Start   Weiter

6.4  Zukunftspolitik ist und bleibt unmöglich

 

Es gibt keinen Weg, der heraus oder 
darum herum oder hindurch führt.

Der englische Schriftsteller Herbert George Wells

361-366

Im Jahre 1969 sagte der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, U Thant:  

"Ich will die Zustände nicht dramatisieren, aber nach den Informat­ionen, die mir zugehen, haben nach meiner Schätzung die Mitglieder dieses Gremiums noch etwa ein Jahrzehnt zur Verfügung, ihre alten Streitigkeiten zu vergessen, ..., den menschlichen Lebensraum zu verbessern, die Bevölkerungs­explosion niedrig zu halten und den notwendigen Impuls zur Entwicklung zu geben."

Sonst werden

"die erwähnten Probleme derartige Ausmaße erreicht haben, daß ihre Bewältigung menschliche Fähigkeiten übersteigt."34

Seitdem sind nicht zehn, sondern 22 Jahre verflossen. Und im Juni 1992 will eine zweite Mammut-Konferenz in Rio de Janeiro

"Antworten auf die Schicksals­fragen formulieren, wie die Menschheit den Weg zu einer Entwicklung finden kann, die sich ohne Zerstörung der natürlichen Lebens­grund­lagen und damit langfristig durchhalten läßt".35  

Das heißt, man wird auch 1992 noch nichts tun, sondern 'Antworten formulieren'. Ich wage vorauszusagen, daß man tagelang feilschen wird, um auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu kommen. Und der wird so beschaffen sein, daß es jedem Land überlassen bleibt, ob es davon einen Bruchteil in die Tat umsetzt oder nichts. Und es wird lediglich eine Fachkonferenz sein, in Abwesenheit der Führer der entscheidenden Industrienationen der Welt, die nur den üblichen Schauauftritt wahrnehmen werden. Diese treffen sich bekanntlich jährlich auf dem Welt-Wirtschafts-Gipfel und entscheiden — auch nichts. Sie bekräftigen sich allerdings gegenseitig ihre Absicht, das "wirtschaftliche Wachstum" und damit den Weg in die Katastrophe zu beschleunigen.

Um mit der mächtigsten und darum auch schädigendsten Nation der Erde zu beginnen: Deren Staatssekretär des Inneren Stewart Udall kennzeichnete schon 1966 Amerika als eine "Katastrophe von kontinentalen Ausmaßen" und zitierte den Bürgermeister von Cleveland mit dessen Worten, "wenn wir nicht aufpassen, erinnert man sich an uns als die Generation, die einen Menschen auf den Mond schoß, während man selbst knietief im Müll steckte".36

361/362

Doch was ist in den USA in immerhin einem Vierteljahrhundert geschehen? Präsident Richard Nixon hatte 1969 die erste große Umweltrede gehalten, doch fünf Jahre später stürzte er über die Verfehlungen, die unter dem Stichwort <Watergate> bekannt sind. Jimmy Carter wird in die Geschichte eingehen als der Präsident, der den Report <Global 2000> in Auftrag gab. Niemand vermochte die Prognosen des umfassenden Berichts zu widerlegen; doch die Welt verhält sich heute so, als existierten diese nicht.

Die pauschale Zusammenfassung der 1400 Seiten lautet, um nur die allerwichtigsten Sätze zu zitieren:

"Wo 1975 zwei Menschen auf der Erde lebten, werden es im Jahre 2000 drei sein. Vier Fünftel der Weltbevölkerung werden in unterent­wickelten Regionen leben. Die Kluft zwischen den Reichsten und den Ärmsten wird sich vertieft haben. Die Umwelt wird wichtige Fähigkeiten zur Erhaltung von Leben verloren haben. Die Welt wird anfälliger sein für Naturkatastrophen, ebenso für von Menschen verursachte Störungen. Wenn die Grundlagen heutiger Politik weitgehend unverändert bleiben ... wird die Welt der Zukunft auch infolge verpaßter Gelegenheiten eine andere sein. 
Tatsächlich lassen sich - wenn überhaupt - nur wenige der in <Global 2000> angesprochenen Probleme mit raschen technologischen und politischen Eingriffen handhaben. Sie sind vielmehr mit den schwierigen sozialen und ökonomischen Weltproblemen unauflöslich verflochten." 37

