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Vorwort

1997 des Autors

 

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Unser Jahrhundert hat die Russische Revolution ebenso erlebt wie fünfundsiebzig Jahre später den "genetischen Fingerabdruck", jene Methode, mit deren Hilfe die Behauptung einer Frau, die jüngste Tochter des letzten russischen Zaren zu sein, als betrügerisch entlarvt wurde.

Vor dem Fenster sehe ich mein kleines Segelboot aus High-Tech-Kunststoffen, ausgerüstet mit Myhir-Segeln — allesamt Werkstoffe, an die vor fünfzig Jahren noch nicht einmal gedacht wurde. Ich schreibe auf einem Laptop-Computer, der nur wenige Kilogramm schwer und dennoch weitaus leistungsfähiger ist als jene klobigen, raumgroßen "Elektronengehirne" vor nur fünfundzwanzig Jahren.

Es ist wahr, die Zeiten ändern sich rasch, und das nicht nur in technologischer Hinsicht. Die Sowjetunion, geboren aus der Russischen Revolution, ist untergegangen, und der Kommunismus, einst die vorherrschende Ideologie in der halben Welt, gerät ebenso schnell wie das Sowjetreich in Vergessenheit. Die Weltbevölkerung nähert sich sechs Milliarden und ist damit mehr als dreimal so groß wie zu Beginn unseres Jahrhunderts. Frauen, die am Anfang des Ersten Weltkriegs in den USA noch nicht einmal wählen durften, werden heute zur wahlentscheidenden Kraft.

Neue Technologien, Aufstieg und Fall (manchmal Zusammenbruch) von Nationen, Bevölkerungsexplosion, ökonomische Globalisierung, sinkende Analphabetenquoten und andere tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen — all dies verändert die Welt in rasantem Tempo. Die Welt von morgen wird deshalb völlig anders aussehen. Und die Alternativen, vor denen wir heute stehen, haben langfristige Folgen: Sie können das Erdklima auf Jahrhunderte beeinflussen und Lebensformen, die uns viel bedeuten — herrliche Wildtiere wie kostbare Pflanzen —, für immer ausrotten.

Unter diesen Umständen ist es nicht leicht, klug zu wählen. Die meisten von uns, die mit den Problemen von heute zu sehr beschäftigt sind, denken kaum an morgen. Und insgesamt unternimmt die Gesellschaft wenig, um systematische Voraussagen zu wagen — der enge Zeithorizont der vierteljährlichen Gewinn- und Verlustrechnung und die nächste Wahl beherrschen allzu oft das wirtschaftliche und politische Denken. Aber auch unbewußt treffen wir Entscheidungen und gestalten damit unsere Zukunft.

Es ist, als rasten wir förmlich in die Zukunft, auf schlechter Fahrbahn, ohne Scheinwerfer — riskieren wir den Zusammenprall mit einem unerwarteten Hindernis oder gar den Sturz in den Abgrund?

Könnten bessere Scheinwerfer — neue Einblicke in künftige Entwicklungen — einen Kurswechsel bringen, um sich abzeichnenden Problemen vorzubeugen und kommenden Generationen eine bessere Zukunft zu sichern?

Dieses Buch ist das Ergebnis fünfjähriger Forschungen, die Antworten auf solche Fragen geben sollten. Die unter der Bezeichnung Projekt 2050 bekannte Studie wurde von drei bedeutenden Forschungs­einrichtungen — der Brookings Institution, dem Santa Fe Institute und jener, an der ich selbst arbeite, dem World Resources Institute — organisiert und führte Dutzende von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt zusammen. Wie der Name schon sagt, konzentriert sie sich auf das nächste halbe Jahrhundert, den Zeitraum zwischen heute und dem Jahr 2050.

Das Projekt 2050 betrachtet menschliche Gesellschaften und ihre Wechselwirkungen miteinander sowie mit dem Lebensraum Erde als sogenanntes komplexes System — ein System, daß sich plötzlich ganz anders verhalten kann.

Untersuchungen derartiger Systeme zeigen, daß herkömmliche wissenschaftliche Methoden — wie die Vereinfachung des Systems oder die Analyse eines Teilaspekts — höchst irreführende Resultate zeitigen können: Es sind die engen Beziehungen der verschiedenen Teile des Systems untereinander, die seine Komplexität ausmachen und sein oft unvorhersagbares Verhalten bestimmen. Um Einblick in ein komplexes System zu gewinnen, vor allem wenn es nur unzureichend verstanden ist, muß man es zuweilen "insgesamt grob abschätzen", um einen treffenden Ausdruck des Nobelpreisträgers Murray Gell-Mann zu gebrauchen.

wikipedia  Murray_Gell-Mann  *1929 in NY bis 2019 (89)


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Diese Abschätzung des Ganzen — unter Berücksichtigung demographischer, wirtschaftlicher, technologischer, ökologischer, sozialer, kultureller, politischer und anderer sich möglicherweise auf künftige Entwicklungen auswirkender Faktoren — wurde zur Richtschnur für das Projekt 2050 wie auch für dieses Buch.

