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5.6  Der Mensch ist kein göttlicher Lenker

 

 

Dir wird gewiß einmal bei 
deiner Gottähnlichkeit bange!

Der deutsche Dichter Johann 
Wolfgang von Goethe im "Faust"

326-337

Die menschlichen Eingriffe der letzten zwei Jahrhunderte haben die Selbstregulation der Natur zunehmend gestört und werden sie ganz zerstören. Die Menschen haben die großtechnischen Machtmittel nach dem Zweiten Weltkrieg nochmals gewaltig gesteigert und bedenkenlos eingesetzt, so daß sie nun immer schneller mit den Folgen konfrontiert werden, die sie nicht voraus­ahnten.

Noch im 19. Jahrhundert hatte die begrenzte Voraussicht ausgereicht. Die Störungen in der Natur wirkten höchstens einige Jahre nach, denn sie wurden von dieser selbst wieder ausgeglichen. Erst im 20. Jahr­hundert wurden Umwälzungen in der natürlichen Umwelt verursacht, die weder quantitativ noch qualitativ von der Natur bewältigt werden können. Darum wäre jetzt eine viel weitere Voraussicht des Menschen erforderlich und noch dazu eine von ungeahnter Komplexität. Jetzt sind Fähigkeiten verlangt, wie sie stets nur den allwissenden und allmächtigen Göttern zuge­schrieben wurden.

Erst nach den Veränderungen der Umwelt hat sich unser Kenntnisstand über die lebenden Systeme der Erde ganz beträchtlich erhöht. Das ökologische System erweist sich als komplizierter und verletzlicher als jemals gedacht, wobei wir in den letzten Jahren das meiste Wissen aus den Krankheitsbildern der Erde bezogen haben.

Die Zeit der sogenannten Aufklärung hatte die Welt auf immer wenigere und einfachere Naturgesetze zurück­führen wollen und gehofft, letzten Endes alles auf eine Weltformel bringen zu können. Nietzsche hatte es schon als "metaphysischen Wahn" bezeichnet, daß "das Denken an dem Leitfaden der Kausalität bis in die tiefsten Abgründe des Seins" vordringen könne und daß "das Denken das Sein nicht nur zu erkennen", sondern sogar zu "korrigieren" vermöge.51 Er hielt dagegen: 

"Die Welt ist ins Ungeheure gewachsen und wächst fortwährend: unsere Weisheit lernt endlich, von sich kleiner zu denken; wir Gelehrten sogar, wir fangen eben an, wenig zu wissen ..."52

"Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die <Wahrheit>: wir <wissen> (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel als es im Interesse der Menschen-Herde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst, was hier <Nützlichkeit> genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnisvolle Dummheit, an der wir einst zu Grunde gehn." 53

Die totale Veränderung der Umwelt in Richtung "Nützlichkeit" ist schon eingetreten. Und sie entsprang nicht einem weisen Plan, sondern ergab sich aus der explosiven Eigendynamik der Technik, deren revolutionäre Folgen sich erst jetzt in ihrem ganzen Ausmaß herausstellen. Der herrschende Glaube ging davon aus, daß es nur positive Folgen geben werde, und das ohne Ende. Aber das Unerwartete ist eingetreten: die negativen Folgen überholten die positiven. Darum befindet sich der Mensch heute nicht mehr in der Situation, sich für einen bestimmten Weg entscheiden zu können; denn die "neue Lage" ist schon da, und nur aufgrund dieser könnten jetzt Pläne geschmiedet werden.

Es hat sich herausgestellt, daß die Wirklichkeit ein "unermeßliches Ordnungsgefüge" ist.54 Die Atomphysik und die Astrophysik, die Medizin und die Genetik, die Ökologie und die Psychologie stießen immerzu auf neue, tiefere Schichten. Und auch der Umweltschutz, der vor 20 Jahren eine einfache Sache zu sein schien, ist auf Tausende neuer Fragen gestoßen. Selbst die scheinbar festgefügte Ordnung des Kosmos ist unsicher geworden; die Bahnen der Gestirne stehen nicht absolut fest.

