenen Umweltqualitäten sind meist nicht mehr so. 

Und wie soll bewertet werden, daß die Wohnqualität einer Stadt oder eines Dorfes abgenommen hat, weil sie lärmerfüllt, von eintönigen Betonbauten eingeengt und mit Immissionen belastet ist? Vielleicht schießen die "Freizeiteinrichtungen" darum so aus dem Boden, weil man deren horrende Kosten genau beziffern kann? Oder ist dann die Lebensqualität eines Ortes tatsächlich um diesen Betrag gestiegen? 

Wenn ein Land mit vielen Ärzten und Rechtsanwälten ausgestattet ist, sollte man dann auf eine hohe Lebensqualität schließen dürfen oder könnte das auch auf einen hohen Krankenstand, beziehungsweise große Streitsucht zurückzuführen sein? Erfreulicherweise gibt es im zwischenmenschlichen Bereich noch viele Dinge, die sich nicht in Währungs­einheiten umrechnen lassen. Eine Expertenkommission des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements definierte 1985: 

"Qualitatives Wachstum ist jede nachhaltige Zunahme der gesamtgesellschaftlichen oder pro Kopf der Bevölkerung erreichten Lebens­qualität, die mit geringerem oder zumindest nicht ansteigendem Einsatz an nicht vermehrbaren oder nicht regenerierbaren Ressourcen sowie abnehmenden oder zumindest nicht zunehmenden Umweltbelastungen erzielt wird." 

Also mit geringerem Einsatz an Ressourcen darf die Steigerung weitergehen! Ihr Einsatz sollte nur so beschaffen sein, daß er die Umwelt nicht stärker belastet als bisher. Demnach blieben Ressourcenverbrauch und Umwelt­belastung bestehen — und deren Ausmaß ist bekanntlich gewaltig.

Wer in Deutschland ein Produkt mit etwas weniger Schädigung auf den Markt bringt, darf schon den sogenannten Umweltengel in blauer Farbe aufdrucken, und sei es auf seine Toilettenblättchen. Der "Umweltengel" ist darum sehr begehrt. Mit solchen Errungenschaften und mit dem Schlagwort vom "qualitativen Wachstum" sind bisher nur die Tatsachen vernebelt worden. Besonders im politischen Raum hat man versucht, den Eindruck zu verbreiten, als würde mit dem qualitativen Wachstum die Umwelt völlig geschont, während die "Lebensqualität" dennoch weiter steigen kann. 

Darum schrieb Carl Amery 1976: "Die politische Perspektive, unter der uns ... das Problem der Ökologie nahegebracht werden sollte, war die Perspektive der Lebens­qualität. Viel Schlimmeres konnte dem ökologischen Problem nicht zustoßen." 6) 

Die Lebensqualität wurde zum Wahlkampf­schlager. Es war nicht gelungen, um noch einmal mit Amery zu reden, "den Konsumaffen mit der Lebens­qualitäts­banane, die er ruhig als zusätzliche Prämie verstehen sollte, aus dem Urwald der Überproduktion zu locken." 7

Auch die Dienstleistungen hat man so dargestellt, als seien sie nur qualitativ, also weder umwelt- noch ressourcen­verbrauchend. Diese Auffassung hat der Ökonom Herman Daly gründlich widerlegt. 

"Wenn wir alle indirekten wie direkten Aspekte der Dienstleistungen ... addieren, werden wir herausfinden, daß die Dienst­leistungen nicht viel weniger verschmutzen oder Materie verbrauchen als viele industriellen Leistungen. Daß die meisten Dienst­leistungen eine substanzielle Grundversorgung erfordern, beweist der gelegentliche Besuch einer Universität, eines Hospitals, einer Versicherungs­gesellschaft, eines Friseurs oder sogar eines Symphonie­orchesters. Sicher werden die verdienten Einkommen der Menschen in den Dienstleistungs­sektoren nicht völlig für Dienst­leistungen aufgewandt, sondern tatsächlich für den durchschnittlichen Konsumenten­korb, der aus Waren und Diensten besteht."8)

Jeder lebende Mensch benötigt eine Grundversorgung, bestehend aus Nahrung, Kleidung und Unterkunft. Inbesondere die Erzeugung der Nahrung wird immer einige hundert Quadratmeter pro Kopf erfordern. Dieser Bedarf könnte nur vermindert werden, indem man die Menschen "kleiner macht". Das schlug jedenfalls Rüdiger Proske 1975 in einem Streitgespräch mit mir vor. Doch es sind wohl bis heute noch keine Erfolge zu vermelden. Herman Daly hat diesen Gedanken weiter gesponnen und kommt zu dem Ergebnis: 

"Die Idee, daß wirtschaftliches Wachstum physikalische Grenzen übersteigen kann, um ein immaterielles Bruttosozialprodukt zu gewinnen, ist gleich­bedeutend mit der Vorstellung, die Grenzen des Bevölk­erungs­wachstums könnten überwunden werden, indem man den Energiedurchsatz der menschlichen Körper vermindert. Zunächst würden wir Pygmäen, dann Däumlinge, dann große Moleküle, dann reine Geistwesen. Wahrhaftig, wir müßten Engel werden, um von einem himmlischen Brutto­sozial­produkt leben zu können."9)

Also bleibt es dabei, daß jeder Mensch eine physische Belastung dieser Erde ist und das umso mehr, je höher sein gesamter Lebensstandard getrieben wird. Nur durch dessen drastische Einschränkung ließe sich der Verschleiß irdischer Güter mindern. Das hieße, auf ein früher in der Geschichte erreichtes Niveau zurückzugehen, was allerdings keine Einschränkungen im geistigen Bereich erfordern würde. Das bisherige Ergebnis kann nur enttäuschen, schrieb Walter Schiesser in der <Neuen Zürcher Zeitung>: "Wir sind nämlich keineswegs auf dem Pfad zum qualitativen Wachstum, sondern befinden uns ganz im Gegenteil erneut in einer Phase beschleunigten quantitativen Wachstums."10

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 wikipedia  Rüdiger_Proske  1916-2010

 

 

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Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992