Das Projekt 2050 war bestrebt, Wege in die Zukunft zu erforschen, die unsere Gesellschaft auf ein positives Ziel fünfzig Jahre vor uns hinführen können, und es entwickelte Szenarien zur Erkundung solcher Wege. Auf diese Szenarien und die ihnen zugrundeliegenden Analysen stützt sich das Buch.

Es adaptiert ferner Szenarien, die von der <Global Scenario Group> — einer unabhängigen internationalen Wissenschaftlergruppe — und anderen unabhängigen Experten entwickelt wurden.

In diesem Buch stütze ich mich nicht nur auf das Projekt 2050, sondern auch auf eigene jahrzehntelange Erfahrungen in der Untersuchung globaler Trends.

Ich war zufällig lange Zeit Chefredakteur der regelmäßig erscheinenden Berichte des <World Resources Institute>, das die UN-Umweltdaten für Experten und Entscheidungs­träger in aller Welt zusammen­fassend aufbereitet. 

Dieses Zahlenmaterial vorliegen zu haben, gab mir die einzigartige Möglichkeit, ökologische, ökonomische und soziale Entwicklungen in nahezu 200 Ländern zu untersuchen und zu prüfen, was diese Daten über die möglichen Bedingungen im Jahr 2025 oder 2050 aussagen könnten. Auf Basis dieser Daten und der von mir und meinen Kollegen am <World Resources Institute> durchgeführten Analysen sowie der Arbeit zahlreicher anderer Experten widmet sich dieses Buch der Frage, worauf die Menschheit zusteuert und welche Ziele realistischerweise in den nächsten fünfzig Jahren erreichbar sind.

Schließlich informiert das Buch über die verschiedenen Weltregionen und ihre besonderen Merkmale. Teils ergeben sich diese Erkenntnisse aus meinen persönlichen Erfahrungen in den verschiedenen Regionen, weit mehr aber aus den Erfahrungen und Kenntnissen der dort lebenden oder lange Zeit tätigen Kollegen. Ferner habe ich von dort stammende Experten und Wissenschaftler aufgesucht. Ich konsultierte die Forschungs­arbeiten von Anthropologen und anderen unter der Schirmherrschaft des <Institute of Current World Affairs> vor Ort tätigen Beobachtern.

Ich nutzte die informellen Netzwerke der Journalisten, um Menschen zu finden und zu sprechen, die für den Wandel in bestimmten Regionen stehen, und ich nutzte die vom Projekt 2050 oder seinen Förderern organisierten Workshops.

Das Ergebnis war eine intellektuelle Odyssee, die meine eigene Wertschätzung unserer Welt gesteigert, mein Interesse an ihrer Zukunft vergrößert und neue Vorstellungen darüber geweckt hat, wie wir künftig die Wende zum Besseren gestalten können. 'Projekt Erde' vermittelt einem breiteren Publikum die Eindrücke dieser Reise und beschreibt drei verschiedene und dennoch jeweils für sich plausible Zukunftsszenarien sowie ihre Folgen.

Allerdings muß man an dieser Stelle auch warnen: Die Zukunft ist per se nicht vorhersagbar, auch können wirklich unerwartete Ereignisse eintreten. So können die Experten nicht ausschließen, daß ein plötzlicher Klimawandel bestimmte Teile der Welt auf eine eiszeitliche Stufe zurückwirft — eine derartige Veränderung trat ja schon einmal vor rund 11.000 Jahren ein. Eine entsetzliche neue Krankheit — vielleicht sogar gezielt als Waffe zur biologischen Kriegführung entwickelt — könnte ganze Landstriche entvölkern und die Zivilisation bedrohen, ganz wie die Pest im Mittelalter. Oder ein Asteroid könnte mit der Erde kollidieren, ähnlich jenem Ereignis, das die Dinosaurier aussterben ließ.

Derartiges ist zwar möglich, doch konzentriere ich mich hier auf wahrscheinlichere, weniger extreme Ereignisse. Auch dann noch bleibt das Schicksal des Menschen, wie im folgenden zu zeigen sein wird, im Grunde ungewiß: In den nächsten fünfzig Jahren gibt es reichlich Anlaß sowohl zur Sorge als auch zur Hoffnung.

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Allen Hammond,
Maryland im November 1997 

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