Solche Untersuchungen wurden nicht etwa widerlegt, sondern ganz einfach ignoriert. Carters Nachfolger Reagan hat gehandelt, er hat den Schreckens­bericht ins Altpapier geworfen, um einen neuen Boom der Ökonomie ohne Rücksicht auf die Ökologie zu entfachen. In der Bundesrepublik Deutschland tat Helmut Kohl seit 1982 das gleiche, wie hätte er sonst auch Kanzler werden können. 

Der Deutsche Bundestag hat zwar ein Jahr nach der Veröffentlichung von <Global 2000> darüber debattiert und sogar eine Entschließung gefaßt. Die Bundes­regierung solle gebeten [!] werden, die sich ergebenden Schluß­folgerungen zu prüfen [!] und darzustellen, was diese für die Bundesrepublik Deutschland selbst sowie für ihre auswärtige und Entwicklungspolitik bedeuteten [!].  Und das war's dann auch. Seit fast einem Jahrzehnt ist nichts mehr zu hören gewesen.

362


Ein immerhin noch etwas sensibles Land wie die Schweiz ließ 1983/84 einen eigenen Bericht erstellen, um dann "ein großes Fragezeichen zur praktischen Durchsetzung der gemachten Aussagen" zu setzen; denn "dem Papier dürfte in der Alltagspolitik bei der Suche nach Lösungen als Entscheidungs­grundlage kaum ein besond­ers großer Stellenwert zukommen".38  In sämtlichen übrigen Industrieländern ist die Haltung entsprechend.

Der <Club of Rome> tagt immer mal wieder und wirkt dabei zunehmend müder. Und jährlich erscheint der Bericht des <Worldwatch Institute> unter Leitung des renommierten Lester Brown und bleibt auch folgenlos.

Eine bescheidene Opposition gegen die Wachstumsökonomie und für die Erhaltung der Natur hat sich inzwischen in allen Industrieländern gebildet. Sie hat es bereits vom Ansatz her unendlich schwer; denn wenn sie für die Natur eintritt, muß sie gegen deren Feind, den Menschen, Front machen. Das haben nicht einmal alle Naturschützer begriffen; sonst würde ein großer Teil von ihnen nicht gleichzeitig mehr Rechte für Menschen fordern.

Über diesen grundsätz­lichen Widerspruch zerstreiten sich Umwelt- und Natur­schutz­verbände sowie sogenannte "grüne Parteien".

Trotz aller ökologischer Katastrophen sind Umweltparteien höchst selten bis in die Parlamente vorgedrungen, um dort ein Schatten­dasein als Miniopposition zu führen. In Deutschland, wo sie als Mehrheits­beschaffer schon mal in Landesregierungen eingetreten sind, mußten sie sich auf so viele Kompromisse einlassen, daß sie Erfolg- und Glaubwürdigkeit einbüßten. Betrachtet man die europäischen Länder, so kommt das leidige Ergebnis heraus, daß die Umweltbewegung um 1980 überall stärker war als heute.*

Schon "Nullwachstum" wird von den Reichsten abgelehnt. Alle herrschenden Mächte sind sich darin einig, daß sogar die Aufrechterhaltung des jetzigen Produktions- und Konsumniveaus, was sie abfällig "Null­wachs­tum" nennen, strikt abzulehnen sei. Die wohlhabendsten Nationen lehnen es als "Stagnation" am heftigsten ab.