Während der ganzen langen Geschichte scheint bei den Menschen das Gefühl vorgeherrscht zu haben, daß die Welt absolut geordnet und hierarisch aufgebaut sei, daß an der Spitze des ganzen Weltgefüges eine höchste und letzte Instanz stehe: eine Gottheit. Das war gerade im christlichen Bereich sehr ausgeprägt; man braucht sich nur die Deckengemälde der Gotteshäuser zu betrachten. In Plotins Philosophie, in Calderons "Großem Welttheater", im Prolog zum "Faust" und noch in Hofmannsthals "Großem Welttheater" — um nur einige aus der Fülle zu nennen — finden wir diesen beherrschenden Gedanken: Gott über der Welt thronend. Man dachte sich diesen allmächtigen Lenker des Ganzen notgedrungen als Person, in die Dinge der Welt eigenhändig eingreifend.

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Und das ist nirgends so deutlich wie im Alten Testament, wo der Mensch mit seinem Gott sozusagen auf Du und Du verkehrt. Stets ist es ein Gott, der als Herr über den Erdkreis gedacht wird, nie ein Parlament der Götter. In einigen Religionen intrigieren und kämpfen sie zwar gegeneinander wie Menschen, fassen aber keine Mehrheits­beschlüsse. Auch in der menschlichen Geschichte ist ein Herrscher die Regel gewesen. Selbst in den kommunistischen Staaten ist bisher ein Diktator der Normalfall geblieben — entgegen aller Theorie. Ob irdisch oder überirdisch, der Mensch hat stets in einer ihm weit überlegenen Instanz die Garantie für die Ordnung der Welt erblickt.

Nun wissen wir auch längst so viel von der Weltgeschichte, daß niemals und nirgendwo ein Gott in das irdische Geschehen eingegriffen hat. Wie wir uns auch immer die Wesenheit denken, die im Natur­geschehen dieser Erde waltet, es gibt keinen Beweis für deren akuten Eingriff in die Natur- und Menschheits­geschichte. Das behaupten auch die christlichen Kirchen nicht.55

"Wenn es Götter gibt, so kümmern sie sich nicht um uns."56 Philip Wylie bringt es auf den Punkt: "Gott verletzt nicht das Naturgesetz."57 Wenn die Natur nachweislich so angelegt ist, daß sie sich selbst reguliert, dann ist Gott jenseits aller akuten Verantwortung. Warum sollte er auch Gesetze, die er selber geschaffen hat, samt der eigengesetzlichen Evolution stören?

Carl Amerys <Wort des Abwesenden Gottes> gipfelt in dessen Frage an den Menschen: 

"Warum forderst du? Ich fordere nichts von dir. ... Ich gab dich frei. Ich bin abwesend, weil du es so willst, was schreist du also, daß du in Meinem Auftrag gehandelt, daß du Mir vertraut hast? Ich habe dir alles überlassen — auch die Vorsorge für dich selbst." 58

In all den Fällen, in denen der beschränkte Mensch anderes erwartet hatte und mit Gott hadert wie Hiob, muß er sich belehren lassen: 

"Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sag an, wenn du Bescheid weist! Hast du in deinen Tagen je dem Morgen geboten, dem Frührot seinen Ort gewiesen ...? Sind dir die Tore des Todes aufgetan worden, und hast du die Pförtner des Dunkels gesehen? ... Bestimmst du die Zeit, da die Steinziegen gebären, überwachst du das Kreißen der Hirschkühe?" 59)

Wie kann sich Gott überhaupt auf eine Diskussion mit dem Menschen über die Naturgesetze einlassen? Wo doch dem Menschen schon die primäre Eigenschaft Gottes, die Allwissenheit, fehlt!

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Schon Heraklit sagte: "Menschliches Verhalten verfügt nicht über Einsichten, wohl aber göttliches." 60) Göttliche Einsichten kommen aus höheren Ordnungen, zu denen menschlicher Verstand nicht hinreicht: "Dem Gott ist alles schön und gut und gerecht; die Menschen aber haben das eine als ungerecht, das andere als gerecht angesetzt." 61)

Der Mensch preist seinen Gott gern, wenn er sich ihm in seinem Sinne wohlgefällig zu zeigen scheint, er beklagt sich dagegen, wenn er sich "ungerecht" behandelt fühlt. Allerdings: Wenn ein Gott für die guten Dinge gepriesen werden darf, müßte er auch für die üblen gescholten werden dürfen, zum Beispiel für Naturkatastrophen, für die zugelassene Ausrottung ganzer Völker, worüber schon im Alten Testament recht teilnahmslos berichtet wird; und kurz nach der Schöpfung gibt es den ersten Mord, einen Brudermord sogar. Darum ist es höchst ratsam, Gott so weit hinwegzurücken, daß er weder mit dem Bösen noch mit dem Guten belastet wird.

