Wolfgang Heise

 

"Utopische Philosophie"

 

Zu seinen Hörern gehörten 

Wolf Biermann und Rudolf Bahro.

 

wikipedia.Autor  *1925
in Berlin bis 1987 (61)

dnb.Name (165)

 

detopia:

Utopiebuch

H.htm     Sterbejahr 

W.Biermann    W.Harich  

R.Bahro    E.Bloch   B.Brecht

Eine Familie im Räderwerk der Geschichte 

FAZIT | Beitrag vom 09.02.2019 

Dokumentation „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ 

Thomas Heise im Gespräch mit Eckhard Roelcke

 

 

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Entdeckungen im Denken der Dichter 

Wolfgang Heise (1925–1987)

Von Eberhard Fromm  1999

  luise-berlin.de   

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Man ist als Autor schnell geneigt, interessante und darstellungswürdige Persönlichkeiten mehr in der Vergangenheit denn in der Gegenwart zu suchen, weil einem der zeitliche Abstand hilft, den Text zu versachlichen und Wertungen zu objektivieren.

Auch in unserer Zeitschrift kann man das verfolgen, nehmen doch Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts einen weit geringeren Platz ein als solche, die aus dem 19. Jahrhundert oder aus noch früheren Zeiten stammen.

Aber nun ist das 20. Jahrhundert ja bald Geschichte. Und so soll denn versucht werden, den Frauen und Männern, die mit ihren Leistungen im Berlin des 20. Jahr­hunderts gewirkt haben, wenigstens einen höheren, wenn nicht gar zentralen Stellenwert zukommen zu lassen.

Mit Dietrich Bonhoeffer (2/99), Ossip K. Flechtheim (3/99) und Ernst Reuter (7/99) ist bereits ein Anfang gemacht. Mit Wolfgang Heise folgt hier zum erstenmal ein Denker, der sein ganzes wissenschaftliches Leben in Ostberlin gewirkt hat.

 

Mit universellem Anspruch

Geboren in Berlin am 8. Oktober 1925, erlebte Wolfgang Heise die NS-Zeit unter einem mehrfachen Druck. Die Mutter stammte aus Wien und war jüdischer Herkunft; sie mußte während des Krieges Zwangsarbeit leisten. Der Vater, Lehrer und Kommunist, erhielt Berufsverbot. Wolfgang Heise selbst wurde in den letzten beiden Kriegsjahren in ein Lager bei Zerbst verpflichtet, wo er am Bau eines Militärflughafens mitarbeiten mußte.

Ab 1946 studierte Heise Philosophie an der Humboldt- Universität, an der sein Vater als Dekan der Pädagogischen Fakultät tätig war. Nach dem Studium lehrte er ab 1952 am Philosophischen Institut der Universität. 1954 verteidigte er seine Dissertation über Johann Christian Edelmann (1698-1767). Bei der Untersuchung dieses Repräsentanten der deutschen Frühaufklärung ging es Heise darum, dessen Schaffen zu würdigen, denn – so stellte er in einem Beitrag zu Edelmann im Sammelband »Von Cusanus bis Marx« (1965) fest –, mit Edelmanns Wirken »erreicht die deutsche Aufklärung eine neue Stufe der Radikalität der Religionskritik und der Publizität«.

Auch mit Matthias Knutzen (1646 – nach 1674), einem anderen Vertreter dieser Etappe der deutschen Philosophiegeschichte, befaßte sich Wolfgang Heise in dieser Zeit.


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1962 folgte die Habilitation zum Thema »Entwicklungstendenzen der modernen bürgerlichen Philosophie in Deutschland«. Ein knapper Abriß der deutschen bürgerlichen Philosophie und Soziologie zwischen 1895 und 1917 erschien bereits 1962. Ihm folgte die damals in der DDR gründlichste Arbeit, die sich kritisch mit der nichtmarxistischen Philosophie in Deutschland auseinandersetzte: »Aufbruch in die Illusion« (1964). 

Zehn Jahre zuvor war das Buch »Die Zerstörung der Vernunft« von Georg Lukacs (1885-1971) erschienen, in dem der Entstehung, Entwicklung und Wirkung des Irrationalismus in der deutschen Philosophie seit Schelling nachgegangen wurde. Heise nun knüpfte an diese Arbeit an, ging in seiner Untersuchung jedoch kritisch mit dessen Grundkonzeption um. 