Unter den ökologisch bewußteren Wissenschaftlern hat sich in den letzten Jahren ein Begriff eingebürgert: Gleich­gewichts­wirtschaft oder auch Stabilitäts­wirtschaft. Der amerikanische Ökonom Herman Daly spricht von <Steady State Economics>. Alle verstehen darunter mehr oder weniger deutlich die Aufrecht­erhaltung des Status quo der heutigen Weltwirtschaft in bezug auf Energie- und Rohstoff­verbrauch. 

* (d2013:)  Carl Amery stellt die Schritte der anti-ökologischen <Roll-Back>-Politik (des Kapitals) dar; z.B. im Nachlaßbuch 2007.

363


Das bedeutet aber nichts anderes, als daß die Energievorräte kontinuierlich um die gleichbleibende Menge weiter abnehmen und damit ihrer sicheren Erschöpfung entgegen­gehen. Ihr Aus läßt sich nur darum nicht genau festlegen, weil die Höhe der Vorräte in der Erde nicht sicher zu ermitteln ist. Herman Daly vergleicht die Gleich­gewichts­wirtschaft treffend mit einer Kerze, die zwar kontinuierlich niederbrennt, aber dennoch eines Tages verlöschen wird.

Eine solche Vorstellung vom Gleichgewicht hat also mit dem ökologischen Gleichgewicht auf diesem Planeten nichts gemein. Sie bleibt ein widernatürlicher Eingriff des Menschen, der nur begrenzte Zeit funktioniert und dabei sich selbst aufzehrt. Von einem ökologischen Gleichgewicht dürfen wir nur dann sprechen, wenn die jährliche Entnahme aus der Natur nicht höher ist als die jährliche Reproduktion der Natur. Dieser Zustand bestand in der gesamten Erdgeschichte bis etwa 1800, vielleicht sogar noch bis um 1900.

Dieses echte ökologische Gleichgewicht wurde vom Menschen innerhalb eines Jahrhunderts unwiderruflich zerstört und ist nicht mehr herstellbar. Bei einem dahingehenden Versuch müßte der erste Schritt in einem Abschwören der Steigerungen, der zweite in einer Minderung der jetzigen Verbrauchsraten bestehen. Damit wäre eine Verlängerung der Lebensfrist der Gattung homo sapiens zu erreichen. Sicher ist, daß jedes Jahr der verzögerten Umkehr einige Jahre der Überlebens­frist kosten wird.

Wäre 1973 nicht nur die Stabilisierung des Erdölverbrauchs eingetreten, sondern auch die der sonstigen Energie- und Rohstoffeinsätze, dann wären bis 1990 allein um die 20 Milliarden Tonnen SKE eingespart worden. Doch weder 1973 noch heute ist von Stabilisierung oder gar von Verminderung die Rede, sondern nur von der Notwendigkeit weiteren wirtschaftlichen Wachstums, wobei man zwei Prozent Steigerung schon als Rezession beklagte! Die Gründe für solche wundersamen Ansichten haben wir behandelt.

 

Fazit

 

Der Mensch kommt aus der Industriegesellschaft die eine Gesellschaft zur Bestattung unserer Erde ist nicht mehr heraus. Er kann nicht einmal die Produktion sinnloser Güter aufgeben. Täte er das, dann würden sofort einige hundert Millionen arbeitslos, während einige hundert Millionen schon geborener und noch ungeborener Arbeitsuchender zusätzlich anstehen.

364/365

Der Satz vom "ökologischen Umbau der Industriegesellschaft" ist dummes Geschwätz. Denn das ganze Wesen der Industriegesellschaft besteht darin, daß sie antiökologisch ist. Retten könnte uns nur der "Ausstieg aus der Industrie­gesellschaft". Dazu sind aber schon fünfmal zuviel Menschen auf diesem Planeten — und nach einer Generation werden es bereits achtmal zuviel sein! Sie ohne Arbeit zu lassen, schüfe brodelnde Dampfkessel überall in der Welt, die in Kettenreaktionen explodieren würden. Also werden alle Völker lieber weiter an ihrer Selbstvernichtung arbeiten, und ihre Regierungen werden sie dabei anleiten — ungeachtet dessen, daß sie damit nur eine geringe Galgenfrist gewinnen.