Der Mensch nahm letzten Endes auch alles so gottgewollt hin, gleichgültig ob er sein Schicksal auf den direkten Ratschluß seines Gottes zurückführte oder ob er im Ganzen den Willen Gottes walten sah, der alles schon richtig füge. Alles für den Menschen Wesentliche lag ohnehin im Jenseits, dieser Zufluchts- und Trutzburg, die sowohl die christliche wie auch die islamische Religion für ihre Gläubigen bereit hielt. Dieses Urvertrauen, das nur einer Welt entgegen­gebracht werden konnte, die sich "in Gottes Hand" befand, wurde in der Neuzeit von den Wissenschaften zerstört. Deren "Aufklärung" ließ für Gott keinen Raum mehr, bot aber zugleich einen neuen Gott an: den der natur­wissen­schaft­lichen Erkenntnis, der Maschine und des vom Menschen erreichten "Fortschritts", der eine neue Form der "Erlösung" von allen irdischen Leiden bringen werde. Und der größte Teil derer, die sich "Atheisten" nannten, folgte freudig diesem neuen Glaubensangebot, zumal da keine Taufe, kein ausdrückliches Glaubens­bekenntnis gefordert war.

Nur wenige, und das waren die tiefer sinnenden Geister, auch "freie Geister" genannt, mißtrauten dem neuen Angebot. Der Komet unter ihnen war Friedrich Nietzsche. Er hatte am gründlichsten erfaßt, was es bedeutete, wenn Gott aus der Welt verschwunden war.

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Das große Erschrecken überkam ihn: 

"Wir haben ihn getötet, — ihr und ich! ... Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat, — und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!" 62)  

Die Größe dieser Tat forderte bei Nietzsche eine würdige Antwort und Folgerung. Um den Abgrund wieder zu schließen, schloß Nietzsche, müsse der Übermensch geboren werden, der Gottes Statt einnehmen könnte. Andere Wissenschaftler, ja solche, die heftigst gegen Nietzsche polemisierten, haben sich viel bedenkenloser zugetraut, den Thron Gottes zu besteigen. Sie erboten sich, die gähnende Leere selbst zu schließen. Dazu gehörte auch schon Karl Marx. In jungen Jahren schrieb er: "Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst." Und: "Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei ..." 63)

"Marx hat Hegel sehr gut verstanden, wenn er zu dem Schluß gelangt, daß für den Menschen der Moment gekommen ist, sein Schicksal in seine eigene Hand zu nehmen: ›Die frühere Vielfalt der Geschichte, die jetzt zu Ende geht, hat den Marxschen Übermenschen hervorgebracht, der Gott wieder in sich aufnimmt; von jetzt an wird der verwandelte Übermensch sich selbst verwirklichen und wahre Geschichte durch die revolutionäre Aktion hervorbringen‹." 64)  

Dies ist sozusagen die proletarische Version des Übermenschen. In der "Internationale" singen sie ja dann auch: "Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!"

Die bürgerliche Variante vom Menschen, der sich Mut machen will, finden wir in Wilhelm Müllers Liedern zur "Winterreise", die Schubert komponiert hat: "Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter."

Ortega y Gasset geht noch weiter: 

"Und dem mittelmäßigen Menschen unserer Tage, dem neuen Adam ... fällt es nicht ein, an seiner Gottähnlichkeit zu zweifeln. Sein Selbstvertrauen ist paradiesisch wie Adams; es hindert ihn daran, sich mit anderen zu vergleichen, was die erste Bedingung für die Entdeckung seiner Unzuläng­lichkeit wäre." 65)

Sarkastisch könnte man sagen: Der Mensch befand, daß ein Gott nötig sei. Als er keinen mehr auf dem Thron sitzen sah, schloß er eiligst, daß er sich selbst darauf niederlassen müsse. Denn er ahnte kaum, daß es nicht leicht sein würde, ein Gott zu sein.