Auf eigene Weise charakterisierte er dann die Grundtendenz der bürgerlichen Philosophie im 19. Jahrhundert, um danach die Krise der bürgerlichen Philosophie im 20. Jahrhundert in den Mittelpunkt seiner Analyse zu stellen. Ihm ging es darum, jene »Wendung zur Religion«, wie er es nannte – ohne dabei die Religion einer bestimmten Kirche im Auge zu haben –, jenen »Aufbruch in die Illusion« von der Grundfrage der Philosophie her zu erfassen und an den Strukturen der Weltanschauungskonzeptionen und irrationalistischen methodologischen Instrumentarien darzustellen. »Was zunächst als Überwindung einer Störung, als Aufhebung des materialistischen Sündenfalls im 19. Jahrhundert erschien, erhält allmählich den Charakter einer totalen Umkehr und Wende gegenüber der Gesamtheit der progressiven bürgerlichen Philosophie, wobei die Zäsur von 1848 zur Französischen Revolution und von dort aus zu Descartes und in die Renaissance zurückverlegt wird«, war eine Ausgangsüberlegung in »Aufbruch in die Illusion«. 

Ein geplanter zweiter Band, der sich vor allem der Kritik des Positivismus und der Geschichtsphilosophie widmen sollte, erschien leider nicht mehr. Heise arbeitete als Professor für Geschichte der Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität. In diesen Jahren beschäftigte er sich in den meisten seiner Publikationen – Büchern und Artikeln – mit verschiedenen Problemen der Philosophie im 20. Jahrhundert, wie sie sich in Deutschland entwickelt hatte. Dabei war charakteristisch, daß es ihm immer um das Erfassen komplexer Zusammenhänge und Wechselbeziehungen ging. Davon zeugen z. B. seine Beiträge in der »Deutschen Zeitschrift für Philosophie« (DZfPh) zu Antisemitismus und Antikommunismus (12/61) oder zur Kritik der bürgerlichen Philosophie und ihren weltanschaulichen Entwicklungstendenzen (2/66). Auch zu Grundproblemen der Philosophie meldete er sich zu Wort, so zur Zukunft der Nation (9/1961) oder zur Entfremdung und ihrer Überwindung (6/1965). Auf dem Philosophiekongreß 1965 zum Thema


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»Die marxistisch- leninistische Philosophie und die technische Revolution« trat er mit dem Thema »Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse und die subjektive menschliche Tätigkeit« auf. Auf dem Kongreß 1968 »Die philosophische Lehre von Karl Marx und ihre aktuelle Bedeutung« setzte er sich mit dem Gesellschaftsmodell der Formierungsideologie auseinander. 

Auf den folgenden Philosophiekongressen der DDR trat Heise nicht mehr auf. 1968 erhielt er eine Berufung für das Fach Geschichte der Ästhetik an der Humboldt-Universität. Sein Interesse an ästhetischen Fragen hatte sich schon früh gezeigt. Bereits 1947 hatte er über Friedrich Hölderlin (1770-1843) einen Artikel publiziert, 1957 meldete er sich auch in der DZfPh mit einigen Grundfragen der marxistischen Ästhetik (1/57) zu Wort. In der Folgezeit entstanden gerade auf diesem Gebiet wichtige Arbeiten, wurde er ein gesuchter Hochschullehrer zu Problemen der Ästhetik und ihrer Geschichte. 

In den letzten Jahren seines Lebens arbeitete er an einem Projekt, in dem er »Die Kunst als Epochenspiegel« für die Zeit zwischen 1789 und 1815 untersuchen wollte. Wolfgang Heise gehörte als korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften an und wurde mit dem Nationalpreis der DDR geehrt. 

Als er am 10. April 1987 in Berlin starb, schrieb Hans Kaufmann: »Sein Denken war ungewöhnlich schöpferisch und originell, dabei immer von einem Grundprinzip geleitet: dem des realen Humanismus ... Aus dem Miteinander von Philosophischem und Kunstinteresse konstituierte sich Heises Spezialgebiet, die Geschichte des Nachdenkens über die Kunst und die Künste.« 

Kunst als Epochenspiegel

In den Überlegungen zur Geschichte der Ästhetik ging es Wolfgang Heise wie in der Philosophiegeschichte um das Aufspüren von Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichen und geistigen Entwicklungsprozessen. Über den damit verbundenen Arbeitsstil schrieb Rosemarie Heise im Nachwort zum Hölderlinbuch (1988), daß er, »ausgehend von der gezielt fragenden