Es ist müßig, das Thema <Ökologische Gesellschaft> zu vertiefen. 

Denn für ein ökologisches Leben könnte man nur einige Versprengte finden, die auch bald von den uneinsichtigen Massen niedergewalzt werden würden. Und ein derart großer Planet, auf dem fünf bis zehn Milliarden Menschen ein ökologisches Leben führen könnten, müßte erst noch gefunden werden.

Selbst denjenigen, die sich heutzutage stolz als Ökologen ausgeben, ist selten klar, welch harte Konsequenzen ein ökologie­konformes Leben für sie selber hätte. Sie reden vielmehr von einer diffusen "Humanökologie", die ein Sammelsurium von naturwissenschaftlichen, ethischen, religiösen und rein emotionalen Argumenten darstellt. Es ist die gleiche Mischung, die auch den politischen Tageskampf beherrscht.

Die Wohlstandsländer der Welt haben nur noch einen allerletzten Glauben, daß der "Fortschritt" weitergehen werde, und zwar in Gestalt irdischer und materieller Güterfülle. Sie fürchten sich instinktiv davor, daß ihnen dieser Glaube auch noch genommen werden könnte. Darum haben nur solche Umwelt­schützer Zuspruch, die den Fortschrittsglauben im Grunde nicht antasten, ja die mit Umweltschutz sogar einen "besseren Fortschritt" in Aussicht stellen. Darin treffen sie sich mit den Wirtschaftsmanagern, die immer bereiter werden, ihre Wachstumsraten mit kosmetischen Verschönerungen zu versehen, denn sie haben gemerkt, daß es sich auszahlt, mit Grün zu werben. Und die Parteien tun das ebenso.

Der Fortschritt hat die Gesellschaft in Atome zersplittert. Das ist ein Vorgang, der schon in den ersten Hochkulturen begann, in der technischen Zivilisation aber nun den kritischen Punkt überschritten hat. Je weiter die Arbeitsteilung getrieben wird, umso verwundbarer wird das Leben jeder Gemeinschaft. In ihr herrschen die Regeln der Technik: immerzu werden neue Schwachstellen entdeckt, die durch Zusatz­einrichtungen behoben werden. 

So besteht dann zum Beispiel das Auto aus einigen Tausend Teilen und das Flugzeug aus Millionen Teilen. Ähnlich sucht man die Sozialgesetzgebung zu perfektionieren, so daß der Dschungel von Sonderbestimmungen und Ausnahmeregelungen immer undurchsichtiger wird, wobei zugleich die Kosten explodieren.

Eigenartigerweise erwartet der Staatsbürger allen Ernstes, daß diese überfrachtete Zivilisations­maschinerie stets reibungslos laufen werde, während er doch schon aus der Erfahrung innerhalb seiner Familie wissen müßte, daß eben nie alles reibungslos läuft. 

Jede menschliche Gesellschaft war auch in früheren Zeiten eine Risiko­gesellschaft. Aber früher waren die Risiken deutlich zu sehen, und sie kamen gemächlich. In dem Bestreben, die bekannten Risiken abzuschaffen, hatten die modernen Gesellschaften Erfolg; doch dabei schufen sie neue Risiken von weit größerem Ausmaß und unübersehbarer Vielfalt, die noch dazu mit rasender Geschwindigkeit einander jagen. 

Doch all die neuen Errungenschaften wirken wie Drogen, deren Entzug nicht mehr gelingt. Globale Steuer­ungs­versuche müssen schon an der Vielschicht­igkeit und der Verflechtungen der weltgesell­schaftlichen Zustände sowie an den höchst unterschiedlichen Entwicklungen scheitern.

366

 #

 

  ^^^^ 

 www.detopia.de 

Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992