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Nietzsche tat sich da viel schwerer und dachte lange nach, womit der Thron zu besetzen sei, und kam schließlich auf den Übermenschen. Welch wahnwitzig hoher Anspruch an den Übermenschen gestellt werden müßte, wußte er allein. Wenn Gott nicht existiert, "so hängt alles von mir ab, und ich muß meine Unabhängigkeit beweisen."66 "Ich begreife nicht, wie bisher ein Atheist hat wissen können, daß es keinen Gott gibt und sich nicht sofort getötet hat ... Fühlen, daß Gott nicht ist und nicht zugleich fühlen, daß man damit Gott geworden ist, ist eine Absurdität ...".67 "Sobald man nicht mehr an Gott und an die Bestimmung des Menschen für ein Jenseits glaubt, wird der Mensch verantwortlich für alles Lebendige ...".68

Darum endet der erste Teil des "Zarathustra" mit den Worten: "Tot sind alle Götter: nun wollen wir, daß der Übermensch lebe."69 "Könntet ihr einen Gott schaffend? — So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen." 70)

Nachdem sich der Mensch die Erde Untertan gemacht hat, ist ihm auch die Verantwortung für den Lauf der Dinge zugefallen. Das wird kaum noch bestritten. Selbst die Rufe der Wissenschaftler nach einer höchsten und letzten Instanz werden immer lauter. Hubert Markl sagte 1987 in einem Vortrag: 

"Der Mensch hat sich dann tatsächlich die Erde untertan gemacht, nur recht und billig, vor allem aber auch unabdingbar notwendig, daß er nun für sie Verantwortung und Sorge trägt, daß er in Obhut nimmt, was er bisher nur überwältigte." 71)

Theologen, Künstler und auch Politiker (wenn sie gerade sonntäglich gestimmt sind) erinnern uns an die Verantwortung, "Verantwortung für die Schöpfung" klingt noch besser. Aber offenbar wissen sie samt und sonders nicht, was es mit einer solchen Verantwortung auf sich hat. Sie auf sich zu nehmen, ist nicht nur eine moralische Aufgabe; es handelt sich eben um nicht mehr und nicht weniger als um die Steuerung unseres Planeten. Diese soll der Mensch jetzt, wo das Problem — reichlich spät — ruchbar wurde, in die Hand nehmen. Aber nun ist die Mutter Erde nicht mehr die, die sie noch vor hundert Jahren war.

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Roger Sperry schrieb: "Die gegenwärtig auf unserer Erde herrschenden Zustände verlangen nach einer einheitlichen Betrachtungs­weise, bei der Wertperspektiven auf etwas Höherem aufbauen als bloß der menschlichen Spezies oder ihrer gesellschaftlichen Dynamik: auf etwas Gottähnlicherem [!], das das Wohl der Biosphäre und des Ökosystems als Ganzem in evolutionsgeschichtlichen Zeiträumen im Auge hat. Je mehr der Einfluß des Menschen auf das Ökosystem zunimmt, desto dringender brauchen wir diese höheren Perspektiven....",72 die Roger Sperry an anderer Stelle als "gottähnlichere Leitvorstellungen" bezeichnet. 73)

Doch wie kommen wir zu diesen? "Der ›Mensch‹, der ›Staat‹ oder die ›Vernunft‹ unterscheiden sich von ›Gott‹ darin, daß sie weder allmächtig noch allwissend noch allgültig sind. Es ist daher kein Wunder, daß die Versuche, ›Natur‹ durch vernünftige Intervention zu ersetzen, bislang alle mehr oder weniger deutlich gescheitert sind."74 Soweit der Historiker Rolf Peter Sieferle.