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Aneignung des jeweiligen Gegenstandes über die in kurzen Notaten zur Selbstverständigung sich anschließende Kommentierung des Hauptgehalts oder ihm bemerkenswert erscheinender Details fortschritt bis zu ihrer eindringenden, klärenden, erläuternden, wertenden und differenzierenden Einordnung in den prozessierenden (ein Vorzugswort des Autors) gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang«. Bei dieser Arbeitsweise entstanden komplexe Analysen und Betrachtungen zu den Künsten, in denen sie tatsächlich als Spiegel der Epoche sichtbar gemacht wurden. Zugleich wurde in den ästhetischen Arbeiten Heises auch deutlich, daß er sich von bestimmten Einengungen und Normierungen sowohl in der Fragestellung als auch in der Analyse und Darstellung befreit hatte, wie sie noch in seinen philosophiehistorischen Veröffentlichungen – dem »Zeitgeist« des Marxismus in den fünfziger und sechziger Jahren geschuldet – zu finden waren. Heises Interesse konzentrierte sich auf die Zeit zwischen 1750 und 1850, eine Zeit also, in der es zu gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüchen kam, die wiederum geistige Aktivitäten und künstlerisches Schaffen inspirierten. 

In seinem Herangehen ist spürbar, daß es ihm dabei nicht allein um die theoretischen Ergebnisse, die künstlerischen Produkte ging, sondern immer auch um den Weg zu ihnen, um jene Prozesse, in denen sie mit all ihren Widersprüchen entstehen. Wie er am Beispiel Hegels verdeutlichte, ergibt sich das Wahre nicht allein aus den richtigen Resultaten des Denkens, sondern auch aus der begriffenen Unwahrheit, nicht nur aus den Resultaten, sondern auch aus der Art und Weise ihres Zustandekommens, aus dem Verhältnis von Begreifen und Nichtbegreifen der Wirklichkeit. Im Schaffen Heises begegnet man unter diesem Aspekt einer Aufarbeitung der Homer-Rezeption bei Goethe und Vico, bei Shaftesbury, Blackwell und Baumgarten; man findet Untersuchungen zu Lessing und Schiller, zu Wackenroder und Heine. 

Und nicht zuletzt befaßt er sich immer wieder mit Goethe, vor allem mit Goethes »Faust«, den er als »summa summarum seines Lebens, seiner Dichtung« kennzeichnete: »Er ist die poetische Summe einer ganzen Epoche, eine Summe, vollendet, aber nicht abgeschlossen oder abschließend«, heißt es in der nachgelassenen Arbeit »Die Wirklichkeit des Möglichen« (1990). Eine Gestalt dieser Zeit steht jedoch im Mittelpunkt: Hölderlin. Am Lebensprozeß sowie am künstlerischen und theoretischen Schaffen dieses Dichters erschließt Heise auf komplexe Art die Zeit, das Werk, den Menschen und eine Vielzahl bis heute hochaktueller theoretischer Probleme. Er verknüpft die Epoche mit dem Zeitgeist – Kant, Schelling, Hegel bleiben stets präsent – und befragt in diesem Spannungsfeld seinen »Helden« Hölderlin, dessen poetisches Schaffen


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und philosophisches Konzept. 

Die dabei entstandenen Ergebnisse, wie sie vor allem im Hölderlinbuch (Hölderlin. Schönheit und Geschichte, Berlin und Weimar 1988) vorliegen, belegen nachhaltig den Erfolg dieser Herangehensweise, zumal wenn man bedenkt, daß Wolfgang Heise das Buch nicht mehr selbst abschließen konnte. Allerdings verlangen so entstandene Texte einen Leser, der bereit ist, dem nachdenklich nachdenkenden Autor auf manchen Abschweifungen zu folgen, die sich letztlich als originelle, stets jedoch nützliche Umwege hin zum eigentlichen Problem erweisen. »Wer seine Publikationen kennt, weiß, daß leicht zu konsumierender Bescheid in gefälligen Merksätzen von ihm nicht zu haben ist«, merkte Rosemarie Heise in ihrem Nachwort zum Hölderlinbuch an. 

Und eben darin besteht ein großer Vorzug des Denkers Wolfgang Heise. 

 

Denkanstöße

Die philosophische Reflexion über den Gesamtzusammenhang im Sinne weltanschaulicher und historisch-perspektivischer Sinngebung tendiert zu Irrationalismus und Mythik, die philosophische Reflexion der praktischen Rationalität tendiert ... zu positivistischen Konzeptionen, vorwiegend zur »weltanschauungsfreien« Wissenschaftstheorie, -logik und -methodologie. 