Die allseits geforderte und auch vielfach entworfene Planung erweist sich als undurchführbar, was schon im gesamten Ostblock bewiesen wurde, obwohl es dort nur um die ökonomisch-gesellschaftliche Planung ging; denn die ökologischen Notwendigkeiten waren noch nicht einmal in den Gesichtskreis geraten. "Die Spontanität der Natur ist gescheitert", sagt Sieferle, (wozu betont werden muß, daß sie am Menschen gescheitert ist) um dann richtig fortzufahren, "wer glaubt aber noch daran, daß die Planung nicht ebenfalls scheitern wird?"75

Ungeachtete der Komplexität der Welt-Natur haben sich in den letzten zwanzig Jahren Zehntausende von klugen Köpfen daran gemacht, Pläne auszudenken, mit denen die Welt zu retten sei. Fast jedes Buch, das die Krisen des Planeten beschreibt, endet mit Vorschlägen zu seiner Rettung. Schon die Titel kündigen das an: 

 

Und nun kam auch noch im September 1991 der Club of Rome mit einer "Weltlösungs­strategie", bei deren Durchsicht man weder die Lösung noch eine Strategie dafür entdeckt. Da die ungeplante Entwicklung auf diesem Planeten in die totale Katastrophe läuft, denkt natürlich jedermann an eine künftig zu planende. Auch ich schrieb 1975: "Jetzt muß die Zukunft geplant werden."76 

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Meine Zweifel, ob das möglich sei, haben sich von Jahr zu Jahr verstärkt. Und die Durchsicht unzähliger vorliegender Pläne hat zu der Gewißheit geführt, daß sie undurchführbar sind und bleiben werden.  Nachdem nun die Planung in der "Zweiten Welt" zusammengebrochen ist, entbehren die "Überlebens­pläne" nicht einer gewissen Ironie.

Einer der ersten Pläne mit ökologischer Zielsetzung erschien 1972: das <Planspiel zum Überleben> von Edward Goldsmith und Robert Allen. Bestimmt nicht der letzte ist <Der ökologische Marshallplan> von Lutz Wicke und Jochen Hucke. Diese Pläne sollen hier nicht besprochen werden. Nur soviel: Der erste besteht aus 25 Punkten, von denen in 20 Jahren so gut wie keiner auch nur begonnen wurde; der zweite schiebt großzügig die Milliarden in der Welt hin und her (bis 2030 wären das 18 Billionen Dollar), die von den Geberländern mit Sicherheit nicht aufgebracht werden, da sie selbst ihren Wohlstand noch erhöhen wollen und da sie hochverschuldet sind. Im Grundsatz geht dieser Plan von der Annahme aus, die Menschheit könne sich die Zukunft erkaufen.

 

Daß der Mensch nicht im Entferntesten Gott spielen kann, bewies bei kleinen Problemen der Psychiater Dietrich Dörner in Bamberg. Er hatte die Probleme einer kleinen Stadt in ein Computer-Programm eingespeist. Die Studenten sollten dann Entscheidungen zum Wohle der Stadt treffen, wobei sie mit einem komplexen, beziehungsreichen System, das sich dynamisch fortentwickelt, umzugehen hatten. Dabei trafen fast alle Versuchspersonen falsche Entscheidungen; sie sahen nur die Haupteffekte, doch wenn ein Übel beseitigt wurde, entstanden durch Neben- und Fernwirkungen mehrere neue.77

Viele Forscher erkennen, daß die Probleme tiefer liegen, und fordern vom Menschen ein "neues Bewußt­sein". Sie argumentieren, daß er noch ein "steinzeit­liches Bewußtsein" mit sich trage. Wie sollte er aber dieses in ein oder zwei Generationen, die wir vielleicht noch Zeit haben, ablegen, nachdem es ihm offenbar in tausend Generationen nicht gelungen ist? Diese Erwartung ist ebenso wahnwitzig wie die, der Mensch könne die Stelle Gottes einnehmen.

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Die Evolution vom affenähnlichen zum heutigen Menschen dauerte mindestens drei Millionen Jahre — wieviel Zeit brauchte es wohl dann vom heutigen Menschen bis zu einem gottähnlichen Wesen? Und leider könnten wir auch nur einen Gott gebrauchen! Denn Götter streiten sich auch, wenn sie zu mehreren sind. Jedenfalls in den indogermanischen Götterhimmeln war das so.

Bei den langlebigsten Arten von Lebewesen, die wir kennen, den Ameisen, Termiten und Bienen, regiert unumschränkt eine Königin. Aber diese hat noch nie Probleme mit dem Fortschritt gehabt, denn das Leben in diesen Staaten blieb über die Millionen Jahre gleich. Außerdem lebt jedes Volk nur für sich in seinem begrenzten Raum.

Der Mensch hat aber mit der Technik, dem Weltverkehr und der planetarischen Kommunikation einen Bienen­stock aus diesem Erdball gemacht. Niemand hat sich zunächst besorgt darüber gezeigt, was das für Konsequenzen haben müsse, außer einem: Friedrich Nietzsche. Er machte sich mehrmals Gedanken über die zukünftige Weltregierung. "Es naht sich, unabweislich, zögernd, furchtbar wie das Schicksal, die große Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden?"78 "Die Erd-Regierung ist ein nahes Problem." 79)

Und er sah "die Gefahr, daß die Weltregierung in die Hände der Mittelmäßigen fällt."80 Darum beklagte er, daß ein Typus fehle, "der Mensch, welcher am stärksten befiehlt, führt, neue Werte setzt, am umfänglichsten über die ganze Menschheit urteilt und Mittel zu ihrer Gestaltung weiß — unter Umständen sie opfernd für ein höheres Gebilde. Erst wenn es eine Regierung der Erde gibt, werden solche Wesen entstehen, wahrscheinlich lange im höchsten Maße mißratend."81

In der Tat, wir haben in den hundert Jahren nach Nietzsche solch "mißratene Wesen", die um die Weltregierung stritten, schon erlebt und werden weitere erleben. Denn die Aufgabe, "eine Herren-Rasse heraufzuzüchten, die zukünftigen ›Herren der Erde‹"82, wird undurchführbar bleiben — auch wenn das nun die chemische Industrie mittels Gentechnologie in die Hand nehmen möchte. Solch künftige Erdregenten wären nichts anderes als die Übermenschen Nietzsches.

Wer glaubt aber heute noch, daß es den "Übermenschen" oder die "Bewußtseinsänderung" jemals geben wird?  

"Der Mensch muß lernen, mit sich selber auszukommen und sich so zu akzeptieren, wie er ist. Vor allem muß er sich vor der Versuchung hüten, sein zu wollen wie Gott."83

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<Der Unfall ist auf menschliches Versagen zurückzuführen>, heißt es oft lakonisch in den Nachrichten. Der Mensch versagt schon bei kleinen Dingen: beim Autofahren, bei der Steuerung eines Schiffes oder Flugzeuges, was er schließlich einige Jahre gelernt hat. Wie soll er da jemals den Planeten Erde steuern können, was er nie gelernt hat; ja es gibt nicht einmal einen Lehrer, der es ihm beibringen könnte. Und gäbe es solch einen Lehrer — besser solch einen Gott —, die Menschen würden den Teufel tun, dessen Anweisungen zu befolgen.

Daß der Mensch andererseits in seinen technischen Leistungen schon als Übermensch erscheine, meinte sogar Albert Schweitzer 1952: "Wagen wir die Dinge zu sehen wie sie sind. Es hat sich ereignet, daß der Mensch ein Übermensch geworden ist"; doch "er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Besitz übermenschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf ... Damit wird nun vollends offenbar, was man sich vorher nicht recht eingestehen wollte, daß der Übermensch mit dem Zunehmen seiner Macht zugleich immer mehr zum armseligen Menschen wird."84

 

Wir leben nun in der angekündigten Epoche, in der uns die Gottähnlichkeit nur noch Furcht und Bangen einflößen kann. Wer hat denn auch dem Menschen die Gottähnlichkeit versprochen? Der Teufel und die Schlange am Baum der Erkenntnis: Eritis sicut Deus — Ihr werdet sein wie Gott! Diese Versuchung dauert noch heute fort. Doch recht behalten wird wiederum Goethe, der 1825 zu Eckermann über den Menschen urteilte: 

"Die Handlungen des Universums zu messen reichen seine Fähigkeiten nicht hin, und in das Weltall Vernunft bringen zu wollen ist bei seinem kleinen Standpunkt ein sehr vergebliches Bestreben. Die Vernunft des Menschen und die Vernunft der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge."85

Die ungeheuer komplizierten und geheimnisvollen Naturvorgänge dieses Planeten, die in diesem Buch nur in groben Zügen dargestellt werden konnten, über deren Ziel wir nichts wissen, könnte nur ein jederzeit allwissender und allmächtiger Gott steuern. Doch wenn ein solcher auf der Erde erschiene — freiwillig würde sich der Homo sapiens ihm nicht unterwerfen.