Aufbruch in die Illusion. Zur Kritik der bürgerlichen Philosophie in Deutschland, Berlin 1964, S. 370 f. 

Der eigentliche Inhalt jener philosophischen Schulrichtungen vom Positivismus zur Lebensphilosophie, von der Lebensphilosophie zur Existenzphilosophie, von der Wissenschaftsmethodologie zur »Erneuerung der Metaphysik« und Ontologie, vom Historismus zur Geschichtsphilosophie und -soziologie, von der skeptischen Zersetzung des Glaubens zur Erneuerung der Scholastik bis hin zum Tendieren aller wesentlichen Richtungen zur Religion, sofern sie nicht von dieser ausgegangen sind: Der eigentliche Inhalt dieser Bewegung ist die Krisenüberwindung in der Illusion. Ebenda, S. 446 

Ein Historiker, der auf Daten und Ereignisse aus ist, wird relativ wenig aus Goethes Dichtung erfahren; wer über ökonomische Prozesse Informationen sucht, mehr, als gemeinhin gewußt wird; der Kulturhistoriker aber wird eine Enzyklopädie deutscher Zustände finden. Wer die Geschichte der Humanität erforscht, die Geschichte der historischen Dialektik von Wirklichkeit und Möglichkeit menschlicher Subjektivität, der objektiven und subjektiv erfahrenen, gelösten und ungelösten Lebenskonflikte, darin die der Dialektik von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein als massenhaftem Realprozeß; wer die Weltanschauung als Anschauung der Welt und individuelle wie kollektive Sinngebung untersucht – der findet hier den ungeheuren Umkreis der Epoche, reflektiert unter den Bedingungen und Möglichkeiten der deutschen Lande. 

Jürgen Kuczynski/ Wolfgang Heise, Bild und Begriff. Studien über die Beziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin und Weimar 1975, S. 65 

Die je bestehende Welt unterscheidet Hölderlin von der unendlichen als bestimmte Verwirklichung aus der Unendlichkeit ihrer Möglichkeiten ... Dieser Gedanke ist in mehrfacher Beziehung fundamental. Zunächst definiert er die Prozessualität des Seins: nicht nur als die Einheit in Wandel und Gegensätzen, sondern als Übergang des unendlich Möglichen in beschränkte Wirklichkeit, als Verendlichung des Unendlichen. Während im Übergang die Möglichkeit aller Beziehungen vorherrscht, nicht aber deren Wirklichkeit, ist Wirklichkeit selektive endliche Verwirklichung, somit Ausschluß von Möglichkeiten des Unendlichen, so daß im Ergebnis eine Beziehungsart dominiert. Zugleich erschließt sich von hier aus der schöpferische Charakter der Übergangsepochen, ihr Noch-nicht- Festgelegtsein. Daß Hölderlin das historisch-materielle Produziertsein der geschichtlichen Möglichkeiten nicht zu erfassen vermag, resultiert aus seiner Abstraktheit und seinem historischen Idealismus. Ebenda, S. 354 

Hölderlins poetologisches Konzept und sein poetisches Verfahren zielen nicht auf ein Abbild des gewöhnlichen Lebens, um in dessen Fragment das Ganze erscheinen zu lassen, sondern auf das Zur-Sprache-Bringen des Lebens, das in stärkeren und näheren Beziehungen zum Ganzen steht, das dem gewöhnlichen Leben sich verbirgt und in den Weltepochen des Übergangs, seines Gestaltwandels seine der Erfahrung offenste Gestalt gewinnt. Denen, die im Sturm des Wandels stehen, das Ganze zu vermitteln, darin sieht er die vornehmste Aufgabe des Dichters und seines Dichtens.

Hölderlin. Schönheit und Geschichte. Berlin und Weimar 1988, S. 66 

Lessing ist Aufklärer im Handgemenge, der einen öffentlichen Erkenntnisprozeß vorantreiben will. So skeptisch er auch seine philosophischen Ergebnisse behandeln mochte, grundsätzlich wehrte er sich gegen jede Begrenzung rationaler menschlicher Erkenntnis ... Er läßt kein Unerkennbares gelten, nur Unerkanntes. Er ist methodisch Rationalist, der freilich um der Erfahrung und Problemoffenheit willen kein System fixiert, sondern in der Unruhe des Denkens bleibt. 

Die Wirklichkeit des Möglichen. Dichtung und Ästhetik in Deutschland 1750–1850. Berlin und Weimar 1990, S. 197

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