Wir Menschen sind winzige Teilchen einer Welt, in der — insgesamt gerechnet — Leben und Tod sich die Waage halten. In der Vorstellung der Völker waren Leben und Tod entweder zwei Gottheiten, die unentwegt miteinander kämpfen, oder ein Gott läßt Leben und Sterben.

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Wo Leben ist, muß auch gestorben werden, und wo viel Leben ist, da muß auch viel gestorben werden. Im Optimalzustand befinden sich Leben und Tod in einem ausgewogenen Gleichgewicht. Aber für die einzelne Gattung ist das Gleichgewicht nur ein vorübergehendes; bald nimmt das Leben, bald der Tod überhand. Diesem Gesetz des Lebens und Sterbens muß sich der Mensch beugen, und jeder einzelne tut das auch. Dem trägt das christliche Bestattungsritual Rechnung, in dem es heißt: "Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen. Der Name des Herrn sei gelobt!" Damit wird anerkannt, daß Gott auch nehmen, das geschenkte Leben wieder zurückfordern darf.

Der Tod ist nur in den Augen des Menschen das große Unheil. Gott aber muß, so lieb er auch sein soll, zugleich der Gott des Unheils sein, auch wenn die Menschen das nicht begreifen können. Und als Herr des Todes kann er nicht zulassen, daß ihm dabei jemand ins Handwerk pfuscht. Darum liegt ein tiefer Sinn in jener griechischen Sage: Der Arzt Asklepios, Sohn des Apollon, wurde vom Göttervater Zeus mit dem Blitz erschlagen, weil er Tote wiedererweckt und damit die Ordnung der Natur verletzt hatte. Das sollte allen eine Warnung sein, auch den Ärzten von heute, soweit sie das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod durch­ein­ander bringen.

Was also der unverständige Mensch den "teuflischen Regelkreis" nennt (so lautet der Titel der ersten Untersuchung des Club of Rome) ist in Wahrheit der göttliche Regelkreis! Es wird nie einen anderen Regelkreis geben als den, welchen Jay W. Forrester den "teuflischen" zu nennen beliebt, für den Dennis Meadows <Die Grenzen des Wachstums> ausrechnete und den ich schon 1975 als den "natürlichen Regelkreis" bezeichnete.86

Wenn der Mensch selbst wie ein Gott die Welt regieren wollte, dann müßte er nicht nur der Gott sein, der für genügend Leben, sondern auch für genügend Sterben sorgt. Das wäre die letzte und fürchterlichste Verantwortung von allen, die er zu übernehmen hätte, an der er scheitern muß. Seine Triumphe, die er für göttliche hält, hat er gern hingenommen, aber die ihm damit automatisch zufallenden weiteren gottgleichen Aufgaben müssen ihn mit Grausen erfüllen. Das ahnte Goethe, der durch Mephistos Mund voraussagte, "Dir wird gewiß einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange!"

Für dieses unbestimmte einmal ist nun die Zeit herangekommen. Wer ein Datum benötigt, der kann die Zündung der ersten Atombombe nennen. Spätestens da mußte dem Menschen angst und bange werden. Aber die Spaltung des Atoms und die bald folgende Fusion ist es nicht allein, sondern es ist die beschriebene Gesamtentwicklung des Menschen, die ihn in die größte Bangigkeit aller Zeiten stürzen ——— müßte

Aber sie tut es nicht !

Wir haben uns schnell gewöhnt, "mit der Bombe zu leben", mit Tschernobyl zu leben, mit Dioxin und wer weiß was allem zu leben; denn unsere Psyche unterliegt dem "Gesetz der gleitenden Fügungen". Auch darin sind wir Geschöpfe der Natur und niemals Götter

Nur ein Gott könnte wissen, worauf das Ganze hinaus soll, was sich in Jahrmillionen auf unserem einsamen Planeten ereignet — kein sterbliches Wesen weiß es.

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 Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992